Montag, 23. Mai 2011

Vom Marlene-Ersatz mit Paprika im Blut

Frauen sind doch bessere Diplomaten
(Frauen sind doch bessere Diplomaten, Deutschland 1941)

Regie: Georg Jacoby
Darsteller: Marika Rökk, Willy Fritsch, Aribert Wäscher, Hans Leibelt, Georg Alexander, Leo Peukert, Erika von Thellmann, Herbert Hübner, Rudolf Carl, Inge Landgut u.a.

Die Geschichte ist bekannt: Goebbels wollte die Dietrich. Die aber dachte nicht im Traum daran, nach Nazi-Deutschland zurückzukehren. Ersatz musste her, und man fand ihn in der Schwedin Zarah Leander, die wohl ebenso ergreifend wie Marlene barfuss in die Wüste gezogen wäre,  für diese Szene jedoch weite Hüllen benötigt hätte. Denn die Leander, die anlässlich der “Orgien” in ihrer Villa im Grunewald  jeden SS-Mann unter den Tisch soff, hatte wesentlich mehr als ein paar Pfündchen  zu viel auf den Knochen  (was man in ihren Filmen geschickt zu kaschieren wusste). - Sie mochte sich also für die schmachtende Seite von Marlene eignen, sogar mit prägnanter Altstimme brillieren; die etwa in "Destry Rides Again" (1939) vorgeführte verführerische Ausgelassenheit deckte sie nicht ab. - Doch auch hierfür fand man Ersatz. Er hatte zwar wesentlich kürzere Beine als die Hollywood-Ikone, verfügte jedoch über eine umfassende Tanzausbildung, wartete mit  beeindruckenden gesanglichen Fähigkeiten auf - und hatte (eine “Auszeichnung”, mit der sie, obwohl von den Nazis verliehen,  noch in den 70ern kokettierte)  Paprika im Blut.

Marika Rökk, Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin ungarischer Abstammung, wurde 1934 von der Ufa unter Vertrag genommen, und ihr Aufstieg ging förmlich Hand in Hand mit dem der Nationalsozialisten. Man schrieb ihr ihre Rollen in Gute-Laune-Filmen, die die Kinogänger mit eingängigen Melodien (“Ich brauche keine Millionen”, "Kauf Dir einen bunten Luftballon") von der Realität und den Verbrechen der Machthaber ablenken sollten, auf den Leib, baute sie bewusst nicht zuletzt mit gelegentlich für die sich bieder gebende Zeit recht frivolen Szenen zu einem Publikumsliebling auf - und tatsächlich entwickelten  sie und Johannes Heesters  sich unter der Regie ihres späteren Mannes Georg Jacoby zum Traumpaar des Revuefilms. - Man darf annehmen, dass die Rökk völlig in der Glitzerwelt, in die sie geschubst worden war, aufging, sich wegen ihrer mangelnden Kritikfähigkeit auch später nie wirklich von ihr distanzieren konnte und deshalb noch in ihren 1974 erschienen Memoiren schrieb, sie habe sich nach ihrer ersten Einladung zu einem Empfang bei Hitler vor allem überlegt, was sie anziehen solle. Obwohl sie, die zusammen mit ihrem Mann nach Kriegsende vorübergehend mit einem Betätigungsverbot belegt worden war, vielleicht nicht ihre Bedeutung als “Kriegsartikel” (Goebbels: "Die gute Laune ist ein Kriegsartikel. Unter Umständen kann sie nicht nur kriegswichtig, sondern kriegsentscheidend sein.") verstand, jedoch das Geschehene in seiner Grausamkeit hätte ermessen können, fügte sie sogar noch neckisch-naiv hinzu, sie habe immer auf den Führergruss verzichtet, da sie das Heben des rechten Arms als unkleidsam empfand. - Es war sicher lächerlich, sie 1945 der Spionage zu verdächtigen; ihre uneinsichtige Selbstbezogenheit, die sie auch in ihren Filmen der Nachkriegszeit zur Schau stellte, vermag den heutigen Zuschauer jedoch schon zu befremden, ja anzuwidern.


“Frauen sind doch bessere Diplomaten”, eine musikalische Komödie, in der die Rökk für einmal nicht in einer der für sie typischen Rollen (verkanntes Talent feiert am Ende auf der Bühne Erfolge) besetzt wurde, war der erste abendfüllende Farbfilm der Ufa in Agfacolor. Das etwas geschwätzige, aber luftig-lockere, in der Biedermeierzeit angesiedelte Lustspiel erzählt von der verführerischen Tänzerin Marie-Luise, die für ihren Onkel, einen Spielbankendirektor in Bad Homburg, bislang vor allem Männer  zum Geldverlieren animierte. Als 1848 das Kasino auf Beschluss der Frankfurter Nationalversammlung aus “moralischen” Erwägungen dichtgemacht werden soll, stellt sie sich als Vermittlerin zur Verfügung, gerät jedoch in die Gefangenschaft hannoveranischer Truppen, die die Schliessung durchsetzen sollen. Mit ihren kindlich-launischen Kapriolen bringt sie ihren Bewacher, den Rittmeister von Karstein, derart in Verwirrung, dass ihr die Flucht gelingt. Natürlich entwendet sie auch die Truppenpläne, die sie fälscht (sie fügt jeder Zahl eine Null hinzu), um den Homburgern eine kriegerische Auseinandersetzung aus dem Kopf zu schlagen. - Als die Hannoveraner nach einer weiteren Mission der Diplomatin tatsächlich als Freunde in Bad Homburg einmarschieren, setzt sie sogar die Einquartierung des Rittmeisters in ihrem Hause durch, obwohl doch die Frau des Bürgermeisters endlich einen passenden Galan für ihre lispelnde Tochter finden möchte. Doch ein überwältigendes Gartenfest mit Tanz und Gesang  führt noch lange nicht zum Happy-End. Denn einerseits möchte ein etwas eigenwilliger Vertreter der Reichsexekutive die Schliessung mit Gewalt durchsetzen; andererseits weiss von Karstein  nicht so recht, ob die Diplomatin Marie-Luise ("Sie erinnern mich an Helena: schön, aber kalt.") nun wirklich eine in ihn verliebte Frau, eine listige Schlange, die eine Schliessung mit allen Mitteln zu verhindern versucht  oder, wie von  des Bürgermeisters Gattin mehr als angedeutet, eine Verführerin sämtlicher Männer ist. Am Ende lässt er sich sogar von einem anderen Verehrer der Schönen zum Duell auffordern...

Der Farbfilm war für Goebbels Chefsache, betrachtete er ihn doch als Propagandawaffe. Er und sein Führer liebten das Kino, und voller Neid schauten sie sich die seit Mitte der 30er Jahre  im Technicolor-Verfahren hergestellten Farbfilme aus Hollywood an, konnten es beinahe nicht ertragen, in “Gone With The Wind” (1939) die filmische Zukunft zu erkennen - und forcierten mitten im Krieg die Perfektionierung des - wesentlich billigeren - deutschen Farbfilm-Pendants Agfacolor, mit dem die Konkurrenzfähigkeit des Ufa-Films zur Schau gestellt werden sollte. Dabei wollte Goebbels seine “Kino-Wunderwaffe” wirklich in erster Linie für beinahe ideologiefreie Unterhaltungsfilme einsetzen (lediglich Veit Harlans “Kolberg“, 1945, wurde ein Propaganda- respektive Durchhaltefilm in Farbe), deren erster “Frauen sind doch bessere Diplomaten” sein sollte. - Der Umgang mit dem neuen Farbfilm-Material erwies sich jedoch als ausserordentlich schwierig, zahlreiche Szenen mussten noch einmal gedreht werden und die Fertigstellung des Films, mit dessen Dreharbeiten 1939 begonnen worden war, nahm beinahe zwei Jahre in Anspruch, von den zusätzlichen Kosten gar nicht zu reden. Vielleicht hielt sich das Urteil des Propagandaministers über das Resultat, das die gleichgeschaltete Presse anlässlich seiner Kinopremiere über alle Massen zu feiern hatte,  deshalb in Grenzen: “Stoff schlecht, aber Farbwirkung gut.”


Nein, der Stoff war keineswegs schlecht, schloss er doch nahtlos an eines der wenigen grossen deutschen Lustspiele an, dessen Struktur vom Erschaffer, dem man einfach diesen “Nathan” verübelte, nicht von den Franzosen oder Engländern übernommen wurde, sondern “auf eigenem Boden gedieh“. G.E. Lessings “Minna von Barnhelm” (1767), als “Das Fräulein von Barnhelm” 1940 von Hans Schweikart ebenfalls verfilmt, beweist freilich zur Genüge, dass Frauen die besseren Diplomaten sind, lässt sich jedoch immer wieder erneuern und - was man  dem Jacoby-Film zugestehen muss - einer bunten, leicht frivolen Geschichte anpassen, die mit gelegentlich atemberaubenden Aufnahmen glänzt. - Nach einem etwas zähen Einstieg, der uns die vom Regisseur  in vielen Grossaufnahmen vergötterte Rökk als sich unschuldig gebende, aber raffinierte Gefangene (ihrem ironisch-befehlenden “Na, dann los! Folgen Sie mir!” fügt sie schon bald ein mütterliches "Kochen ist Sache der Hausfrau" hinzu) eines zwischen Pflicht und Neigung hin- und hergerissenen Rittmeisters zeigt, gewinnt das leicht operettenhafte Geschehen an Schwung, was nicht zuletzt einigen sich eher tölpelhaft gebenden Figuren (dem geldgierigen Spielbankenbesitzer, dem müden Landgrafen, einem nach Marie-Luise gierenden Spielsüchtigen - und der Frau Bürgermeisterin mit lispelnder Tochter nebst anderen ledigen Homburgerinnen, die gern einen Soldaten - natürlich zum Einquartieren - möchten) zu verdanken ist. Von Karsteins Bursche Karl, der sich so manches Mädchen anzulachen versucht (ein “Ewig dein” auf einem Lebkuchen, den er bei einem Soldatenfest um den Hals trägt, könnte es nicht besser ausdrücken), übernimmt jenen “niederen”, robusten Part, der auch bei Lessing dem Dienerpaar zugeordnet wird.

