Sowjetunion (Georgien) 1967
Regie: Tengis Abuladse
Darsteller: Spartak Bagaschwili (Chwatisia), Ramas Tschchikwadse (Mazili), Rusudan Kiknadse (junge Frau), Tengis Artschwadse (Aluda Ketelauri), Gejdar Palawandischwili (Muzali), Surab Kapianidse (Swiadauri), Otar Megwinetuchuzesi (Dschokola), Nana Kawtaradse (Agasa)
Neben Russland und der Ukraine ist Georgien vielleicht die bedeutendste Filmnation unter den früheren Sowjetrepubliken, und Tengis Abuladse (engl. Transliteration Tengiz Abuladze) war einer der bekanntesten Regisseure des Landes. Der mit ca. 75 Minuten recht kurze DAS GEBET ist der erste Teil einer informellen Trilogie, in der es um georgische Geschichte und Gegenwart geht, und die durch DER BAUM DER WÜNSCHE (1977) und DIE REUE (1984) komplettiert wird. Der Film beruht auf zwei Vers-Epen und einer Novelle des georgischen Dichters Wascha-Pschawela (eigtl. Luka Rasikaschwili, 1868-1915), und er besteht aus einer allegorischen Rahmenhandlung, die jeweils einige Minuten am Anfang, in der Mitte und am Ende des Films einnimmt, sowie zwei darin eingebetteten erzählenden Episoden. Die Rahmenhandlung und die beiden Episoden umfassen jeweils ungefähr ein Drittel des Films.
In der Rahmenhandlung begegnen wir dem mythisch angehauchten Dichter Chwatisia und seinem Gegenspieler Mazili, einem unappetitlichen blinden Dickwanst, der das Böse repräsentiert - eine Art Teufel oder Antichrist. Mazili erhebt Anspruch auf eine blonde junge Frau in weißem Gewand - die, das sei vorweggenommen, Georgien repräsentiert -, doch sie begibt sich in Chwatisias Schutz, woraufhin sich ein Streitgespräch zwischen den beiden Widersachern entwickelt. Es dreht sich um Themen wie die Endlichkeit der menschlichen Existenz und um den Gegensatz von materiellen und spirituellen Bedürfnissen, wobei Mazili, der sich Chwatisia gegenüber für unbesiegbar erklärt, der Vertreter des Materialismus ist. Um seine Position zu unterstreichen, führt er Chwatisia Szenarien wie die Beerdigung eines zuvor scheinbar allmächtigen lokalen Potentaten vor Augen.
Mazili ist aber auch ein Symbol für den "großen Bruder" Russland, der sich Georgien einverleibt hat. Wascha-Pschawela war Mitglied der georgischen Nationalbewegung, und seine allegorisch verklausulierte Kritik am Zarenreich wird von Abuladse zwanglos auf das Sowjetsystem übertragen. (DIE REUE, Abuladses letzter Spielfilm, ist eine bitterböse Abrechnung mit dem Stalinismus, und er wurde am Vorabend von Glasnost und Perestrojka einer der erfolgreichsten sowjetischen Filme seiner Zeit.) Im letzten Teil der Rahmenhandlung gibt es eine erzwungene Hochzeit zwischen Mazili und der Frau - Chwatisia hat offenbar resigniert. Danach wird die Frau in einer apokalyptischen Szenerie, die etwas an Bruegels "Triumph des Todes" erinnert, an einem Galgen gehenkt. Doch der Tod triumphiert nicht: In der nächsten Szene, die eine Einstellung vom Anfang des Films wieder aufnimmt, schreitet die Frau über eine Wiese auf die Kamera zu. Der Kreis schließt sich. Der Film endet mit Versen von Wascha-Pschawela, in denen der Glaube an die Wahrheit als ewig bezeichnet wird.
Um ehrlich zu sein: Ich hatte die Rahmenhandlung zunächst nicht so recht verstanden, und manches daran ist mir immer noch unklar. (Bei der Interpretation half die Dissertation von Dinara Maglakelidse, siehe insbesondere hier.) Umso klarer ist die Botschaft der beiden erzählenden Episoden, die auf Wascha-Pschawelas epischen Gedichten "Aluda Ketelauri" und "Gastgeber und Gast" beruhen.
