Montag, 17. Dezember 2012

BOUDU: Flaches Wasser und deep focus

BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET (BOUDU SAUVÉ DES EAUX)
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Michel Simon (Boudu), Charles Granval (Édouard Lestingois), Marcelle Hainia (Emma Lestingois), Séverine Lerczinska (Anne Marie), Jean Gehret (Vigour), Max Dalban (Godin), Jean Dasté (Student), Jacques Becker (Dichter)


Renoirs vierter Tonfilm beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem - sichtlich in Theaterkulissen - ein Pan oder Priapos einer Nymphe nachstellt. Damit wird ein Rahmen gesetzt, eine Meta-Ebene, die den gesamten Film "theatralisiert" - ein Motiv, das Renoir in den 30er Jahren gern verwandte (so beginnt auch schon LA CHIENNE (1931) mit einer Grand-Guignol-Vorstellung), und auf das er etwa in DIE GOLDENE KAROSSE (1952) mit seinem "Theater im Theater" zurückkam. Zugleich verweist der Prolog auf den Charakter des Films: Es ist ein Satyrspiel, ein erotisch aufgeladenes Bäumchen-wechle-dich, dessen Wendungen man nicht wirklich ernst nehmen sollte. Eine Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen ist BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET auch, aber eine sehr milde, die ihre Protagonisten nicht denunziert, sondern liebevoll karikiert.

Monsieur Lestingois und Anne Marie
Nach dem Prolog folgt der direkte Umschnitt zum gutsituierten Pariser Buchhändler Édouard Lestingois, wie er mit seinem Hausmädchen Anne Marie, die zugleich seine Geliebte ist, herumschäkert und sich selbst dabei als "Priapos" und sie als seine "Chloé" bezeichnet, womit die Verbindung vom Rahmen zur Haupthandlung unmissverständlich etabliert ist. Lestingois, dessen Buchhandlung mit darüberliegender Wohnung direkt am Ufer der Seine liegt, ist verheiratet, aber seine Frau Emma ist am Eheleben nicht mehr interessiert, dafür achtet sie umso mehr aufs Geld. Lestingois dagegen ist im Grunde noch Idealist, der auch schon mal Bücher an einen armen Studenten verschenkt, der sie sich nicht leisten kann (gespielt von Jean Dasté, der seinen größten Auftritt 1934 in Jean Vigos L'ATALANTE hatte, hier in seinem ersten Film). Es ist auch von Anfang an klar, dass das Verhältnis von Lestingois und Anne Marie nicht nur sexueller Natur ist, sondern dass sie sich einfach mögen.

Jacques Becker mit einem Kurzauftritt
Szenenwechsel in einen großen Pariser Park, wohl der Bois de Boulogne. Einer seiner Bewohner ist der zottelige Clochard Boudu mit seinem ebenso zotteligen schwarzen Hund "Black". Als ihm dieser davonläuft und er ihn trotz Suche nicht wiederfindet, will er sich in der Seine ertränken. Doch just in dem Moment, als er von einer Brücke springt, erspäht ihn Lestingois von seiner Wohnung aus, und nun ist es an ihm, den Lebensmüden zu retten. Beherzt springt er ins Wasser, und unter den Blicken von dutzenden, wenn nicht hunderten Zuschauern zieht er den halbtoten Boudu aus dem Wasser. Mit Hilfe seines Nachbarn Vigour (der gerne am offenen Fenster Flöte spielt und damit für einige musikalische Überleitungen im Film sorgt) bringt ihn Lestingois in seine Buchhandlung, um die Schaulustigen abzuschütteln und die Wiederbelebung zu vollenden. Vigour ist Mitglied in einem "Lebensrettungsclub", obschon er noch nie an einer Lebensrettung teilgenommen hat, und geht nun mit entsprechender Begeisterung zu Werk, so dass Boudu gar nichts anderes übrigbleibt, als wieder zu sich zu kommen.

