Mittwoch, 9. März 2011

During Wind and Rain


Thomas Hardy (1840-1928) ist im deutschsprachigen Raum vor allem als bedeutender Erzähler bekannt, der in seinen Romanen nachzeichnete, wie sich sein ländliches England,  das noch die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in eine von der Industrialisierung und einem rücksichtslosen Egoismus beherrschte Nation verwandelte, die nichts von ihren Opfern hören wollte. Dass Hardy als Lyriker nicht weniger bedeutend, ja vielleicht sogar noch einflussreicher war, dürfte, da sich Gedichte nur schwer und unzureichend in andere Sprachen übersetzen lassen, neben Fachleuten vor allem Liebhaber interessiert haben.

Tatsächlich fühlte sich Hardy, der Architektur studiert hatte, von Anfang an zum Lyriker berufen. Seine Gedichte fanden allerdings bei den Verlegern, die ganz auf den an die Romantik anknüpfenden Lord Alfred Tennyson und die "dramatic poetry" eines Robert Browning fixiert waren, kein Gehör. Und so wandte er sich dem im Viktorianischen Zeitalter ohnehin beliebten Roman zu, der ihm auch zu grossem Erfolg verhalf. - Als seine zunehmend pessimistischer werdenden Werke jedoch gegen Ende des Jahrhunderts auf harsche Kritik stiessen ("Jude the Obscure", 1895, wurde von boshaften Geistern in "Jude the Obscene" umbenannt), besann er sich wieder auf sein eigentliches Gebiet und veröffentlichte bis zu seinem Tod im Jahre 1928 mehrere Gedichtbände. Sie enthielten neben neuen Versen auch jene Arbeiten, die bereits während seiner Karriere als Romanschriftsteller entstanden waren; und heute darf man sagen, Thomas Hardy sei mit seinen über 900 Gedichten für die englische Lyrik des 20. Jahrhunderts (von den jung verstorbenen "War Poets" bis zu Philip Larkin, Ted Hughes oder Jon Silkin) von ähnlich grosser Bedeutung gewesen wie Walt Whitman für die amerikanische. Seine Rückbesinnung auf die englische Tradition (auch die der "oral poetry") führte letztlich dazu, dass der Modernismus etwa eines T.S. Eliot oder Ezra Pound nur  vorübergehend Nachahmer fand.

 Ländliche Idylle im 19. Jahrhundert: "Der Heuwagen" von John Constable (1776-1837)

Hardy's Lyrik ist nicht nur in metrischer und formaler Hinsicht äusserst vielgestaltig; sie umfasst neben Gedichten, in denen der Dichter als "private man" zum Ausdruck kommt, auch "Lieder" und Balladen (in den sarkastischen "Satires of Circumstance" aufs Nötigste reduziert) oder Verse, in denen er sich philosophischer Themen annimmt (Gedichte wie "Hap" erwecken z.B. den Eindruck, er hadere mit Gott wegen dessen Nicht-Existenz). Seine "public poems" wiederum zeigen, welch würdiger 'poeta laureatus' er eigentlich gewesen wäre, fand er doch gültige Worte für den Burenkrieg ("Drummer Hodge"), den Untergang der Titanic ("The Convergence of the Twain") und natürlich den Ersten Weltkrieg. - Was alle diese trotz gewisser Eigenheiten (Rückgriffe auf archaisches Vokabular, Wortneuschöpfungen) leicht zu verstehenden Gedichte durchzieht: Dem Augenblicklichen wird das Bleibende der Natur (die er etwa in "Snow in the Suburbs" auch in London entdeckt) entgegengestellt, das Werden und Vergehen betont ("Life and Death at Sunrise")  - und auf die  - zweifellos oft geringe - Hoffnung verwiesen (etwa wenn das lyrische Ich in "The Darkling Thrush" am letzten Tag des Jahres in der kalten Dämmerung den freudigen Klang einer alten Drossel vernimmt).

Es ist verständlicherweise schwierig, aus dieser riesigen Anzahl von Versen eine Handvoll Lieblingsgedichte auszuwählen. Der eine mag das schwer zu deutende "In Front of the Landscape" bewundern, der andere dem späten kleinen "How She Went to Ireland" den Vorzug geben. Wenn jedoch so etwas wie ein ultimatives, sogar von den dem Dichter sonst eher nicht so gesonnenen "New Critics" geachtetes Hardy-Gedicht existiert, dann ist es "During Wind and Rain":

During Wind and Rain

 They sing their dearest songs --
 He, she, all of them -- yea,
 Treble and tenor and bass,
   And one to play; 
 With the candles mooning each face. ...
   Ah, no; the years O! 
How the sick leaves reel down in throngs!

 They clear the creeping moss --
  Elders and juniors -- aye,
  Making the pathways neat
     And the garden gay;
  And they build a shady seat. ...
     Ah, no; the years, the years;
See, the white stormbirds wing across!

  They are blithely breakfasting all --
  Men and maidens -- yea,
  Under the summer tree,
    With a glimpse of the bay,
  While the pet fowl come to the knee. ...
    Ah, no; the years O!
And the rotten rose is ripped from the wall.

  They change to a high new house,
  He, she, all of them -- aye,
  Clocks and carpets and chairs
    On the lawn all day,
  And brightest things that are theirs. ...
    Ah, no; the years, the years;
Down their carved names the raindrop plows.

Kritiker vermuteten schon früh, das im Band “Moments of Vision” (1917) erschienene Gedicht sei im Umfeld der “Poems of 1912-13” anzusiedeln, in denen Hardy schuldig, fragend, sich erinnernd dem für ihn  unerwarteten Tod seiner ersten Frau Emma, einer Pastorentochter, nachging, mit der ihn einst eine grosse Liebe verband, die jedoch in eine gegenseitige Entfremdung und ein jahrelanges wortloses Nebeneinander mündete. Und man stellte nach der Veröffentlichung der “Notebooks” von Emma tatsächlich auch fest, dass Hardy für die ersten Zeilen einer jeden Strophe von “During Wind and Rain” eine Jugenderinnerung der Verstorbenen benutzte (er hatte  in Cornwall die Orte besucht, an denen sie aufwuchs).  - Dies mindert jedoch in keiner Weise die Bedeutung und Eindringlichkeit des Gedichts, in dem einem unbeschwerten, hoffnungsvollen Leben das Vergehen und der Tod entgegengestellt werden.

 Ich will mich hier nicht allzu detailliert in der “Kunst der Interpretation” üben. Der Leser erkennt von alleine vier auffallend analog und präzise gestaltete  Strophen, die dennoch in Details voneinander abweichen. Der erste Teil einer jeden Strophe schildert jeweils einen kleinen Ausschnitt aus einem glücklichen, möglicherweise mit den Augen eines staunenden Kindes wahrgenommenen Familienlebens, wobei in der zweiten Zeile in einem Semi-Refrain auf unterschiedliche Weise das Gemeinsame betont wird (he, she, all of them; elders and juniors etc.). Man kann sicher vieles in diese Szenen hineinlesen (etwa das langsame Erwachsenwerden), betrachtet sie aber wohl am besten als idyllische Momente in einem ländlichen England, in dem sich der Einzelne noch in einer singenden, den Garten bearbeitenden oder zusammen im Sommer draussen frühstückenden Gemeinschaft aufgehoben fühlt, die, man hat sich nach oben gearbeitet, am Ende ein grösseres Haus bezieht. Solche Momente kennen nur sich selber, bedenken ihre Vergänglichkeit nicht.

Max Gate, Dorchester. Das Haus, das Thomas Hardy ab 1885 bis zu seinem Tod bewohnte.
Hier entstanden viele seiner Gedichte.

Auffallend an der Gestaltung dieser Episoden ist das Bemühen, den Leser zum Beispiel durch Alliterationen (“shady seat”, “blithely breakfasting”) und das leichte Gleiten der Verse regelrecht zum lauten Mitlesen einzuladen, wozu ihn schon das gemeinsame Singen am Anfang aufzufordern scheint. Hardy, dem nachgesagt wird, vielen seiner Gedichte die Rhythmen alter Lieder zugrunde gelegt zu haben, schliesst  hier an die Tradition der ‘oral poetry’ mit ihrem liedhaften Charakter an, der vom Zuhörer ohnehin eine Teilnahme erwartet.

Die auf diese Weise auch vom Leser geteilten Glücksmomente werden allerdings im jeweils zweitletzten, leicht variierenden Vers durch das Klagen über das Vergehen der Jahre in Frage gestellt - und im  letzten Vers  einer jeden Strophe kündigt sich der Sturm an, der am Ende den heftigen Regen über die Grabsteine der mittlerweile Verstorbenen, die einst der kleinen Momente teilhaftig geworden waren, prasseln lässt. Diese letzten Verse weisen auch eine hinterhältige Verbindung zur vorangegangenen Szene auf: dem Singen wird das Geräusch der kranken  hinabwirbelnden Blätter entgegengesetzt, den fleissigen Bewegungen im Garten das rasche Vorüberfliegen der Vögel... --- Vor allem aber gerät selbst ein Engländer, der sich zum lauten Mitlesen verführen liess, beim Lesen dieser Verse mit ihren vielen Plosivlauten und anderen ungewohnten Konsonantenanhäufungen (“reel down in throngs”, "the rotten rose is ripped" etc.) beinahe ins Stottern. Denn diese Verse richten sich  nicht nach der "sangbaren" mündlichen Überlieferung; sie sind im wahrsten Sinne des Wortes “literate poetry”, und wer sie zusammen, als Gedicht für sich liest, erkennt rasch, dass man sie eigentlich als Grabinschrift, als Epitaph, betrachten kann.

