Dieser Text stammt aus der
langen Fassung von 2006 meiner Besprechung von
LA PASSION DE JEANNE D'ARC.
Carl Theodor Dreyer wurde 1889 als unehelicher Sohn des armen schwedischen Hausmädchens Josefine Nilsson in Kopenhagen geboren. Nilsson arbeitete in Schweden auf einem Landgut des wohlhabenden Grundbesitzers und Pferdezüchters Jens Christian Torp und kam kurz vor der Geburt des Sohnes in dessen Kopenhagener Stadtwohnung. Dreyers leiblicher Vater ist nicht sicher bekannt, aber die Umstände sprechen dafür, dass es sich um Nilssons Arbeitgeber Torp handelte. Weder Nilsson noch der Vater, wer immer es nun war, gedachten sich um das Kind zu kümmern, und Nilsson verschwand zwei Wochen nach der Geburt wieder nach Schweden. Knapp zwei Jahre später starb Josefine Nilsson auf tragische und bizarre Weise. Sie war wieder schwanger, wollte aber diesmal das Kind nicht austragen. Weil sie sich keinen Engelmacher leisten konnte oder wollte, brach sie von einer größeren Menge Streichhölzer - die Rede ist von eineinhalb Schachteln - die Köpfe ab und schluckte sie, im Glauben, die darin enthaltenen Stoffe würden eine Fehlgeburt verursachen. Doch die Inhaltsstoffe waren stark giftig und ätzend, und Josefine Nilsson starb nach mehrtägigem qualvollem Todeskampf.
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Carl Theodor Dreyer (1964) |
Das kleine Kind blieb in Dänemark und erhielt zunächst den Namen Karl Nielsen. Er wurde in seinen ersten 18 Monaten von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht - insgesamt waren es sieben. Schließlich landete er bei dem Ehepaar Carl Theodor und Inger Marie Dreyer, die ihn adoptierten und ihm seinen endgültigen Namen gaben. Es wird oft behauptet, dass die Dreyers eine streng lutherische Familie gewesen seien, und dass diese Prägung verantwortlich für den starken religiösen Bezug in vielen von Dreyers Filmen sei. Doch das ist nichts als ein Märchen. In Wirklichkeit waren Dreyer senior - ein politisch linker, freidenkerischer Schriftsetzer - und seine Frau nicht religiös und sahen selten eine Kirche von innen. Doch sie übten eine Prägung ganz anderer Art auf ihren Adoptivsohn aus. Die Dreyers, die selbst ziemlich arm waren, hatten das Kind nicht aus Menschenfreundlichkeit adoptiert, sondern es war mit Nilsson die Zahlung eines Geldbetrags vereinbart worden, was jedoch durch Nilssons Tod nicht mehr zustande kam. Dreyers Adoptiveltern ließen ihn nun bei jeder Gelegenheit wissen, dass er im Hause Dreyer eigentlich nur geduldet sei, weil sich seine Mutter durch ihr Ableben aus der Erfüllung des Vertrags davongestohlen habe. Es versteht sich von selbst, dass diese lieblose Erziehung Dreyers Verhältnis zu den Adoptiveltern schwer belastete. Insbesondere seine Adoptivmutter muss er regelrecht gehasst haben. Als sie starb, ging er nicht zur Beerdigung, und er erklärte, dass sie für ihn schon lange tot sei. Dagegen verklärte er seine leibliche Mutter, von der er kaum etwas wusste, und legte sich Rechtfertigungen zurecht, warum sie, von den Umständen gezwungen, nicht anders konnte als ihn im Stich zu lassen. Dieses Idealbild der guten, unterdrückten Frau taucht in vielen seiner Filme wieder auf, wie etwa Dreyers Biograph Maurice (alias Martin) Drouzy recht detailliert aufgezeigt hat.