Spektakuläre Rettung vor großem Publikum
Jetzt wird beschlossen, dass Boudu erst mal als Gast im Hause Lestingois bleiben soll, auch wenn Madame Lestingois und Anne Marie den neuen Hausgenossen sehr skeptisch beäugen. Und ihre Vorbehalte sind nicht ohne Grund, wie sich bald erweist. Denn Boudu ist ein respektloser, um nicht zu sagen anarchischer Zeitgenosse, der sich als undankbar erweist und von vielen Segnungen der Zivilisation nichts hält. Insbesondere beginnt er schnell, Anne Marie zu begrapschen, er setzt die Küche unter Wasser und richtet Verwüstungen an, die ein Loriot nicht besser hingekriegt hätte, er wischt sich seine mit Schuhcreme beschmierten Hände an Madames Nachtwäsche ab, er spuckt in der Wohnung auf den Boden und so weiter. Lestingois' nächtliche Schäferstündchen mit Anne Marie müssen vorerst ausfallen, weil der zwischen den jeweiligen Schlafzimmern einquartierte (und auf dem Boden schlafende) Boudu den Weg blockiert. Als Lestingois entdeckt, dass Boudu sogar in ein Buch gespuckt hat (Balzacs leicht zynisches Ehehandbuch Physiologie du mariage - ein trockener Seitenhieb Renoirs auf die Ehe der Lestingois), ist auch bei ihm das Fass übergelaufen: Boudus sofortige Ausweisung ist beschlossen.

Madame Lestongois streckt die Zunge raus, und Monsieur Vigour
geht mit Einsatz an Boudus Wiederbelebung
Doch es kommt anders. Um seine Chancen bei Anne Marie zu erhöhen, vollzieht Boudu eine partielle Annäherung an die Zivilisation: Er geht zum Friseur. Und als ihm Madame seinen Rauswurf in ihrem Schlafzimmer mitteilen will, verführt er sie in Windeseile mit sanfter Gewalt. Während auf der Straße Marschmusik gespielt wird, bläst Boudu Madame den Marsch - und danach ist sie wie verwandelt. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache deutlich machen, hat die eben noch ziemlich frigide Madame ihre Lebenslust und den Spaß am Sex wiedergefunden. Gleichzeitig trifft die Nachricht ein, dass Lestingois für seine Rettungstat eine Medaille erhält, wodurch auch er milde gestimmt ist. So darf Boudu also vorerst bleiben. Während nun Madame kaum noch von Boudu lassen kann, hat nun auch Lestingois wieder Gelegenheit, sich mit Anne Marie zu beschäftigen. So geht das einige Tage dahin, doch dann treffen die beiden Paare unverhofft im selben Zimmer in eindeutiger Lage aufeinander, so dass der doppelte Ehebruch offenbar wird. Doch der (nach bürgerlichen Maßstäben) doppelte Skandal wird erstaunlich souverän gehandhabt: In einer geradezu rasanten Umgruppierung finden die wiedererblühte Madame und ihr Gatte wieder zusammen, während Boudu und Anne Marie nicht nur ein Paar werden, sondern - ermöglicht durch einen Lotteriegewinn Boudus über 100.000 Francs - sogar heiraten. So ist denn auch die nächste Szene nach dem Rearrangement der Paare gleich der Hochzeitsausflug: Eine sonntägliche Kahnfahrt von Boudu und Anne Marie, dem Ehepaar Lestingois und Monsieur Vigour auf der Marne.

Boudu richtet Verwüstungen an
Doch das allzu platte Happy End wird von Renoir abgesagt. Boudu schafft es, sich selbst und die anderen Insassen des Ruderboots ins Wasser der äußerst gemächlich dahinfließenden Marne zu befördern, indem er sich nach einer Seerose ausstreckt. Ob nun geplant oder einem spontanen Impuls folgend: Boudu nutzt das Durcheinander, um sich schwimmend von der Gruppe abzusetzen, zu den hier ziemlich ironisch anmutenden Klängen des Walzers "An der schönen blauen Donau". An einer unbeobachteten Stelle des Ufers geht er an Land und vollzieht seine Rückverwandlung in einen Clochard - er tauscht seine feinen Hochzeitskleider gegen das zerschlissene Gewand einer Vogelscheuche und lässt als krönenden Abschluss seine Melone in die Marne segeln. Nun ist er wieder ganz der Alte und hat seine Freiheit wiedergewonnen. Zwar fehlt ihm noch sein Hund, dafür schließt er jetzt Freundschaft mit einer Ziege. Unterdessen sitzt Lestingois auch wieder an Land, flankiert von seiner Frau und Anne Marie, und sie fragen sich, was wohl aus Boudu geworden ist. Beide Frauen sind eng an ihn gekauert. Der Beginn einer Ménage-à-trois? Wer weiß ...