Mit dem Einmarsch der Hannoveraner in ein malerisches Bad Homburg  beginnt jene das neue Verfahren feiernde farbenfrohe Rastlosigkeit, die ihren Höhepunkt im Gartenfest findet, das Marika Gelegenheit bietet, ihre vielfältigen Fähigkeiten zum Lied “Einen Walzer für dich und für mich” zur Schau zu stellen. Von Paaren, die aus allen Büschen zu springen scheinen, umgeben, wirbelt sie tanzend in den schönsten Bewegungen von Ort zu Ort, betätigt sich als Balletteuse, scheint einfach omnipräsent zu sein. Die Szene verfügt nicht über die Perfektion der damaligen Hollywood-Musicals, vermittelt jedoch mit ihrer "Unruhe" (jedes Bild ist Bewegung pur) eine unterschwellige Botschaft: Seht, das ist sie, die vorwärts drängende deutsche Jugend, die sich entschlossen ihren Weg bahnt und sich nicht von den alten Männern (auf sie, etwa den eigenwilligen Kerl, der das Parlament als “Quasselbande” bezeichnet, wird das Böse abgewälzt) aufhalten lässt! Man mag zwar nicht Hollywood sein; aber man zimmert sich sein eigenes Hollywood vor deutschem Hintergrund, ein mutig die Welt eroberndes Hollywood - wie ein Bild suggeriert - “unter deutscher Eiche”. - Das Finale des Films erlaubt Marika Rökk sogar eine bescheidene Dietrich-Persiflage: Sie darf als Torero verkleidet zum Lied “Ach, ich liebe alle Männer” verschiedene Damen im Publikum zärtlich anlächeln und zwar nicht wie die von Goebbels Ersehnte in “Morocco” (1930) küssen, aber immerhin am Kinn streicheln. Interessant, dass von den von Franz Grothe für den Film komponierten Melodien gerade das eher bescheiden vorgetragene “Wenn ein junger Mann kommt” zum Evergreen wurde.

Was die Rökk nicht wissen konnte: Der IG-Farben Zweigbetrieb Agfa beschäftigte vor allem in seinem Werk in Wolfen, das für die Perfektionierung des Farbfilms zuständig war, tausende Sklavenarbeiter. Aber vermutlich hätte auch dieses Wissen sie nicht mit Entsetzen erfüllt. Denn sie wollte ja mit Paprika im Blut lediglich eines beweisen: “Frauen sind gescheiter als Männer; deshalb sind sie die besseren Diplomaten.” - Armes, egozentrisches Wesen!
***
Nachtrag

Es gab zum Beispiel in Hollywood mit Sicherheit noch viel mehr Schauspieler als in Nazi-Deutschland oder im ehemaligen Ostblock, die keine Ahnung hatten und sich auch nie darum kümmerten, für welche unterschwelligen Botschaften sie sich in ihren Unterhaltungs- oder Action-Filmen zur Verfügung stellten; und auch wir als Zuschauer erkennen das Tendenziöse in solchen Filmen, wenn es sich nicht gerade regelrecht aufdrängt, meist nicht. Dies ist nicht erstaunlich, haben sich die USA mittlerweile doch "bereits" zur historischen Entschuldigung bei den Indianern durchgerungen. - Dass es uns möglich ist, in Filmen des Dritten Reichs oft bis ins Detail unterschwelligen tendenziösen Aspekten nachzugehen, darf deshalb vom heutigen Deutschland  nicht als “Anklage” missverstanden werden. Es zeigt vielmehr, dass deutsche Historiker die Vergangenheit vorbildlich (manche würden sagen: selbstquälerisch) aufgearbeitet haben. Und es scheint mir wichtig, dass wir aus dieser Aufarbeitung gerade in der heutigen Zeit, in der sich in ganz Europa - auch in der Schweiz (die vom Milliardär Blocher mit unvorstellbaren Geldsummen gefütterte SVP) - rechtspopulistische Parteien und Gruppierungen den Menschen anbiedern, Nutzen ziehen, weil sie zu zeigen vermag, wohin unwidersprochene Ausgrenzung, Selbstverherrlichung und all die die Nazis kennzeichnenden Merkmale führen. - Dass ich hier also sogar einen scheinbar harmlosen Unterhaltungsfilm mit Aufgearbeitetem anreichere, sollten Leser aus Deutschland eher als Kompliment auffassen: Zumindest eure Akademiker haben ihre Aufgaben gemacht!  Und ich gebe, Idealist, der ich bin, die Hoffnung nicht auf, dass Aufklärung tendenziell menschenfeindliche Bewegungen, wozu ich auch die neue Regierung in Finnland zähle, zu Phänomenen macht, die letztlich vorübergehender Natur sind, mag auch eine durch Übersättigung krank gewordene Gesellschaft gerade Gefallen an ihnen finden.

Dienstag, 17. Mai 2011

EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL







Aktion DÖS

EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL
Deutschland 1970
Regie: Thomas Schamoni
Darsteller: Klaus Lemke (Tom-X), Bernd Fiedler (Knokke), Umberto Orsini (Morelli), Rolf Becker (Lunette), Thomas Braut (G.O. Gio), Olivera Vuco (Diana), Sylvie Winter (Luba), Lukas Ammann (Cinque), Marquard Bohm (Bill), Walter Ladengast (Belotti), als Gast Robert Siodmak

"Es konnte eigentlich nur schief gehen." (Thomas Schamoni)
"Der Thomas Schamoni hat für die Vorbereitung vom GROSSEN GRAUBLAUEN VOGEL mindestens so viel ausgegeben, wie unser Film [LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD] ganz gekostet hat, nur für die Vorbereitung, fürs Telefonieren und fürs Rumfliegen und fürs Schauspielerengagieren." (Rainer Werner Fassbinder)

Thomas Schamoni ist der weniger bekannte Bruder von Peter (SCHONZEIT FÜR FÜCHSE, POTATO FRITZ) und Ulrich Schamoni (ES, CHAPEAU CLAQUE; ein vierter Bruder war Kameramann beim Fernsehen, der Vater war Filmwissenschaftler). Neben seiner sporadischen Tätigkeit als Regisseur, Autor und Produzent gehörte er 1971 zu den Gründern des Filmverlags der Autoren. Es hat den Anschein, als wollte er gleich in seinen ersten Spielfilm alles hineinstopfen, was er jemals in einen Film zu stecken gedachte. Entsprechend überfrachtet wirkt EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL. Dass der teure Film kein kommerzieller Erfolg wurde, lag auch an den Schwierigkeiten, überhaupt einen Verleih zu finden, und an der Pleite des italienischen Coproduzenten. Aber immerhin gewann er zwei Filmbänder in Gold.


Die Handlung ist kompliziert - weniger wohlwollend könnte man auch sagen "wirr". Ein alter Landstreicher names Belotti nimmt sich das Leben, als man ihn zu entführen versucht. Beobachtet und gefilmt wird die schiefgegangene Entführung von einer Truppe Journalisten. Der bullige und geschäftstüchtige Reporter Gio ist die treibende Kraft; er ist der einzige bürgerliche Typ in der Gruppe, seine Kollegen sind dagegen hippiesk angehaucht: Der Kameramann Knokke, der flapsige Bill, die toughe Luba und der Dichter Tom-X, der die Hälfte seiner Zeit von Drogen benebelt zu verbringen scheint - jedenfalls erweckt sein Verhalten diesen Eindruck. Tom-X kannte Belotti schon einige Zeit und erfuhr von diesem eine erstaunliche Geschichte: Er, Belotti, gehörte vor ca. 30 Jahren zu einer Gruppe von fünf Wissenschaftlern, die an einer Erfindung zur Manipulation des Raum-Zeit-Kontinuums arbeiteten. Eine Maschine, mit der man "den Raum verflachen", die Zeit manipulieren und ähnliche Dinge anstellen konnte. Doch dann, kurz vor dem 2. Weltkrieg, verschwanden die Fünf mitsamt ihrer Erfindung spurlos, angeblich, um eine militärische Nutzung zu verhindern. Seitdem gelten die Forscher offiziell als tot, doch scheinbar leben sie noch unerkannt und treffen sich regelmäßig. Angeblich haben sie die Formel ihrer Erfindung in einem Gedicht codiert, von dem jeder nur einen Teil kennt, der gleichzeitig zum Nachweis seiner Identität dient. Gio witterte eine große Story und einen Haufen Geld, deshalb war seine Truppe Belotti auf den Fersen, aber nach dessen Tod rückt Tom-X nur widerwillig und bruchstückhaft mit den Informationen heraus, die er von ihm erhielt. Es hat aber den Anschein, als ob Tom-X von Belotti als eine Art Erbe seines gesamten Wissens eingesetzt wurde - wenn diese ganze Geschichte überhaupt stimmt.