So stehen Leben und Tod einander in einem Gedicht gegenüber, und der Leser, eben noch zum Mit-"Singen" verführt, fühlt sich aus seinem Rhythmus hinausgeworfen. Es ist dies ein bezeichnender, wenn auch nicht immer in solcher Perfektion zu findender Wesenszug der Gedichte Thomas Hardy's, die der im 19. Jahrhundert gerne zelebrierten Idylle und ihrer Eindeutigkeit noch etwas anderes hinzufügen: Er fordert im Gegensatz zu den Modernisten den Leser nicht zum mühsamen Interpretieren auf, sondern nimmt ihn scheinbar bei der Hand, lädt ihn ein,  um ihm dann doch den endgültigen Zugang zu verwehren. Im Titanic-Gedicht geschieht dies beispielsweise durch geradezu groteske Bilder, die dem Schrecken über das Unglück die Vergänglichkeit menschlicher Überheblichkeit entgegenstellen. Das lyrische Ich in "Wessex Heights" wiederum verneint die angebliche Befreiung von "Gedanken-Fesseln"  auf den Höhen allein schon durch die harten Laute ("mind-chains do not clank where one's next neighbour is the sky").  Weitere Beispiele gibt es zuhauf. - Hardy findet in dem kleinen  philosophischen Gedicht “Nature’s Questioning” sogar die Worte, die dieses Verhalten des Dichters, eine fehlende Eindeutigkeit, erklären: “No answerer I”. Ich bin nicht der Mann, der für euch die Antworten hat. - Und tatsächlich: Er war nur der Mann, der das unerklärliche, mächtige Walten der Natur beschrieb, der seinem "During Wind und Rain" mit dem während des Ersten Weltkriegs geschriebenen Gedicht "In Time of 'The Breaking of Nations'" auch das Bleibende inmitten der Zerstörung entgegenstellte:

Yonder a maid and her wight
   Come whispering by:
War's annals will cloud into night
    Ere their story die.

Und er war der Mann, der für sein ländliches England, deren singende und arbeitende Gemeinschaft mit Leben und Sterben in Einklang war, einzigartige Verse fand, aber auch das Vergehen dieses Englands in Worte fassen musste.

                       ***

Auch wenn es mir nicht gelungen sein sollte, jemanden zur Lektüre einzelner Gedichte dieses grossen Lyrikers, der mich schon seit vielen Jahren begleitet, zu bewegen, pausiere ich jetzt für fünf, sechs Wochen als Blogger und überlasse das Feld Manfred Polak, der euch sicherlich bei Gelegenheit spannende Beiträge zu bieten hat. - Bekanntlich stehen meine Ausflüge in die Literatur aber meistens nicht zusammenhanglos in der Gegend herum.  Dieses Mal handelt es sich sogar um eine Verpflichtung, nach den Ferien einen Film zu besprechen, der mir schon lange am Herzen liegt. Ich kann euch versprechen: Auch in diesem Film werden wir das Singen einer ländlichen Gemeinschaft vernehmen - und auch dort peitscht der Regen über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins. - Wir lesen uns!

Samstag, 5. März 2011

Unmassgebliche Gedanken zu einem vollendeten Filmfragment

 "Ein Narr, wer mono.micha erzählt, von welchen Frauen er schwärmt."
(Altväterliches Sprichwort, soeben von mir erfunden)


Mulholland Drive - Strasse der Finsternis
(Mulholland Dr., USA/Frankreich 2001)

Regie: David Lynch
Darsteller: Naomi Watts, Laura Harring, Ann Miller, Justin Theroux, Dan Hedaya, Lee Grant, Robert Forster, Lori Heuring, Chad Everett, Billy Ray Cyrus u.a.

“... and now I’m in this dream place.” - Sicher, es geht um Träume in David Lynch’s Summa seines bisherigen Schaffens. Sie sind jedoch nur eines der vielen Motive, auf die man stösst, um festzustellen, dass sie bereits von anderen ausgeweidet wurden (etwa das von Benjamin Happel in seiner Besprechung  in den Mittelpunkt gestellte Strassen-Motiv, bei mir einfach in einem anderen Zusammenhang auftauchend). Und wer glaubt, dem Film mit dessen oberflächlichem Handlungsgerüst (die erfolglose Schauspielerin Diane träumt sich in eine für sie bessere Welt hinein, um im zweiten Teil mit der Wirklichkeit - und dem Wahn - konfrontiert zu werden) oder den kryptischen  Hinweisen des Regisseurs auf der Spur zu sein, irrt. Denn selbst im Traum wird der Traum zum Motiv, träumen doch auch darin vorkommende Figuren (etwa der Mann im “Winkie’s”) oder werden wie Adam Kesher aus ihren Träumen herausgerissen: “It’s no longer your film.” - Kesher, der nicht umsonst “Adam” heisst, ist überhaupt eine faszinierende Gestalt, an der sich zeigen lässt, wie tief  Lynch in kulturellen Vorstellungen und Bildern wühlt: Oberflächlich betrachtet ein Regisseur, dem zuerst freundlich (“I know you said you would entertain suggestions.”), später rücksichtslos und seine Existenz bedrohend eine Hauptdarstellerin aufgezwungen  wird, ist zugleich der sich allmächtig wähnende erste Mensch, der erkennen muss, wie klein seine wirkliche Bedeutung im Gefüge des göttlichen Zwergs ist (welch herrliche Vorstellung: einer der um die "richtige Eva" verhandelnden Erzengel im Raum hält sich für  einen Espresso-Experten!) - eine Erkenntnis, der er mit dem Zerstören (im Film des Wagens der Castigliane-Brüder und des Schmucks seiner untreuen Frau) begegnet.

Der Sinn dieser einleitenden Worte? - Es lohnt sich im Hinblick auf eine Besprechung ausnahmsweise kaum, gross Recherchen anzustellen, bietet “Mulholland Dr.” doch so viel Raum für eigene Begegnungen, deren Entfaltung im schlimmsten Fall durch sich ultimativ gebende Interpretationen verwehrt werden könnte. Es gilt auch zu bedenken, dass Lynch’s Film ein Fragment ist (ein ursprünglich für den amerikanischen Sender ABC gedrehter und abgelehnter Pilotfilm wurde bekanntlich dank “Canal Plus” um mehrere Szenen erweitert und mit einem neuen Ende versehen), dass ihm deshalb wohl eine fragmentarische Besprechung angemessen ist - und man sich der Bedeutungslosigkeit seiner Bemerkungen jederzeit bewusst sein sollte, zeigen doch sämtliche anderen Annäherungen: wir haben es nicht nur mit einem äusserst vielschichtigen, sondern - ein Phänomen, dem ich in der Filmgeschichte vorher nie begegnet bin! - einem  vollendeten Fragment, dessen Tiefe sich nicht in Worte fassen lässt, zu tun.


Zum nackten Handlungsgerüst: Die junge Schauspielerin Betty Elms ist nach Hollywood gekommen, um als Schauspielerin Karriere zu machen. Im Apartment ihrer in Kanada weilenden Tante Ruth begegnet sie einer mysteriösen dunkelhaarigen Frau, die nach einem nächtlichen Unfall ihr Gedächtnis verloren hat. Obwohl die Vermieterin Coco der Anwesenheit der Fremden mit Misstrauen begegnet, will Betty ihr helfen. Neben ihrem ersten Vorsprechen, bei dem sie auch dem von ihr faszinierten Regisseur Adam Kesher begegnet, der  jedoch bereits auf Camilla Rhodes als Hauptdarstellerin festgelegt wurde, begibt sie sich zusammen mit ihrer neuen Freundin, die sich (von einem Poster, auf dem die Hayworth als “Gilda” angekündigt wird, inspiriert) "Rita" nennt, auf Spurensuche. Sie stossen dabei  auf die verweste Leiche einer Frau namens Diane Selwyn, deren Anblick Rita zusammenbrechen lässt. - Der Besuch des eigenartigen Clubs “Silencio” am frühen Morgen verrät den beiden sich mittlerweile liebenden Frauen, womit sie es zu tun haben: “It is an illusion.” - Denn nachdem Rita einen in ihrer Tasche entdeckten blauen Würfel mit einem dreieckigen Schlüssel geöffnet hat, verändert sich das “Universum” des Films: Namen ändern sich, Figuren  nehmen neue Wesenszüge an, einigen bislang nicht einzuordnenden Gestalten  aus Nebensträngen (dem tolpatschigen  Gangster Gene, der nicht nur ein Blutbad anrichtet, sondern auch noch den Lärm verursachenden Staubsauger erledigt) und Szenen (etwa dem vor den Credits angedeuteten  Jitterbug-Wettbewerb) kommt sogar  plötzlich eine überraschende Funktion zu. Was der Zuschauer in der ersten Hälfte verfolgte, war nämlich der Traum der erfolglosen Schauspielerin Diane, die sich nach ihrer einstigen Geliebten Camilla (im Traum Rita) verzehrt und sie jetzt, da diese sich mit dem Regisseur Kesher verlobt hat, umbringen lassen will. Am Ende wird die eine trostlose Wirklichkeit nicht mehr Ertragende von Wahnvorstellungen verfolgt und erschiesst sich.