Vor und nach dem Friseur
Man hat Boudus Rolle zu Recht mit einem Katalysator verglichen: Er geht am Ende unverändert aus der Reaktion hervor, aber er hat in seinem Substrat, dem Haushalt Lestingois, erhebliche Veränderungen bewirkt: Etliche Verklemmungen und Scheinheiligkeiten wurden beseitigt. Dass Boudu am Ende wieder auf der Straße landet, ist im französischen Film der 30er Jahre nichts Ungewöhnliches. Schon in LA CHIENNE endete Michel Simon als Landstreicher, dort allerdings ins Tragische gewendet. Auch in René Clairs Film mit dem programmatischen Titel À NOUS LA LIBERTÉ (ES LEBE DIE FREIHEIT) von 1931 suchen die beiden Helden am Schluss ihr Heil auf der Straße, und in Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) von 1936 wird der Held (Jean Gabin) am Ende zwar kein Landstreicher im eigentlichen Sinn, aber er wandert mit seiner Geliebten auf Schusters Rappen in eine ungewisse, aber wahrscheinlich bessere Zukunft.

Voller Körpereinsatz bei Michel Simon
Als Komödie ist BOUDU kein Schenkelklopfer, aber es gibt doch einige komische Szenen, vom visuellen Kalauer (Lestingois sagt bei Boudus Wiederbelebung zu seiner Frau, dass die Zunge raus müsse, und sie streckt daraufhin ihre eigene Zunge raus) bis zu einigen absurden Umkehrungen. So gibt am Anfang im Park eine Frau Boudu 5 Francs, "damit er sich Brot kaufen kann", wie sie ihrer kleinen Tochter erklärt. Als kurz darauf ein feiner Pinkel in einem protzigen offenen Wagen im Park hält, öffnet ihm Boudu wie ein Chauffeur die Tür. Der Schnösel sucht in seinen Taschen nach Trinkgeld, aber als er nicht schnell genug etwas findet, gibt Boudu ihm die 5 Francs - damit er sich Brot kaufen kann, wie jetzt Boudu zur Verblüffung des Mannes und des Publikums erklärt. Als Boudu am Essenstisch Wein verschüttet, streut Madame Lestingois Salz darüber, um den Wein aus dem Tischtuch zu ziehen, wie sie zu Boudu sagt, der sich das nicht erklären konnte. Als dann Lestingois versehentlich den Salzstreuer umkippt, gießt Boudu einen Schwall Wein darüber - "um das Salz herauszuziehen", wie nun er erläutert. Renoirs Regieassistent Jacques Becker hat einen sehr schrägen ungenannten Kurzauftritt als ein Dichter im Park, der wild gestikulierend theatralischen Unsinn verzapft, als ihn Boudu nach dem Hund fragt. Als Satire ist BOUDU, wie schon erwähnt, recht mild. Der einzige negativ besetzte Charakter ist zunächst Madame Lestingois, aber nach ihrer Läuterung durch Boudu ist auch das Geschichte. Gesellschaftskritik ist nicht das vordringliche Anliegen des Films, aber den einen oder anderen sozialen Kommentar platziert Renoir doch. So fragt etwa Boudu im Park einen Polizisten, ob er seinen Hund gesehen hat, doch der bedeutet ihm nur, er solle sich verziehen, damit er ihn nicht einbuchtet. Als unmittelbar darauf auch einer feinen Dame ihr Hündchen abhanden kommt, holt derselbe Polizist seine Kollegen herbei, damit sie bei der Suche behilflich sein können.