Hinter Belotti waren auch andere Leute her, wie die mißglückte Entführung zeigt. Drahtzieher im Hintergrund ist der mysteriöse, im Rollstuhl sitzende Cinque. Er beauftragt seine Leute, mit den Journalisten Kontakt aufzunehmen, und fährt dabei zweigleisig. Einerseits setzt er den Wissenschaftler Morelli auf sie an, der in Cinques Auftrag an derselben Erfindung arbeitet wie seinerzeit die Fünf. Andererseits soll eine ganze Schar von Agenten unter Führung des coolen Lunette die Journalisten überwachen, aber auch Morelli, der möglicherweise eigene Pläne verfolgt. Doch auch Lunette scheint ein doppeltes Spiel zu spielen. Überhaupt ziehen sich unklare Fronten durch den ganzen Film. In einer Villa an einem (italienischen?) See trifft man sich. Dort logiert bereits die mondäne und rätselhafte Diana, die eine Nichte von Belotti sein soll. Angeblich sollen sich die verschwundenen Wissenschaftler demnächst in dieser Gegend treffen - eine Voraussage, die offensichtlich nur auf der Intuition von Tom-X beruht. Oder will er nur Diana nahe sein, mit der er ein Verhältnis hat (wie auch mit Luba, während sich Diana dann auch mit Morelli einlässt - auch hier unklare Fronten)? Gio hat sich inzwischen mit Lunette geeinigt, sehr zum Mißfallen seiner Kollegen, die den Agenten mißtrauen. Ziel der versammelten Gäste der Villa ist es, alle sich am Ort aufhaltenden alten Männer zu filmen, um anhand alter Fotos die Forscher zu identifizieren. Inzwischen hat sich herauskristallisiert, dass Cinque selbst einer der Fünf ist, abzüglich des toten Belotti werden also noch drei Kandidaten gesucht - und tatsächlich ausfindig gemacht. Sie werden zu Cinque in ein kleines Bergschloss gebracht, und anhand des ominösen Gedichts, in dem der titelgebende "große graublaue Vogel" vorkommt (tatsächlich handelt es sich um das Gedicht "Bottom" von Arthur Rimbaud) wird ihre Identität verifiziert. Cinque will mit ihnen und mit Tom-X als Belottis Nachfolger neu anfangen und die Forschungen wieder aufnehmen. Doch dann gibt es im Schloss und im umgebenden Bergwald eine wilde Schießerei, die mehr Leichen als Lebende zurücklässt ...


EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL zeichnet sich durch eine Vielzahl von komplexen und dynamischen Bild- und Tonmontagen aus, in denen auch die treibende Musik von Can, seinerzeit eine der progressivsten Krautrockbands, eine tragende Rolle spielt. Und immer wieder werden von Knokke mit seiner tragbaren 16mm-Kamera aufgenommene Filmschnipsel von den Protagonisten angesehen und kommentiert; ein Teil der Geschichte wird durch diese Aufnahmen und somit nichtchronologisch erzählt. Auch Genre-Elemente wie rasante Autofahrten, Schießereien und Flugszenen sowie spektakuläre Schauplätze sind geschickt integriert. Beim ersten Sehen des Films dauert es lange, in dieser Collage einen roten Faden zu finden, den man dann doch immer wieder zu verlieren droht. Auch beim wiederholten Ansehen lichten sich die Nebel nicht vollständig, was sowohl die Details der Handlung als auch den tieferen Sinn des Ganzen betrifft. Es ist klar, dass einem der Film etwas sagen will - doch was eigentlich? "Die überkomplizierte Handlung, das aufdringliche Pop-Beiwerk und die Überfrachtung mit Krimi-Klischees dürften das eigentliche Thema kaum verständlich werden lassen, nämlich das gestörte Vertrauen in die Wirklichkeit und das Herrschen der Einbildungskraft über die Wirklichkeit." (Lexikon des internationalen Films) - Mag sein. Klar scheint immerhin, dass die ominöse Erfindung als Metapher für das Medium Film dient: Auch hier wird "der Raum verflacht" und die Zeit eingefroren und manipuliert. Knokke heißt so (oder er nennt sich so) wie die belgische Stadt, in der insgesamt fünfmal ein einflussreiches Experimentalfilmfestival stattfand, und er sagt einmal, dass er in seiner Arbeit nur der Wahrheit verpflichtet sei und profane Zwecke ablehne. Doch gegen Gios Geschäftstüchtigkeit und die Gewalt der Agenten zieht er den Kürzeren. Als Gio wegen seinem Pakt mit Lunette von seinen Kollegen angegriffen wird, verteidigt er sich, er habe sie nicht verkauft, sondern gerettet, weil sie alle schon auf der Abschussliste standen. Und Robert Siodmak hat einen Gastauftritt im Film, als ein Mann, der von den Agenten drangsaliert wird. Man könnte aus all dem vielleicht den Schluss ziehen, dass hier verklausuliert die Situation des Autorenfilmers angesprochen wird, der den Zwängen des Kommerz ausgesetzt ist und Kompromisse eingehen muss, wenn er überleben will. Das würde nicht zuletzt Schamonis eigene etwas verfahrene Situation damals widerspiegeln. Aber auch dieser Interpretationsansatz ist letztlich nur eine vage Möglichkeit. Einige Interpreten fragten sich, ob die bizarren Teile der Handlung womöglich nur Hirngespinste von Tom-X sein könnten - was für mich eigentlich keinen rechten Sinn ergibt, aber wer weiß? Wie dem auch sein mag - EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL ist ein schillernder, ein ambitionierter und wohl überambitionierter Film, der mehrfaches Sehen verlangt, der einen dann trotzdem etwas ratlos zurücklässt, aber gleichwohl zu faszinieren vermag.


EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL ist in einer Box mit 50 Filmen vom Filmverlag der Autoren auf DVD erschienen. Die DVD ist gelegentlich einzeln bei eBay zu bekommen. [Update: Inzwischen ist der Film auch einzeln in der Edition Deutscher Film von Zweitausendeins erschienen.]

Samstag, 14. Mai 2011

Des Schweizers Stolz und seine Schande

Achtung, fertig, Charlie!
(Achtung, fertig, Charlie!, Schweiz 2003)

Regie: Mike Eschmann
Darsteller: Michael Koch, Melanie Winiger, Myriam Aegerter, Marco Rima, Martin Rapold, Nicolas Steiner, Mike Müller u.a.

Es war einmal ein Schweizer Bundesrat, der von seiner Partei nur als halber Bundesrat betrachtet wurde, weil er ihr nicht fremdenfeindlich genug war und offenbar nur unwesentlich  mehr zustandebrachte als sein Nachfolger, der ihn als halben Bundesrat bezeichnet hatte, jedoch entschieden fremdenfeindlicher ist. Dieser halbe Bundesrat hatte die hehre Schweizer Armee unter sich und kam eines Tages zusammen mit seinen Beratern auf die Idee, es sei mal wieder an der Zeit, einen süffigen Werbefilm zu drehen, damit inskünftige Rekruten auch Freude am Soldatendasein bekämen. - Tatsächlich wurde man seit meiner Zeit (und ich rede von Äonen!) lediglich mit jenen öden Informationsstreifen beliefert, die uns zeigten, dass Füsiliere mit vielen Handgranaten im Kampfanzug und dem Sturmgewehr in der Hand über hügeliges Gelände zu hüpfen hatten, damit sie dem Feind auch gleich als  Kanonenfutter zur Verfügung stünden, dass Funker ohne Garantie auf Sprecherlaubnis schwere Kisten mit sich herumschleppen mussten, während die Küchenmannschaft den Kochwein soff und die Sanitäter in der Sonne liegend genussvoll ihre Patienten vor sich hinsiechen liessen. Aus den wenigen intelligenten Stellungspflichtigen machte man hingegen Nachrichtensoldaten, die in atomsicheren Kommandoräumen mit Raffinesse den Feind im letzten Augenblick überrumpelten. Was war wohl ich? Na? Na?

Jetzt also sollte etwas Zeitgemässes, Lustiges her. Und der halbe Bundesrat unterstützte die geplante Rekrutenkomödie anfänglich mit Begeisterung. Als er über das Resultat  - auf welchem Wege auch immer - informiert wurde, legte diese  sich erheblich, und auf die Frage, ob er “Achtung, fertig, Charlie!” gesehen habe, erwiderte er: “Nein! Ich habe die Klamotte unterstützt mit Kasernen, Waffenplätzen, Panzern und Helikoptern. Aber die Endfassung zielte dann haarscharf an meinem Alterssegment vorbei.” - Ich nehme ihm die Antwort ab, bin mir auch ziemlich sicher, dass er noch nie eine Gummipuppe gefickt hat. Was seinen fremdenfeindlichen Nachfolger, der sich für einen ganzen Bundesrat hält, anbelangt: Nun ja, er hat mit Sicherheit noch nie eine Gummipuppe, die sich nicht als echte Schweizerin mit reinem Stammbaum auszuweisen vermochte, gefickt.