Ein Film, der so intensiv mit Schein und Sein spielt, selbst den Zuschauer lange über sein Spiel im Unklaren lässt, kann nicht zufällig in Hollywood angesiedelt sein: Hollywood ist der Ort, der Träume herstellt und zu erfüllen vorgibt, der Ort der Illusionen, auch der Ort, an dem sich  “Realitäten” gegenseitig überlappen, Identitäten verloren gehen (deshalb vielleicht die zahlreichen Vorahnungen und Déja-vu-Erlebnisse, besonders deutlich illustriert am Betreten des Zimmers, in dem sich eben noch die jungen Frauen aufhielten, durch die etwas wahrnehmende Tante Ruth, die in einer der "Wirklichkeiten" gar nicht in Kanada, sondern tot ist). - Und warum sollte  ein Traum, der zunehmend die Atmosphäre eines “film noir” annimmt, ja sich beinahe als Film versteht (Betty ermutigt ihre Freundin zu einer telefonischen Erkundigung mit den Worten: “It’ll be just like in the movies. Pretending to be somebody else.”), an diesem alles verzerrenden und vervielfältigenden Ort nicht realistischer wirken als die eigentliche Realität - falls diese überhaupt existiert? Die Bewegungen der Frauen in der “Betty”-Story (dem Traum) sind betont langsam, gleitend, auf Details wird Wert gelegt (ein Schwenk auf den mit Spiegeleiern und Speck gefüllten Teller des Kunden im “Winkie’s”, dem Haar eines Erschossenen wird bis zu den Spitzen gefolgt). Die “Diane”-Realität wirkt  hingegen bruchstückhaft trist, man weiss manchmal nicht, ob man einer chronologischen Darstellung folgt - oder sich gar  in einer "Wirklichkeit" befindet, die wir gemeinhin als "Traum" bezeichnen. --- Beim Dreh im Studio scheint die Verwandlung  von einer Gestalt in eine andere wie von selber zu funktionieren: Betty, der noch eben das untalentiert geschriene  Einüben des Texts für ein Vorsprechen solche Schwierigkeiten bereitete, benötigt vom Partner, einem älteren, offenbar nach jungen Schauspielerinnen gierenden Typen, nur den Hinweis: “I wanna play this one nice and close” - schon verwandelt sie sich in ein  wahrhaftes Luder, das seine Hand an ihren Hintern drückt. Ganz so leicht ist es jedoch nicht, wenn man aus der einer traumhaften Realität zu verdankenden faszinierenden Frau in eine möglicherweise wirkliche geworfen wird, deren Sein fragmentarischer wirkt als ein Leben im Traum.

Dieses intensive Verändern der Realitäten ist noch mehr als in früheren Arbeiten das eigentliche Thema in Lynch’s Film, der trotz der herrlichen Aussichten auf das nächtliche Los Angeles vom Mulholland Dr. hinab auch  eine boshafte Abrechnung mit der Traumfabrik wurde. Er dekonstruiert (wer hätte mir diesen  verachteten "terminus technicus" je zugemutet?) das berühmte “Gleiten” durch die Kamera, das aus alltäglichen Menschen Stars macht (ich erinnere an die verblüffte Feststellung eines Sir Laurence Olivier, der an sich über die Zusammenarbeit mit Marilyn Monroe für seinen  Film “The Prince and the Showgirl”, 1957, keineswegs glücklich war, er müsse dem unscheinbaren Wesen die Gabe zugestehen, sich in der Kamera in eine Göttin zu verwandeln). - Und er fragt: Was geschieht in der Kamera? Wer oder was ermöglicht dieses  Gleiten von einer Realität in die nächste? - Es scheint mir, er greife hier nicht zuletzt auf den Behaviorismus zurück, der sich mit dem Phänomen der “Black Box” - für die im Film der geheimnisvolle blaue Würfel steht - beschäftigte - und zur ernüchternden Einsicht kam, dass wir  das "Sein zu etwas" nicht verstehen können, nämlich was in der Box geschieht. Lynch, der Wühlende, stösst hingegen auf das bizarre Figuren-Arsenal, für das er bekannt ist, legt dem Cowboy Worte in den Mund, die sich wohl mysteriöser geben als sie sind - und vermag gewisse Stränge wegen des fragmentarischen Charakters seines Werks  - was vielleicht durchaus dem Wesen dieses Wühlens angemessen ist - auch nicht auszuarbeiten. Gleichzeitig gelingt es ihm jedoch,  beängstigende Bilder für die dunkle Allmacht zu finden, die dieses von so vielen Schauspielern ersehnte, letztlich jedoch auch nicht Erlösung bringende Gleiten ermöglicht: es ist ein Hollywood, das sich längst nicht mehr in den Händen von Studiobossen, Produzenten und Regisseuren befindet, sondern von einer sonderbaren Mafia zu dem Gehorsam gezwungen wird, den ein undurchschaubarer Gott (ein Zwerg hinter Glas!) einfordert. - Über dem berühmten "Hollywood"-Schriftzug am Mount Lee, Symbol für eine Träume erschaffende und lebende Welt, sieht man  denn auch überdeutlich die riesigen Antennenanlagen, die Tinseltown zur kalten, hochtechnisierten  und mit Sicherheit überwachten Angelegenheit machen. Und das Umkreisen der Wolkenkratzer sagt: Ihr habt ja keine Ahnung, was hinter dieser Kälte vor sich geht!

Der Club “Silencio” wiederum lässt uns erahnen, was mit den Sich-Verwandelnden geschieht: Sie, die einander vorübergehend Angeglichenen (Rita trägt jetzt eine blonde Perücke!), der früheren Identität Entledigten, gelangen während eines Roy Orbison-Songs  weinend zur ernüchternden Erkenntnis,  dass “no hay banda”, dass es keine Band gibt, alles Illusion ist und bleibt - sie lediglich noch nicht wissen, welche Rolle sie in der nächsten Scheinrealität einnehmen werden, wenn sie den Würfel geöffnet und die Black Box durchschritten haben. -  Rita ist das Glück hold: Sie verwandelt sich in den von Kesher begehrten Star Camilla, die freundliche Vermieterin Coco in dessen arrogante Mutter - und die naive, unschuldige Betty wird zur verzweifelt Masturbierenden, die sich mit Mordgedanken trägt und anlässlich der um Kesher's mondänen Pool stattfindenden Party dabei zusehen muss, wie Camille jene ihr unbekannte Frau küsst, die in ihrem Traum als unbegabte Camilla Rhodes vorkam. --- Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen den beiden Rollen in zwei Studioszenen herausgearbeitet: Im "Traum" erfasst Betty das winzige Fenster, in dem die sich vorstellende Schauspielerin ihr “Sixteen Reasons” singt, zu Beginn gar nicht als solches, und selbst nach dem Wahrnehmen des Studiocharakters mit seinem Apparat steht sie, der angehende Star,  im Mittelpunkt des Interesses, da sie den Regisseur augenblicklich anzieht. In der "Realität" ist das kleine Auto, in dem Kesher dem Schauspieler vorführt, wie er Camilla halten soll (wobei er sie vor den Augen einer die Tränen mühsam zurückhaltenden Diane gleich noch leidenschaftlich küsst), vom ganzen Set umgeben.


Lynch benutzt seit Dennis Hopper’s Schreckensfahrt in ”Blue Velvet” (1986)  immer wieder das Motiv der Strasse, die eine Figur von einem Ort zum anderen bringt  (respektive sie zwischen den Realitäten wechseln lässt) - oder bringen sollte. Dass die Strasse eine äusserst problematische und unsichere Anglegenheit ist, verdeutlicht er bei dieser Gelegenheit  auch gerne: In “Wild at Heart” werden Sailor und Lulu bekanntlich förmlich von der bösen Hexe aus Victor Flemings “The Wizard of Oz” verfolgt; ein Schwenk in den Himmel (üblicherweise das probate Mittel, wenn man zeigen will, wie schnell die Zeit im Film vergeht) dient in “The Straight Story” (1999) der Darstellung der Langsamkeit, des nicht Vorwärtskommens - und in “Lost Highway” (1997) scheint Bill Pullman - dies ohne Anspruch auf Richtigkeit! - mitten auf dem Highway in den Tod stecken zu bleiben. Ähnliches widerfährt Rita, die auf dem Mulholland Dr. eigentlich erschossen werden sollte, aber in Diane's Traum wegen eines Unfalls stecken bleibt, damit sie zu Betty's Geliebter werden kann. - Zweifellos  ein verständliches Hinauszögern des Gleitens  auf einer Strasse, die in eine sie zur Leidenden, Nebensächlichen verdammenden Realität  führen wird (man beachte in diesem Zusammenhang die im Gegensatz zur Strasse zum Erfolg trostlose Gasse vor dem Club, auf der nur ein paar Papierfetzen herumwirbeln!).

Nach dem gescheiterten Versuch, ihre Geliebte umbringen zu lassen, wird Diane im Wahn vom alten Ehepaar heimgesucht, das ihr auf dem Flug nach Los Angeles (Realität und Fiktion durchdringen sich oft im Traum) vermutlich wirklich Gesellschaft leistete. Sie nimmt sich das Leben, damit das Sich-Bewegen in unterschiedlichen Wirklichkeiten endlich ein Ende findet. Bringt diese Tat die Erlösung? Die blauhaarige Dame im “Silencio” scheint es zu bestätigen. - Es ist  Lynch aber zuzumuten, dass er uns mit “Mulholland Dr.” nur Diane’s  Todestraum gezeigt hat, der sie wiederum in eine andere Scheinrealität führt...