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VAMPYR |
Mit 17 Jahren verließ Dreyer das ungeliebte Elternhaus. Nach erfolglosen Versuchen als Barpianist und als Buchhalter wurde er 1910 Journalist. Dafür scheint er begabt gewesen zu sein, denn er arbeitete bald für die beiden ältesten und angesehensten Tageszeitungen Dänemarks, aber auch für ein Boulevardblatt und eine Zeitschrift, die er mit Kollegen selbst gegründet hatte. Durch seine journalistische Tätigkeit kam er schließlich in Kontakt mit der Filmwelt und erhielt ab 1912 zunächst sporadisch, dann regelmäßig Aufträge von diversen Produktionsfirmen, darunter die Nordisk Film Kompagni, wo er schließlich eine feste Anstellung erhielt. Dänemark war ab etwa 1910 bis in den ersten Weltkrieg hinein gemeinsam mit Italien und Frankreich die führende europäische Filmnation, und Nordisk war die größte Filmfirma des Landes. Dreyer war also bei einer erstklassigen Adresse gelandet, um das Handwerk zu erlernen.
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VAMPYR |
Seine erste Aufgabe bestand im Schreiben von Zwischentiteln. Er hatte einst in einigen Artikeln den gestelzten Ton vieler Zwischentitel gebrandmarkt und erhielt nun die Gelegenheit, es selbst besser zu machen. Danach arbeitete er als Cutter, wofür er sehr begabt gewesen sein soll, und schließlich als Drehbuchautor. Bis 1919 schrieb er die Bücher für über 20 Filme, und noch einmal fast dieselbe Zahl an unverfilmt gebliebenen Scripts. 1918 führte er erstmals selbst Regie. In PRÆSIDENTEN geht es um einen Richter, der über seine eigene uneheliche Tochter zu Gericht sitzt, weil diese selbst ein uneheliches Kind hatte, das zu Tode gekommen war. Die Bezüge zu Dreyers eigener Biographie sind unübersehbar. In BLADE AF SATANS BOG (BLÄTTER AUS DEM BUCHE SATANS) geht es um die Versuche des Teufels, Unfrieden unter den Menschen zu stiften und Seelen zu gewinnen. Der Film ist in vier Episoden unterteilt, die in verschiedenen historischen Epochen angesiedelt sind. Dreyer wurde durch D.W. Griffiths Monumentalwerk INTOLERANCE zu dieser Struktur inspiriert. In der ersten Episode geht es um die Versuchung Christi. Dreyer war mit dem Ergebnis unzufrieden, weil ihm ein künstlerischer Kompromiß bezüglich der Darstellung von Jesus aufgezwungen worden war. Diese unbefriedigende Erfahrung legte den Grundstein zu seinem Plan, das Leben von Jesus in einem eigenen Werk zu verfilmen. Diese Idee trug er sein ganzes Leben lang mit sich herum, ohne sie je verwirklichen zu können.
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VREDENS DAG |
Die nächsten Filme waren der in Norwegen mit schwedischem Geld produzierte PRÄSTÄNKAN bzw. PRÆSTEENKEN (DIE PASTORENWITWE), der in Berlin entstandene DIE GEZEICHNETEN bzw. ELSKER HVERANDRE (ein Film mit einigen Stanislawskij-Schauspielern), DER VAR ENGANG und MIKAËL (MICHAEL). Letzterer entstand wieder in Deutschland für die UFA. Das Drehbuch schrieb Dreyer mit Thea von Harbou, die Kamera führten Karl Freund und als sein Assistent Rudolph Maté. Es handelt sich um eine homoerotisch angehauchte Dreiecksgeschichte zwischen einem älteren Maler, seinem jungen männlichen Modell und einer Fürstin, für die sich der Jüngling schließlich entscheidet. DU SKAL ÆRE DIN HUSTRU (DU SOLLST DEINE FRAU EHREN) von 1925 ist eine pointierte Geschlechterkomödie um einen Haustyrannen, der seine Frau unterdrückt, aber schließlich durch die gemeinsame Anstrengung der drei Frauen im Haushalt eines Besseren belehrt wird. Der enorme Erfolg dieses Films in Frankreich bescherte Dreyer das Angebot von SGF für
LA PASSION DE JEANNE D'ARC. Bevor er aber nach Frankreich ging, entstand als letzter Film vor seinem bekanntesten Werk noch GLOMSDALBRUDEN, wieder eine norwegisch-schwedische Produktion. 1927 zog Dreyer dann nach Frankreich, um mit der Arbeit an seinem Meisterwerk zu beginnen. Die wichtigsten Themen in Dreyers erster Schaffensperiode, und auch in einigen Filmen danach, sind die Geschlechterrollen und die Darstellung von leidenden, unterdrückten Frauen. Wie bereits erwähnt, wurde letzteres mit den Erfahrungen von Dreyers unglücklicher Kindheit und Jugend in Verbindung gebracht. Man kann Dreyer mit einiger Berechtigung als feministischen Regisseur bezeichnen.