Boudu gibt ein Trinkgeld; Madame und ein armer Student;
Madame nach ihrer Verwandlung durch Boudu
Deep focus cinematography heißt auf Englisch das Drehen mit großer Tiefenschärfe (oder Schärfentiefe, wie Puristen sagen), das es ermöglicht, die handelnden Personen sich in der "Tiefe des Raumes" bewegen zu lassen, und in Bildvorder- und -hintergrund sogar voneinander unabhängige Teile der Handlung stattfinden zu lassen. Als Paradebeispiel für diesen Stil wird oft, und nicht zu Unrecht, CITIZEN KANE genannt, aber Orson Welles und sein Kameramann Gregg Toland waren keineswegs die ersten, die das virtuos beherrschten. Auch Renoirs LA RÈGLE DU JEU (DIE SPIELREGEL) von 1939 ist ein perfektes Beispiel. Und natürlich ist Renoir die Technik nicht 1939 in den Schoß gefallen, sondern er hat schon vorher damit experimentiert, z.B. in LA CHIENNE und auch in BOUDU. Zwar nicht durchgehend, aber immer wieder mal setzt Renoir Tiefenschärfe ein, um beispielsweise in der Wohnung von Lestingois Räume im Vorder- wie im Hintergrund ebenso wie den verbindenden Flur scharf abzubilden und auch überall Handlung zu zeigen. Und in der Szene, als Lestingois aus seinem Arbeitszimmer heraus Boudu mit einem Fernrohr beobachtet, bevor dieser in die Seine springt, sind Lestingois und die Einrichtung des Zimmers im Vordergrund, der Quai im Mittelgrund und fahrende Autos und wuselnde Fußgänger im Hintergrund jenseits der Seine scharf zu sehen.

Ein Hochzeitsausflug und sein Ende
Aber die große Attraktion von BOUDU ist weder die Handlung noch die Kameraarbeit, sondern das ist Michel Simon. Mit Renoir und Simon hatte sich ein Traumpaar gefunden, und BOUDU ist ihr vierter und letzter gemeinsamer Film, nach TIRE AU FLANC (1928), ON PURGE BÉBÉ (Renoirs erster Tonfilm, 1931) und LA CHIENNE. (1940 arbeitete Renoir in Italien an TOSCA, in dem Simon ebenfalls mitspielt, aber Renoir brach die Arbeit daran ab und emigrierte in die USA. Den Film drehte dann Renoirs Freund Carl Koch, der Ehemann von Lotte Reiniger.) 1966 drehte Jacques Rivette für die Fernsehserie CINÉASTES DE NOTRE TEMPS ein dreiteiliges Portrait von Renoir, und der 90-minütige mittlere Teil widmete sich nur der Zusammenarbeit von Renoir und Michel, die auch beide darin auftraten. Michel Simon schätzte Renoir sehr dafür, dass er einer der wenigen Regisseure war, die ihn bei seinem Drang zum Improvisieren nicht bremsten, sondern bestärkten. Renoir wiederum schrieb einmal: "BOUDU, das ist Michel Simon. Das heißt, einer der größten lebenden Schauspieler und einer der größten Schauspieler der Geschichte des Theaters und des Kinos. BOUDU ist eine Hommage an Michel Simon." Die Rolle des Boudu ist ihm tatsächlich wie auf den Leib geschrieben. Das Drehbuch entstand nach einem 1925 erschienenen Theaterstück, und schon damals spielte Simon die Rolle auf der Bühne und erhielt dafür Lobeshymnen. Er war es auch, der Renoir die Verfilmung des Stoffes vorschlug, und er war dann der Hauptproduzent des Films (Jean Gehret, der Darsteller von Vigour, war ebenfalls an der Finanzierung beteiligt). Den Boudu spielt er mit entfesselter, anarchischer Freude und mit vollem Körpereinsatz. Er fläzt sich am Boden und auf dem Mittagstisch, er turnt und kaspert herum, er krächzt und grölt und grinst. Von seinen Rollen, die ich sonst noch kenne, ist nur sein Père Jules in L'ATALANTE damit vergleichbar. Wenn man nur diese beiden Filme von ihm kennen würde, könnte man wohl glauben, dass er tatsächlich so ist, aber wenn man zum Vergleich andere Rollen heranzieht, etwa den skurrilen, aber gesitteten Molyneux in DRÔLE DE DRAME oder den sinistren Zabel in Carnés LE QUAI DES BRUMES, dann erkennt man seine Bandbreite.