Wenig wurde gesagt in diesem langen Eintrag; und was gesagt wurde, entsprang einem völlig westlich geprägten Gehirn, das sich nicht annähernd in den Kosmos dieses Regisseurs einzudenken vermag. Man könnte auch die Traum-Problematik weiterverfolgen und sich fragen, ob  "Mulholland Dr." den Zuschauer dermassen anzieht, weil er ein kollektives Unbewusstes anspricht: Wir alle träumen, träumen uns in schönere Welten - und befinden uns gelegentlich vor dem Aufwachen in jenem magischen Club, in dem wir auf boshafte Weise mit der Illusion konfrontiert werden, der wir uns hingaben. - Dennoch: "Mulholland Dr." scheint mir tatsächlich  ein wenig deutbarer zu sein als "Lost Highway". Das soll aber nicht heissen, er sei weniger tiefgründig. Im Gegenteil:  Lynch lädt den Zuschauer geradewegs zu einer für seine Verhältnisse nach der zweiten oder dritten Sichtung einigermassen nachvollziehbaren Geschichte mit Retro-Chic ein, damit dieser überhaupt eine Chance erhält, sich in seine Mythen einzuleben. Selbst das Rätsel um den Mann im "Winkie's" löst sich auf: Er war anwesend, als Diane den Mordauftrag erteilte, und erhält im Traum die Fähigkeit, ihr Unbewusstes (den Obdachlosen, der auch kurz vor ihrem Selbstmord erscheint!) erfasst, sie durchschaut zu haben.


Dass ich mich so gut wie gar nicht über mein persönliches Empfinden für Lynch’s Klassiker, an dem jeder  seither zum Jahrhundertwerk hochstilisierte Versuch, sein Publikum mit unterschiedlichen Zeit- und Traum-Ebenen zu beeindrucken (Aronofsky's "The Fountain", 2006, Nolan's "Inception",  2010 etc.), kläglich scheitert,  schon gar nicht über meine Begeisterung für Naomi Watts und die anderen Darsteller (die grosse Ann Miller in ihrer letzten Rolle!) ausgelassen habe, wird man bemerken Sollte ich, da diese Besprechung für einen Pedanten zum Glück auch jetzt schon  weniger als unvollständig ist? Übrigens: Einer meiner Kollegen betrachtete die beiden Detektive, die sich zu Beginn über den nächtlichen Unfall unterhalten, als Reverenz an die auf dem Friedhof umherlaufenden Polizisten in  Ed Wood's "Plan 9 From Outer Space" (1959). - Silencio!

Montag, 28. Februar 2011

Kurzbesprechung: Sukkar banat



Caramel
(Sukkar banat, Libanon/Frankreich 2007)

Regie: Nadine Labaki

Regisseurin Nadine Labaki widmete das kleine Filmjuwel "Sukkar banat" ihrem Beirut, der Stadt, die als  das "Paris des Nahen Ostens" bezeichnet wurde, bevor der Libanon Mitte der 70er Jahre bis 1990 zum Schauplatz  eines Bürgerkriegs wurde.  Obwohl die Unruhen bis heute nie ganz nachliessen, weisen die Bilder lediglich diskret auf die Vergangenheit und die allgemeine Lähmung im Land hin: ein für heimliche Rendezvous benutzter vernachlässigter Schrottplatz, das herunterhängende "B" über dem Schönheitssalon "Si Belle", dem wichtigsten Schauplatz des Films - oder die nur notdürftig geflickten Hausmauern im einst verwüsteten Viertel. -  Denn im Mittelpunkt stehen die scheinbar alltäglichen Geschichten einer Handvoll Frauen, die sich regelmässig im Salon der Christin Layale einfinden und versuchen, den Spagat zwischen Tradition und Moderne in einem von Männern (sie bleiben Randfiguren) dominierten Land zu meistern. Aber nicht nur die Probleme und Problemchen der Protagonistinnen sind anders als in den typisch schwerfälligen Frauenfilmen, mit denen uns Hollywood immer wieder beliefert; der libanesische Mikrokosmos unter weiblichem Vorzeichen wird auch mit einer Leichtigkeit dargeboten, die geradezu verblüfft und den Zuschauer, ob weiblich oder männlich, augenblicklich in ihren Bann zieht. - Markenzeichen (und sich keineswegs aufdrängende Metapher) des Kinodebüts ist die auf Caramelbasis beruhende Epiliermasse, die salzig, süss und sauer zugleich, den Besucherinnen von "Si Belle" ziemlich schmerzhaft die Haare entfernt.

Die heimlich von einem Polizisten bewunderte Layale ist in einen verheirateten Mann verliebt, der sie jedoch nur für gelegentliche Nümmerchen im Auto ausnutzt und nicht daran denkt, seine Familie zu verlassen. Ihre muslimische Mitarbeiterin Nisrine erzählt den Freundinnen kurz vor der Hochzeit, dass sie nicht mehr Jungfrau ist. Jamale, eine regelmässige Kundin, die in Werbefilmen auftreten möchte, ist so besessen von ihrem Jugendlichkeitsfimmel, dass sie sogar vorgibt, ihre Periode noch zu haben. Unterdessen verliebt sich die offen lesbisch lebende Rima in eine Kundin, die sich von ihr regelmässig die Haare waschen lässt. - Die ältliche Nachbarin Rose, die mit ihrer dementen Schwester in der Nachbarschaft lebt und sich den Lebensunterhalt als Schneiderin verdient, erhält  wiederum die Chance ihres Lebens: ein französischer Gentleman verfällt ihr so sehr, dass er immer wieder bei ihr auftaucht, um sich seine Hose noch kürzer machen zu lassen...

Der von Laienschauspielerinnen getragene Film, der an verschiedenen Festivals gezeigt und von der Kritik mit Begeisterung aufgenommen wurde, lebt aber nicht nur von seinen -  mit bemerkenswertem Sinn für Zwischentöne dargebotenen - Geschichten und Sehnsüchten. Es geht ihm auch, vielleicht sogar in erster Linie, um das Einfangen der Atmosphäre einer Stadt, die trotz alltäglicher Wehwechen ein Paradies für das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen sein könnte, wäre da im Hinterkopf nicht das Wissen um das unausweichliche Scheitern paradiesischer Zustände. Teils westlich, teils nahöstlich anmutende Musik begleitet Aufnahmen, die zum Weinen schön sind und die wunderbare Ode an die Frauen in einem der liberaleren Länder des Nahen Ostens zu einem Erlebnis machen. --- Kurz nach Fertigstellung von "Sukkar banat", wurde Beirut erneut von Unruhen heimgesucht. Dies zeigt, auf welch tönernen Füssen der im Schönheitssalon "Si Belle" gelebte friedliche Alltag steht.

Donnerstag, 24. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 2: Luis García Berlanga

Teil 1: Juan Antonio Bardem

DER HENKER (span. EL VERDUGO, ital. LA BALLATA DEL BOIA)
Spanien/Italien 1963
Regie: Luis García Berlanga
Darsteller:
  • Nino Manfredi (José Luis Rodríguez)
  • Emma Penella (Carmen)
  • José Isbert (Amadeo)
  • José Luis López Vázquez (Antonio Rodríguez)

José Luis Rodríguez hat es nicht leicht. Eigentlich will der junge Mann nach Deutschland gehen, um sich zum Mechaniker ausbilden zu lassen, doch vorerst ist er nur Totengräber. Und zuhause muss er noch seinem älteren Bruder Antonio, einem Schneider, zur Hand gehen und dabei seine zänkische Schwägerin ertragen. Als er eines Tages mit seinem Kollegen die Leiche eines Hingerichteten im Gefängnis abholt, lernt er den Henker kennen: Amadeo ist ein freundlicher alter Mann, der mit seiner Tochter Carmen in bescheidenen Verhältnissen lebt. José Luis und Carmen kommen sich näher - und sie sind auch wie geschaffen füreinander. Denn sobald mögliche Heiratskandidaten Carmens vom Beruf ihres Vaters erfahren, suchen sie das Weite, und José Luis ergeht es mit potentiellen Freundinnen nicht anders. Als Carmen schwanger wird, wird geheiratet. Amadeo, der vor der Pensionierung steht, sähe José Luis gerne als seinen Nachfolger, doch der sträubt sich. Um mehr Wohnraum zu haben, beantragt Amadeo für sich und das Paar eine Neubauwohnung in einem Hochhaus. Die wird auch bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung, dass sich Amadeo im Ruhestand befindet. Jetzt muss endgültig ein Nachfolger her, und um der Wohnung willen erklärt sich José Luis, nach einigen abgebrochenen Anläufen, zähneknirschend dazu bereit. Amadeo erleichtert ihm die Entscheidung, indem er erklärt, dass die Verurteilten ohnehin alle in letzter Minute begnadigt würden.


Etwas später. Die neue Wohnung ist bezogen, das Kind ist da. José Luis ist jetzt offiziell Henker, doch er hofft inständig, das Amt nie ausüben zu müssen. Aber bald kommt ein Brief vom Ministerium: José Luis soll in Palma de Mallorca seines Amtes walten. So macht sich die ganze Familie mit Kind und Kegel auf zur Ferieninsel. Je näher der Hinrichtungstermin rückt, desto mehr schlottern José Luis die Knie ...


DER HENKER ist eine bitterböse, makabre und bisweilen schrille Komödie. Und wie die meisten von Berlangas Komödien, hat sie kein richtiges happy end. "Das werde ich nie wieder tun!", sagt der in sich zusammengesunkene José Luis nach getaner Arbeit zu seiner Familie. "Das habe ich mir beim erstenmal auch geschworen", entgegnet Amadeo gelassen, und er macht damit klar, dass José Luis weitermachen wird - er wird sich an das Töten gewöhnen. Und Carmen steckt diskret das Geldbündel beiseite, das José Luis als Lohn erhalten hat. DER HENKER verteilt Seitenhiebe und Sticheleien nach vielen Richtungen - die Mühen des Familienlebens auf engem Raum, pietätloser Umgang mit Toten, die Wohnungsbürokratie, der Massentourismus auf Mallorca, der beginnt, das Verhalten der Einheimischen zu ändern, und anderes mehr. Doch im Zentrum steht die Todesstrafe, die wie ein Damoklesschwert nicht über den Opfern, sondern über dem Henker in spe schwebt. José Luis' Sorgen sind durchaus realistisch begründet. Die Todesstrafe wurde in Spanien meist mit der Garrotte vollzogen, einer Vorrichtung zum Erdrosseln des Delinquenten. Die letzten Hinrichtungen mit der Garrotte fanden in Spanien 1974 statt, und bei einem der beiden Opfer hat die Prozedur aufgrund der Unerfahrenheit des Henkers eine halbe Stunde gedauert. Der letzte Gang von José Luis' erstem "Kunden" gerät zu einer grotesken Umkehrung der üblichen Rollen. Während der Verurteilte teilnahmslos vor sich hin trottet, sträubt sich José Luis mit Händen und Füßen. Die Gefängniswärter müssen ihn regelrecht zur Hinrichtungsstätte schleifen, und kurz davor übergibt er sich. Schon vorher hat man ihm in der Gefängnisküche reichlich Alkohol eingeflößt. Der abgeklärte Amadeo sieht das alles gelassen. "Gesetz ist Gesetz", sagt er einmal, "und irgendwer muss es ausführen".


