Samstag, 6. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 1: Vom Destillieren des Arschschweißes

DAS LEBEN DER ANDEREN
Deutschland 2006
Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Darsteller: Ulrich Mühe (Gerd Wiesler), Sebastian Koch (Sebastian Koch/Georg Dreyman), Martina Gedeck (Martina Gedeck/Christa-Maria Sieland), Ulrich Tukur (Ulrich Tukur/Anton Grubitz)


Ich mag „Das Leben der Anderen“ nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Von der Hauptrolle abgesehen sind die Schauspieler im allerbesten Fall mittelmäßig und der Film strotzt nur so vor kitschigen Klischees, auch wenn er das kläglich zu verbergen versucht. Er ist mindestens zwanzig Minuten, wenn nicht gar eine halbe oder dreiviertel Stunde zu lang und seine geradezu verkrampfte Bierernstigkeit lässt ihn fast wie ein bildungspolitischer Lehrfilm aussehen – oder wie eine schlecht gemachte Parodie davon. Nicht zuletzt ist er in seiner Verknüpfung von geschichtspolitischem Statement und Filmkunst grandios gescheitert, was mich dazu verführt hat, ihn neben Andrzej Wajdas „Katyń“ zu meinem Lieblings-Beispiel für schlechte „Vergangenheitsbewältigungs“-Filme zu ernennen – und ihn in einigen Texten auch als solches zu gebrauchen.

Als positive Gegenbeispiele nannte ich einmal „Gomarët e kufirit“ (Der Grenzesel, Kosovo 2010), eine absurde Komödie über Sex- und Politik-Intrigen an der jugoslawisch-albanischen Grenze; „Churgoschin“ (Blei, Uzbekistan 2011), eine Mischung aus expressionistischem film noir, romantischem Liebesfilm und experimentellem Theater über den stalinistischen Terror in Uzbekistan; und nicht zuletzt „Balada triste de trompeta“ (Mad Circus, Spanien 2010), ein groteskes Splatterhorror-Komödien-Liebesmelodrama über die Franco-Diktatur. Keiner der drei Filme ist ein Meisterwerk oder perfekt. Aber alle drei zeigen, dass kryptische Genre-Verwirrungen und absurder und politisch garantiert unkorrekter Humor eine ernsthafte intellektuelle Beschäftigung mit problematischer Diktaturgeschichte keinesfalls behindern, sondern dieser sogar sehr viel förderlicher sein können als ein (meist nur oberflächlich) „ernster“ Zugang – und letztlich Werke schaffen, die cinematographisch weitaus interessanter und geglückter sind. Aus diesen Motiven und aufgrund der verfügbaren Recherche-Materialien werde ich also den bissigen „Balada triste de trompeta“ „Das Leben der Anderen“ gegenüberstellen.

Florian Henckel von Donnersmarck Debütfilm wurde bekanntlich vielseitig gelobt. In einem kollektiven „Wir sind Oscar“-Rausch konnte „man“ in Deutschland froh sein, dass endlich sich jemand jenseits von so genannter Spreewaldgurken-Ostalgie „ernsthaft“ mit der DDR und ihren politischen Repressionsmechanismen beschäftigte. Da war von „Geschmackssicherheit“ die Rede, von „Perfektion, ein „schauspielerischer Glamour“ wurde ausgemacht, Donnersmarck hätte seinen Film „wie ein Historiker recherchiert“ und ihn „authentisch“ – „als wäre er selber dabei gewesen“ –, „mit großem Gespür für Spannungsdramaturgie“, „wie ein Musikstück“ und ohne „die üblichen Klischees“ inszeniert. Ihm sei „großes Kino, wie man es hierzulande nur selten hinbekommt“ und ein „emotional erschütternder DDR-Geheimdienst-Thriller“ gelungen. Ach ja: und in dem Film gäbe es „keine Spreewaldgurken“.

„Authentizität“: ein sehr schönes Wort. Auf Filme angewendet jedoch auch ein sehr dünnes Kleid, das sich sehr schnell Risse einfangen und beim geringsten Luftzug rasch zu Staub zerbröseln kann. Wer wie Donnersmarck „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen hat, muss sich nun einmal die Frage gefallen lassen, warum die ostdeutsche Staatssicherheit wie ein Ein-Mann-Unternehmen dargestellt wird, dessen primäre Existenzberechtigung darin besteht, fetten Klischee-Parteibonzen sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Gerade der dargestellte „OV“ (nur um Verwechslungen vorzubeugen, hier: Operativer Vorgang), den die Hauptfigur Gerd-„Ich bin die Super-Stasi“-Wiesler organisiert, sieht sehr verdächtig aus: der Hauptmann richtet sich mit seiner Hightech-Anlage im Dachboden über seinem Observierungsziel, dem Schriftsteller Georg Dreymann, ein. Tage- und nächtelang hört Wiesler ihn und seine Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland, ab, postiert sich stundenlang vor deren Wohnung, rennt durch die Treppen des Hauses hoch und runter und tippt mit einer guten, alten und tönenden Schreibmaschine seine Berichte knapp drei Meter über den Köpfen seiner Observierungsobjekte. Konspirativer hätte es selbst Lenin nicht hinbekommen!


Nebenbei muss Wiesler aber auch noch Nachwuchs-Stasis darin unterrichten, wie man „Feinde des Sozialismus“ im Verhör so kleinkriegt, bis nur noch Arschschweiß von ihnen übrig bleibt und seinem Vorgesetzten in der Kantine Bericht erstatten. Bei einem solch dichten Terminplan grenzt es an ein Wunder, dass da noch Zeit übrig bleibt, um Brecht-Gedichte zu lesen und volkeigene Huren zu vögeln. Angesichts der Arbeitsbelastung hätte der Stasi-Hauptmann also die Pillen, mit denen sich sein weibliches Neben-Observierungsobjekt „CMS“ volldröhnt, wohl irgendwie dringender nötig gehabt.

Eine etwas klischeebeladene Darstellung der Berliner Stasi also, in der solche Dinge wie Arbeitsteilung anscheinend nicht existiert haben sollen! Nebenbei verwechselt „Das Leben der Anderen“ auch Ursache und Wirkung in der Beziehung zwischen Ideologie, Opportunismus und sexueller (Selbst-)Befriedigung. Zur mangelnden Arbeitsteilung und völligen Überbelastung materieller Ressourcen und mittlerer Offiziere kommt hinzu, dass die Stasi keineswegs als das bürokratische Repressionsorgan dargestellt wird, die sie in den 1980er Jahre war, sondern als ein Ersatz-Hofstaat für Samenstau-geplagte Parteibonzen. Mit anderen Worten: das Politische ist privat, und politische Repression in der DDR wird im Grunde genommen auf das Niveau einer Sexkomödie heruntergebrochen. Die Stasi-Unterdrückung als erotischen Klamauk zu inszenieren, ist an und für sich keine schlechte Grundidee, hätte aber besser zu einem Film gepasst, der auf FSK-12-Kennzeichnung, Lobhudelei der Bundeszentrale für politische Bildung, den Oscar und nicht zuletzt auf „Authentizitäts“-Anspruch verzichtet.

„Das Leben der Anderen“ scheitert aber nicht nur an seinen eigenen geschichtspolitischen Ansprüchen, sondern auch als figuren-zentriertes Drama. Das in der zeitgenössischen Kritiker-Publizistik immer wieder als Negativfolie genutzte „Good Bye, Lenin“ bringt im Vergleich zu „Das Leben der Anderen“ hochgradig komplexe Figuren mit vielschichtigen Problemen hervor. Denn Donnersmarcks Debüt erstickt den Zuschauer geradezu mit ganzen Lastwagenladungen an Klischees, auch wenn viele das gar nicht gemerkt haben – „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ müsste man wohl sagen. Da ist zunächst Dreymann: ein zweifelndes Weichei ohne großes Talent, das keine eigene Meinung hat, bei niemandem anecken will, sondern es vielmehr allen recht machen möchte (und dadurch letztlich niemandem!). Kein Wunder, dass er nach der Wende so erfolgreich ist: sagt die Figur doch mehr über die entideologisierte, entpolitisierte und „alternativlose“ Schröder-Merkel-Große-Koalitions-Ära aus, als über die DDR. Warum Dreymann doch noch ein Paar Eier in seiner Hose findet (wenngleich nicht seine ganze Potenz), muss hingegen ein Rätsel bleiben. Sebastian Koch spielt ihn konsequent, „alternativlos“ und zum Gähnen langweilig mit genau einem einzigen Gesichtsausdruck und dem immerzu gleichen Dackelblick.

