Thomas Hardy (1840-1928) ist im deutschsprachigen Raum vor allem als bedeutender Erzähler bekannt, der in seinen Romanen nachzeichnete, wie sich sein ländliches England, das noch die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in eine von der Industrialisierung und einem rücksichtslosen Egoismus beherrschte Nation verwandelte, die nichts von ihren Opfern hören wollte. Dass Hardy als Lyriker nicht weniger bedeutend, ja vielleicht sogar noch einflussreicher war, dürfte, da sich Gedichte nur schwer und unzureichend in andere Sprachen übersetzen lassen, neben Fachleuten vor allem Liebhaber interessiert haben.
During Wind and Rain
They sing their dearest songs --
He, she, all of them -- yea,
Treble and tenor and bass,
And one to play;
With the candles mooning each face. ...
Ah, no; the years O!
How the sick leaves reel down in throngs!
They clear the creeping moss --
Elders and juniors -- aye,
Making the pathways neat
And the garden gay;
And they build a shady seat. ...
Ah, no; the years, the years;
See, the white stormbirds wing across!
They are blithely breakfasting all --
Men and maidens -- yea,
Under the summer tree,
With a glimpse of the bay,
While the pet fowl come to the knee. ...
Ah, no; the years O!
And the rotten rose is ripped from the wall.
They change to a high new house,
He, she, all of them -- aye,
Clocks and carpets and chairs
On the lawn all day,
And brightest things that are theirs. ...
Ah, no; the years, the years;
Down their carved names the raindrop plows.
Ich will mich hier nicht allzu detailliert in der “Kunst der Interpretation” üben. Der Leser erkennt von alleine vier auffallend analog und präzise gestaltete Strophen, die dennoch in Details voneinander abweichen. Der erste Teil einer jeden Strophe schildert jeweils einen kleinen Ausschnitt aus einem glücklichen, möglicherweise mit den Augen eines staunenden Kindes wahrgenommenen Familienlebens, wobei in der zweiten Zeile in einem Semi-Refrain auf unterschiedliche Weise das Gemeinsame betont wird (he, she, all of them; elders and juniors etc.). Man kann sicher vieles in diese Szenen hineinlesen (etwa das langsame Erwachsenwerden), betrachtet sie aber wohl am besten als idyllische Momente in einem ländlichen England, in dem sich der Einzelne noch in einer singenden, den Garten bearbeitenden oder zusammen im Sommer draussen frühstückenden Gemeinschaft aufgehoben fühlt, die, man hat sich nach oben gearbeitet, am Ende ein grösseres Haus bezieht. Solche Momente kennen nur sich selber, bedenken ihre Vergänglichkeit nicht.
Auffallend an der Gestaltung dieser Episoden ist das Bemühen, den Leser zum Beispiel durch Alliterationen (“shady seat”, “blithely breakfasting”) und das leichte Gleiten der Verse regelrecht zum lauten Mitlesen einzuladen, wozu ihn schon das gemeinsame Singen am Anfang aufzufordern scheint. Hardy, dem nachgesagt wird, vielen seiner Gedichte die Rhythmen alter Lieder zugrunde gelegt zu haben, schliesst hier an die Tradition der ‘oral poetry’ mit ihrem liedhaften Charakter an, der vom Zuhörer ohnehin eine Teilnahme erwartet.
Die auf diese Weise auch vom Leser geteilten Glücksmomente werden allerdings im jeweils zweitletzten, leicht variierenden Vers durch das Klagen über das Vergehen der Jahre in Frage gestellt - und im letzten Vers einer jeden Strophe kündigt sich der Sturm an, der am Ende den heftigen Regen über die Grabsteine der mittlerweile Verstorbenen, die einst der kleinen Momente teilhaftig geworden waren, prasseln lässt. Diese letzten Verse weisen auch eine hinterhältige Verbindung zur vorangegangenen Szene auf: dem Singen wird das Geräusch der kranken hinabwirbelnden Blätter entgegengesetzt, den fleissigen Bewegungen im Garten das rasche Vorüberfliegen der Vögel... --- Vor allem aber gerät selbst ein Engländer, der sich zum lauten Mitlesen verführen liess, beim Lesen dieser Verse mit ihren vielen Plosivlauten und anderen ungewohnten Konsonantenanhäufungen (“reel down in throngs”, "the rotten rose is ripped" etc.) beinahe ins Stottern. Denn diese Verse richten sich nicht nach der "sangbaren" mündlichen Überlieferung; sie sind im wahrsten Sinne des Wortes “literate poetry”, und wer sie zusammen, als Gedicht für sich liest, erkennt rasch, dass man sie eigentlich als Grabinschrift, als Epitaph, betrachten kann.