Ebenso wie Bardems DER TOD EINES RADFAHRERS, ist DER HENKER eine spanisch-italienische Coproduktion. Neben dem Star Nino Manfredi und einem Nebendarsteller war Kameramann Tonino Delli Colli der italienische Beitrag zum Film. Delli Colli war einer der renommiertesten italienischen Kameramänner - er drehte unter anderem 13 Filme für Pasolini, ZWEI GLORREICHE HALUNKEN, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD und ES WAR EINMAL IN AMERIKA für Sergio Leone, und einige Spätwerke von Fellini (mit dem Berlanga gut befreundet war). DER HENKER lief 1963 bei den Festspielen in Venedig, und verursachte eine kleine diplomatische Krise zwischen Spanien und Italien, denn der Film wurde von der Zeitgeschichte eingeholt. Im April bzw. August 1963 wurden der Kommunist Julián Grimau und die Anarchisten Francisco Granados Mata und Joaquín Delgado Martínez hingerichtet, was weltweite Proteste nach sich zog. In dieser Situation mochte das Franco-Regime keinen spanischen Film, der die Todesstrafe thematisiert, im Ausland gezeigt sehen. Der spanische Botschafter in Italien protestierte gegen die Vorführung in Venedig. Hinter der Kampagne stand vor allem Manuel Fraga Iribarne, von 1962-69 Tourismus- und Informationsminister, und in dieser Eigenschaft sowohl für das Filmwesen in Spanien als auch für die Kommunikation der Todesurteile an die Öffentlichkeit zuständig (wir werden ihm gleich nochmal in anderem Zusammenhang begegnen). Doch DER HENKER wurde auf dem Festival gezeigt und gewann den FIPRESCI-Preis. Franco persönlich soll daraufhin gesagt haben: "Berlanga ist kein Kommunist, er ist etwas schlimmeres als ein Kommunist, er ist ein schlechter Spanier."


Luis García Berlanga stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sein Vater war Politiker in der spanischen Republik, und nach dem Bürgerkrieg wurde er inhaftiert und zum Tod verurteilt. Teils um ihm zu helfen, teils aus Abenteuerlust, meldete sich Luis freiwillig zur Blauen Division, einem spanischen Verband, der für Hitler in Russland kämpfte. Er war jedoch nicht an Kämpfen beteiligt. Sein Vater wurde nicht hingerichtet, aber er blieb bis 1952 im Gefängnis und starb einige Monate nach seiner Freilassung. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg studierte Berlanga kurz Architektur und Literatur, doch 1947 wechselte er zur neu gegründeten Filmhochschule IIEC, wo er Juan Antonio Bardem kennenlernte. Nach dem gemeinsam mit Bardem gedrehten ESA PAREJA FELIZ war WILLKOMMEN, MR. MARSHALL sein erster allein inszenierter Spielfilm. Es geht um ein rückständiges Dorf, das sich auf den Empfang einer amerikanischen Delegation vorbereitet, die Gelder nach dem Marshall-Plan verteilen soll. Der Film lief 1953 in Cannes und gewann den Preis für die Beste Komödie, und es gab eine Besondere Erwähnung für Bardem, Berlanga und Miguel Mihura für das Drehbuch (Mihura trug allerdings so gut wie nichts dazu bei). Und WILLKOMMEN, MR. MARSHALL erregte ein Skandälchen, weil amerikanische Diplomaten und Edward G. Robinson in seiner Eigenschaft als Jury-Mitglied gegen den Film protestierten und ihm Antiamerikanismus vorwarfen. Das war kaum gerechtfertigt. Berlanga stichelte, wie so oft, in viele Richtungen, auch gegen die Amerikaner, aber in erster Linie doch gegen die eigenen Landsleute. Was Robinson betrifft, so vermutete Berlanga, dass er sich als besonders guter Patriot profilieren wollte, nachdem er in Hollywood ins Visier der Kommunistenjäger geraten war. Wie dem auch sein mag, der Rummel war gute Werbung und sorgte dafür, dass ESA PAREJA FELIZ, der zunächst keinen Verleih gefunden hatte, jetzt auch ins Kino kam. Nach den nicht ganz so erfolgreichen NOVIO A LA VISTA und CALABUCH folgte 1957 LOS JUEVES, MILAGRO. In einer Kleinstadt fabrizieren die Honoratioren und ein Gauner falsche Wunder, um einen Wallfahrtsort mit den entsprechenden Einnahmen zu kreieren. Da hier die katholische Kirche direkt attackiert wurde, schlug die Zensur heftig zu. Erst nach endlosen Änderungen wurde der Film freigegeben, und es wurde sogar ein nicht von Berlanga gedrehter Schluss angeklebt.


1959 und 1960 schrieb der bis dahin erfolglose Schriftsteller und Journalist Rafael Azcona die Drehbücher, jeweils nach eigenen Romanen, zu zwei Filmen von Marco Ferreri. (Der Italiener Ferreri drehte seine ersten drei Spielfilme in Spanien.) Die Filme machten Eindruck und brachten frischen Wind in das spanische Kino. Berlanga engagierte daraufhin Azcona für seinen nächsten Film PLÁCIDO - und dann für jeden seiner Filme bis 1987, insgesamt elf. (Azcona arbeitete auch weiterhin für Ferreri. Er war an insgesamt 17 seiner Filme beteiligt, darunter die bekanntesten, die skandalträchtigen DAS GROSSE FRESSEN und DIE LETZTE FRAU. Auch an einigen der besten Filme von Carlos Saura und am Oscar-gekrönten BELLE EPOQUE war Azcona beteiligt.) Azcona brachte ein pessimistisches Weltbild, gepaart mit schwarzem Humor, in Berlangas Filme ein. In PLÁCIDO geht es um weihnachtliche Wohlfahrtsaktivitäten der Oberschicht, an deren Ende die Reichen ihr Prestige gemehrt haben und die Armen ärmer sind als zuvor. Nach dem Trubel um EL VERDUGO bekam Berlanga Schwierigkeiten, und er drehte zwei seiner nächsten drei Filme im Ausland. Nach dem Ende der Diktatur konnte er 1978 mit LA ESCOPETA NACIONAL (wörtlich "die nationale Schrotflinte") seinen größten Publikumserfolg feiern. Diese sarkastische Komödie um eine Jagdgesellschaft in den 60er Jahren war von einem realen Ereignis inspiriert: Im Februar 1964 schoss der bereits erwähnte Manuel Fraga Iribarne auf einer Jagd versehentlich ins Hinterteil von Francos Tochter. Der Erfolg zog 1980 und 1982 zwei weitere Teile nach sich, die nun in der Gegenwart angesiedelt waren. Die Protagonisten der Trilogie, eine aristokratische Familie, müssen sich widerwillig an das neue demokratische Spanien anpassen.


Es folgten bis 1999 noch vier weitere Spielfilme und ein Fernseh-Zweiteiler, 2002 schließlich noch ein Kurzfilm. Im Gegensatz zum ausgesprochen linken Bardem war Berlangas politische Einstellung weniger fassbar, aber er war immer subversiv bis anarchisch, und er schöpfte dabei aus volkstümlichen Traditionen wie dem Sainete, schwankhafte und dabei sozialkritische Einakter mit Musik, die in Spanien vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein populär waren. Der im November 2010 verstorbene Berlanga gewann Festivalpreise in Cannes, Venedig, Berlin, Karlovy Vary und anderswo, und er erhielt zahllose Auszeichnungen und Ehrungen.


EL VERDUGO und weitere Filme Berlangas sind in Spanien auf DVD erschienen, abgesehen von WILLKOMMEN, MR. MARSHALL jedoch ohne Untertitel. Zu PLÁCIDO und EL VERDUGO gibt es auf einschlägigen Seiten englische Untertitel zum Download. Über Berlanga ist eine Dissertation erschienen, die man käuflich erwerben kann.