Ganz im Gegensatz zu Dreymann steht sein Schriftsteller-Kollege Hauser: geradezu eine Karikatur des idealistischen, strengen und asketischen Dissidenten, der ganz genau weiß, dass er immer recht hat und die anderen nicht. Dieser wahrscheinlich unfreiwillige „comic-relief“ wird hingegen von Hans-Uwe Bauer ganz passabel dargestellt. Martina Gedeck spielt jedoch Martina Gedeck, gemäß Drehbuch aber Christa-Maria Sieland: die geile, künstlerisch und promiskuitiv veranlagte Liebhaberin mit einem viel zu schwachen Charakter und einem viel zu starken Drogenproblem, die den Mitleid der Zuschauer erregen soll, aufgrund ihrer Verfehlungen aber natürlich am Ende sterben muss. Nicht zuletzt, weil sie sich vom fetten, altersgeilen und sexbesessenen Kulturminister besteigen lässt, dessen narrative Funktion im Film hauptsächlich darin besteht, fett, altersgeil und sexbesessen zu sein. Und ab und zu noch seinen Hofstaat rumzukommandieren. Hier kommt Ulrich Tukur als Ulri... als Anton Grubitz ins Spiel: ein Typus des prinzipienlosen, prollig-dumpfbackigen und im Grunde völlig unfähigen Karriere-Opportunisten. Er soll deutlich machen, dass es in der – hier so „authentisch“ dargestellten – Stasi keine „gewöhnlichen“ Menschen gab, sondern, na ja, nur Dumpfbacken und leblose Berufspedanten.

Es ist paradox, dass Ulrich Mühe mit seiner tatsächlich großartigen schauspielerischen Leistung (das Interessanteste am ganzen Film) das größte Klischee des Films darstellen muss: ein kaltes, pflichtbewusstes, gefühlloses, pedantisches, blind gehorchendes Repressionsinstrument ohne eigenes Privatleben, das doch noch sein goldenes Herz entdeckt und zum Menschen wird. Damit gerät nicht nur die Figur grob holzschnittartig, sondern damit wird politische Repression in der DDR entpolitisiert, entbürokratisiert sowie jeglichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entrissen: Das Böse war böse weil es böse war. Und plötzlich wurde es doch gut. Andreas Dresen meinte dazu einmal, dass die Darstellung eines „normalen“ Stasi-Beamten mit Frau und Kindern und einem „normalen“ Arbeitsalltag sehr viel lohnender gewesen wäre; und sehr viel schmerzhafter. Da der Böse am Schluss ja nicht mehr der Böse ist, sondern der Gute, braucht er sich hingegen nicht mehr mit seinen früheren Taten auseinander zu setzen: CMS ist dann eh schon lange tot!


Auch die hochgelobte Inszenierung von „Das Leben der Anderen“ entpuppt sich bei genauer Betrachtung als Mogelpackung. Was sich als „subtil“ geben möchte, fühlt sich an manchen Stellen wie ein in den Rachen geschobener Mastschlauch an. Die DDR war ganz unlustig: deshalb wird der ganze Film von „dezenten“ Grau- und Brauntönen so „durchherrscht“, wie es sich die SED von ihrem Staat nur träumen konnte. Der Stasi-Mann ist böse: deshalb ist seine Wohnung auch grau-braun und ungemütlich. Der nette Schriftsteller mit dem Dackelblick ist gut: deshalb sind seine vier Wände gemütlich eingerichtet, mit wärmerem Licht und wärmeren Brauntönen. Die Zwischeneinblendungen, Straßen- und Gebäudeschilder, Zeitungsausschnitte, die eingangs und besonders in der letzten Viertelstunde gehäuft auftreten, um Ort und Zeit der Handlung zu definieren, sollen die tiefe Verwurzelung der Handlung in deutsch-deutsche Historie „dezent“ aufzeigen, demonstrieren aber vor allem Unfähigkeit Donnersmarcks, dies über das rein Visuelle zu vermitteln.

An manchen Stellen zerplatzt die „subtile Un-Subtilität“ jedoch regelrecht und legt einen geradezu unfassbaren Klamauk an den Tag. Wenn CMS auf die Straße rennt, direkt in den einzigen Lastwagen, der durch die sonst während des ganzen Films völlig verkehrsfreie Straße fährt. Wenn Herbert Knaup auftaucht und aussieht, als würde Heiner Lauterbach einen Spiegel-Redakteur spielen (oder war es ein anderer? Jedenfalls irgendeines der Gesichter, die die deutsche Fernseh- und Kinolandschaft bevölkern wie groteske, fast unbewegliche Figuren den Hintergrund von David-Lynch-Filmen). Wenn Volker Michalowski als Zack, der sächsische Stasi-Schreibmaschinenexperte von nebenan bzw. aus der Sat.1-Sendung „Zack! Comedy nach Maß“ auftaucht. Diese Momente wirken unglaublich befreiend, beseitigen sie doch jeglichen Zweifel daran, dass man „Das Leben der Anderen“ einfach in keiner Weise Ernst nehmen kann.


Ja: es gibt keine Spreewaldgurken in „Das Leben der Anderen“. Doch in einem Punkt unterschiedet sich dieser Film nicht besonders grundlegend von „Good Bye, Lenin!“ oder „Sonnenallee“: auch hier wird die DDR nicht als „Normalität“, sondern als Märchen dargestellt, als „Märchen vom guten Menschen“. Nur, dass Donnersmarcks Debüt aufgrund seiner Authentizitäts-Aura sehr viel heuchlerischer ist.

„Das Leben der Anderen“ scheitert kläglich an seinem Wunsch, ein ambitionierter Film zu sein: es sei denn, er wollte von Anfang an ein für Schüler ab der 10. Klasse produzierter „pädagogisch wertvoller“ Streifen sein, der sich auf seinen auf nationale und internationale Preisverleihungen ausgerichteten glattgebügelten Look mächtig einen runter... ähm, was einbildet. Ein Look, der übrigens auch nicht mehr bietet als TV-Niveau (die entsprechenden Schauspieler hat er ja). Einen Vorteil gängiger Fernsehfilme hätte sich „Das Leben der Anderen“ jedoch gerne zum Vorbild nehmen können: die Dauer von 90 Minuten. Selbst die Überlänge soll Seriosität vorgaukeln...

Zwei psychotische Clowns versuchen, sich gegenseitig mit Fäusten, Fleischerhaken, Vorschlaghämmern, Maschinenpistolen und Trompeten zu massakrieren. Warum der groteske Splatter-Rachethriller „Balada triste de trompeta“ als Kino-Film besser und interessanter ist als "Das Leben der Anderen" und diesen als künstlerische Beschäftigung mit Diktaturgeschichte bei weitem schlägt, folgt in Kürze im zweiten Teil des Beitrags „Diktaturgeschichte für Cinephile“...

Dienstag, 18. September 2012

Bizarr, bizarr! Ein sonderbarer Fall!