Worum gehts? Der Secondo (in der Schweiz aufgewachsener Italiener) Antonio wird von der Militärpolizei direkt vom Traualtar weg zur Rekrutenschule geschleppt, weil er sein Aufgebot völlig zu vergessen beliebte. Und da ihn seine Braut samt mafioser Verwandtschaft aus Sizilien zur Hochzeit drängen, lautet die Devise: Nichts wie raus aus dem Club, der sich Schweizer Armee nennt! Diesem Ansinnen steht sein ständig fluchender Hauptmann (“Es ist so, so war es immer, und so wird es auch weiterhin bleiben!”) leider ablehnend gegenüber. Also muss Antonio, der zusammen mit seinem Kumpel einen vergeblichen Plan nach dem anderen ausheckt, sämtliche Wochen, in denen er den Umgang mit dem Gewehr im Dreck, den Häuserkampf, das Ficken einer Gummipuppe oder das Ausharren in einer Hütte mit Tränengas erlernt, durchleben, anfangs gelegentlich im Knast (fundamentalistisch-evangelikale Kreise zeigten sich über eine Szene empört, in der er dort auf seine Bibel masturbiert, obwohl diese doch mit so hübschen Pornobildern vollgeklebt ist), später zunehmend begeistert bei der Sache, weil sich die weibliche Kampfsau (wichtige Info an Rekruten: heutzutage gibts auch Frauen in der Armee!), die ihn am Anfang nicht ausstehen konnte, als vollwertiger Ersatz für die Gummipuppe erweist. Und dann hütet der stets finster dreinblickende Hauptmann natürlich noch ein dunkles Geheimnis, das ich hier nicht verraten werde, weil sich unser Intergalactic Ape-Man bereits gierig auf die DVD stürzen möchte (er ist - dies unter uns! - der Vater der weiblichen Kampfsau). - Mag das Geschehen, in dessen Verlauf sich unter anderem zeigt, wie unterlegen die arroganten Grenadiere den Füsilieren sind, auch zunehmend unübersichtlicher werden - am Ende beweist “Achtung, fertig, Charlie!”, dass in der Rekrutenschule hetero, schwul und  möglicherweise sogar Gummipuppe den Partner fürs Leben findet, was doch das Dasein als Soldat erstrebenswert macht.

Wer je einen “American Pie” hinter sich brachte, wird nach der Sichtung dieses “Swiss Army Pie”  von den begnadeten Schauspielern, die er damals geniessen durfte, schwärmen. Denn der Werbefilm des halben Bundesrats glänzt mit Gestalten, die noch bockiger in der Gegend herumstehen als wir es damals taten, während die weibliche Kampsau von einer ehemaligen Miss Schweiz, die dem Irrtum verfiel, ihr Miss-Titel mache sie zur zweiten Duse, “dargestellt” wird - und dann gibt es noch diesen eigenartigen Hauptmann mit Schnauzer, der den Eindruck erweckt, man habe ihn schon irgendwo erblickt. Ah ja, Marco Rima! Aber wie sollte der sich in diesem untalentierten Haufen, dessen einzige herausragende Figur die Gummipuppe ist, entfalten können?

“Achtung, fertig, Charlie!” wurde zum erfolgreichsten Schweizer Film seit Rolf Lyssys “Die Schweizermacher” (1978). Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass immer mal wieder die Drohung in den Raum gestellt wird, man fasse eine Fortsetzung ins Auge. Sollte der fremdenfeindliche, sich für einen ganzen Bundesrat haltende Nachfolger des "halben" Samuel Schmid  das Ding unterstützen, kann natürlich mit keinem Secondo als zentraler Figur gerechnet werden, eher mit einem  Alp-Öhi, der von Anfang an stolz darauf ist, der Schweiz dienen zu dürfen. Ob er aus Altersgründen noch fähig wäre, über eine Bibel zu masturbieren, wissen freilich höchstens die Götter und SVP-Bundesrat Ueli Maurer, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger tatsächlich  ein ganzer Clown ist.


Dienstag, 10. Mai 2011

Etwas ist faul im finnischen Papierkonzern

Hamlet macht Geschäfte (Alternativtitel: Hamlet goes Business)
(Hamlet Liikemaailmassa, Finnland 1987)

Regie: Aki Kaurismäki
Darsteller: Pirkka-Pekka Petelius, Esko Salminen, Kati Outinen, Elina Salo, Esko Nikkari, Kari Väänänen u.a.

Schon bei Shakespeare pflastern Leichen Hamlets Weg. Der Prinz von Dänemark, der  eigentlich ein Mann der Tat sein müsste, wird zum Zögernden, als ihn der Geist des Vaters auffordert, sich an seinem Mörder zu rächen. Und dieses Zögern eines Melancholikers, des Lebens Überdrüssigen, führt zu einem Blutbad, das  nicht nötig gewesen wäre. Tatsächlich ist “Hamlet” wohl die einzige Rachetragödie, deren wesentliche Figuren am Ende (z.T. unverdient) tot auf der Bühne oder anderswo herumliegen, weshalb ganz  am Schluss  ein bisher nicht eingeführter Charakter, Fortinbras, Prinz von Norwegen,  auftreten und den Epilog sprechen muss.

Es ist denn auch verständlich, dass sich Schauspieler, obwohl sie förmlich nach der Rolle gieren, immer wieder schwer tun mit dieser Figur, die einerseits, den Wahnsinnigen spielend, ihre Rache minutiös vorbereitet, sich andererseits aber gelegentlich auch ein “Sein oder Nichtsein” gönnt. Mit Sicherheit ist Hamlet nicht der arische Kraftmensch, als den ihn die Nazis sehen wollten (weshalb der zierliche Gründgens an ihm scheiterte); und die für das 20. Jahrhundert vermutlich bedeutendste Gestaltung verdanken wir Sir Laurence Olivier, der auch lange mit dem Shakespeare-Helden kämpfte, ihn aber letztlich ganz aus psychologischer Sicht anging (er betonte nicht zuletzt das inzestuöse Verlangen nach Gertrude, dessen Mutter) und für seine grandiose Verfilmung (1948) mit vier Oscars belohnt wurde. - Weitere Filme bieten uns einen entrüsteten Mad Max in der Ahnengruft (Zeffirelli in seiner unerträglichen Version mit Mel Gibson, 1990) oder stellen statt der Frage nach der individuellen Entscheidungsfähigkeit die Korruption im Herzen einer dekadenten Kultur in den Mittelpunkt (Kenneth Branagh, der sich 1996 narzisstisch durch den vollständigen Text kämpfte). Es gibt sogar einen “Baz” Luhrmann’s “William Shakespeare’s Romeo + Juliet” nachahmenden Versuch, der die Tragödie mit einem sich desaströs den altertümlichen Versen hingebenden Ethan Hawke als Videoclip ins New York der Gegenwart verlegt (2000).


Auch Aki Kaurismäki siedelt seine noch vor “Ariel” (1988) gedrehte und hierzulande leider wenig bekannte Hamlet-Version im Helsinki der Gegenwart an. Was jedoch der aus Finnland stammende “Chef-Melancholiker des europäischen Autorenkinos” (Rainer Gansera) aus dem Stoff macht, hat es in sich: Sein Film handelt von einem bedeutenden Papierkonzern, dessen Inhaber Hamlet’s Vater ist; Polonius wird zum Grundstückverwalter, sein Sohn Lauri (bei Shakespeare Laertes) zum Marketingspezialisten - und Hamlet zum öligen, verwöhnten Bengel, der einfach alles Essbare, das ihm in den Weg kommt, in sich hineinstopft  - weshalb er anschliessend im Fitness-Center zusammen mit seinem Chauffeur und vermeintlichen Freund Simo - Horatio! - wieder ein paar Pfunde loswerden muss. Und wären auch hier die vielen Toten am Ende nicht unumgänglich, könnte man angesichts der intriganten Bande, der man begegnet, beinahe von einem finnischen “Dynasty” ohne Kaviarfrühstück sprechen. So aber muss der halbwegs der Vorlage folgende Film zu einem Wirtschaftskrimi werden - zu einem Wirtschaftskrimi, wie ihn freilich nur Kaurismäki drehen konnte.

Kaurismäki, der als Vorbilder gerne Melville und Bresson nennt und mit lakonischem Bedauern feststellt, er könne keine Meisterwerke, nur Dokumente seiner Zeit drehen (“Cinema is dead. It died in 1962, I think it was in October!”), wird oft für seinen trockenen Humor gerühmt. Dieser Humor ist auch in “Hamlet macht Geschäfte” vorhanden, z.B. wenn einer kleinen (Prosa!)-Passage, die tatsächlich von Shakespeare übernommen wurde (etwa dem berühmten “Worte, Worte, Worte!” anlässlich der Befragung des scheinbar vom Wahnsinn Befallenen durch Polonius) plötzlich wieder Klagen über die Verdauung gegenübergestellt werden oder der - offenbar auch nicht allwissende - Geist des Vaters, der sich gefälligst beeilen soll, weil das Abendessen wartet, seinen Sohn als “Dummkopf!” bezeichnet. Er sorgt jedoch dafür, dass dem Zuschauer, der in kargen Schwarzweiss-Bildern mit oft seltsamen Einstellungen, die die Distanz der Figuren zueinander betonen sollen, eine Welt zu sehen bekommt, in der jeder berechnend ist und den anderen zu hintergehen versucht, das Lachen oft im Halse stecken bleibt. Denn hinter diesem trocken-lakonischen Humor versteckt sich bitterer Ernst.

