Thomas Hardy (1840-1928) ist im deutschsprachigen Raum vor allem als bedeutender Erzähler bekannt, der in seinen Romanen nachzeichnete, wie sich sein ländliches England, das noch die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in eine von der Industrialisierung und einem rücksichtslosen Egoismus beherrschte Nation verwandelte, die nichts von ihren Opfern hören wollte. Dass Hardy als Lyriker nicht weniger bedeutend, ja vielleicht sogar noch einflussreicher war, dürfte, da sich Gedichte nur schwer und unzureichend in andere Sprachen übersetzen lassen, neben Fachleuten vor allem Liebhaber interessiert haben.
Tatsächlich fühlte sich Hardy, der Architektur studiert hatte, von Anfang an zum Lyriker berufen. Seine Gedichte fanden allerdings bei den Verlegern, die ganz auf den an die Romantik anknüpfenden Lord Alfred Tennyson und die "dramatic poetry" eines Robert Browning fixiert waren, kein Gehör. Und so wandte er sich dem im Viktorianischen Zeitalter ohnehin beliebten Roman zu, der ihm auch zu grossem Erfolg verhalf. - Als seine zunehmend pessimistischer werdenden Werke jedoch gegen Ende des Jahrhunderts auf harsche Kritik stiessen ("Jude the Obscure", 1895, wurde von boshaften Geistern in "Jude the Obscene" umbenannt), besann er sich wieder auf sein eigentliches Gebiet und veröffentlichte bis zu seinem Tod im Jahre 1928 mehrere Gedichtbände. Sie enthielten neben neuen Versen auch jene Arbeiten, die bereits während seiner Karriere als Romanschriftsteller entstanden waren; und heute darf man sagen, Thomas Hardy sei mit seinen über 900 Gedichten für die englische Lyrik des 20. Jahrhunderts (von den jung verstorbenen "War Poets" bis zu Philip Larkin, Ted Hughes oder Jon Silkin) von ähnlich grosser Bedeutung gewesen wie Walt Whitman für die amerikanische. Seine Rückbesinnung auf die englische Tradition (auch die der "oral poetry") führte letztlich dazu, dass der Modernismus etwa eines T.S. Eliot oder Ezra Pound nur vorübergehend Nachahmer fand.
Ländliche Idylle im 19. Jahrhundert: "Der Heuwagen" von John Constable (1776-1837)
Hardy's Lyrik ist nicht nur in metrischer und formaler Hinsicht äusserst vielgestaltig; sie umfasst neben Gedichten, in denen der Dichter als "private man" zum Ausdruck kommt, auch "Lieder" und Balladen (in den sarkastischen "Satires of Circumstance" aufs Nötigste reduziert) oder Verse, in denen er sich philosophischer Themen annimmt (Gedichte wie "Hap" erwecken z.B. den Eindruck, er hadere mit Gott wegen dessen Nicht-Existenz). Seine "public poems" wiederum zeigen, welch würdiger 'poeta laureatus' er eigentlich gewesen wäre, fand er doch gültige Worte für den Burenkrieg ("Drummer Hodge"), den Untergang der Titanic ("The Convergence of the Twain") und natürlich den Ersten Weltkrieg. - Was alle diese trotz gewisser Eigenheiten (Rückgriffe auf archaisches Vokabular, Wortneuschöpfungen) leicht zu verstehenden Gedichte durchzieht: Dem Augenblicklichen wird das Bleibende der Natur (die er etwa in "Snow in the Suburbs" auch in London entdeckt) entgegengestellt, das Werden und Vergehen betont ("Life and Death at Sunrise") - und auf die - zweifellos oft geringe - Hoffnung verwiesen (etwa wenn das lyrische Ich in "The Darkling Thrush" am letzten Tag des Jahres in der kalten Dämmerung den freudigen Klang einer alten Drossel vernimmt).
Es ist verständlicherweise schwierig, aus dieser riesigen Anzahl von Versen eine Handvoll Lieblingsgedichte auszuwählen. Der eine mag das schwer zu deutende "In Front of the Landscape" bewundern, der andere dem späten kleinen "How She Went to Ireland" den Vorzug geben. Wenn jedoch so etwas wie ein ultimatives, sogar von den dem Dichter sonst eher nicht so gesonnenen "New Critics" geachtetes Hardy-Gedicht existiert, dann ist es "During Wind and Rain":
During Wind and Rain
They sing their dearest songs --
He, she, all of them -- yea,
Treble and tenor and bass,
And one to play;
With the candles mooning each face. ...