EIN SONDERBARER FALL (DRÔLE DE DRAME)
Frankreich 1937
Regie: Marcel Carné
Darsteller: Michel Simon (Irwin Molyneux), Louis Jouvet (Archibald Soper), Françoise Rosay (Margaret Molyneux), Jean-Louis Barrault (William Kramps), Jean-Pierre Aumont (Billy), Nadine Vogel (Eva), Pierre Alcover (Chief Inspector Bray), Jeanne Lory (Tante McPhearson)

Ein scheinheiliger Bischof
London um 1900. Eine schlimme Unsitte hat sich zur Wende vom viktorianischen zum edwardianischen Zeitalter breitgemacht: Der Kriminalroman! Zu denen, die gegen diese verwerfliche Schundliteratur ankämpfen, gehört Archibald Soper, der anglikanische Bischof von Bedford. In einer allerdings nur spärlich besetzten Versammlungshalle hält er eine Rede, in der er vor allem Felix Chapel anprangert, den erfolgreichsten und geheimnisumwitterten Autor von Mördergeschichten, den noch niemand, nicht einmal sein Verleger, zu Gesicht bekommen hat. Neben alten Jungfern zollt ihm auch ein junger Mann mit Fahrrad Beifall. Es handelt sich um William Kramps, einen gesuchten Massenmörder, der mit Vorliebe Metzgern den Bauch aufschlitzt und sie ausweidet, so wie sie es mit geschlachteten Tieren tun. Seiner Meinung nach ist er erst durch die Lektüre von Chapels Roman "Das perfekte Verbrechen" auf die schiefe Bahn geraten, und dafür will er sich nun rächen, indem er auch Chapel den Magen aufschlitzt. Ebenfalls anwesend ist Sopers Cousin Irwin Molyneux, ein biederer gutsituierter Botaniker, der sich scheinbar nur für seine fleischfressenden Mimosen interessiert. Wie sich jedoch schnell erweist, ist Molyneux niemand anderer als der Autor, der unter dem Pseudonym Chapel jene Romane verfasst. Das Einkommen daraus sichert ihm und seiner eingeweihten Frau ihren großbürgerlichen Lebensstil, denn seine halbsenile Erbtante hat offenbar vor, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Allerdings stellt sich noch später heraus, dass das mit der Autorschaft nicht ganz stimmt. Der sympathische junge Milchmann Billy stellt sich auffallend oft im Haus von Molyneux ein, weil er dessen hübscher Assistentin Eva schöne Augen macht. Bei der Gelegenheit unterhält er die Hausangestellten immer mit selbst erfundenen erschröcklichen Schauergeschichten, die über den Umweg Eva den eigentlich fantasielosen Molyneux inspirieren.

Ein Botaniker, ein Mörder und ein als Matrone verkleideter Polizist unter den Zuhörern
Soper nutzt die Begegnung mit Molyneux, um sich bei diesem selbst zum Essen einzuladen. Das kommt zum denkbar schlechtesten Moment, denn die Köchin und der Butler haben gerade im Streit den Haushalt verlassen. Um gegenüber dem öligen und blasierten Soper die Fassade aufrechtzuerhalten, kocht Molyneux' Frau Margaret heimlich selbst, und Irwin erzählt eine Räuberpistole von einem Besuch seiner Frau bei masernkranken Freunden. Dabei verwickelt er sich schnell in Ungereimtheiten, Soper wird misstrauisch und quittiert Molyneux' fadenscheinige Erklärungen mit einem mehrmals geäußerten "bizarre, bizarre". Die Szene ist so grandios gespielt, dass der englische Titel des Films BIZARRE, BIZARRE lautet. Als sich der überforderte Molyneux nächtens zu einem Treffen mit Margaret davonschleicht und von Soper dabei beobachtet wird, zieht der Bischof falsche Schlüsse: Er ist überzeugt, dass sein Cousin seine Frau vergiftet hat und nun die Flucht ergreift, und er informiert Scotland Yard. Der herbeigeeilte Chief Inspector Bray hat leider überhaupt keinen Durchblick. In Ermangelung des abwesenden Molyneux verhaftet er den zufällig vorbeigekommenen Billy - denn man weiß ja, dass Milch ein Gegenmittel für verschiedene Gifte ist, und wer soviel Milch vorbeibringt, muss ein Komplize des sinistren Molyneux sein! Unterdessen bemerkt Archibald Soper ein Missgeschick: Bei seinen detektivischen Bemühungen ist ihm ein Programmheft eines Varietés mit dem Bild einer leicht bekleideten Tänzerin abhanden gekommen, das eine persönliche Widmung dieser Dame für "ihren" Soper enthält. Wenn das Programm in die falschen Hände geriete, wäre der Bischof als scheinheiliger Patron entlarvt.

Billy erzählt Schauergeschichten
Molyneux und seine Frau sind inzwischen in Londons Chinatown untergetaucht, aber hier treibt sich auch William Kramps herum. Molyneux erhält in seiner Inkarnation als Chapel von seinem Verleger den telefonischen Auftrag, einen Artikel über den "Mordfall Molyneux" zu schreiben und dafür am Tatort zu recherchieren. Mit einem angeklebten falschen Bart getarnt macht er sich auf zu seinem eigenen Haus, mehr wegen seiner Mimosen als wegen des Artikels. Der "Fall" ist mittlerweile allgemeiner Gesprächsstoff. Schaulustige belagern das Haus, eine Bänkelsängerin trägt schon eine Moritat über Molyneux' bevorstehende Hinrichtung vor, und Eltern drohen ihren Kindern, dass sie von Molyneux geholt werden, wenn sie ihre Suppe nicht aufessen. Im Haus wimmelt es von Journalisten und Polizisten, aber der vertrottelte Chief Inspector merkt immer noch nichts. Er erzählt "Felix Chapel" noch, die Theorie, dass Mörder immer an den Ort der Tat zurückkehren, sei nichts als Unsinn, und zieht dann mit seinen Mannen ab. Unterdessen trifft Kramps auf die allein zurückgebliebene Margaret Molyneux. Der etwas übergeschnappte, aber eigentlich recht liebenswürdige Bauchaufschlitzer verliebt sich in sie, ohne zu ahnen, dass es sich einerseits um das vermeintliche Mordopfer und andererseits um die Frau des von ihm noch immer gesuchten "Felix Chapel" handelt. Doch dann liest er in der Zeitung eine Notiz, dass sich Chapel zu Ermittlungen im Haus Molyneux aufhält, und er macht sich dorthin auf, um ihn hinzumeucheln. Und noch jemand bricht zu Molyneux' Haus auf: Bischof Soper hat seiner sittenstrengen Frau Gemahlin den Verlust des kompromittierenden Programmhefts gebeichtet und wird nun von ihr abkommandiert, es unter allen Umständen wiederzubeschaffen, damit die Familienehre nicht befleckt werde. In einer absurden Verkleidung mit Sonnenbrille und schottischer Uniform schleicht er ins Haus, doch damit bringt er sich erst richtig in die Bredouille. Die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende versucht ein wütender Mob, das Haus zu stürmen und abwechselnd mal diesen und mal jenen der Anwesenden für seine Untaten zu lynchen ...