Anders als bei Shakespeare hat Gertrud mit Klaus (Claudius), der einzig an der Übernahme und profitablen Umgestaltung des Konzerns interessiert ist, bereits vor dem Gifttod ihres Mannes ein Verhältnis. Hamlet (er entdeckt seinen toten Vater, als er gerade ein riesiges Stück Schinken - Ham! - verschlingt) erbt jedoch 51%, wobei man hofft, man könne den sich scheinbar seiner Rolle selber nicht Sicheren und vor allem an Sex mit Ofelia Interessierten mit Taschengeld abspeisen. In Wirklichkeit ist er nicht weniger selbstsüchtig als der Rest der Bande, hört voller Misstrauen ein Gespräch zwischen Klaus und Polonius über den Verkauf einer Sägemühle ab und weiss natürlich, dass die von Papa Polonius in dessen Pläne eingebrachte Ofelia, die ein Eis seinen sexuellen Avancen vorzieht, ihn lediglich wegen seines Geldes heiraten will. Er spielt den Wahnsinnigen und fertigt während einer Vorstandsitzung an einem separaten Tisch wie ein Kindergartenschüler Zeichnungen an - um dann doch überraschend seine 51% geltend zu machen. Gleichzeitig scheint er, wie er etwa anlässlich eines Rockkonzerts zu erkennen gibt, tatsächlich von einer Art Melancholie befallen zu werden. - Gegen diesen unvorhersehbaren Störenfried muss etwas unternommen werden; und da Lauri, der sich vor dem Betreten von Klaus’ Büro wie ein richtiger Yuppie noch einmal gründlich rasiert, eine Rückkehr an die Universität bevorzugt, kommen - anders als in Olivier’s Verfilmung - nach der zufälligen Tötung des in Gertruds Schlafzimmer lauschenden Polonius Rosencranz und Gyldenstern (zwei richtige Gangsterfressen) ins Spiel.

Diese Konstellation lässt den Monologen, die Shakespeares “Hamlet” berühmt machen, keinen Raum. Denn Kaurismäki, der so schon auf eine Länge von 85 Minuten kommt (er bevorzugt “kurze” Filme um die 70 Minuten) und ausdruckstarke Bilder der Geschwätzigkeit vorzieht, will seine Tragödie, die keine Rachetragödie, sondern eine der skrupellosen Gier ist, nach dem berühmten “Spiel im Spiel”, auf das auch er nicht verzichten kann, zu einem Ende bringen: Ofelia ertränkt sich nach dem Tod ihres Vaters Polonius zeitgemäss in der Badewanne (Hamlet teilt ihr vorher noch mit, er liebe sie ohnehin nicht, weil sie zu dünn sei), Gertrud stirbt nicht an einem Giftbecher, sondern weil sie vom vergifteten Hähnchenschenkel isst, von dem Klaus eigentlich erwartete, Hamlet könne ihm nicht widerstehen - und der nach Rache dürstende Lauri bekommt einen Radioapparat über den Kopf gestülpt, zu dessen Musik er scheinbar tanzend zusammenbricht. --- Am Ende erwartet den Zuschauer eine Überraschung, eine Abweichung von Shakespeare, die jedoch dem selbstsüchtigen, nur von der Macht beherrschten Pack, das die Suche nach Schuldigen gar nicht lohnt, angemessen ist. Es braucht denn für den Epilog auch nicht den Auftritt einer neuen Figur. Lediglich der Chauffeur Simo und das ihn liebende Dienstmädchen Helena sind froh, die widerlichen Intrigen hinter sich zu haben und die riesige Villa mit ihren Toten verlassen zu dürfen. Simo weist Helena an: “Du kannst packen!”, worauf Helena erwidert: “Ich habe es bereits getan. Wir können gehen.”


Der Film kommt nicht weniger flapsig daher als diese Zusammenfassung, und dennoch gelingt es Kaurismäki, etwas aus dem Stoff herauszuholen, was durchaus zeitgemäss ist: Er übt mit ihm auf düster-sarkastische Weise Kapitalismuskritik. Die pathetische Gnadenlosigkeit seiner Figuren rührt daher, dass sich ihr Leben nur  um Geld dreht. - Eine solche Uminterpretation des Stücks (eine höchst berechtigte Anpassung an die 80er Jahre), die die Schlechtigkeit einer einzig am Gewinn orientierten Welt betont, wäre damals mit ein wenig mehr Anlehnung an den Originaltext mit Sicherheit auch auf jeder Bühne ein Erfolg gewesen. - Zeitdokument? Meisterwerk? - Wen kümmerts? Auf jeden Fall eine Entdeckung wert, und meines Erachtens eine der spannendsten Gestaltungen des “Hamlet”-Stoffs seit dem Film von Sir Laurence Olivier.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Macht und Leidenschaft: DER LÖWE IM WINTER

DER LÖWE IM WINTER (THE LION IN WINTER)
Großbritannien 1968
Regie: Anthony Harvey
Darsteller: Peter O'Toole (Henry II), Katharine Hepburn (Eleanor), Anthony Hopkins (Richard), John Castle (Geoffrey), Nigel Terry (John), Timothy Dalton (Philip II), Jane Merrow (Alais)
In der deutschen Synchronisation werden die Originalnamen wie Henry und Eleanor statt der üblichen eingedeutschten Herrschernamen wie Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien verwendet. Ich halte mich hier an die Sprachregelung des Films.


Es ist kurz vor Weihnachten im Jahre des Herrn 1183. König Henry II von England hält Hof in der Burg Chinon in der Nähe der Loire. Durch seine Herkunft (die Plantagenets waren die Herren von Anjou) und seine Ehe mit Eleanor von Aquitanien beherrscht Henry nicht nur Großbritannien, sondern auch einen größeren Teil Frankreichs als der französische König. Eleanor war einst mit König Louis VII von Frankreich verheiratet, doch die Ehe wurde bald annulliert, und Eleanor heiratete den jüngeren Henry. Doch im Lauf der Jahre entfremdete sich das Paar, und Eleanor führte mehrere Kriege gegen Henry, von denen sie die meisten verlor. Auch den letzten, und deshalb sitzt sie seit zehn Jahren als Henrys Gefangene in einer englischen Burg. Aber zu hohen Feiertagen wird sie gelegentlich hervorgeholt, um gemeinsam mit Henry und ihren Söhnen das Fest zu begehen.


Nun steht also Weihnachten vor der Tür, und wieder wird Eleanor zu Henry geladen, und auch die drei noch lebenden gemeinsamen Söhne Richard, Geoffrey und John werden nach Chinon bestellt. Doch diesmal ist einiges anders als sonst. Erstens ist der älteste Sohn und Thronfolger, der ebenfalls Henry hieß, vor einigen Monaten gestorben, und die Thronfolge muss neu geregelt werden. Eleanors Favorit ist der nunmehr älteste Sohn Richard (der zukünftige Richard Löwenherz), der schon immer mehr ihr als Henrys Sohn war. Henry dagegen favorisiert seinen Lieblingssohn John (der "Prince John" der Robin-Hood-Filme und spätere König Johann Ohneland), jüngster der drei. Er ist ein pickeliger und etwas beschränkter 16-jähriger, der sich nicht wäscht. Den mittleren Sohn Geoffrey, einen kalten Zyniker, mag keiner seiner beiden Eltern. Das war schon immer so, worunter er unter seiner glatten Oberfläche leidet. Da man ihn nicht ganz leer ausgehen lassen kann, wurde er mit der Bretagne abgespeist, wo er sich die Zeit mit irgendwelchen belanglosen Kleinkriegen vertreibt. Aber König will auch er werden.


Der zweite Grund, warum die Situation diesmal anders ist als sonst, liegt in der Verquickung von Henrys Machtpolitik mit seinem Liebesleben. Vor 16 Jahren hatte er mit Louis VII von Frankreich einen Vertrag geschlossen: Louis' Tochter Alais (anderswo auch Alix geschrieben) kam als Kind nach England und wurde an Henrys Hof aufgezogen, und sobald sie heiratsfähig wäre, sollte sie Henrys Sohn Richard heiraten. Der fromme Louis versprach sich von der dynastischen Verbindung eine Zähmung seines aggressiveren und militärisch begabteren Kollegen Henry. Dieser erhielt als Gegenleistung das Vexin, eine kleine, aber strategisch günstig gelegene Grafschaft im Nordwesten Frankreichs, die es Henry erlaubt, seine Truppen in gefährlicher Nähe zu Paris zu stationieren. Inzwischen ist Alais erwachsen, aber immer noch nicht mit Richard verheiratet. Der Grund liegt darin, dass sie längst Henrys Geliebte ist (abgesehen davon hat Richard auch kein gesteigertes persönliches Interesse an ihr). Doch Louis VII ist seit drei Jahren tot, und sein junger und dynamischer Sohn und Nachfolger Philip II, der Halbbruder von Alais, hat sich in Chinon angesagt, um die sofortige Erfüllung des Vertrags oder anderenfalls die Rückgabe des Vexin zu fordern. Doch der gewiefte Taktierer Henry ist nicht gewillt, auf die Forderungen einzugehen.


Pünktlich zum Fest treffen alle erwarteten Gäste in Chinon ein. Und sofort entfaltet sich ein Gespinst aus politischen Intrigen und persönlichen Sticheleien. Die Konstellation der Charaktere ist komplex: Eleanor hasst Henry, und zugleich liebt sie ihn noch immer. Sie versucht, ihn zu treffen, indem sie behauptet, einst mit Thomas Becket geschlafen zu haben, seinem früheren Freund und Kanzler, der als Erzbischof von Canterbury sein Gegner wurde und schließlich ermordet wurde. (Übrigens wird in Peter Glenvilles BECKET von 1964 Henry II ebenfalls von Peter O'Toole dargestellt, die Titelfigur spielte Richard Burton.) Henry durchschaut das als Bluff, was Eleanor auch zugibt, doch später legt sie nach, indem sie nun behauptet, mit Henrys eigenem Vater geschlafen zu haben. Hier ist sich Henry nicht mehr so sicher, ob es stimmt, und das nagt in ihm. Passen würde es jedenfalls zu Eleanor, der man auch nachsagte, dass sie ein Verhältnis mit ihrem eigenen Onkel Raymond, dem Fürsten von Antiochia, gehabt habe, als sie mit ihrem ersten Gatten Louis auf einem Kreuzzug war. Eleanors Angriffe unter der Gürtellinie zum Trotz - letztlich will sie Henry wiederhaben.