In einer schroffen Gebirgsgegend des Kaukasus leben zwei Völker, die christlichen Chewsuren und die islamischen Kisten, seit jeher in erbitterter Feindschaft. Die erste Erzählung zeigt zu Beginn eine Natursteinmauer, aus der ganze Reihen von abgetrennten menschlichen Händen hervorragen. Die Bedeutung dieses bizarren Bildes wird bald offenbar. Aluda Ketelauri, ein Chewsure, verfolgt zwei Kisten, die Pferde von den Weiden der Chewsuren gestohlen haben. Er schießt den einen mit seiner Flinte aus dem Hinterhalt vom Pferd, aber Muzali, der andere, liefert sich mit ihm ein Feuergefecht, bis auch er tödlich getroffen wird. Nun erfordert es eigentlich die Tradition, dass Aluda dem Getöteten die rechte Hand abtrennt und als Trophäe mit ins Dorf nimmt. Aber weil Muzali tapfer gekämpft hat, will Aluda den Feind ehren, indem er den Körper unversehrt lässt. Zurück in seiner Siedlung, stößt er damit jedoch auf Ablehnung und Unverständnis. Die ehernen Traditionen müssen eingehalten werden, gibt man ihm zu verstehen. Da er bei seiner Haltung bleibt, wird er als Weichling beschimpft und geschnitten. Als er auch noch einen Stier zu Ehren des toten "Ungläubigen" opfert - eine Handlung, zu der nur der Dorfälteste berechtigt gewesen wäre -, richtet ein Tribunal über ihn. Aluda wird mitsamt seiner Familie aus dem Dorf verbannt, seine Herde eingezogen, sein Haus verbrannt. Die letzte Einstellung zeigt, wie Aluda mit seiner Familie, ganz ohne Habseligkeiten, über ein ödes Schneefeld ins Ungewisse wandert - vielleicht dem baldigen Tod entgegen.
In der zweiten Erzählung begegnen sich im schneebedeckten Gebirge zwei Jäger. Swiadauri ist Chewsure und Dschokola ein Kiste, aber im Angesicht der harschen Natur vergessen sie die traditionelle Feindschaft. Dschokola lädt Swiadauri in sein Haus in der Siedlung der Kisten ein - aber auch er scheitert an der Dorfgemeinschaft. Swiadauri hatte vor Monaten einen Kisten getötet, und nun fordern die Männer dafür seinen Tod. Dschokola pocht auf das Recht der Gastfreundschaft, aber das Gesetz der Blutrache steht darüber, bekommt er zu hören. Nur Dschokolas Frau Agasa hält zu ihm. Als er seinen Gast mit der Waffe verteidigen will, notfalls auch gegen seine eigenen Verwandten, wird er überwältigt und verprügelt. Swiadauri wird wie ein Paket verschnürt und zum Friedhof geschleift. Dort, am Grab des von ihm getöteten Kisten, wird er diesem als Opfergabe übereignet. Dann schneidet man dem "Ungläubigen" wie einem Schaf, das geschlachtet wird, die Kehle durch. In der Abenddämmerung schleicht Agasa wie eine Antigone des Kaukasus zum Friedhof, um den Toten zu betrauern und ihm die Ehre zu erweisen.
Im Lexikon des internationalen Films ist zu lesen, der Held der ersten Episode sei das Opfer in der zweiten. Das stimmt zwar nicht - die Namen der Charaktere und die Darsteller unterscheiden sich -, aber es ist ein bezeichnender Fehler. Denn auf einer etwas abstrakteren Ebene sind die zwei Geschichten symmetrisch oder komplementär zueinander. Und zusammengenommen lautet die Botschaft: Im Kreislauf von Gewalt und Vergeltung gibt es keine Guten und Bösen, sondern letztlich werden alle zu Opfern. Die Unterscheidung zwischen "wir" und "die anderen", zwischen den Stämmen und Religionen, ist hinfällig. Humanität müsste die Spirale der Gewalt durchbrechen, aber sie zerschellt an den patriarchalischen Gesetzen, Traditionen und Ritualen.
Wer nun meint, DAS GEBET sei ein "Thesenfilm", liegt weit daneben. Vielmehr handelt es sich um ein gleichermaßen wuchtiges wie poetisches Werk. Vieles an der Bild- und Tonsprache ist stark stilisiert. So gibt es relativ wenige "echte" Dialoge. Stattdessen werden immer wieder Zeilen aus Wascha-Pschawelas Vers-Epen als "Ersatzdialoge" rezitiert. Die Vorhaltungen der Männer in den beiden Dörfern gegenüber dem jeweiligen "Abweichler" werden im Gleichklang in repetitiven Sentenzen vorgetragen. Das erinnert etwas an den Chor in griechischen Tragödien, und es verleiht dem Geschehen zusätzliche archaische Wucht. Abuladse und seinem ukrainischen Kameramann Alexander Antipenko gelingen auch eindrucksvolle Bilder: Kühne und teils surreale Bildmetaphern, grandiose Ansichten der schroffen Bergwelt und der archaisch-wehrhaften Architektur der Siedlungen ihrer Bewohner. DAS GEBET ist in seiner ästhetischen und formalen Geschlossenheit trotz seiner Kürze ein großer Film!