Showdown zwischen Kramps und "Chapel"
Marcel Carné war bekanntlich ein Hauptvertreter des "Poetischen Realismus", der den französischen Film der 30er Jahre dominierte. Neben dem fast schon mythischen Über-Film LES ENFANTS DU PARADIS (KINDER DES OLYMP) war es vor allem eine Serie von drei düster-fatalistischen Dramen, bei denen jeweils mindestens einer der Protagonisten am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt, die ihn in die Filmgeschichte eingehen ließen: LE QUAI DES BRUMES, HÔTEL DU NORD und LE JOUR SE LÈVE, die alle 1938/39 herauskamen. Da mag es erstaunen, dass es sich bei seinem 1937 erschienenen zweiten Spielfilm um eine ausgelassene, um nicht zu sagen durchgeknallte Farce handelt. Wie bei den obengenannten Filmen, abgesehen von HÔTEL DU NORD, und bei einigen Filmen Carnés nach dem zweiten Weltkrieg, stammt auch bei DRÔLE DE DRAME das Drehbuch von Jacques Prévert. Als Vorlage diente der Roman "His First Offense" des britischen Schriftstellers und Historikers J. Storer Clouston. DRÔLE DE DRAME vereint Elemente des Schwanks mit satirischer Schärfe, sprühendem Witz und etwas Frivolität (in einer Szene ist kurz Jean-Louis Barraults nackter Hintern zu sehen - in einem deutschen oder amerikanischen Film jener Zeit völlig undenkbar) zu einer schwarzhumorigen Groteske von hohem Tempo. Vor allem aber lebt der Film von seinen grandiosen Darstellern. Mit Michel Simon, Louis Jouvet und Jean-Louis Barrault kommt es zu einem Gipfeltreffen von gleich drei Legenden der französischen Theater- und Filmlandschaft, die nicht nur in dramatischen Rollen glänzen konnten, sondern die auch begnadete Komödianten waren, und auch die weiteren Rollen sind ausgezeichnet besetzt. Wer Filmen wie beispielsweise ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN etwas abgewinnen kann, wird auch diesen SONDERBAREN FALL genießen können.


DRÔLE DE DRAME ist in den USA, England und Frankreich auf DVD erschienen, jeweils mit engl. Untertiteln (auch in den ersteren beiden Fällen unter dem Originaltitel und nicht als BIZARRE, BIZARRE).

Archibald Soper als Schotte verkleidet

Donnerstag, 13. September 2012

Kleine Erklärung, die bestimmt zum Epos ausarten wird

Liebe Leserin, lieber Leser! Werte Freunde (so es euch gibt)!


Ihr werdet das kurze Schweigen von Whoknows/Zodiac bestimmt nicht vermisst haben, gibt es doch viele und wesentlich klügere Stimmen zum Thema „Film“ im virtuellen Raum. Speziell für meine Freunde (insbesondere für den, der sich via PN nach meinem Verbleib erkundigte) möchte ich aber doch den Grund für meine Abwesenheit erläutern:

Stellt euch vor, ihr leidet seit Wochen unter einer Lethargie, die sich später als unerklärlicher Abfall des Hämoglobins erweist! Ihr fragt euch, weshalb ihr euch einfach nicht an die Besprechung  eines versprochenen Buñuel machen könnt, obwohl ihr genau wisst, was ihr schreiben wollt – und kompensiert eure Müdigkeit mit dummen Sprüchen (@The Critic: Weisst du noch, wie du dich über meine Bemerkung, der Arzt habe mich mit einem „Hallo Leiche!“ begrüsst, geärgert hast?), die man im Nachhinein als Vorahnung interpretieren könnte.

Dann setzt an einem Sonntag die leichte Temperatur ein, begleitet von Gliederschmerzen und einem unangenehmen Husten. Ein Grund, zum Doktor zu gehen? Besonders jetzt, wo ihr eure Mutter am Mittwoch zum Friseur begleiten sollt (das alte Mädchen behauptet nämlich, es sei nicht in der Lage, den Bahnhofplatz allein zu überqueren). - Am Mittwoch steht ihr mit einem starken Schwindelgefühl auf. Nach dem dritten Versuch kommt ein heiseres „Du musst den Termin verschieben!“ raus. Splatti  ruft den Hausarzt an, und der will augenblicklich eine Ambulanz.

Noch im Ambulanzwagen stöhnt ihr, es wäre auch mit Taxi gegangen, und ihr jammert, jetzt gehe Mutti bestimmt nicht zum Friseur. Der Sanitäter beruhigt. – Auf der Notfallstation meint nach Stunden die Oberärztin, sie hätten im Blut Anzeichen einer kleinen Infektion entdeckt; und sie fragt: Was machen wir nun mit Ihnen, Herr Vögelin? Schicken wir Sie nach Hause, und Sie werden in zwei Tagen erneut eingeliefert? Oder behalten wir Sie für zwei Nächte hier? – Da Splatti mir mittlerweile am Handy mitgeteilt hat, sie habe den Sprung über den Bahnhofplatz doch gewagt und befinde sich mit neuem Haarschnitt bereits auf dem Heimweg, ist mir jetzt wurscht, was sie mit mir machen.

Ich werde in den 6. Stock verfrachtet, wo ich erst noch unter den  Fittichen des HIV-Spezialisten gesunden soll. Der denkt sich – wie er mir später erzählt - nach der Untersuchung, ich sei ein Fall für zwei Nächte. Dass ich ihm den Schock seines jungen Lebens verpassen werde, ahnt er noch nicht. - In meinem Zimmer befindet sich ein Herr aus dem Waldenburgertal, dessen öde Sprüche ich mit höflichem Lächeln über mich ergehen lasse. Ich höre mir an, wie viele Mieter er und seine Frau schon aus dem Haus vertrieben haben, in dem sie eine Eigentumswohnung (mit verglastem Balkon!) besitzen, nehme zur Kenntnis, dass der Spitalkoch keine Ahnung habe, wie  man für unter Zölliakie Leidende koche – und schwebe mit meinen Gedanken davon. Nach dem Essen kann ich mich wenigstens auf die Seite drehen und schlafe ein.

Mitten in der Nacht muss ich zur Toilette gehen.  Ich will aufstehen, huste zugleich – und falle aus dem Bett. Trotz aller Versuche gelingt es mir nicht, mich wieder halbwegs aufzurichten, und ich muss förmlich auf dem Arsch zur Türe hopsen, damit ich mich in den Korridor legen und auf eine Schwester hoffen kann. Irgendwann kommt tatsächlich eine vorbei und ruft: „Was ist denn mit Ihnen los, Herr Vögelin?“ Ich murmle etwas von Husten; aber sie fasst mir an die Stirn und meint, es sei das hohe Fieber. – Wer nicht nach einer Schwester läutete, sondern meine Versuche genussvoll beobachtete, war der Herr aus dem Waldenburgertal. Er wird dafür umgehend ein eigenes Zimmer verlangen, weil er es mit einem Schwerstkranken wie mir nicht aushält. Dafür bin ihm dankbar. Mit seinen öden Sprüchen im Hintergrund wäre ich nicht in der Lage gewesen, zu meiner Gesundung beizutragen. (Man steckte ihn in ein Viererzimmer.)

Ich weiss vieles von  dem, was folgte, nicht, oder habe nur bruchstückhafte  Erinnerungen. Man soll mich auf die onkologische Untersuchungsstation gebracht haben, ich konnte nur noch unter stärksten Schmerzen schlucken, und die Hälfte des Geschluckten kam wieder hoch. Der HIV-Spezialist (es gab später ein paar „intimere“ Gespräche, und ich lernte einen unglaublich lieben Menschen kennen, für den der Beruf Arzt nicht Titel und Karriere bedeutet) wollte Krebs bei meiner Vorgeschichte unbedingt ausschliessen. Ich wurde im Rollstuhl in die HNO-Abteilung gefahren (dies trotz meines Protests, dazu sei ich nicht in der Lage) und dachte auf dem holprigen Weg: „Jetzt fahren sie mich sogar im Rollstuhl zum Krematorium!“). Man verlieh mir eine Tapferkeitsmedaille bei der Knochenmarkentnahme, obwohl ich – naiv – dachte, die andere Seite würde ich nicht mehr aushalten. Die Schwester war entsetzt, weil ich nur die Hälfte des Kontrastmittels für die CT zu trinken vermochte, was aber dort unten cool zur Kenntnis genommen wurde – Zusätzlich verdonnerte man mich, als das Fieber langsam auf 39° Grad runterging, zum Inhalieren mit einer Wasserpfeife und Cortison. Mein HIV-Spezialist schaute vorbei und sagte, er wolle nun noch eine Lungenspiegelung machen, um jede Form von Krebs ausschliessen zu können. Dann würde ich nämlich unter etwas leiden, was sich bei einem nicht immungeschwächten Menschen als schwere bakterielle Bronchitis äussere, bei mir – vermutlich ohne es zu wollen – tödlich hätte  verlaufen können. Ich fragte nach dem Namen des Bakteriums, weil ich wenigstens via Internet mit ihm abrechnen wollte. Er meinte, wir würden seinen Namen wohl nie erfahren, weil ich es schon  vor Wochen eingeatmet hätte und es nach getaner Arbeit wieder entschwunden sei. Zurückgeblieben war ein Körper,  bereit für die schwere Entzündung.