Samstag, 19. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 1: Juan Antonio Bardem

Teil 2: Luis García Berlanga

DER TOD EINES RADFAHRERS (span. MUERTE DE UN CICLISTA, ital. GLI EGOISTI)
Spanien/Italien 1955
Regie: Juan Antonio Bardem
Darsteller:
  • Lucia Bosé (María José)
  • Alberto Closas (Juan)
  • Bruna Corrà (Matilde)
  • Carlos Casaravilla (Rafa)
  • Otello Toso (Miguel)
  • Julia Delgado Caro (Juans Mutter)
  • Matilde Muñoz Sampedro (Nachbarin des Radfahrers)

Eine einsame Landstraße, irgendwo außerhalb von Madrid, im Morgengrauen. Eine Limousine braust durch den Regen - und fährt einen einsamen Radfahrer über den Haufen. Am Steuer sitzt María José de Castro, die Frau des reichen Industriellen Miguel Castro, neben ihr Juan Fernandez Soler, ihr Geliebter. Die beiden haben die Nacht irgendwo miteinander verbracht, und nun haben sie es eilig, wieder in die Stadt zu kommen. Juan steigt aus, um sich den bewusstlosen Radfahrer anzusehen, doch María José ruft ihn zum Wagen zurück. Niemand ist weit und breit zu sehen. Die beiden lassen den Verletzten liegen und fahren weiter. Am nächsten Tag macht auf einer Gesellschaft der geistreiche und etwas schmierige Kunstkritiker Rafa, der sich auf den Partys der High Society aushalten lässt, María José gegenüber Andeutungen, dass er sie am vorigen Tag gesehen habe, und dass er für sein Schweigen gewisse Gegenleistungen erwarte, was sie in Panik geraten lässt. Juan, ein Assistenzprofessor für Mathematik - eine Stellung, die er seinem einflussreichen Schwager verdankt -, liest unterdessen während der mündlichen Prüfung einer Studentin in der Zeitung, dass der Radfahrer gestorben ist. Gedankenabwesend bricht er die Prüfung ab, was dazu führt, dass Matilde Luque, die Studentin, durchfällt.


Juan, der seit dem Unfall aus dem Grübeln nicht mehr herauskommt, sucht die Wohnung des Radfahrers, eines einfachen Fabrikarbeiters, in einer schäbigen Mietskaserne auf. Er gibt sich als Reporter aus, um einerseits etwas über den Toten und seine Familie zu erfahren, und um andererseits herauszufinden, ob die Polizei etwas weiß. Er trifft die Witwe nicht an, aber eine Nachbarin erzählt ihm alles, was er wissen will. Die Polizei weiß nichts und glaubt nicht, den Unfall jemals aufzuklären. Doch beruhigt ist Juan nicht - es arbeitet in ihm. Rafa stellt unterdessen María José seine Forderungen: Er will nicht nur Geld, sondern auch sie, was sie angewidert zurückweist. Betrunken erzählt Rafa María Josés Mann Miguel daraufhin, was er weiß. Doch der ist gewillt, die ehrbare Fassade der Familie aufrechtzuerhalten, und bügelt Rafa ab. Und María José erkennt, dass Rafa nur von ihrem Verhältnis weiß, aber vom Unfall keine Ahnung hat. Nach Miguels Reaktion auf Rafa ist sie ihre Sorgen weitgehend los. Matilde stellt Juan wegen der Prüfung zur Rede, und sie wirft ihm vor, dass er selbstsüchtig sei und sich das nur wegen der Protektion durch seinen Schwager leisten könne. Juan kann nicht anders, als ihr recht zu geben, und er ist von ihrer Courage und Ehrlichkeit beeindruckt. Er war mit seinem bisherigen Leben ohnehin nicht zufrieden, insbesondere mit seiner Stellung an der Universität, die er nur seinen verwandtschaftlichen Beziehungen verdankte. Als aufgebrachte Studenten wegen seines Verhaltens eine gewalttätige Demonstration durchführen und seine Absetzung fordern, zieht er die Konsequenzen und tritt zurück. Und er spricht María José gegenüber aus, was sich in seinem Verhalten bereits andeutete: Er will sich der Polizei stellen, und er fordert sie auf, ihn zu begleiten ...


DER TOD EINES RADFAHRERS vereint Stilmittel des Film noir mit denen des Neorealismus, mit der von Lucia Bosé (alternative Schreibweise Bosè) gespielten María José als femme fatale. Die in Mailand geborene Bosé, die "Miss Italy" von 1947, stieg 1948 in die Schauspielerei ein. Hierzulande ist sie am besten durch ihre Hauptrollen in CHRONIK EINER LIEBE (1950) und DIE DAME OHNE KAMELIEN (1953), zwei Frühwerke von Michelangelo Antonioni, in Erinnerung. Bei ihrer Ankunft zu den Dreharbeiten in Madrid lernte sie den berühmten Stierkämpfer Luis Miguel Dominguín kennen, den sie wenig später heiratete. Die Ehe und die drei Kinder, die daraus hervorgingen, führten zu einer rund zehnjährigen Unterbrechung ihrer Karriere, doch nach ihrer Scheidung 1967 setzte sie ihre Laufbahn fort (ihre bislang letzte Rolle spielte sie 2007). Die anderen Darsteller in DER TOD EINES RADFAHRERS waren mir alle unbekannt, doch sie machen ihre Sache durchweg gut. Neben Bosé stellen Bruna Corrà (Matilde) und Otello Toso (Miguel) - sowie natürlich ein Teil der Finanzierung - den italienischen Anteil an der Coproduktion dar.


Die Welt der reichen Oberschicht und die proletarische Mietskaserne, die Juan aufsucht, bilden einen grellen Kontrast, doch im Vordergrund des Films stehen nicht die materiellen Klassengegensätze, sondern die Geisteshaltung des Vergessens und Verdrängens, der Flucht aus der Verantwortung. Man kann DER TOD EINES RADFAHRERS allegorisch verstehen: Der tote Radfahrer steht danach für die Klasse der Arbeiter und Bauern, die im Spanischen Bürgerkrieg und auch in den ersten Jahren danach zu Hunderttausenden interniert, gefoltert und ermordet wurden. Juan repräsentiert dann die Mittelschicht, die das siegreiche Regime mittragen muss, ob sie will oder nicht, und die zum Schweigen über die Verbrechen der Vergangenheit verurteilt ist. María José schließlich repräsentiert die Oberschicht, die Stützen des Systems, die von der Situation profitieren und ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen. Es gibt einige mehr oder weniger offene Hinweise auf die spanische Vergangenheit, auf den Bürgerkrieg. Die Stelle, an der der Radfahrer überfahren wird, und an der gegen Schluss des Films eine weitere entscheidende Szene stattfindet, war zugleich eines der Schlachtfelder im Krieg, wo Juan selbst in den Schützengräben lag, wie er María José erzählt. Juans Mutter sagt einmal: "Ich schaue oft in dieses Fotoalbum. Ich sehe meine Kinder aufwachsen. Die erste Kommunion, Schule, Militärdienst, Politik, der Krieg, der Tod." Kirche, Schule, Militär, Politik, Krieg, Tod - eine bemerkenswerte Reihe. Es gibt auch noch subtilere Hinweise, und vermutlich einige, die mir entgangen sind.


DER TOD EINES RADFAHRERS lief 1955 bei den Filmfestspielen in Cannes, jedoch nicht im Wettbewerb um die Goldene Palme, weil Bardem selbst in der Jury saß. Doch der Film gewann in Cannes den Preis der internationalen Filmkritiker (FIPRESCI-Preis). Juan Antonio Bardem (1922-2002) und sein Freund und Kollege Luis García Berlanga (1921-2010) gelten als die wichtigsten spanischen Regisseure der 50er und 60er Jahre (wenn man den Exilanten und mexikanischen Staatsbürger Luis Buñuel nicht berücksichtigt). Bardem entstammte einer Schauspielerfamilie. Sein Vater Rafael Bardem und seine Mutter Matilde Muñoz Sampedro spielten in fünf bzw. sieben seiner Filme mit, seine jüngere Schwester Pilar Bardem, ebenfalls Schauspielerin (vier Einsätze in Bardem-Filmen), ist die Mutter von Javier Bardem, inzwischen bekanntester Spross der Familie. J.A. Bardem war zeitlebens Kommunist und ab 1943 Mitglied der unter dem Franco-Regime verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Er machte einen Abschluss als Landwirtschaftsingenieur und trat eine Stelle in der Filmabteilung des Landwirtschaftsministeriums an, doch 1947 wechselte er an die Madrider Filmhochschule IIEC, die gerade erst nach dem Vorbild des italienischen CSC gegründet worden war, machte dort jedoch keinen Abschluss. Die Filmhochschule sollte eigentlich den staatlichen Einfluss auf das Filmwesen stärken, brachte jedoch (ähnlich wie das italienische Vorbild, das von Mussolini ins Leben gerufen wurde) eine Reihe von begabten und kritischen Geistern hervor. Am IIEC befreundete sich Bardem mit seinem Mitstudenten Berlanga, mit dem zusammen er 1949 den stummen Kurzfilm PASEO POR UNA GUERRA ANTIGUA schrieb und inszenierte. 1950 folgte ein Kurzfilm über den Madrider Flughafen, den Bardem allein drehte.

Das Filmschaffen im repressiven Spanien der 40er Jahre war von Belanglosigkeit und Mittelmäßigkeit geprägt - Musicals, Flamenco-Folklore, seichte Melodramen und Komödien. Bardem und seine Mitstreiter wollten das ändern. Ein Schlüsselereignis für den spanischen Film der 50er Jahre war eine Woche des Italienischen Films, die 1951 in Madrid stattfand, und in der vor allem die Hauptwerke des Neorealismus gezeigt wurden. (Ebenfalls gezeigt wurde Antonionis CHRONIK EINER LIEBE mit Lucia Bosé.) Bardem, Berlanga und andere bezogen ihre Inspiration daraus, ohne den Neorealismus direkt zu kopieren. In seiner Zeit am IIEC hatte Bardem auch die Montagetheorien des sowjetischen Stummfilms studiert - zeitweise trug er den Spitznamen "Bardemstein", obwohl er mehr Wsewolod Pudowkin als Eisenstein zuneigte.