Alais wurde von Eleanor wie eine eigene Tochter aufgezogen, doch nun ist sie ihre Rivalin um Henrys Gunst. Alais ist deshalb misstrauisch gegen Eleanor, doch die scheint Alais noch immer mehr zu mögen als jeden ihrer Söhne. Richard ist zwar Eleanors Lieblingssohn, doch ihr Verhältnis zueinander ist jetzt gespannt. Denn Eleanor hat vor Jahren ihr eigenes Herzogtum Aquitanien, also den ganzen Südwesten Frankreichs, an Richard übertragen. Nun will sie Aquitanien wiederhaben, um es als Verhandlungsmasse gegen Henry einsetzen zu können. Der will das Herzogtum an John übertragen, um dessen Machtbasis nach seinem eigenen Ableben zu stärken, so dass John tatsächlich einmal König werden kann. Eleanor gedenkt, Aquitanien bei Henry gegen ihre eigene Freiheit einzutauschen - sie, die früher weite Reisen unternommen hat, leidet sehr unter ihrer Gefangenschaft. Doch der kraftstrotzende und zielstrebige Richard denkt nicht daran, ihr Aquitanien zurückzugeben, denn er braucht es selbst als Ausgangsbasis für seinen eigenen Kampf um die Macht. In einer Szene, die auf Eleanors Seite fast inzestuöse Untertöne durchschimmern lässt, kommt es zu einer emotionalen Wiederannäherung zwischen Mutter und Sohn, doch ihr politischer Gegensatz bleibt bestehen.


Philip II ist ein schlauer und berechnender Machtpolitiker, aber in ihm brodelt es auch wegen der jahrzehntelangen Demütigungen, die sein Vater Louis von Henry erdulden musste. Er ist wild entschlossen, es besser zu machen und sich von Henry nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Geoffrey weiß, dass er nur König werden kann, wenn es ihm gelingt, Henry und John gegeneinander auszuspielen. Zu diesem Zweck überredet er John zu einem Bündnis mit Philip. Dabei baut er auf Johns Gier und Ungeduld, denn dieser will lieber gleich König sein, als auf Henrys natürlichen Tod zu warten. Das Abkommen sieht vor, dass Philip Soldaten und sonstige Unterstützung liefert, mit deren Hilfe John Krieg gegen Henry führt. Nach Johns Sieg sollte er König und Geoffrey sein Kanzler werden. Hätte sich Philip an diesen Vertrag gehalten? Später wird klar, dass Philip wahrscheinlich im letzten Moment seine Unterstützung zurückgezogen und dann mit Freude zugesehen hätte, wie sich die Familie seines Feindes gegenseitig zerfleischt. Doch dem tumben John sind solche Überlegungen zu hoch, und Geoffrey hat ohnehin eigene Pläne.


Die Intrigen kulminieren in einer Szene, in der sich nacheinander die drei Söhne und dann Henry selbst in Philips Gemach einfinden, um heimlich mit ihm zu verhandeln. Und jedesmal, wenn einer der Gäste eintrifft, wird der bereits anwesende von Philip hinter einem Vorhang versteckt. Was klingt wie in einem Schwank, entfaltet sich als ein Drama im Kleinen. Das Verhältnis von Richard zu Philip hat eine besondere Note dadurch, dass die beiden als Jugendliche Freunde waren. Und wie sich nun in dieser Szene erweist, hatten die beiden damals auch ein homosexuelles Verhältnis. Das benutzt jetzt Philip, um Henry zu treffen. Er berichtet Henry von der "Sodomie" seines Sohnes, von der er bisher nur vage Gerüchte kannte, aus erster Hand. Und während es zuvor im Gespräch mit Richard so aussah, als wäre damals Leidenschaft auf beiden Seiten vorhanden gewesen, behauptet Philip nun Henry gegenüber, er habe sich nur unter Ekel daran beteiligt, aus dem einzigen Grund, irgendwann ihm davon berichten zu können. Das sitzt. Henry ist schockiert und peinlich berührt. Vor allem aber ist Richard, der im Versteck hinter dem Vorhang mitgehört hat, tief getroffen. Entgeistert tritt er hervor und widerspricht Philip. Jetzt glaubt Geoffrey, dass seine Stunde gekommen ist. Auch er verlässt sein Versteck, und er enthüllt auch Johns Anwesenheit. Das ist ein vernichtender Schlag für Henry: Er erkennt, dass nicht nur Richard und Geoffrey gegen ihn intrigieren, von denen er es sowieso erwartet hatte, sondern auch sein Liebling John.


Doch Geoffrey hat sich verrechnet. Henry setzt nicht ihn als Nachfolger ein, sondern er enterbt alle seine Söhne und lässt sie ins Verlies im Keller von Chinon sperren (wo sie sich allerdings noch frei bewegen können). Und er fasst einen kühnen Plan: Wenn keiner seiner Söhne als Nachfolger taugt, dann muss eben ein neuer Sohn her. Zu diesem Zweck will er seine Ehe mit Eleanor vom Papst annullieren lassen. Dann, so der Plan, wird er Alais heiraten, die ihm neue Kinder gebären wird. Der Papst schuldet Henry einen Gefallen, denn dieser hatte ihm zu seinem Thron im Vatikan verholfen, aber der Plan ist gefährlich. Denn Henry müsste selbst nach Rom reisen, und in seiner Abwesenheit könnten alle möglichen Dinge geschehen, wie ihm Eleanor, die von den Scheidungsplänen persönlich sehr verletzt ist, sogleich drohend ankündigt. Aber auch Alais steht dem Plan skeptisch gegenüber, und sie macht Henry erst die ganze Tragweite der Situation klar: Er dürfte seine jetzigen Söhne nie mehr freilassen. Denn wenn er erst einmal tot wäre, würden seine erwachsenen Söhne, sobald sie die Gelegenheit hätten, Alais in ein Kloster stecken und ihre Kinder von Henry umbringen, damit sie selbst wieder an die Macht kämen. Henry müsste die drei also lebenslänglich einkerkern oder besser gleich sofort hinrichten. Henry zögert, doch er weiß, dass Alais recht hat.


So rafft er sich also auf und macht sich mit einem Schwert bewaffnet auf ins Verlies, um reinen Tisch zu machen. Dort hat sich aber bereits Eleanor durch Bestechung eines Soldaten Zutritt verschafft, weil sie ahnt, dass Henry bald auftauchen wird, und sie hat ihren Söhnen etwas mitgebracht - für jeden einen Dolch. Und bald kommt es zum Aufeinandertreffen der gesamten Familie im Verlies - doch am Ende wird niemand getötet. Henry ist in der stärkeren Position, doch er bringt es nicht fertig, seine Kinder umzubringen, was Eleanor ohnehin gewusst hatte. Henry erkennt, dass er seine hochfliegenden Scheidungs- und Heiratspläne aufgeben muss. Die Thronfolge bleibt vorerst ungeklärt, die Söhne gehen ihrer Wege, Eleanor bleibt Henrys Gefangene, und sie wird zurück in ihre Burg nach England geschickt. Doch Ostern wird man sich wiedersehen ...


DER LÖWE IM WINTER beruht auf dem Theaterstück "The Lion in Winter" des Amerikaners James Goldman, das 1966 erfolgreich am Broadway lief, und Goldman selbst schrieb das Drehbuch des Films. Die Herkunft von der Bühne merkt man dem Film an: Er ist sehr dialoglastig, und Katharine Hepburn und Peter O'Toole haben auch jeweils einen Monolog, fast wie man es aus Shakespeares Königsdramen kennt. (Mit O'Toole wurde auch ein weiterer, noch längerer Monolog gedreht, der laut Anthony Harvey vielleicht sein bester Auftritt war. Doch die Szene war zu lang und störte den Rhythmus des Films, so dass sie zu O'Tooles Verdruß weggelassen wurde.) Auch die Dramaturgie des Films erinnert an Theater - die Zusammenkünfte der Protagonisten in wechselnden Konstellationen, gelegentlich auch alle zusammen in einem Raum. Vielleicht könnte man den Film sogar in Akte einteilen, aber darauf habe ich nicht besonders geachtet. Aber ein Nachteil ist das alles in diesem Fall nicht. Erstens sind die geschliffenen Dialoge kein Selbstzweck, sondern sie transportieren eine politisch und psychologisch komplexe Handlung. Und zweitens ist es eine wahre Freude, Schauspielern wie Peter O'Toole und Katharine Hepburn beim Parlieren zuzusehen und -hören. (Die deutsche Synchronisation ist auch sehr gut gelungen.)


Außerdem wirken die Schauplätze alle authentisch. Der überwiegende Teil der Innenaufnahmen entstand in einem Studio in Irland, aber die Außenaufnahmen und der Rest der Innenaufnahmen wurden bei echten Burgen in Frankreich sowie in Wales gedreht. Es wurde darauf geachtet, den sehr begrenzten Luxus zu zeigen, den auch die Könige damals genossen. In den schlecht oder gar nicht geheizten Gemäuern war es sowohl im Film als auch beim Drehen bitter kalt (gedreht wurde tatsächlich mitten im Winter). Der Innenhof von Chinon ist nicht gepflastert - bei Regen stapft man durch Schlamm. Und in diesem Innenhof werden auch ganz selbstverständlich Schweine und Hühner gehalten, die Hühner freilaufend (siehe erster Screenshot), die Schweine immerhin in Verschlägen.