Nach der Lungenspiegelung (völlig abwesend) fragte mich die Schwester, die am Morgen meinen Blutdruck (75/35) zu überwachen hatte, ob ich hungrig sei. Erstaunlicherweise  war ich es, musste aber vorher ein Stündchen ruhen. Dann kam sie mit dem Tablett herein und meinte entschuldigend, es sei eben das Eintrittsmenu. Ich sah Kalbsgeschnetzeltes und schmale Nudeln, zwei gedämpfte Tomatenhälften und Karotten in Ringen. Zum Dessert ein Schoko-Flan. – Und ich frass und frass, soff literweise Wasser (obwohl ich wegen meiner Austrocknung doch intravenös mit  genügend Flüssigkeit versorgt wurde). Die Schwester soll (kleine  Indiskretion einer Kollegin!) beinahe hysterisch in der  Gegend herumgerannt sein und gerufen haben: „Er hat alles aufgegessen! Er hat alles aufgegessen!“ – Ich begann unsere Spitalküche zu würdigen und bekam am Sonntag Hirschragout mit Spätzli und Rosenkohl in einer Qualität vorgesetzt, für  die man sonst in eine Nobel-Spelunke gehen müsste.

Dass ich langsam lernen musste, wie das Gehirn die richtigen Befehle an die Beine weiterleitet, versteht sich. Am Anfang lief ich rum wie ein besoffener Donald Duck; als ich gestern nach meiner Entlassung unbedingt die verordneten Medikamente im Städtchen Liestal holen wollte, schaffte ich schon John Wayne in „Rio Bravo“. Und jetzt sitze ich vor meinem Laptop und schreibe den Bericht, den ich im Blog  und bei filmforen.de (dort im Off-Topic) veröffentlichen möchte.

Ihr werdet verstehen, dass ich mit noch immer bescheidenen Hämoglobin-Werten, aber hoffentlich rasch ansteigenden CD4-Helferlein noch nicht in der Lage bin, über Filme zu schreiben, sondern mich zuerst mal ein wenig erholen muss. Erholen heisst jetzt insbesondere: Ich werde mir abends gemütlich einen Film reinziehen. Unter anderem wurde extra für Mutti „Ferris Bueller’s Day Off“ bestellt, weil mich der junge Matthew Broderick an meinen HIV-Spezialisten erinnert, der sich grün und blau ärgerte, wenn ich ihn neckisch als „Koryphäe“ bezeichnete. --- Ich verspreche aber (dies @Bastro/mono.micha): Der erste Film, den ich hier wieder bespreche, wird „Los olvidados“ sein. Gelobte ich sogar in der Spitalkapelle, die ich – wie bei mir in religiösen Dingen üblich – am Montag mit einem Tag Verspätung besuchte.  Und sollte Gott zufällig gerade anwesend gewesen sein, dürfte ihn  mein „Danke!“-Flennen definitiv vertrieben haben.

Euer
Whoknows, Zodiac, Bruno Vögelin

13.9.2012

Sonntag, 9. September 2012

Die Schuld(en) der Vergangenheit

ÉLISA
Frankreich 1995
Regie: Jean Becker
Darsteller: Vanessa Paradis (Marie), Clotilde Courau (Solange), Sekkou Sall (Ahmed), Gérard Depardieu (Jacques Desmoulin / Jacques Lébovitch / „Lébo“), Philippe Léotard (fumeur de Gitanes), Florence Thomassin (Élisa)

Es beginnt mit der Ermordung eines kleinen Mädchens und einem anschließenden Selbstmord. Eine Wohnung geht in Flammen auf. Zur Weihnachtszeit. Der allein erziehenden Mutter gelingt der Selbstmord, ihre Tochter hat sie jedoch nur in eine Ohnmacht erstickt. Die kleine Marie kommt in ein Waisenheim. Von da an folgt die schiefe Bahn.

Zusammen mit ihrer besten Freundin Solange und dem Straßenjungen Ahmed macht Marie Paris unsicher. Dabei geht es ihr nicht nur darum, sich mit kleinen Diebstählen und Betrügereien über Wasser zu halten. Vielmehr will Marie sich an ihrer Umwelt für ihr Schicksal rächen und ihr die Maske heiler Glückseligkeit entreissen, damit nicht nur „immer dieselben glücklich sind“. Am deutlichsten wird dies, als sie mit ihren Kumpanen eine Hochzeit stört. In einem geklauten Ballkleid getarnt schnappt sie bei kleinen Tratsch-Grüppchen ein bisschen Gossip auf: das Kleid der Braut sei angesichts der ihrer kleinen Brüste unpassend, der Onkel der Braut vögelt gerne mit der Bediensteten fremd u.ä. Lächelnd greift Marie zum Bühnenmikro und gibt die Zitate mit entsprechender Zuordnung der Urheber vom besten.

Wissen! Wissen über ihre Mitmenschen und ihre Angewohnheiten und ihre Gelüste macht Marie scheinbar stark. Die reichen, beleibten und notgeilen Geschäftsmänner, die sie verführt, breiten ihren Beruf, ihre Familie, ihr Leben vor ihr aus. Marie weiß, wie sie ticken. Sie erpresst und demütigt die Eklinge dann, nachdem sie sich als minderjährig outet. Doch gerade über sich selbst, über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit, weiss das vor allem äußerlich harte Mädchen kaum etwas. So begibt sie sich zwischen Kleindiebstählen und Erpressung auf Erinnerungssuche.

Ihr Vater, Jacques Desmoulin, war scheinbar nicht nur Barpianist. Er war auch wegen diverser Delikte, darunter Zuhälterei, vorbestraft. Seine Ehefrau Élisa hat er — unfähig, einen Lebensunterhalt zu verdienen — wohl zur Prostitution gezwungen und sie und die Tochter im kritischen Moment sitzen lassen. Für Marie scheint die Schuld des Vaters an der verzweifelten Lage ihrer Mutter, und letztlich an ihrem Selbstmord, erwiesen. Eine Postkarte mit einem Hafendorf-Motiv und eine darauf notierte Klaviermelodie — die letzte Lebensspur des Jacques Desmoulin — verraten den wahrscheinlichen Aufenthaltsort ihres Erzeugers. Mit einer Pistole ausgerüstet sucht die junge Frau ihn auf, wild entschlossen, sich an ihm zu rächen.

„Élisa“ von Jean Becker — der sich im Schatten seines Vaters Jacques selbst einen Vornamen erarbeiten musste — ist bei genauer Betrachtung eigentlich kein besonders guter Film. Denn eigentlich ist das Drehbuch trotz Realismus-Anspruch hanebüchen, voller Logiklöcher und an den Haaren herbeigezogen. Der aufmerksame Zuschauer merkt auch, dass sich eigentlich ziemlich viele Klischees in den Film eingeschlichen haben. Trotz einiger lustiger Momente gefällt sich „Élisa“ eigentlich zu oft in überemotionalen, melodramatisch-pathetischen Szenen. Bei der mittlerweile fünften oder sechsten Sichtung kann man auch schnell den Überblick darüber verlieren, was an welcher Stelle eigentlich vorhersehbar war. Die Figurenzeichnung gibt sich eigentlich tiefer, als sie tatsächlich ist: Maries individuelle Vergangenheitsbewältigung ist eigentlich nichts anderes als ein dünn aufgetragener, zerstörerischer Vaterkomplex. Und das ganze auch noch auf 110 Minuten ausgedehnt?