DAS GEBET ist in Russland bei RUSCICO auf DVD erschienen (mit deutschen Untertiteln). RUSCICO ist derzeit etwas auf Tauchstation, aber die Scheibe ist zu vernünftigen Preisen bei Amazon Marketplace und eBay erhältlich.
In der Rahmenhandlung begegnen wir dem mythisch angehauchten Dichter Chwatisia und seinem Gegenspieler Mazili, einem unappetitlichen blinden Dickwanst, der das Böse repräsentiert - eine Art Teufel oder Antichrist. Mazili erhebt Anspruch auf eine blonde junge Frau in weißem Gewand - die, das sei vorweggenommen, Georgien repräsentiert -, doch sie begibt sich in Chwatisias Schutz, woraufhin sich ein Streitgespräch zwischen den beiden Widersachern entwickelt. Es dreht sich um Themen wie die Endlichkeit der menschlichen Existenz und um den Gegensatz von materiellen und spirituellen Bedürfnissen, wobei Mazili, der sich Chwatisia gegenüber für unbesiegbar erklärt, der Vertreter des Materialismus ist. Um seine Position zu unterstreichen, führt er Chwatisia Szenarien wie die Beerdigung eines zuvor scheinbar allmächtigen lokalen Potentaten vor Augen.
Mazili ist aber auch ein Symbol für den "großen Bruder" Russland, der sich Georgien einverleibt hat. Wascha-Pschawela war Mitglied der georgischen Nationalbewegung, und seine allegorisch verklausulierte Kritik am Zarenreich wird von Abuladse zwanglos auf das Sowjetsystem übertragen. (DIE REUE, Abuladses letzter Spielfilm, ist eine bitterböse Abrechnung mit dem Stalinismus, und er wurde am Vorabend von Glasnost und Perestrojka einer der erfolgreichsten sowjetischen Filme seiner Zeit.) Im letzten Teil der Rahmenhandlung gibt es eine erzwungene Hochzeit zwischen Mazili und der Frau - Chwatisia hat offenbar resigniert. Danach wird die Frau in einer apokalyptischen Szenerie, die etwas an Bruegels "Triumph des Todes" erinnert, an einem Galgen gehenkt. Doch der Tod triumphiert nicht: In der nächsten Szene, die eine Einstellung vom Anfang des Films wieder aufnimmt, schreitet die Frau über eine Wiese auf die Kamera zu. Der Kreis schließt sich. Der Film endet mit Versen von Wascha-Pschawela, in denen der Glaube an die Wahrheit als ewig bezeichnet wird.
Um ehrlich zu sein: Ich hatte die Rahmenhandlung zunächst nicht so recht verstanden, und manches daran ist mir immer noch unklar. (Bei der Interpretation half die Dissertation von Dinara Maglakelidse, siehe insbesondere hier.) Umso klarer ist die Botschaft der beiden erzählenden Episoden, die auf Wascha-Pschawelas epischen Gedichten "Aluda Ketelauri" und "Gastgeber und Gast" beruhen.
In einer schroffen Gebirgsgegend des Kaukasus leben zwei Völker, die christlichen Chewsuren und die islamischen Kisten, seit jeher in erbitterter Feindschaft. Die erste Erzählung zeigt zu Beginn eine Natursteinmauer, aus der ganze Reihen von abgetrennten menschlichen Händen hervorragen. Die Bedeutung dieses bizarren Bildes wird bald offenbar. Aluda Ketelauri, ein Chewsure, verfolgt zwei Kisten, die Pferde von den Weiden der Chewsuren gestohlen haben. Er schießt den einen mit seiner Flinte aus dem Hinterhalt vom Pferd, aber Muzali, der andere, liefert sich mit ihm ein Feuergefecht, bis auch er tödlich getroffen wird. Nun erfordert es eigentlich die Tradition, dass Aluda dem Getöteten die rechte Hand abtrennt und als Trophäe mit ins Dorf nimmt. Aber weil Muzali tapfer gekämpft hat, will Aluda den Feind ehren, indem er den Körper unversehrt lässt. Zurück in seiner Siedlung, stößt er damit jedoch auf Ablehnung und Unverständnis. Die ehernen Traditionen müssen eingehalten werden, gibt man ihm zu verstehen. Da er bei seiner Haltung bleibt, wird er als Weichling beschimpft und geschnitten. Als er auch noch einen Stier zu Ehren des toten "Ungläubigen" opfert - eine Handlung, zu der nur der Dorfälteste berechtigt gewesen wäre -, richtet ein Tribunal über ihn. Aluda wird mitsamt seiner Familie aus dem Dorf verbannt, seine Herde eingezogen, sein Haus verbrannt. Die letzte Einstellung zeigt, wie Aluda mit seiner Familie, ganz ohne Habseligkeiten, über ein ödes Schneefeld ins Ungewisse wandert - vielleicht dem baldigen Tod entgegen.