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VREDENS DAG |
Nach den finanziellen Flops von
LA PASSION DE JEANNE D'ARC und von Abel Gances monumentalem NAPOLÉON, der ebenfalls von SGF finanziert worden war, geriet die Firma in eine finanzielle Krise und weigerte sich, Dreyers nächsten Film zu produzieren, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Dreyer verklagte SGF wegen Vertragsbruchs und gewann den Prozess 1931, aber das nützte ihm wenig, weil er inzwischen mit der Arbeit an VAMPYR begonnen hatte und dafür das Geld selbst auftreiben musste. Dreyer gelang es, einen jungen holländischen Baron als Finanzier zu gewinnen, der dann unter einem Pseudonym auch gleich die Hauptrolle spielte. Dreyers erster Tonfilm VAMPYR, recht frei nach der Erzählung "Carmilla" aus Sheridan Le Fanus Sammelband "In a Glass Darkly" entstanden und bei Paris gedreht, ist ein Horrorfilm mit einem Minimum an Handlung und Dialog und einem Maximum an Atmosphäre. Dreyer und Maté, der hier vielleicht eine noch größere Rolle spielt als im vorangegangenen Film (Hermann Warm war auch wieder mit dabei), stopften den Film regelrecht voll mit visueller Symbolik, und sie tauchten viele Szenen durch einen optischen Trick in einen milchigen Schleier und erzeugten so eine latente, abstrakte Atmosphäre der Bedrohung, die bisweilen ans Surreale heranreicht. Leider waren das Publikum und ein Großteil der Kritiker mit der innovativen Ästhetik von VAMPYR überfordert. Die Rezensionen waren teilweise hämisch, und der Kassenerfolg blieb aus. Erst im Lauf der Zeit reifte die Erkenntnis, dass VAMPYR zu den Klassikern des Horrorfilms zählt. Dieser zweite finanzielle Flop hintereinander verschaffte Dreyer den Ruf (den er nie wieder richtig los wurde), ein Regisseur zu sein, der viel Geld vernichtet, statt welches einzuspielen, und er hinterließ Dreyer in einer tiefen psychischen Krise. Angeblich hat auch eine unglückliche, kurze homosexuelle Affäre (Dreyer war damals schon verheiratet und hatte Kinder) zu seiner schlechten Verfassung beigetragen. Jedenfalls erlitt er einen regelrechten Nervenzusammenbruch und ließ sich Anfang 1933 zwei Monate lang stationär psychiatrisch behandeln. Nach seiner Genesung zog er sich fürs erste aus dem Filmgeschäft zurück und ging mit seiner Familie zurück nach Dänemark.