On s‘en fout! „Élisa“ ist trotz all dem ein wunderbarer Film, was nicht zuletzt am Charisma der Hauptdarsteller Vanessa Paradis und Gérard Depardieu liegt. Von „Darstellung“ kann hier kaum die Rede sein, da beide — besonders aber Depardieu — jenseits einer solch banalen Kategorie wirken. Vanessa Paradis, in ihrem bürgerlichen Leben vor allem als Sängerin zweitklassiger und charts-stürmender Pop-Ballädchen bekannt, verkörpert auf wunderbare, überzeugende und glaubhafte Weise diese eigenartige Mischung aus abgebrühtem Nihilismus, Verletzlichkeit und street smarts der Marie. Da wir fast den kompletten Film aus ihrer Perspektive der Dinge folgen, stellt sich schnell eine große Empathie für sie ein, auch wenn man die Figur wohl im wahren Leben selbst nicht unbedingt kennen lernen möchte.
Im zweiten Teil kommt Depardieus großer Auftritt als Desmoulin, geborener Jacques Lébovitch: Holocaust-Überlebender, Pianist, Komponist, genialer Künstler, der durch seine absolute Weltentfremdung seine geliebte Frau Élisa — wohlgemerkt unfreiwillig! — ins Verderben gebracht hat. Im Film sehen wir ihn als das, was von ihm an Fragmenten übrig geblieben ist: ein am Boden zerstörter Mann, ein menschliches Wrack, ein cholerischer Alkoholiker, der sich in einem verlassenen Dorf als Fischer verdingt. Seine pianistischen Fähigkeiten verschwendet „Lébo“ bei der Wochenend-Dorfdisco als Begleiter für eine drittklassige Retro-Band, wenn er nicht gerade in der Dorfkneipe eine Schlägerei anzettelt und sich später auf der Straße übergibt. Mit anderen Worten: eine wahrlich ungnädige Rolle, die Depardieu dank seinen 150 Kilo Charisma mit tiefster Menschlichkeit auszufüllen vermag. Wenige Minuten nach seinem ersten Auftritt, den Marie voller Ekel mit beobachtet, beginnt „Lébo“ einen jugendlichen Kneipengänger anzupöbeln. Unter anderem sagt er ihm: „Pour jouer les déséspérés, il faut du talent.“ Eine überaus treffende Meta-Aussage über die Rolle Depardieus im Film.
Élisa, das berühmte Lied Serge Gainsbourgs, wird zwischendurch in impressionistischen Variationen gespielt, bildet jedoch als Original am Anfang und am Schluss einen drastischen, fast schockierenden Kontrapunkt zu den Bildern des Films. Der Widmungsträger selbst, dessen Lebensgeschichte zum Teil inspirierend auf die Figur des „Lébo“ gewirkt hat, hat als Gitanes-rauchender Pianist in der Verkörperung Philippe Léotards einen „Cameo-Auftritt“.

In Deutschland ist „Élisa“ nicht auf DVD erhältlich. Ab und zu wird der Film auf „TV5 Monde“ ausgestrahlt. Wer nicht warten will, kann je nach Grad der Französisch-Kenntnisse auf die französische Fassung (ohne Untertitel) oder auf die britische Fassung (mit englischen Untertiteln) zurückgreifen.

Montag, 3. September 2012

Bene, bene! - oder: Unsere liebe Frau Salome

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN (NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI)
Italien 1968
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene (der Mann), Lydia Mancinelli (Margherita), Salvatore Siniscalchi (Verleger), Ornella Ferrari u.a.

SALOMÉ (man findet auch die Schreibweise SALOMÈ, was der italienischen Form des Namens entspricht, aber in den Credits steht der Titel mit É)
Italien 1972
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene (Herodes Antipas/Honorius), Donyale Luna (Salome), Lydia Mancinelli (Herodias), Alfiero Vincenti (Herodias), Veruschka (Myrrhina), Piero Vida (Narraboth), Giovanni Davoli (Jochanaan), Franco Leo (Jesus/Vampir) u.a.