Ah, no; the years O!
How the sick leaves reel down in throngs!
They clear the creeping moss --
Elders and juniors -- aye,
Making the pathways neat
And the garden gay;
And they build a shady seat. ...
Ah, no; the years, the years;
See, the white stormbirds wing across!
They are blithely breakfasting all --
Men and maidens -- yea,
Under the summer tree,
With a glimpse of the bay,
While the pet fowl come to the knee. ...
Ah, no; the years O!
And the rotten rose is ripped from the wall.
They change to a high new house,
He, she, all of them -- aye,
Clocks and carpets and chairs
On the lawn all day,
And brightest things that are theirs. ...
Ah, no; the years, the years;
Down their carved names the raindrop plows.
Kritiker vermuteten schon früh, das im Band “Moments of Vision” (1917) erschienene Gedicht sei im Umfeld der “Poems of 1912-13” anzusiedeln, in denen Hardy schuldig, fragend, sich erinnernd dem für ihn unerwarteten Tod seiner ersten Frau Emma, einer Pastorentochter, nachging, mit der ihn einst eine grosse Liebe verband, die jedoch in eine gegenseitige Entfremdung und ein jahrelanges wortloses Nebeneinander mündete. Und man stellte nach der Veröffentlichung der “Notebooks” von Emma tatsächlich auch fest, dass Hardy für die ersten Zeilen einer jeden Strophe von “During Wind and Rain” eine Jugenderinnerung der Verstorbenen benutzte (er hatte in Cornwall die Orte besucht, an denen sie aufwuchs). - Dies mindert jedoch in keiner Weise die Bedeutung und Eindringlichkeit des Gedichts, in dem einem unbeschwerten, hoffnungsvollen Leben das Vergehen und der Tod entgegengestellt werden.
Ich will mich hier nicht allzu detailliert in der “Kunst der Interpretation” üben. Der Leser erkennt von alleine vier auffallend analog und präzise gestaltete Strophen, die dennoch in Details voneinander abweichen. Der erste Teil einer jeden Strophe schildert jeweils einen kleinen Ausschnitt aus einem glücklichen, möglicherweise mit den Augen eines staunenden Kindes wahrgenommenen Familienlebens, wobei in der zweiten Zeile in einem Semi-Refrain auf unterschiedliche Weise das Gemeinsame betont wird (he, she, all of them; elders and juniors etc.). Man kann sicher vieles in diese Szenen hineinlesen (etwa das langsame Erwachsenwerden), betrachtet sie aber wohl am besten als idyllische Momente in einem ländlichen England, in dem sich der Einzelne noch in einer singenden, den Garten bearbeitenden oder zusammen im Sommer draussen frühstückenden Gemeinschaft aufgehoben fühlt, die, man hat sich nach oben gearbeitet, am Ende ein grösseres Haus bezieht. Solche Momente kennen nur sich selber, bedenken ihre Vergänglichkeit nicht.
Max Gate, Dorchester. Das Haus, das Thomas Hardy ab 1885 bis zu seinem Tod bewohnte.
Hier entstanden viele seiner Gedichte.
Auffallend an der Gestaltung dieser Episoden ist das Bemühen, den Leser zum Beispiel durch Alliterationen (“shady seat”, “blithely breakfasting”) und das leichte Gleiten der Verse regelrecht zum lauten Mitlesen einzuladen, wozu ihn schon das gemeinsame Singen am Anfang aufzufordern scheint. Hardy, dem nachgesagt wird, vielen seiner Gedichte die Rhythmen alter Lieder zugrunde gelegt zu haben, schliesst hier an die Tradition der ‘oral poetry’ mit ihrem liedhaften Charakter an, der vom Zuhörer ohnehin eine Teilnahme erwartet.