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Henri-Georges Clouzot, René Clément, Dreyer und François Truffaut (v.l.n.r.) 1964 in Paris |
1936 gab es einen Comebackversuch. Dreyer schrieb das Drehbuch zu einem Film mit dem Titel L'ESCLAVE BLANC (DIE WEISSE SKLAVIN) und wurde als Regisseur engagiert. Er reiste sogar nach Afrika, um den Drehort (je nach Quelle Äthiopien oder Somalia) zu begutachten, musste jedoch kurz vor Beginn der Dreharbeiten krankheitsbedingt absagen. Er wurde durch den heute weitgehend vergessenen Jean-Paul Paulin ersetzt. Danach verschwand Dreyer vollends in der Versenkung. Er arbeitete in Kopenhagen als Autor und Journalist, letzteres meist unter Pseudonym. Die Person Dreyer geriet aus dem Blick der Filmwelt, auch wenn der Name in Erinnerung blieb, und kaum jemand wusste, wer sich hinter dem Verfasser seiner täglichen Artikel verbarg. Erst 1942 tauchte er wieder auf, und zwar mit dem kurzen Dokumentarfilm MØDREHJÆLPEN über junge ledige Mütter (Dreyers Biographie lässt wieder mal grüßen) im Auftrag von Dansk Kulturfilm. Die Tatsache, dass er diesen Film pünktlich und ohne Budgetüberschreitung ablieferte, dürfte dazu beigetragen haben, dass er 1943 wieder die Chance zu einem Spielfilm bekam. VREDENS DAG (TAG DER RACHE, auch TAG DES ZORNS) ist ein Familiendrama vor dem Hintergrund der Hexenverfolgungen im orthodoxen protestantischen Milieu Skandinaviens im 17. Jahrhundert. Die Aufnahme des Films bei der internationalen Kritik war ausgesprochen kontrovers. In einem Artikel aus dem Jahr 1951 schrieb ein Beobachter über die Kritiker in den USA, man habe den Eindruck, die Gegner und die Befürworter müssten zwei verschiedene Filme gesehen haben, so heftig seien die Auseinandersetzungen gewesen. Wie bei VAMPYR dauerte es seine Zeit, bis VREDENS DAG allgemein als Meisterwerk anerkannt wurde. Zu den Pluspunkten des Films zählen vor allem sorgfältig komponierte Einstellungen, die manchen Kritiker an Gemälde flämischer Meister erinnerten, und lange, fast schon gravitätisch wirkende Kamerafahrten. Vredens Dag entstand während der deutschen Besetzung Dänemarks, und manche zeitgenössischen Kritiker sahen in der Handlung eine verschlüsselte Abrechnung mit dem Besatzungsregime. Zwar sind solche Bezüge weniger deutlich als etwa in Clouzots LE CORBEAU und treten aus heutiger Sicht hinter allgemeineren Aussagen des Films zurück, und Dreyer hat diese Deutung des Films später zurückgewiesen, aber er setzte sich vorsichtshalber nach Schweden ab.
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ORDET |
Dort drehte er 1944 den Film TVÅ MÄNNISKOR (ZWEI MENSCHEN), aber ihm wurde eine Besetzung aufgenötigt, mit der er nicht einverstanden war, und am Ende war er mit dem Ergebnis derart unzufrieden, dass er sich heftig von dem Film distanzierte. Gelegentlich soll er sogar seine Existenz geleugnet haben. Man könnte sagen, dass er sich von TVÅ MÄNNISKOR scheiden ließ, wie sich Billy Wilder einmal über seinen eigenen mißratenen Film THE EMPEROR WALTZ (KAISERWALZER) ausgedrückt hat. Von 1946 bis 1954 drehte Dreyer sieben weitere dokumentarische Kurzfilme mit kulturellen oder sozialen Themen, wie etwa den Kampf gegen Krebs (KAMPEN MOD KRÆFTEN) oder Verkehrssicherheit (DE NAAEDE FÆRGEN), teilweise im Auftrag des dänischen Außenministeriums. Zu allen diesen Filmen schrieb er auch das Drehbuch, und obwohl diese Auftragsarbeiten natürlich nicht denselben Stellenwert besaßen wie seine Spielfilme, arbeitete er professionell und drückte den Filmen seinen Stempel auf. So bezeichnete etwa der Filmhistoriker James Leahy DE NAAEDE FÆRGEN als den außergewöhnlichsten Verkehrssicherheitsfilm aller Zeiten und einen der bemerkenswertesten Kurzfilme überhaupt. Erst 1954, zehn Jahre nach dem Debakel mit TVÅ MÄNNISKOR, gab es mit ORDET (DAS WORT) wieder einen Spielfilm. Es handelt sich um eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks des dänischen Schriftstellers und Pfarrers Kaj Munk, der 1944 von der Gestapo ermordet wurde. Die Handlung spielt im bäuerlichen Jütland und kreist um religiöse Fragen wie die Kraft des Gebets und Toleranz zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen, und am Ende gibt es eine Auferstehung von den Toten - ein Schluss, der nicht wenige Zuschauer ratlos zurückließ. Leider machte Dreyer seinerzeit den Fehler, das Wunder nicht für sich stehen zu lassen, sondern er wollte es im Nachhinein in Interviews mit Erkenntnissen der modernen Physik plausibel machen, was ihm viel Spott eingetragen hat. Nichtsdestotrotz ist ORDET ein Meisterwerk, wurde ein Erfolg und wurde 1955 bei den Filmfestspielen in Venedig als bester Film ausgezeichnet.