Carmelo Bene in HERMITAGE (1968)
Carmelo Pompilio Realino Antonio Bene. Wer so heißt - und er hieß wirklich so -, aus dem muss ja etwas Besonderes werden. Carmelo Bene (1937-2002) war ein italienischer Theaterregisseur und -schauspieler, der in einem begrenzten Zeitraum - von 1967 bis 1973 - einige sehr eigenwillige avantgardistische Filme drehte, als Autor, Regisseur, unabhängiger Produzent und Hauptdarsteller in Personalunion. Nur gelegentlich hatte er als Schauspieler Gastauftritte in Filmen anderer Regisseure; am bekanntesten davon ist Pasolinis EDIPO RE, in dem er Kreon spielte. In seiner ersten Schaffensperiode am Theater von 1959 bis 1967 trat Bene, von Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" beeinflusst, mit grellen, provokanten und teilweise skandalumwitterten Inszenierungen hervor (im 1963 in einem Kellertheater in Rom aufgeführten Stück "Christus 63" pinkelte der Apostel Johannes auf offener Bühne, was ein juristisches Nachspiel hatte und zur Schließung des Theaters führte).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - ein bandagierter und lädierter Protagonist
Viele Künstlerkollegen und Intellektuelle waren von Bene und seiner Truppe begeistert, aber das breite Publikum blieb fern, und die professionellen Kritiker verrissen die Aufführungen regelmäßig, sofern sie überhaupt Notiz davon nahmen. Benes vorübergehender Umstieg zum Film war nicht zuletzt der erfolgreiche Versuch, diese Situation der Isolation und Mißachtung zu überwinden. Nach seiner Rückkehr zum Theater 1973 gab es keine Kinofilme mehr, aber immerhin einige Fernsehfassungen seiner Bühneninszenierungen. Benes Theater- und Filmarbeit war eng miteinander verquickt. Die Stoffe, die den Filmen zugrunde lagen, brachte er vorher oder nachher auch auf die Bühne, manche mehrfach, und zu UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN gibt es auch einen gleichnamigen Roman von Bene.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - der Protagonist und seine Heilige
Im Filmgeschäft war Bene Autodidakt; technische Anleitung und Unterstützung boten der Kameramann Mario Masini und der Cutter Mauro Contini, die regelmäßig, auch bei den beiden hier besprochenen Filmen, für ihn arbeiteten. Nach drei Kurzfilmen von 1967/68 war UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN der erste Langfilm (der Begriff "Spielfilm" passt nicht so recht). Ausgangs- und Angelpunkt ist ein halb historisches, halb mythisches Ereignis vor 500 Jahren: 1480 eroberten die Osmanen die Hafenstadt Otranto in Apulien (die nicht weit von Benes Geburtsort, einer Kleinstadt in der Provinz Lecce, entfernt ist). Nur wenige Monate später wurden die Türken von einem christlichen Heer wieder hinausgeworfen. Soweit die Tatsachen. Eine Überlieferung besagt nun, dass 1480 die 800 überlebenden männlichen Verteidiger von Otranto vor die Wahl gestellt wurden, zum Islam überzulaufen oder zu sterben, dass sie sich alle verweigert hätten und deshalb geköpft wurden. Im Dom von Otranto gibt es in einem Seitenschiff eine Kapelle, in der in marmornen Schreinen die Gebeine von 270 dieser echten oder angeblichen Märtyrer aufbewahrt werden (die anderen wurden nach Neapel und an andere Orte gebracht). Die Mehrheit der Historiker verweist diese Geschichte ins Reich der Legende, die Männer seien vielmehr im Kampf gefallen (worauf Kampfspuren an den Knochen hinweisen).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - im Dom von Otranto
Bene spielt nun einen jener 800 Märtyrer (die im Film tatsächlich welche waren), der auf wundersame Weise der Hinrichtung entging, der auf ebenso wunderbare Weise die Zeiten überdauert hat (bei beidem spielt die übergroße Liebe des Mannes zu einer Frau eine Rolle), und in der Gegenwart angelangt ist. Oder Bene spielt einen Mann, der sich das alles einbildet - so klar ist das nicht. Nach einer Exposition, die die Vorgeschichte auf poetische Weise umreißt, tritt der Protagonist mitten unter den Knochen im Beinhaus hervor und eröffnet auf ziemlich wüste Weise die Handlung. Die unermessliche Liebe zur besagten Frau hat sich durch die Jahrhunderte erhalten; als aktuelle Projektionsfläche dafür dient dem Mann Margherita, eine Heilige mit dem Erscheinungsbild einer Madonna. Auch der Drang, sich zu opfern, zu einem Märtyrer zu werden, ist noch vorhanden. So stürzt sich der Mann in einige selbstzerstörerische Aktionen, und immer wieder tritt Bene bandagiert in Erscheinung oder macht einen sonstwie lädierten Eindruck, gelegentlich ist er auch verschnürt wie in einer Zwangsjacke. Am Ende hat die heilige Margherita (die auch über einige sehr weltliche Eigenschaften verfügt) genug von seinen Attitüden und weist ihn brüsk zurück, woraufhin er an ihrem Altar im Dom von Otranto (wohin der Film mehrfach zurückkehrt) sein Leben aushaucht.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN
Das alles spielt sich in diversen längeren Episoden ab, die in und um Otranto angesiedelt sind, die aber sonst kaum irgendeine äußere Gemeinsamkeit aufweisen. Zusammengehalten werden sie vom "Geist" des Films, aber gemeinsame Handlungsfäden sind kaum vorhanden, und auch die Erscheinung des Protagonisten ist größeren Veränderungen unterworfen. Die einzelnen Sequenzen für sich sind jeweils mehr oder weniger surreale, stark symbolbeladene und assoziationsreiche Mini-Handlungen von großem visuellem Einfallsreichtum. Die Szenen atmen teilweise einen tragischen bis melodramatischen Geist, teilweise kippen sie auch ins grotesk-komische und schrecken vor Slapstick nicht zurück (an einigen Stellen hat mich Bene doch tatsächlich an Mr. Bean erinnert). Der Film ist auch deshalb schon sehr schön anzuschauen, weil er über ausgesprochen leuchtkräftige und kontrastreiche Farben verfügt, was durch die Verwendung von Farbumkehrfilm (Kodak Ektachrome) erzielt wurde. Obwohl der Film aus Kostengründen nur auf 16mm gedreht und nachträglich auf 35mm aufgeblasen wurde, sieht das schon auf DVD sehr gut aus (und im Kino mit einer guten Kopie vermutlich noch viel besser).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - Bene als bärtiger Mönch und in weiteren Inkarnationen
Der unkonventionelle (weil oft asynchrone) Soundtrack besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Arien von Opern des 19. Jahrhunderts, aber auch ein Zitat der Filmmusik von LAWRENCE VON ARABIEN, das "Harry Lime Theme" aus DER DRITTE MANN und weitere Einlagen kommen vor, und Jacques Brel singt "Bruxelles". Es gibt auch immer wieder ein von Bene selbst gesprochenes Voice-over, das sich meist in der dritten Person über den Protagonisten äußert. Alle Szenen kreisen eng um ihn und damit um Bene, der einen expressiven, aktionistischen und körperbetonten Schauspielstil pflegt. In gewissem Sinn ist UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN auch ein Film über den Schauspieler Bene, aber weniger über die Person, sondern vielmehr über den Körper des Schauspielers. Dennoch, Lydia Mancinelli, die nicht nur die weibliche Hauptrolle spielt, sondern auch ca. 20 Jahre lang Benes Lebenspartnerin war, bestätigt in einem Interview, das im Booklet der DVD abgedruckt ist, auch das Vorhandensein gewisser autobiographischer Bezüge. Wie auch schon im Kurzfilm HERMITAGE von 1968, der etwas wie eine Vorübung zu UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN wirkt, hinterlässt Bene einen ziemlich narzisstischen Eindruck.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN
Ich schrieb oben, dass die einzelnen Episoden durch den "Geist" des Films zusammengehalten werden, aber worin besteht dieser Geist eigentlich? Ich hatte und habe erhebliche Schwierigkeiten, das zu erkennen. Bene war philosophisch und kunsthistorisch sehr bewandert und interessiert. Auf der DVD befindet sich als Bonus ein Fernsehinterview, das eigentlich ein 50-minütiger Monolog ist, in dem Bene über sein Werk und seine Vorstellungen im allgemeinen und UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN im besonderen doziert. Dabei springt er fast erratisch von einem Künstler oder Denker als Referenzpunkt zum nächsten (mehrfach werden beispielsweise die Namen Schopenhauer, Nietzsche und Deleuze genannt - mit Gilles Deleuze war Bene auch befreundet), und am Ende konnte ich diesem Redeschwall recht wenig sinnvolle Information entnehmen. Und ähnlich erging es mir mit UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN selbst - was will mir Bene damit eigentlich sagen? Einige Anhaltspunkte gab er selbst doch. Im oben erwähnten Monolog sagt er, der Film sei gegen die 68er gerichtet - davon ist mir beim Ansehen nichts aufgefallen, und auch im Nachhinein weiß ich nicht, worin sich das äußern sollte. Im Booklet gibt es weitere Hinweise, die zugleich zeigen, dass ich nicht der einzige bin, der gewisse Verständnisschwierigkeiten hat. In der engl. Übersetzung heißt es da: "I have always been clumsily misunderstood. [...] OUR LADY OF THE TURKS was not understood. Neither the fact that it was a great epic poem on the "saints of the southern-most point of the South of Italy" nor its cinematographic language were grasped and, indeed, like my novel of the same name, nothing was understood of the fact that it was a parody of the interior life."

SALOMÉ - die Titelfigur
Dass sich süditalienische Eigenheiten wie übertriebener Heiligen- und Wunderglaube durch den Film ziehen, ist offensichtlich, aber das scheint mir ein eher oberflächlicher Aspekt zu sein. Der letzte Punkt ist wohl ergiebiger. Das Voice-over lässt sich zumindest phasenweise auch als innerer Monolog verstehen, um nicht zu sagen als stream of consciousness (James Joyce wird im 50-minütigen Monolog auch erwähnt), und die Bedeutung der Bilder kann man sich wohl entsprechend zurechtinterpretieren. Trotzdem, so ganz hat mich auch das nicht überzeugt. Aber vielleicht sollte man sich am besten der wilden Schönheit der einzelnen Szenen hingeben, ohne zu versuchen, daraus irgendeinen tieferen Sinn zu extrahieren. Das Problem dabei ist jedoch, dass mir der Film mit 124 Minuten für diesen Sichtungsmodus zu lang ist. So ganz ohne roten Faden wird es nach spätestens eineinhalb Stunden für mich doch etwas ermüdend. Ohnehin sind mir einzelne Szenen für sich genommen schon etwas zu lang geraten, vor allem eine, in der Bene gleich zwei Rollen übernimmt, einen bärtigen Mönch und seinen Adepten. Eine faszinierend wüste Performance, aber mit fast 20 Minuten dann doch etwas des Guten zuviel. So bleibt ein nicht ganz ungetrübtes Fazit. Wer auf narrative Stringenz Wert legt, ist bei Bene völlig fehl am Platze, aber wer auch experimentelle Filme goutiert, findet hier ein faszinierendes Werk mit gewissen Längen. UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN gewann 1968 bei den Filmfestspielen in Venedig den Spezialpreis der Jury (geteilt mit einem Film von Robert Lapoujade). Lydia Mancinelli behauptet im erwähnten Interview sogar, dass sich die Jury einstimmig darauf geeinigt habe, Bene den Goldenen Löwen zuzuerkennen. Die Jury sei aber gezwungen worden, den Preis stattdessen Alexander Kluge für DIE ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS zu verleihen. Wie glaubwürdig diese Behauptung ist, kann ich nicht beurteilen.