Die auf diese Weise auch vom Leser geteilten Glücksmomente werden allerdings im jeweils zweitletzten, leicht variierenden Vers durch das Klagen über das Vergehen der Jahre in Frage gestellt - und im letzten Vers einer jeden Strophe kündigt sich der Sturm an, der am Ende den heftigen Regen über die Grabsteine der mittlerweile Verstorbenen, die einst der kleinen Momente teilhaftig geworden waren, prasseln lässt. Diese letzten Verse weisen auch eine hinterhältige Verbindung zur vorangegangenen Szene auf: dem Singen wird das Geräusch der kranken hinabwirbelnden Blätter entgegengesetzt, den fleissigen Bewegungen im Garten das rasche Vorüberfliegen der Vögel... --- Vor allem aber gerät selbst ein Engländer, der sich zum lauten Mitlesen verführen liess, beim Lesen dieser Verse mit ihren vielen Plosivlauten und anderen ungewohnten Konsonantenanhäufungen (“reel down in throngs”, "the rotten rose is ripped" etc.) beinahe ins Stottern. Denn diese Verse richten sich nicht nach der "sangbaren" mündlichen Überlieferung; sie sind im wahrsten Sinne des Wortes “literate poetry”, und wer sie zusammen, als Gedicht für sich liest, erkennt rasch, dass man sie eigentlich als Grabinschrift, als Epitaph, betrachten kann.
So stehen Leben und Tod einander in einem Gedicht gegenüber, und der Leser, eben noch zum Mit-"Singen" verführt, fühlt sich aus seinem Rhythmus hinausgeworfen. Es ist dies ein bezeichnender, wenn auch nicht immer in solcher Perfektion zu findender Wesenszug der Gedichte Thomas Hardy's, die der im 19. Jahrhundert gerne zelebrierten Idylle und ihrer Eindeutigkeit noch etwas anderes hinzufügen: Er fordert im Gegensatz zu den Modernisten den Leser nicht zum mühsamen Interpretieren auf, sondern nimmt ihn scheinbar bei der Hand, lädt ihn ein, um ihm dann doch den endgültigen Zugang zu verwehren. Im Titanic-Gedicht geschieht dies beispielsweise durch geradezu groteske Bilder, die dem Schrecken über das Unglück die Vergänglichkeit menschlicher Überheblichkeit entgegenstellen. Das lyrische Ich in "Wessex Heights" wiederum verneint die angebliche Befreiung von "Gedanken-Fesseln" auf den Höhen allein schon durch die harten Laute ("mind-chains do not clank where one's next neighbour is the sky"). Weitere Beispiele gibt es zuhauf. - Hardy findet in dem kleinen philosophischen Gedicht “Nature’s Questioning” sogar die Worte, die dieses Verhalten des Dichters, eine fehlende Eindeutigkeit, erklären: “No answerer I”. Ich bin nicht der Mann, der für euch die Antworten hat. - Und tatsächlich: Er war nur der Mann, der das unerklärliche, mächtige Walten der Natur beschrieb, der seinem "During Wind und Rain" mit dem während des Ersten Weltkriegs geschriebenen Gedicht "In Time of 'The Breaking of Nations'" auch das Bleibende inmitten der Zerstörung entgegenstellte:
Yonder a maid and her wight
Come whispering by:
War's annals will cloud into night
Ere their story die.
Und er war der Mann, der für sein ländliches England, deren singende und arbeitende Gemeinschaft mit Leben und Sterben in Einklang war, einzigartige Verse fand, aber auch das Vergehen dieses Englands in Worte fassen musste.
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Auch wenn es mir nicht gelungen sein sollte, jemanden zur Lektüre einzelner Gedichte dieses grossen Lyrikers, der mich schon seit vielen Jahren begleitet, zu bewegen, pausiere ich jetzt für fünf, sechs Wochen als Blogger und überlasse das Feld Manfred Polak, der euch sicherlich bei Gelegenheit spannende Beiträge zu bieten hat. - Bekanntlich stehen meine Ausflüge in die Literatur aber meistens nicht zusammenhanglos in der Gegend herum. Dieses Mal handelt es sich sogar um eine Verpflichtung, nach den Ferien einen Film zu besprechen, der mir schon lange am Herzen liegt. Ich kann euch versprechen: Auch in diesem Film werden wir das Singen einer ländlichen Gemeinschaft vernehmen - und auch dort peitscht der Regen über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins. - Wir lesen uns!