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ORDET |
Es dauerte abermals zehn Jahre, bis Dreyer seinen nächsten und letzten Spielfilm GERTRUD realisieren konnte. Untätig war er in der Zwischenzeit indes nicht, denn 1952 hatte man ihm die Leitung des renommierten Dagmar-Kinos in Kopenhagen übertragen. Diese Funktion hatte er bis zu seinem Tod inne. Der kammerspielartige GERTRUD handelt von einer gutbürgerlichen Frau, die in der Liebe die totale Hingabe sucht, diese aber weder bei ihrem Ehemann noch bei diversen Liebhaber-Kandidaten findet und sich schließlich resigniert in die innere Einsamkeit zurückzieht. Das Thema und der statische, theaterhafte Inszenierungsstil mit sehr langen Einstellungen erschienen 1964 vielen als anachronistisch, und so fand der Film eine sehr gemischte Aufnahme - teilweise wurde er sogar ausgebuht. Doch mit der Zeit lernte man auch ihn als Meisterwerk schätzen. VREDENS DAG, ORDET und GERTRUD bilden zusammen Dreyers Spätwerk (TVÅ MÄNNISKOR wird bei dieser Auflistung üblicherweise ignoriert). Die drei Filme sind von einer inhaltlichen Ernsthaftigkeit und einer ans Asketische grenzenden formalen Strenge, die an manche Filme von Ingmar Bergman erinnert, den Dreyer sicher beeinflusst hat. Auch die spröden Filme von Robert Bresson, wie etwa JOURNAL D'UN CURÉ DE CAMPAGNE (TAGEBUCH EINES LANDPFARRERS), sind mit denen Dreyers geistesverwandt. Der Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader schrieb einst ein Buch, in dem er die Filme Dreyers, Bressons und des japanischen Altmeisters Yasujiro Ozu einander gegenüberstellt.
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GERTRUD |
Es wäre aber verkehrt, Dreyer nur auf das Religiöse und Grüblerische zu reduzieren, wie das manchmal geschieht. "Eingehüllt in skandinavischen Nebel, agiert er als ein Kierkegaard der Filmkunst" - so hat sein Biograph Maurice Drouzy diese verkürzte Sichtweise ironisch auf den Punkt gebracht. In Wirklichkeit kommt bei Dreyer das Körperliche nicht zu kurz. Schon Dreyers Jeanne ist in erster Linie nicht die Heilige, sondern ein leidender Mensch, und auch seine anderen Heldinnen sind keine Geistwesen. So ist etwa Anne, die Hauptfigur aus VREDENS DAG, eine sinnliche und fröhliche junge Frau, und Inger aus ORDET hat nach ihrer Auferstehung von den Toten das dringende Bedürfnis, ihrem Mann um den Hals zu fallen und ihn zu küssen. In den 40 Jahren seit
LA PASSION DE JEANNE D'ARC hat Dreyer nur fünf Spielfilme vollendet. Dass es nicht mehr wurden, lag einerseits an seiner künstlerischen Kompromisslosigkeit. Wenn er bei einem Projekt nicht die absolute Kontrolle und künstlerische Freiheit bekam, lehnte er ab - mit der einen Ausnahme TVÅ MÄNNISKOR, und der ging prompt daneben. Und andererseits hatte Dreyer immer noch den Ruf, dass man mit ihm nur viel Geld verliert. An Ideen für weitere Filme hätte es nicht gemangelt. Dreyer hatte konkrete Pläne für diverse Filme, die an so verschiedenen Orten wie in den USA, in Tahiti und auf Spitzbergen hätten verwirklicht werden sollen. In Großbritannien wollte er das Leben von Maria Stuart verfilmen, in Griechenland MEDEA, nach der Tragödie des Euripides. Dreyers fertiggestelltes Drehbuch zu MEDEA wurde 1987 von Lars von Trier für das dänische Fernsehen auf Videofilm realisiert.