SALOMÉ - Herodes Antipas
SALOMÉ ist leichter verdaulich als UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN. Er ist noch delirierender und visuell berauschender, aber mit 73 Minuten (auf DVD) deutlich kürzer, und er folgt einem bekannten Handlungsgerüst: Es handelt sich um eine freie Interpretation von Oscar Wildes gleichnamigem kurzem Drama, das wiederum auf einem biblischen Stoff aus dem Matthäus- und dem Markus-Evangelium beruht, der mehrere literarische Bearbeitungen erfuhr. Für die nicht ganz bibelfesten (und Wilde-festen) Leser sei der Stoff kurz rekapituliert. Johannes der Täufer (bei Wilde heißt er Jochanaan) sitzt im Kerker, weil er das Herrscherpaar Herodes Antipas und Herodias wegen ihrer Ehe öffentlich scharf kritisiert hat: Die beiden waren nah miteinander verwandt, sie sind bereits verheiratet gewesen und haben sich vom jeweiligen ersten Partner scheiden lassen, und durch diese ersten Ehen waren sie auch bereits Schwager und Schwägerin, was zusammengenommen doch etwas skandalös war. Herodias will den aufmüpfigen Propheten am liebsten sofort tot sehen, aber Herodes zögert, weil er den Zorn des Volkes fürchtet, und weil der Inhaftierte ja vielleicht wirklich ein heiliger Mann sein könnte.

SALOMÉ - Ausschweifungen
Da betritt Herodias' Tochter aus ihrer ersten Ehe die Szene (in der Bibel ist sie noch namenlos, den Namen Salome bekam sie von der Überlieferung erst Jahrhunderte später zugewiesen). Herodes hat ein Auge auf seine schöne junge Stieftochter geworfen, und er bittet sie, den "Tanz der sieben Schleier" (so etwas wie ein Striptease, aber nur bei Wilde - in den Evangelien geht es züchtiger zu) für ihn zu tanzen. Salome stimmt erst zu, als ihr Herodes die Erfüllung einer beliebigen Bitte gewährt. Nach Absolvierung ihres Schleiertanzes fordert sie den Kopf von Johannes/Jochanaan (in der Bibel auf Herodias' Einflüsterung hin, bei Wilde mehr aus eigenem, erotisch-morbidem Antrieb, weil Jochanaan zuvor ihre Avancen schroff zurückgewiesen hat). Herodes ist schockiert und will sie umstimmen, aber Salome bleibt standhaft. So wird der Prophet also enthauptet und sein Kopf auf einem silbernen Tablett präsentiert. Der Rest steht nicht mehr in der Bibel, nur bei Wilde: Salome küsst den Toten auf den Mund, was der Lebende zuvor verweigert hatte. Herodes ist so angewidert von seiner Stieftochter, dass er sie von den Palastwachen töten lässt. Über dem ganzen Geschehen stand von Anfang an der nächtliche Mond als Symbol des Unheils.

SALOMÉ - die verdoppelte Herodias (l.o.) und Jochanaan im Dress eines
italienischen Fußballers; bei Bene geht ein Kamel locker durch ein Nadelöhr

Zwar sind die Bilder des Films nicht immer ohne weiteres mit der oben skizzierten Handlung in Einklang zu bringen, und es gibt sogar Einschübe, die eigentlich nichts damit zu tun haben, wie das letzte Abendmahl und ein Jesus mit Vampirzähnen, sowie einen kurzen Abstecher zu Wildes unvollendetem Dramenfragment "La Sainte Courtisane", zu dem die Charaktere Honorius und Myrrhina gehören, aber zumindest im gesprochenen Text - meist mehr Monolog als Dialog, dafür aber oft mehrfach überlagert und sich überlappend - hält sich der Film weitgehend an den Kern der Handlung, wie er von Wildes Stück vorgegeben ist. So gibt es genug Anhaltspunkte für eine wenigstens grobe Einordnung der Szenen und eine Interpretation der Bilder. Aber auch wenn man der Handlung nicht folgen kann oder will, ist das kein großer Schaden - diesen Film kann man auch bedenkenlos genießen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was da eigentlich abläuft. Denn der geradezu abenteuerliche Rausch an Bildern, Farben und Tönen ist einfach unfassbar und lässt sich nicht in Worte kleiden. Es ist eine atemlose tour de force, eine nicht endende Kette an Extravaganzen, an schwülen und schwülstigen Ausschweifungen. Es beginnt mit der Verdoppelung von Herodias in einen männlichen und einen weiblichen Part (ersterer mit eindrucksvollem Turban und Schnauzbart) und hört mit einem Mann, der sich selbst ans Kreuz nageln will, beim zweiten Arm aber passen muss, noch lange nicht auf. Die Farben sind teilweise unglaublich kräftig (ich vermute, dass wieder Farbumkehrfilm verwendet wurde, weiß es aber nicht sicher), der Soundtrack wüst und erhaben. Man muss das einfach gesehen und gehört haben. Ein unglaublicher Film!

SALOMÉ - das letzte Abendmahl und ein Vampir-Jesus
Bene spielt seine Rolle wiederum äußerst exaltiert. Neben Lydia Mancinelli und weiteren Darstellern aus Benes Dunstkreis sind mit Donyale Luna und Veruschka diesmal auch zwei "externe Kräfte" dabei. Veruschka (vollständiger Veruschka von Lehndorff, noch vollständiger Vera Gottliebe Anna Gräfin von Lehndorff) war eines der Supermodels der 60er und frühen 70er Jahre. Von ihren gelegentlichen Filmauftritten ist sicher der in Antonionis BLOWUP am bekanntesten. In SALOMÉ hat sie nur einen kurzen, wenn auch spektakulären Auftritt - wegen ihr muss man den Film jedenfalls nicht ansehen. Die Amerikanerin Donyale Luna (geboren als Peggy Ann Freeman) dagegen ist eine echte Attraktion. Auch sie war ein angesagtes Model, als eine der ersten Farbigen, die in diesem Beruf an die Spitze kamen, und sie hatte Auftritte in Filmen von Regisseuren wie Andy Warhol, Otto Preminger und in Fellinis SATYRICON. 1979 starb sie an einer Überdosis Drogen. Mit ihrem glattrasierten Kopf, den Mandelaugen und ihrem mageren Körper ist sie eine ätherische Erscheinung. Meist wirkt sie fast wie eine unschuldige Kindfrau, aber in einer grandiosen Sequenz am Schluss des Films erscheint sie wie eine Spinne, die Herodes bei lebendigem Leib die Haut abzieht. - Man hat Carmelo Bene mit manch anderem Regisseur verglichen, von Kenneth Anger bis Derek Jarman und Peter Greenaway, und man könnte weitere Referenzen hinzufügen. Aber mit solchen Vergleichen bekommt man ihn höchstens am Rande zu fassen. Auf seine Art war Bene wohl einzigartig.

SALOMÉ - Veruschka
UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN ist in Italien auf einem 2-DVD-Set erschienen, mit engl. Untertiteln. Ein Teil des Bonus-Materials, darunter der erwähnte 50-minütige Monolog von Bene, ist ebenfalls untertitelt, und das informative Booklet ist zweisprachig (ca. 25 engl. Seiten). SALOMÉ ist ebenfalls in Italien auf DVD erschienen, ohne fremdsprachige Untertitel und ohne Bonusmaterial (es gibt aber engl. Untertitel auf einschlägigen Internetseiten zum Download). Der Film soll eine Kino-Laufzeit von 80 Minuten haben. Wenn das stimmt, fehlen auf der DVD ca. 3 Minuten.

PS: Benes Tochter heißt übrigens Salomè.

SALOMÉ