So stehen Leben und Tod einander in einem Gedicht gegenüber, und der Leser, eben noch zum Mit-"Singen" verführt, fühlt sich aus seinem Rhythmus hinausgeworfen. Es ist dies ein bezeichnender, wenn auch nicht immer in solcher Perfektion zu findender Wesenszug der Gedichte Thomas Hardy's, die der im 19. Jahrhundert gerne zelebrierten Idylle und ihrer Eindeutigkeit noch etwas anderes hinzufügen: Er fordert im Gegensatz zu den Modernisten den Leser nicht zum mühsamen Interpretieren auf, sondern nimmt ihn scheinbar bei der Hand, lädt ihn ein, um ihm dann doch den endgültigen Zugang zu verwehren. Im Titanic-Gedicht geschieht dies beispielsweise durch geradezu groteske Bilder, die dem Schrecken über das Unglück die Vergänglichkeit menschlicher Überheblichkeit entgegenstellen. Das lyrische Ich in "Wessex Heights" wiederum verneint die angebliche Befreiung von "Gedanken-Fesseln" auf den Höhen allein schon durch die harten Laute ("mind-chains do not clank where one's next neighbour is the sky"). Weitere Beispiele gibt es zuhauf. - Hardy findet in dem kleinen philosophischen Gedicht “Nature’s Questioning” sogar die Worte, die dieses Verhalten des Dichters, eine fehlende Eindeutigkeit, erklären: “No answerer I”. Ich bin nicht der Mann, der für euch die Antworten hat. - Und tatsächlich: Er war nur der Mann, der das unerklärliche, mächtige Walten der Natur beschrieb, der seinem "During Wind und Rain" mit dem während des Ersten Weltkriegs geschriebenen Gedicht "In Time of 'The Breaking of Nations'" auch das Bleibende inmitten der Zerstörung entgegenstellte:
Yonder a maid and her wight
Come whispering by:
War's annals will cloud into night
Ere their story die.
Und er war der Mann, der für sein ländliches England, deren singende und arbeitende Gemeinschaft mit Leben und Sterben in Einklang war, einzigartige Verse fand, aber auch das Vergehen dieses Englands in Worte fassen musste.
Die vermeintliche Abschweifung ist - richtig verstanden - eine Kunst, um die es sich lohnt, sich zu bemühen. Mehr Ausflüge bitte. Mehr zur englischen Literatur. Mehr zu Hardy. Selbst wenn es auf Mitternacht zugeht, das lese ich immer, auch unter widrigsten Bedingungen.
AntwortenLöschenWas da wohl für ein Film ansteht nach deinen Blogferien? Etwas motivisch Verwandtes? Oder direkt eine Hardyverfilmung? Etwa T.?
Ich hülle mich zwar gern in Schweigen, aber mit T. liegst du falsch, lieber Sieben Berge. Ich darf in diesem Zusammenhang jedoch erwähnen, dass viele Literaturwissenschaftler der Meinung sind, manche Passagen in den Romanen von Thomas Hardy läsen sich wie Gedichte in Prosa (und könnten - dies meine Zusatzbemerkung - auch als solche verfilmt werden). Warum also sollte der Schriftsteller eine solche Passage, oder, wie du richtig erkennst, deren Hauptmotiv, nicht später für ein richtiges Gedicht erneut verwenden? - Man muss in diesem Zusammenhang vielleicht anfügen, dass Hardy als Mensch mit einem "vollkommenen Gedächtnis" betrachtet wird, weil er sich an kleinste Szenen aus der Vergangenheit erinnern und sie in Gedichten (etwa in "Beyond the Last Lamp") verarbeiten konnte.
AntwortenLöschenZur englischen Literatur wird es, so wie ich mich kenne, sicher mal wieder etwas geben - und Hardy liegt in meinem Fall nahe, möchte man doch gleich Dutzende seiner Gedichte besprechen. - Es freut mich, dass du meinen Ausflug würdigst. Eigentlich fürchtete ich bereits, man könnte ihn mir übel nehmen. :)