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GERTRUD |
Doch Dreyers Lieblingsprojekt blieb der Jesus-Film. Er hätte sein Hauptwerk, sein opus magnum werden sollen. Um 1950 schien das Projekt konkrete Formen anzunehmen. Er hatte ein 400 Schreibmaschinenseiten starkes Drehbuch in der Tasche, und ein amerikanischer Produzent war bereit, den Film zu finanzieren. Der Mann hatte nichts mit Hollywood zu tun, sondern es handelte sich um den Multimillionär Blevins Davis, der reich geerbt und noch reicher geheiratet hatte. Davis verbrachte seine Zeit hauptsächlich als Theaterproduzent, und als er 1949 mit einer Theatertruppe, die den "Hamlet" gab, in Dänemark gastierte, lernte er Dreyer kennen. Das Budget belief sich auf 5 Mio. Dollar - für damalige Verhältnisse eine enorme Summe. Dreyer reiste zur Vorbereitung nach Israel, wo die Dreharbeiten stattfinden sollten, und er begann sogar, Hebräisch zu lernen. Auf Einladung von Blevins Davis weilte er längere Zeit in den USA, wo er am Drehbuch feilte und in Bibliotheken Quellen studierte. (Auf einer Party im Haus seines Gastgebers lernte er Harry S. Truman kennen, aber nach kurzem Smalltalk ließ er den verdutzten Präsidenten und die anderen Gäste stehen, weil er lieber wieder an die Arbeit am Drehbuch wollte.) Um die Authentizität des Films zu steigern, sollten die Darsteller nur Hebräisch, Griechisch und Latein sprechen - Mel Gibson war also nicht der erste, der auf solche Ideen kam. Dreyer wollte sich von den großen Hollywood-Studios die besten Gerätschaften borgen und die besten Techniker leihweise verpflichten, was ihm nach Sondierungsgesprächen in Hollywood auch zugesagt wurde. Und schließlich wollte Dreyer noch ein Schiff kaufen und mit einem Entwicklungslabor ausstaffieren, weil ihm die verfügbaren Labors in Israel nicht ausreichend erschienen. Doch all das wurde schließlich selbst dem spendablen Blevins Davis zu extravagant. Er zog sich aus dem Projekt zurück und machte keine Ausflüge ins Filmgeschäft mehr. Das Drehbuch wanderte wieder in die Schublade, aber Dreyer war jederzeit bereit, es hervorzuholen und den Film zu realisieren, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Als nach Davis' Ausstieg Carlo Ponti anbot, zu Dreyers Bedingungen einzuspringen, lehnte dieser mit einer skurrilen Begründung ab. Dreyer verstand den Film ausdrücklich als Beitrag gegen den Antisemitismus. Die Erfahrung der deutschen Besetzung Dänemarks hatte in ihm die Überzeugung reifen lassen, dass auch im damaligen Palästina die Besatzungsmacht letztlich allein bestimmte, wo es lang ging, und folglich gab sein Drehbuch den Römern die Alleinschuld an Jesu Kreuzigung. Da widerstrebte es ihm, den Film von einem "Römer" finanzieren zu lassen. Erst Anfang 1968 fand er dann doch noch Produzenten für das Projekt, das ihm immer noch sehr am Herzen lag, nämlich die italienische RAI. Diesmal war Dreyer nicht so pingelig, doch es war zu spät - wenig später starb Dreyer 79-jährig in Kopenhagen.