Rückverwandlung mit Vogelscheuche und Ziege
BOUDU SAUVÉ DES EAUX ist in den USA und in England (als BOUDU SAVED FROM DROWNING) sowie in Frankreich auf DVD erschienen. - 1986 drehte Paul Mazursky mit DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) ein ganz brauchbares Hollywood-Remake, mit Nick Nolte als kalifornischem Boudu und Richard Dreyfuss und Bette Midler als seinen Gastgebern. Daraus entstand 1987 eine erfolglose 13-teilige Fernsehserie (mit anderen Hauptdarstellern). 2005 schließlich inszenierte Gérard Jugnot ein weiteres Remake, mit Gérard Depardieu in der Titelrolle und mit sich selbst als Lestingois (der hier Lespinglet heißt).

Wie wird es weitergehen?

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Subtiler Terror in den schwarzen Bergen

POSLJEDNJE POGLAVLJE (THE ASCENT)
Montenegro 2011
Regie: Nemanja Bečanović
Darsteller: Amar Selimović (Jovan), Vlado Jovanovski (Zeko), Dejan Ivanić (Vuk), Ana Vučković (Vidrana), Inti Sraj (Vesna)

Den nachfolgenden Text habe ich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 2011 geschrieben, etwa zwischen 01.30 Uhr und 02.30 Uhr. An diesem Abend hatte das Erste SouEuF-Festival Jena (Southeastern European Film Festival) begonnen, unter anderem mit der Projektion eines montenegrinischen Films, der mich (und wahrscheinlich auch andere Zuschauer) zutiefst beeindruckte. Der Text endete in der „Schublade“ und diente lediglich als Gedankenbasis für zwei meiner Festivalberichte. Dies ist nun eine redigierte, teils gekürzte und teils ergänzte Fassung des Artikels.