Peter O'Toole hatte anscheinend die Rechte an Goldmans Drehbuch erworben, jedenfalls war er in der Lage, Anthony Harvey die Regie anzubieten. Der 1931 in London geborene Harvey machte zunächst eine Ausbildung zum Theaterschauspieler, kam jedoch zum Schluss, dass er dafür nicht übermäßig begabt sei, und verlegte sich auf den Filmschnitt. Ab 1955 war er als Cutter beschäftigt, zunächst für die Brüder John und Roy Boulting. Seine bekanntesten Filme in dieser Funktion sind Stanley Kubricks LOLITA und DR. SELTSAM sowie Martin Ritts DER SPION, DER AUS DER KÄLTE KAM. Harveys erste Regiearbeit DUTCHMAN war eine kurze und mit bescheidensten Mitteln gedrehte Verfilmung eines Theaterstücks von Amiri Baraka (damals noch LeRoi Jones). O'Toole sah den Film, war begeistert und trug Harvey die Verfilmung von DER LÖWE IM WINTER an. Der ließ sich die Chance, mit zwei Weltstars zu arbeiten, nicht entgehen. O'Toole und Hepburn waren von dem Stoff überzeugt und arbeiteten für relativ wenig Geld. Auch Komponist John Barry verlangte nur einen Bruchteil des Gehalts, das er beispielsweise für seine James-Bond-Filme bekam. Überhaupt war DER LÖWE IM WINTER viel billiger, als er aussieht. Die gediegene Anmutung des Films war auch den Künsten von Kameramann Douglas Slocombe zu verdanken. Erwähnung verdient die Farbsetzung. Die dominierenden Farben sind braun und grau - graue Gemäuer, braunes Holz, Dreck, Gewänder in gedeckten Farben. Umso wirkungsvoller sind einzelne Akzente, die von leuchtenden Primärfarben und strahlendem Weiß gesetzt werden, und für die vor allem Eleanor zuständig ist.


Die Dreharbeiten fanden in lockerer und familiärer Atmosphäre statt. Katharine Hepburn war guter Dinge, obwohl der Tod ihres Langzeitpartners Spencer Tracy noch nicht lange zurücklag, sie hatte keinerlei Starallüren, bemutterte das Team, und die Chemie zwischen ihr und O'Toole war schauspielerisch und privat bestens. Sie hielt auch große Stücke auf Anthony Hopkins, der zuvor nur in einem Fernsehfilm und einem Kurzfilm von Lindsay Anderson aufgetreten war, aber bereits ein anerkannter Bühnendarsteller unter den Fittichen von Laurence Olivier war. Auch für Timothy Dalton war DER LÖWE IM WINTER sein erster Spielfilm. Zwei kleinere Katastrophen konnten die Fertigstellung des Films nicht verhindern: Ein Pferd, auf dem Anthony Hopkins in voller Ritterrüstung saß, scheute vor einer Kamera und ging durch. Hopkins fiel herunter und brach sich einen Arm. Und Anthony Harvey bekam eine Hepatitis und war für einige Wochen außer Gefecht gesetzt.


DER LÖWE IM WINTER wurde ein grandioser Erfolg bei Publikum und Kritik, der Harveys kühnste Erwartungen übertraf. Es gab drei Oscars: Für Katharine Hepburn (gemeinsam mit Barbra Streisand für FUNNY GIRL - ein Unikum der Oscar-Geschichte), James Goldman für das Drehbuch und John Barry für die Musik; außerdem vier weitere Nominierungen, darunter Harvey für die Regie und O'Toole, der auch bereits für seinen Henry II in BECKET nominiert war. (Bekanntlich gewann O'Toole noch nie einen Oscar, obwohl er bereits achtmal nominiert war.) Dazu gab es zwei BAFTA Awards für Hepburn und Barry plus sechs weitere Nominierungen, Golden Globes für den besten Film und für O'Toole plus fünf weitere Nominierungen, den Regiepreis der Directors Guild of America für Harvey, und noch ein paar weitere Auszeichnungen. Harvey durfte bei der Oscar-Verleihung auch eine der Statuen entgegennehmen, nämlich stellvertretend für Katharine Hepburn, die gerade mit den Dreharbeiten zu DIE IRRE VON CHAILLOT beschäftigt war, und die sich ohnehin nichts aus Oscars und sonstigen Auszeichnungen machte. (Tatsächlich war Hepburn, die zwölfmal für den Oscar nominiert war und viermal gewann, bei den Verleihungen nie anwesend, außer einmal, als sie selbst einen Ehrenpreis an einen mit ihr befreundeten Produzenten überreichte.) Anthony Harvey setzte seine Karriere mit relativ wenigen Filmen bis in die 90er Jahre fort, wobei er noch dreimal mit Katharine Hepburn, einmal mit Peter O'Toole sowie mehrfach mit weiteren großen Stars zusammenarbeitete. Einen so spektakulären Erfolg wie mit DER LÖWE IM WINTER konnte er nicht mehr erringen.


DER LÖWE IM WINTER ist mit einem Audiokommentar von Anthony Harvey auf DVD erschienen.

Freitag, 29. April 2011

Plädoyer für Hitchcock's "Marnie"

Marnie
(Marnie, USA 1964)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: 'Tippi' Hedren, Sean Connery, Diane Baker, Martin Gabel, Louise Latham, Bruce Dern u.a.

Hitchcock's "Marnie" ist so bekannt, dass man sich mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen und auch einige Spoiler in Kauf nehmen kann (ohne das Ende zu verraten, versteht sich). Gleichzeitig scheut man vor einer halbwegs umfassenden Interpretation des Films zurück, wurde er doch vielleicht noch mehr als andere Werke des Regisseurs von allen erdenklichen Seiten durchleuchtet. - Dass ich mich trotzdem an ihn heranwage, hat einen anderen, sehr persönlichen Grund: Ich möchte der Frage nachgehen, warum ich zu der zahlenmässig sicher kleineren Gruppe gehöre, die den umstrittensten Hitchcock für ein (verkanntes) Meisterwerk hält, wie ich meine Einstellung begründe und ob es mir gelingt, sie anderen halbwegs glaubwürdig zu verkaufen. Eine wirklich überzeugende Erklärung habe auch ich nicht zu bieten - was vielleicht den Reiz des Films ausmacht, aber nach einer Menge Arbeit aussieht.

Die Kleptomanin Marnie lässt sich als unscheinbare Sekretärin engagieren, um bald darauf die Tresore ihrer Chefs auszuräumen. Wieder einmal ist ihr eine perfekte Flucht gelungen, und nach ein paar Tagen bei ihrer stets kalt wirkenden Mutter lässt sie sich vom Witwer Mark Rutland anstellen, dem sie bereits an ihrem vorherigen Arbeitsplatz auffiel. Mark wartet förmlich darauf, dass die junge Frau, die eine unerklärliche Angst vor Gewittern und der Farbe Rot hat, sich auch über seinen Tresor hermacht. Er stellt die Flüchtige, fährt mit ihr zu seinem Familiensitz - und zwingt sie zur Heirat! Während Mark's eifersüchtige Schwägerin Lil  Marnie zu kompromittieren versucht, will er selber dem Problem seiner frigiden Frau auf die Spur kommen. Eine Reise in Marnie's Kindheit beginnt...

 

Der Film wurde im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern kein Erfolg; und Hitchcock reagierte ein wenig pikiert, als ihm François Truffaut diese Tatsache in seinem berühmten Interview ("Le cinéma selon Hitchcock", 1966) dezent unter die Nase rieb. Das Publikum empfand "Marnie" als altbacken und langweilig, Kritiker warfen dem Film vor, sich einer überholten Psychologie zu bedienen und in tricktechnischer Hinsicht eine Peinlichkeit zu sein. - Tatsächlich wirken Mark's Versuche, seiner Frau mit amateurpsychologischen Methoden zu helfen, mehr als veraltet (bewusst?), und die plötzliche Erinnerung an Verdrängtes am Ende erscheint lediglich formal begründet. Zu den tricktechnischen Nachlässigkeiten werden der leicht als zweidimensionales Bild erkennbare Hintergrund der Hafenstrasse, in der Marnie's Mutter lebt, ein höchst künstlich wirkendes Gewitter (es verhilft Mark immerhin zu seinem ersten Kuss!) und eine offensichtlich im Studio aufgenommene Reitszene gezählt. - Andererseits: Hitchcock legte oft nicht besonders grossen Wert auf tricktechnische Perfektion, wenn es ihm auf den eigentlichen Effekt der Szene ankam (ich denke etwa an die Autofahrten in "North by Northwest", 1959, oder sogar "Family Plot", 1976) - ohne dass man es ihm zum Vorwurf machte!