Das franquistische Regime kam den Bestrebungen nach besseren Filmen etwas entgegen. Man wollte die internationale Isolierung durchbrechen und nicht ewig das Schmuddelkind unter den westlichen Staaten bleiben, deshalb gab man sich ein etwas liberaleres Antlitz (mit Erfolg: 1953 wurde ein Truppenstationierungsabkommen mit den USA geschlossen, und 1955 trat Spanien der UNO bei) und versuchte, mit kulturellen Leistungen international zu punkten. Das Spanische Filminstitut, das dem Tourismus- und Informationsministerium unterstand, war teilweise mit relativ gemäßigten und fachkundigen Leuten besetzt und bildete bisweilen ein Gegengewicht zur von der katholischen Kirche dominierten allgegenwärtigen Zensur (viele der Zensoren waren Priester). Andererseits wurde der Film als ein Propagandamittel betrachtet, mit dessen Hilfe die Bevölkerung auf die nationale Einheit getrimmt werden sollte, und dementsprechend gab es eine Reihe von Vorschriften, die beachtet werden mussten. Beispielsweise durfte in spanischen Filmen nur Spanisch gesprochen werden, und nicht etwa Katalanisch, Galicisch oder gar Baskisch.


Bardem und Berlanga schlossen sich 1951 wieder zusammen und schrieben und inszenierten gemeinsam ESA PAREJA FELIZ (übersetzt "Dieses glückliche Paar"). Berlanga konzentrierte sich dabei auf die mise-en-scène, Bardem auf die Schauspielerführung. Der Film war nicht nur vom Neorealismus beeinflusst, sondern auch von Jacques Beckers ZWEI IN PARIS (1947), der eine ähnliche Handlung aufweist. Der für seine Zeit in Spanien ungewöhnliche ESA PAREJA FELIZ fand zunächst keinen Verleih und kam erst 1953 heraus. 1952 schrieben Bardem und Berlanga das Drehbuch zu WILLKOMMEN, MR. MARSHALL, bei dem Berlanga allein Regie führte, und 1954 arbeitete Bardem am Script von Berlangas NOVIO A LA VISTA mit. Danach entwickelten sich die beiden filmisch etwas auseinander, blieben jedoch befreundet. Während Bardem einem geradlinigen, politisch engagiertem Stil verpflichtet blieb, benutzte Berlanga meist das Mittel der Farce, um menschliche und gesellschaftliche Schwächen offenzulegen. Ich werde im zweiten Teil des Artikels auf Berlanga zurückkommen.

Die ersten von Bardem allein inszenierten Spielfilme, CÓMICOS und FELICES PASCUAS, entstanden 1953 bzw. 1954, dann folgte DER TOD EINES RADFAHRERS. 1956 erschien HAUPTSTRASSE (CALLE MAYOR), der neben DER TOD EINES RADFAHRERS als Bardems bester Film gilt. Eine Gruppe von Taugenichtsen bringt einen gutaussehenden Trottel dazu, einer schüchternen Einzelgängerin einen üblen Streich zu spielen, indem er ihr schöne Augen macht. Wider Erwarten verlieben sich die beiden. Wie in DER TOD EINES RADFAHRERS, vereint auch HAUPTSTRASSE die präzise Schilderung psychologischer Vorgänge mit subtiler Gesellschaftskritik. Die Hauptrolle spielte die Amerikanerin Betsy Blair, die ein Jahr zuvor in MARTY von Delbert Mann eine ähnliche Rolle hatte und dafür für den Oscar nominiert wurde (MARTY gewann auch die Goldene Palme in Cannes, als Bardem in der Jury saß). DIE RACHE (LA VENGANZA) von 1958, ein Drama um Rache und Vergebung mit Raf Vallone in der Hauptrolle, war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Während der Dreharbeiten zu HAUPTSTRASSE, kurz nachdem DER TOD EINES RADFAHRERS den Kritikerpreis in Cannes erhalten hatte, wurde Bardem erstmals inhaftiert, aufgrund internationaler Proteste jedoch nach zwei Wochen wieder freigelassen (unter den Protestierenden befanden sich beispielsweise Charlie Chaplin und Albert Schweitzer). Es blieb nicht sein letzter Gefängnisaufenthalt: Insgesamt war Bardem siebenmal in Haft. Es versteht sich auch von selbst, dass viele seiner Filme von der Zensur gebeutelt wurden. Oft musste er umfangreiche Änderungen an den Drehbüchern und Schnittauflagen hinnehmen, und auch der Schluss von DER TOD EINES RADFAHRERS machte Konzessionen an die Zensur. Nach seiner ersten Verhaftung erwog Bardem die Emigration, wurde aber zum Bleiben überredet.


Bardem versuchte nicht nur durch seine Arbeit als Regisseur, die Qualität des spanischen Films zu heben. 1953 gründete er die Filmzeitschrift Objetivo, die das Niveau der Filmkritik in Spanien verbessern sollte, und die auch über von der Zensur verbotene Filme berichtete. Nach zwei Jahren und neun Ausgaben wurde die Zeitschrift von den Behörden selbst verboten. 1955 beteiligte sich Bardem an einer Filmkonferenz, die als Conversaciones de Salamanca bekannt wurde. Als einer der Wortführer auf der Konferenz hielt er eine Brandrede, in der er das traditionelle spanische Kino in Grund und Boden verdammte. Am wichtigsten war jedoch Bardems Engagement in der kommunistisch beeinflussten Filmproduktionsfirma Unión Industrial Cinematográfica (UNINCI), die von 1949 bis 1962 existierte. Ab 1958 war Bardem Präsident dieser Firma, die bereits Berlangas WILLKOMMEN, MR. MARSHALL produziert hatte. Zu seinen Mitstreitern in dieser Phase gehörten Berlanga, Ricardo Muñoz Suay, Carlos Saura und der Stierkämpfer Domingo Dominguín (der weniger berühmte Bruder des bereits erwähnten Luis Miguel Dominguín). Auch progressive Schauspieler wie Francisco (Paco) Rabal, Fernando Fernán Gómez und Fernando Rey gehörten zum Dunstkreis von UNINCI. Der größte Triumph der Firma führte zugleich zu ihrem Untergang. 1961 produzierte UNINCI auf spanischer Seite Luis Buñuels VIRIDIANA, mit ausdrücklicher Billigung des Spanischen Filminstituts unter seinem damaligen Leiter José María Muñoz Fontán. Bardem mochte Buñuels Drehbuch nicht - es war ihm zu unpolitisch -, und er bezeichnete es Saura, Buñuels größtem Fan und Fürsprecher innerhalb UNINCI, gegenüber sogar als "Schwachsinn" und Buñuel selbst als "Rechtsanarchisten". Doch der Film wurde gemacht, auch deshalb, weil der mexikanische Coproduzent Gustavo Alatriste fast die gesamten Kosten trug, und mit ein paar Tricks und Protektion durch Muñoz Fontán durch die Zensur gebracht. VIRIDIANA lief 1961 als offizieller spanischer Wettbewerbsbeitrag in Cannes, wo er in letzter Minute eintraf, und gewann die Goldene Palme (gemeinsam mit einem Film von Henri Colpi). José Maria Muñoz Fontán persönlich nahm freudestrahlend die Trophäe entgegen, doch bald verging ihm das Lachen. In der Vatikan-Postille L'Osservatore Romano erschien unmittelbar nach dem Festival ein Artikel, der VIRIDIANA als Blasphemie verdammte, und der katholische Klerus in Spanien und anderswo stimmte in den Chor ein. Die Franquisten fielen aus allen Wolken. Muñoz Fontán und die Mitglieder seiner Delegation in Cannes wurden noch während der Heimreise gefeuert, VIRIDIANA wurde in Spanien verboten und alle greifbaren Kopien eingezogen und vernichtet, und die Medien mussten den Film totschweigen. Doch es war alles umsonst: Buñuel, Alatriste und eine Kopie des Films waren längst wieder in Mexiko, von wo aus VIRIDIANA weltweit vermarktet wurde. Das Regime rächte sich, indem die Behörden und die Justiz UNINCI soweit behinderten, dass die Firma keinen einzigen Film mehr drehen konnte und bald bankrott war.


Das war für den progressiven Film in Spanien ein herber Schlag, insbesondere für junge, noch nicht arrivierte Regisseure wie Saura, der nach seinem ersten Spielfilm DIE STRASSENJUNGEN von 1960 den nächsten erst 1964 drehen konnte. Bardem selbst konnte in den 60er und 70er Jahren weiterarbeiten, aber die Qualität und der Erfolg seiner Filme nahmen langsam ab. DIE VERSUCHUNG HEISST JENNY (1965) mit Melina Mercouri, James Mason und Hardy Krüger war eine uninspirierte internationale Coproduktion, DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL (1973) eine Jules-Verne-Verfilmung mit Omar Sharif als Kapitän Nemo, die sowohl als Spielfilm wie auch als TV-Miniserie erschien. Doch dazwischen gab es immer noch Filme, in denen anhand der Widersprüche und Entfremdung einzelner Protagonisten (die überdurchschnittlich oft Juan hießen) das nach wie vor repressive System unterschwellig attackiert wurde. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 genoss Bardem natürlich weit mehr Freiheiten als zuvor, und sein kreatives Potential war noch nicht erschöpft, und auch seine politische Einstellung hatte er sich bewahrt. SIEBEN TAGE IM JANUAR (1979) erzählt die wahre Geschichte der Ermordung einiger Kommunisten durch eine faschistische Untergrundorganisation im Jahr 1977, und DIE MAHNUNG (1982), eine Coproduktion verschiedener Ostblockstaaten, handelt von den Aktivitäten eines bulgarischen Widerstandskämpfers gegen die Nazis in den 30er Jahren. Nach einigen Fernseharbeiten folgte 1998 ein mit RESULTADO FINAL passend betitelter letzter Spielfilm. Der 2002 verstorbene Bardem war einige Jahre der Vorsitzende der spanischen Regisseursvereinigung, und er erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Im Jahr seines Todes erschien seine Autobiographie.