In der zweiten Erzählung begegnen sich im schneebedeckten Gebirge zwei Jäger. Swiadauri ist Chewsure und Dschokola ein Kiste, aber im Angesicht der harschen Natur vergessen sie die traditionelle Feindschaft. Dschokola lädt Swiadauri in sein Haus in der Siedlung der Kisten ein - aber auch er scheitert an der Dorfgemeinschaft. Swiadauri hatte vor Monaten einen Kisten getötet, und nun fordern die Männer dafür seinen Tod. Dschokola pocht auf das Recht der Gastfreundschaft, aber das Gesetz der Blutrache steht darüber, bekommt er zu hören. Nur Dschokolas Frau Agasa hält zu ihm. Als er seinen Gast mit der Waffe verteidigen will, notfalls auch gegen seine eigenen Verwandten, wird er überwältigt und verprügelt. Swiadauri wird wie ein Paket verschnürt und zum Friedhof geschleift. Dort, am Grab des von ihm getöteten Kisten, wird er diesem als Opfergabe übereignet. Dann schneidet man dem "Ungläubigen" wie einem Schaf, das geschlachtet wird, die Kehle durch. In der Abenddämmerung schleicht Agasa wie eine Antigone des Kaukasus zum Friedhof, um den Toten zu betrauern und ihm die Ehre zu erweisen.
Im Lexikon des internationalen Films ist zu lesen, der Held der ersten Episode sei das Opfer in der zweiten. Das stimmt zwar nicht - die Namen der Charaktere und die Darsteller unterscheiden sich -, aber es ist ein bezeichnender Fehler. Denn auf einer etwas abstrakteren Ebene sind die zwei Geschichten symmetrisch oder komplementär zueinander. Und zusammengenommen lautet die Botschaft: Im Kreislauf von Gewalt und Vergeltung gibt es keine Guten und Bösen, sondern letztlich werden alle zu Opfern. Die Unterscheidung zwischen "wir" und "die anderen", zwischen den Stämmen und Religionen, ist hinfällig. Humanität müsste die Spirale der Gewalt durchbrechen, aber sie zerschellt an den patriarchalischen Gesetzen, Traditionen und Ritualen.
Wer nun meint, DAS GEBET sei ein "Thesenfilm", liegt weit daneben. Vielmehr handelt es sich um ein gleichermaßen wuchtiges wie poetisches Werk. Vieles an der Bild- und Tonsprache ist stark stilisiert. So gibt es relativ wenige "echte" Dialoge. Stattdessen werden immer wieder Zeilen aus Wascha-Pschawelas Vers-Epen als "Ersatzdialoge" rezitiert. Die Vorhaltungen der Männer in den beiden Dörfern gegenüber dem jeweiligen "Abweichler" werden im Gleichklang in repetitiven Sentenzen vorgetragen. Das erinnert etwas an den Chor in griechischen Tragödien, und es verleiht dem Geschehen zusätzliche archaische Wucht. Abuladse und seinem ukrainischen Kameramann Alexander Antipenko gelingen auch eindrucksvolle Bilder: Kühne und teils surreale Bildmetaphern, grandiose Ansichten der schroffen Bergwelt und der archaisch-wehrhaften Architektur der Siedlungen ihrer Bewohner. DAS GEBET ist in seiner ästhetischen und formalen Geschlossenheit trotz seiner Kürze ein großer Film!
DAS GEBET ist in Russland bei RUSCICO auf DVD erschienen (mit deutschen Untertiteln). RUSCICO ist derzeit etwas auf Tauchstation, aber die Scheibe ist zu vernünftigen Preisen bei Amazon Marketplace und eBay erhältlich.