Meines Erachtens müssen zwei weitere Faktoren berücksichtigt werden, wenn man die teilweise bis heute anhaltende laue Aufnahme des Films verstehen will: Erstens hatte das Publikum einen neuen Schocker erwartet und war enttäuscht über die Rückkehr des Meisters zum Thriller-Melodram (auch die nach "Marnie" gedrehten Spionagefilme fanden bekanntlich nicht den erhofften Beifall, der erst mit dem überschätzten "Frenzy", 1972, zurückkehrte). Es ist deshalb absurd, "Marnie" als Abschluss einer sich mit psychologischen Themen befassenden Trilogie, die mit "Psycho" angefangen habe und mit "The Birds" fortgesetzt worden sei, zu betrachten; der Film knüpft - ich komme später darauf zu sprechen - vielmehr bewusst an frühere Filme an, bedeutet eine Abkehr vom Schocker. - Zweitens spielen Gerüchte um Hitchcock's Umgang mit seinem "Besitz" 'Tippi' Hedren (er verpasste ihrem Künstler-Vornamen sogar die einfachen Anführungszeichen) eine Rolle. Die Schauspielerin, die schon die Dreharbeiten zu "The Birds" als grauenvoll empfunden hatte, fühlte sich während der Arbeit an "Marnie" vom Regisseur sexuell belästigt. Man weiss nichts Genaues, bloss, dass Hedren ihren Kontakt zu Hitchcock beendete und von ihm nicht wieder eingesetzt wurde. - 1983 erschien jedoch eines der für den Ruf des Regisseurs nachhaltig schädlichsten Bücher: Donald Spoto's höchst unbeglaubigte Biographie "The Dark Side of Genius: The Life of Alfred Hitchcock". Spoto genoss es regelrecht, den Regisseur zum seinen unterdrückten sexuellen Begierden ausgelieferten Monster zu machen, das während der Dreharbeiten zu "Marnie", bereits dem Alkohol verfallen, sich nicht mehr wie bei Grace Kelly habe zurückhalten können. Der Autor, dem zwei kurze Interviews mit Hitch gewährt worden waren und dem sich alle dem Regisseur verbunden Fühlenden verweigerten, weiss natürlich im Detail, was sich genau bei der Entstehung von "Marnie" ereignete - und leider wurde vieles von dem, was er schrieb, kolportiert und blieb in den Köpfen des Filmpublikums hängen. Besonders hübsch: Hitchcock's Interesse am Film habe nach dem Konflikt mit Hedren nachgelassen, was die vielen oben erwähnten "Flaws" erkläre. Wäre Spoto tatsächlich ein Hitchcock-Kenner, wüsste er, wie minutiös der "Master of suspense" seine Filme vorplante, so minutiös, dass er - möge es sich nun um Narkolepsie oder einen Fimmel gehandelt haben - am Set oft den Eindruck eines Schlafenden erweckte. Der Film war also im Grunde genommen bereits "fertig", als er gedreht wurde; und die Beziehung zu einer Hauptdarstellerin konnte daran kaum etwas ändern.

Was habe ich, der ich "Marnie" erstmals als zehnjähriger Bengel und seither unzählige Male sah, nun all den negativen Beurteilungen des Films entgegenzusetzen? Es ist nicht viel, lohnt aber vielleicht doch eine Überlegung: Man erhält insbesondere in gewissen melodramatischen Filmen des Regisseurs gelegentlich den Eindruck, er "leihe" seinen Protagonisten die Kamera für eine Weile, gebe sie ihnen als "Auge", damit sie dem Zuschauer für ein paar Momente die Welt zeigen können, wie sie sie sehen. Dieses Phänomen begegnete mir in aller Deutlichkeit erstmals bei "Rebecca" (1940): Die namenlose zweite Mrs. de Winter zeigt uns nicht bloss die im ganzen Haus scheinbar übermässig verstreuten Zeichen ihrer Vorgängerin, sie nimmt auch die Bewegungen von Mrs. Danvers, der unheimlichen Haushälterin, als nicht hörbares Schweben wahr und lässt es den Zuschauer als solches empfinden. In "Notorious" (1946) etwa ist es vor allem die berühmte Gleitfahrt der Kamera vom ganzen Festsaal bis zur Hand von Ingrid Bergman, die den Schlüssel zum Weinkeller hält, von der ich den Eindruck habe, es gehe hier um die Bewegung vom "Das seht ihr!" zum "Das spüre ich!". Und in "Vertigo" (1958) ist es letztlich neben der Musik nur die Kamera, die dem Zuschauer als Auge von James Stewart vermitteln kann, wie vom Tode umgeben er die Ausstrahlung der scheinbaren Madeleine wahrnimmt.

Bei "Marnie" scheint es mir, als würde diese eigenartige Funktion der Kamera beinahe zum Prinzip erhoben, was den Film über weite Strecken zum (ich möchte sagen: halluzinatorischen) Ereignis macht, das uns miterleben lässt, wie die Hauptperson sich und ihre Welt (die "Wirklichkeit" verdrängend?) wahrnimmt. Bereits der Beginn, der eine dunkelhaarige Frau zeigt, die selbstsicher einen Bahnsteig entlanggeht, erscheint wie ein Sich-Betrachten der gespaltenen Marnie von hinten: "Seht doch, wie gut ich das kann!". Die Hafenstrasse mit ihrem riesigen Schiff im Hintergrund, das so symbolträchtig ist, dass es in den jetzt kindlich gewordenen Augen ruhig zweidimensional wirken darf, offenbart dann einen anderen im Untergrund drohenden Teil der Geschichte dieses Wesens (man beachte auch die unbesorgt spielenden Kinder, zu denen Marnie nie gehören konnte!). Die Tresorräume wirken wie billige Theaterkulissen, und als solche nimmt sie Marnie auch wahr: Einzig der riesige, immer gleich aussehende Tresor spielt eine Rolle. - So gerät der Zuschauer zunehmend in die Welt dieser eigenartig-fremden Frau, empfindet das Gewitter so, wie sie es empfindet, lässt den Landsitz der Rutlands plötzlich im Vergleich zur bisherigen "Welt" so überreal erscheinen, dass er ihm beinahe Angst einjagt - und erlebt das Reiten als das einzige wirklich befreiende Erlebnis in diesem Traum, in dem sich das scheinbare tricktechnische Manko vielleicht sogar als Vorteil entpuppt (ein Reiten wie ein Schweben!). Man könnte einige dieser "Flaws" ins Gegenteil verkehren, wenn man der Welt von Marnie erst ausgeliefert ist.


Ab und zu will Hitchcock aber offenbar daran erinnern, dass es sich bei diesem Trip, dem wir zu verfallen drohen, durchaus um die Welt "in Marnie's Augen" handelt. Er tut dies raffinierterweise, indem er uns in Zweifel versetzt: Während der ersten Autofahrt zum Landsitz der Rutlands etwa wirft Sean Connery der Hedren einen derart ordinären "Dich nehm ich mir!"-Blick (den der hervorragend spielende Schauspieler nicht von seinen James Bond-Rollen her hat, sondern Hitchcock verdankt!) zu, dass man sich unweigerlich fragt, ob er bloss in Marnie's Wahrnehmung existiert oder real ist. Und ist das Gesicht, das wir von der Vergewaltigten sehen, das Gesicht, das ihr Mann sieht? Müsste er, der ihr doch helfen will, dann nicht von ihr ablassen? Sehen wir etwa vielmehr bloss das Gesicht, das Marnie ihm zu zeigen glaubt? - Eigenartige Situationen, die uns zumindest etwas erkennen lassen: Die Heldin sieht sich als in sich Brüchige umgeben von in sich selber brüchigen, z.T. zwielichtigen Gestalten (ich denke neben Lil an Strutt und den Mann, der sie beim Pferderennen erkennt: Beide begehren sie sexuell und wollen sie zugleich der Polizei ausliefern respektive erpressen). Wie aber soll sie in einer Welt voller in sich brüchiger Wesen, die wie ihre die Wahrheit verdrängende Mutter und der zwischen Begehrendem und Helfendem schwankende Mark nicht in der Lage sind, Macht über sich auszuüben, gesunden, "gut" werden? - Und letztlich: Wer ist in diesem Traum, den wir mitträumen, der Bösewicht, falls es überhaupt einen gibt?

Meiner Ansicht nach ist "Marnie" bleibend aktuell, von seiner Gestaltung her (und sie ist letztlich von grösserer Bedeutung als Mark's freudianische Spielchen!) auch in psychologischer Hinsicht keineswegs überholt. Der Film verfügt, wie sogar der "Biograph" Spoto zugeben muss, über eine eigenartige Anziehungskraft, zieht den Zuschauer auf seltsam traumhafte Weise in die gequälte Seele einer gebrochenen Frau hinein - und hebt die Zeit derart auf, dass man seine Länge gar nicht wahrnimmt. Dazu trägt die seltsam hypnotisierende, aber das Meer des Unbewussten immer wieder aufwühlende Musik von Bernard Herrmann wesentlich bei. Das erscheint mir einzigartig, meisterhaft. - Vielleicht haben letztlich das Erschiessen von Marnie's Lieblingspferd und das Aufdecken ihres Geheimnisses etwas Enttäuschendes, weil sie das Ende dieses Traums ankünden: Am Schluss verlässt eine mit dem Zuschauer "erwachte", ratlose Marnie in Mark's Armen das Haus ihrer Mutter.


Gegner von "Marnie" könnten mein höchst unvollständiges Plädoyer in der Luft zerreissen, wie ich ihre Argumente zu widerlegen versuche. Nicht viele Filme können sich rühmen, derart umstritten zu sein. Lynch's "Mulholland Drive" mit seinen ergebenen Verehrern und gandenlosen Verächtern gehört zu ihnen. Dies spricht meiner Meinung nach für "Marnie", der auf den ersten Blick sicher viel weniger komplex ist, jedoch eine Menge Stoff für Interpretationen, Liebe und Hass bietet. - Ich habe lange behauptet, "Marnie" sei nicht mein absoluter Hitchckock-Favorit; ich würde ihn lediglich zu meinen sechs, sieben Lieblingen (so viele muss man dem Regisseur schon zugestehen) zählen. Aber muss ein Film, den man, gerade weil er die Zuschauer derart dezidiert in zwei Lager spaltet, jederzeit mit viel Herzblut und wenig Verstand verteidigen würde, nicht mehr als alle anderen Arbeiten des Meisters geliebt werden? -  Es liesse sich sogar darüber spekulieren, ob Hitchcock die Hedren nicht bewusst mit sexuellen Anspielungen zur Leistung ihres Lebens getrieben habe; was allerdings nichts daran ändert, dass er anschliessend ihre Karriere kaputtmachte.