DER TOD EINES RADFAHRERS ist in den USA bei Criterion und in Hongkong bei Bo Ying (in guter Qualität) auf DVD erschienen (engl. Titel DEATH OF A CYCLIST).

Mittwoch, 16. Februar 2011

Oh, mein Quax-Papa!

Feuerwerk
(Feuerwerk,  Deutschland 1954)

Regie: Kurt Hoffmann
Darsteller: Lilli Palmer, Karl Schönböck, Romy Schneider, Claus Biederstaedt, Werner Hinz, Rudolf Vogel, Margarete Haagen, Ernst Waldow, Liesl Karlstadt, Lina Carstens u.a.

"Und Kinder haben wir auch; ich sorge schon dafür", singt Claus Biederstaedt, Biedermann der fünfziger Jahre, der blutjungen Romy Schneider mit einem Blick zu, wie man ihm in den Filmen von Ernst Hofbauer sicher nicht mehr begegnen sollte. Und Hofbauer war natürlich auch nicht der Regisseur des musikalischen Machwerks, das man sonst  als typisches Produkt der Zeit in Ruhe seinen Weg gehen liesse. Hinter "Feuerwerk" steht vielmehr der Mann, der für Goebbles 1941 den "lustigen" Propagandastreifen "Quax, der Bruchpilot" gedreht hatte und das Publikum der Adenauer-Zeit mit seichten, gelegentlich leicht  im Sinne der Epoche moralisierenden Filmchen  bediente, die es vergessen lassen sollten, was für Zeitgenossen noch unter ihm lebten - vor allem aber auch, dass selbst "lustige" Propagandafilme alles andere als lustig waren: Kurt Hoffmann.

Hoffmann,  bekannt für musikalische Tändeleien wie den später dank Billy Wilder's Remake "Some Like It Hot" (1959) zu Ruhm gelangtem "Fanfaren der Liebe" (1951), "Königin einer Nacht" (1951) und "Das Wirtshaus im Spessart" (1957), ergriff jede  sich ihm bietende Gelegenheit, um von der unmittelbaren Vergangenheit abzulenken und biedere Gemütlichkeit zu verbreiten, während Regisseure wie Wolfgang Staudte und Helmut Käutner schon kurz nach Kriegsende mit dem begonnen hatten, was als Vergangenheitsbewältigung bezeichnet wird. Als es ihm dann endlich, endlich an der Zeit erschien, einen eigenen Beitrag zu dieser leidigen Angelegenheit zu liefern, drehte er seinen vielleicht verlogensten, vor allem vom ausländischen Publikum leider lange überschätzten Streifen "Wir Wunderkinder" (1958), der - obwohl gut gespielt (sogar die Satiriker Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller gaben sich für die Rahmenhandlung her!) - noch immer mit gemütlichen, verharmlosenden Witzchen aufwartete, während Staudte mit "Rosen für den Staatsanwalt" (1959) eine der boshaftesten Satiren über die verschont gebliebenen Alt-Nazis der 50er lieferte. - Ich verachte Kurt Hoffmann wie keinen anderen Regisseur seiner Zeit, lasse auch jede "Grosse Starparade" (1954) und sämtliche "Mädels vom Immenhof" (1955)  gerne durchgehen, während ich bei ihm immer nur Heuchelei entdecke. Und hier zeigt sich eben, wie sehr der Filmfreund grundsätzlich einen Kontext  in seine Betrachtung miteinbezieht, ihm bis zu einem gewissen Grad unterworfen ist - dass eine "immanente" Analyse (seit Derrida gern in eine bestimmte Richtung  erweitert und mit dem schmückenden Begriff "Dekonstruktion" versehen) sogar wohl letztlich als Illusion betrachtet werden muss, zu der man sich höchstens aus modischen Gründen bekennen mag.

1939  vertonte der Schweizer Komponist Paul Burkhard (1911-1977) ein Lustspiel von Jürg Amstein, das  sich - wie brisant! - über die Moral des Bürgertums der Jahrhundertwende lustig machte. Nun ist es sicher nicht edelste Pflicht eines Musicals, sich aktueller Themen mit gesellschaftskritischer Absicht anzunehmen; entscheidend sind eher die eingängigen Melodien, die es uns liefert. - Und Burkhard hatte Talent: sein Stück "Der Schwarze Hecht" wurde zu einem riesigen Erfolg, der in der Schweiz noch heute gern vor allem von Laienbühnen einem begeisterten Publikum zugänglich gemacht wird. Einer seiner Songs, "Oh, mein Papa", wurde sogar zu einem Welthit, nachdem ihn die Sängerin Lys Assia nach Deutschland ex- und Eddie Fisher in die USA importiert hatten.



Jetzt bedurfte es nur noch des jüdischen Regisseurs und Produzenten Erik Charell, der Burkhards Musical  nach seiner Rückkehr aus den Staaten in München unter dem Titel "Feuerwerk" erfolgreich herausbrachte -  schon witterte Hoffmann, der Regisseur des guten (er legte Wert auf die Spezifizierung!) Unterhaltungsfilms, eine weitere Möglichkeit, seine "blütenreine" Adenauer-Weste noch weisser zu waschen. Er bot sich als Regisseur für die Filmfassung  des biederen Stücks förmlich an und durfte sich sogar darüber freuen, dass Charell  als Co-Produzent Lilli Palmer für die Rolle der Iduna nach Deutschland zurückholte. - Lilli Palmer, auch wegen ihrer jüdischen Herkunft ausgewandert, hatte Hollywood nach dem Skandal um den Suizid der Geliebten ihres damaligen Gatten Rex Harrison ohnehin den Rücken gekehrt, feierte jedoch am Broadway Triumphe (unter anderem mit dem Stück "Bell , Book and Candle", das 1958 mit Kim Novak in der Hauptrolle verfilmt werden sollte). Es zeugt vom eigenartigen, gar unschuldigen Wegblicken ihrer Generation, dass sie die verschlungenen Wege ihrer Flucht ins Exil und die keineswegs immer angenehme Arbeit in Hollywood (etwa mit dem Tyrannen Fritz Lang) in ihren Memoiren "Dicke Lilli - gutes Kind" (1974) zwar ausführlich beschreibt, jedoch kein negatives Wort über die ungeläuterte Vergangenheit des Regisseurs  verliert, mit dem sie den ersten deutschen Film nach ihrer Rückkehr drehte.

Zur recht substanzlosen Handlung: Der Fabrikant Oberholzer lädt zur Feier seines 60. Gebutstags die brave Verwandtschaft ein. Als jedoch der Zirkusdirektor Obloski mit seiner polnischen Frau Iduna mitten in das verkrampfte Fest platzt und sich als Enfant terrible der Familie, Oberholzers vor vielen Jahren verschwundener Bruder, zu erkennen gibt, lässt sich die bürgerliche Fassade nicht länger aufrecht erhalten: Die Männer sind sehr zum Ärger ihrer Gattinnen augenblicklich fasziniert von Idunas Charme, und Anna, Oberholzers Tochter, lässt sich von den Erzählungen des Onkels begeistert in eine ihr bislang fremde Welt entführen. Während sich die junge Anna im zweiten Akt der ursprünglichen (schweizerischen) Fassung des Theaterstücks lediglich in eine Zirkuswelt, in der ihre biederen Onkel sich in Clowns verwandeln, hineinträumt, benötigten das Münchner Publikum und der Film natürlich die von Iduna mit Sorge beobachtete Flucht in den richtigen Zirkus und das vorübergehende Verlassen des jungen Gärtners (die ideale Gelegenheit für Hoffmann, den Gartenzwerg, Inbegriff des Kitschs, ins Bild zu bringen), der sie liebt - und schon in den 50er Jahren (!) dafür sorgen kann, dass man Kinder hat. Was für ein höchst bürgerliches Happy End  dem Zuschauer blüht, kann man sich leicht ausmalen.

Die Palmer darf mit den beiden Hits "Oh, mein Papa" und "Das Lied vom Pony" brillieren, ein paar weitere, dem deutschen Theater- und Filmpublikum der  Zeit "angemessene" Songs (u.a. "Ein Leben lang verliebt") wurden von Paul Burkhard für Charell extra komponiert, weil sich nicht das ganze Musical ins Hochdeutsche transformieren liess - und man sich wohl auch kaum einen Rudolf Vogel vorstellen kann, der seiner Frau ein "Ich wott hüt nit vernünftig si!" entgegenschmettert. - Romy Schneider, die als Anna erst ihre zweite Filmrolle spielte, sollte noch einige Deutschmeister und Franzls über sich ergehen lassen müssen, bevor sie aus Frankreich Angebote erhielt, die ihrer würdig waren. --- Und "Quax, der Bruchpilot", der "lustige" Propagandafilm, den der sich ein Leben lang durchmogelnde Regisseur mit dem sich ebenfalls ein Leben lang durchmogelnden Schauspieler Heinz Rühmann zur Freude des Führers gedreht hatte, wird vom Fernsehen noch heute regelmässig in aller Unschuld ausgestrahlt. Nicht immer vergeht, hélas, der - zweifelhafte! - Ruhm der Welt! Vielleicht sollte man deshalb Hoffmanns billiges Verdrängungsfilmchen, das wegen seines für die damalige Zeit farbenprächtigen Tempos (welche Auszeichnung!) immer wieder gelobt wird, resignierend links liegen lassen und sich gelegentlich eine grundsätzlich süffigere Theatervorstellung des "Schwarzen Hechts" in der Schweiz genehmigen, möge sie nun von der "Emmentaler Liebhaberbühne" oder einem "Profi"-Theater angeboten werden.