Das kleine, studentische Jenaer Südosteuropa-Filmfestival hat viele Besucher gefunden, zumindest genügend, um seinen Vorführraum aus allen Nähten platzen zu lassen. Die Atmosphäre ist familiär, die Organisation auf fast rührende Art und Weise dilettantisch: Rotwein und Weißwein waren um acht Uhr Abends schon alle, das ganze fing natürlich erst c.t. an und ein wirkliches Cinemascope-Erlebnis sieht grundsätzlich anders aus als eine Projektion auf eine viel zu kleine Leinwand. Alles nicht schlimm, wenn das mit Liebe rübergebracht wird, und das wurde es auch. Da kann man auch einen Filmriss gut verkraften, und mit Filmriss meine ich jetzt: CD-Kratzer bei 51min03sec. Kurz: es war eng, es war stickig, es gab keine stimulierende Flüssigkeiten. Die richtige Atmosphäre, um THE ASCENT, das Spielfilmdebüt des montenegrinischen Regisseurs Nemanja Bečanović zu schauen.
Stell dir vor, du bist Schriftsteller, hast eine Third-Life-Crisis, und sitzt an einem Roman, den du trotz deiner anstrengenden und aufreibenden Frühaufsteher-Gewohnheiten einfach nicht fertig kriegst – und du lebst in Podgorice, der Hauptstadt Montenegros. Was tun? Die Lösung: in ein abgelegenes Dorf der schwarzen Berge ziehen, um dort in einer Wohngemeinschaft mit Schafhirten ein wenig abzuschalten und jene Ruhe zu finden, die dir eine bessere Fokussierung ermöglicht. Gesagt, getan: der Bus ruckelt dich dann zu einer verlorenen Straßenkreuzung hin.
Das Dorf: vollkommen verlassen! Der Empfang: kühl wäre durchaus eine Untertreibung! Du musst dich etwa fünf Mal als Jovan vorstellen, damit dich deine wenig gesprächigen ländlichen Gastgeber endlich als Vuk und Vidrana begrüßen. Die schöne Vesna, die du vorher beim Abwaschen am Fluss aufgescheucht hast, grüßt aufgrund ihrer Stummheit nicht zurück, zumindest nicht verbal. Der Hausherr, Zeko, kommt schließlich auch noch dazu. Ja, montenegrinische Berghirten sind etwas befremdlich, ihre Haare sind struppelig und ihre Gesichter sind beängstigend kadaverbleich – dabei liegt Siebenbürgen doch so weit weg. Aber vielleicht wird doch noch was draus.
Wirklich? Jeder kennt das Gefühl. Man ist zu Gast bei jemandem zu Hause, und die Gastgeber streiten sich die ganze Zeit. Eheprobleme und Vater-Sohn-Beziehungen werden einem quasi nebenbei unter die Nase gerieben. Hinzu kommt noch eine leichte Anspannung, die von den scheinbar leicht inzestuösen Situationen herrühren. Dabei ist man sich gar nicht so sicher, wer von den Gastgebern in welcher Weise mit den anderen verwandt sind. Klar: Vuk und Vidrana sind anscheinend ein Ehepaar – oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit? Vesna ist die Schwester von einem der beiden mutmaßlichen Ehepartner – vielleicht? Wirklich sicher ist nur, dass Zeko als übermächtiger Patriarch über alles thront.
Eigentlich bist du ja ziemlich apolitisch, aber trotzdem halten es die Bewohner dieser verlassenen Berghütte für wahnsinnig wichtig, dir ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur unter die Nase zu reiben. Dein Problem: es kommt als totales Hinterwäldlertum und extremistische Landideologie bei dir an. Diese Leute hassen Stadtbewohner, sie hassen Intellektuelle, sie hassen Menschen, die offensichtlich keiner „ordentlichen“ Beschäftigung nachgehen (zum Beispiel Schriftsteller), und sie hassen Raucher. Dumm, dass diese ganzen Attribute auf dich zutreffen. Aber Zeko ist durchaus bereit, sich für deine Ehre einzusetzen. Als Vuk dich verbal etwas in die Mangel nimmt, nimmt Zeko ihn in den Schwitzkasten, mit einer deutlichen Bereitschaft, ihm das Genick zu brechen, nur, damit Vuk sich bei dir entschuldigt. So viel hattest du eigentlich gar nicht erwartet!
Die Gesamtsituation ist auch sonst beunruhigend. Diese Menschen treiben dich zu beängstigenden und teils ziemlich blutigen Alpträumen. Sie schlachten ihre ganze Schafherde ab. Sie nehmen die Spiegel in deinem Zimmer weg, um sie in einem Schrank zu verstauen. Und zu sehen, wie Vesna im nahegelegenen Wald bei einem Hügel frisch aufgegrabener Erde in Größe und Form eines Menschen trauert, ist zwar rührend, aber auch nicht gerade vertrauenserweckend.
Aber die Macht des Wortes ist unendlich. Und dank dieser Macht kannst du schließlich auch die Herzen dieser verschlossenen Bergleute öffnen. Wirklich? Wirklich?? WIRKLICH???
THE ASCENT kann man einem Genre zuordnen, den ich mal als „poetischer Symbolismus“ bezeichnen könnte. Grundmuster: kaum Handlung im engeren Sinne, größtenteils sehr starre Kamera, sperrige Darstellungskunst. Was dabei herauskommt: meist prätentiöser Bockmist! Viele Regisseure bringen es mit ihrer Darstellung karger Landschaften, gesprächsloser zwischenmenschlicher Austausche und wenig dynamischer Kameraeinstellungen nur zu einem nebenwirkungslosen Schlafmittel-Surrogat. Nicht so Bečanović. Mit sehr minimalistischen Mitteln erzeugt er eine extrem dichte und spannungsgeladene Atmosphäre voller latenter Gewalt, Klaustrophobie und Paranoia. Vieles, was passiert, nein, sogar das meiste, ist bedeutungsschwanger. Misstrauen entsteht nicht so sehr durch verbale Attacken, als durch penetrantes Schweigen. In dieser Berghütte wird deutlich: „Nicht-Kommunikation“ ist vielleicht die extremste Form von Kommunikation. Da wir als Zuschauer mit Jovan mitfühlen, wird das Gefühl der Bedrohung immer sehr intensiv aufrecht erhalten. Denn so einfach die Ziegenhirten im Film auch scheinbar gestrickt sind, so absolut unberechenbar sind sie letztlich für den Städter Jovan. Und zwar im bösen wie auch im guten Sinne. Und schließlich auch im bösen Sinne...
Der Schluss des Films übertrifft an Radikalität das Allerschlimmste, das man sich im Verlaufe von etwa 80 Minuten erträumen konnte. Zugleich wirkt er aber auch auf seltsame Art und Weise logisch und folgerichtig.
Wer sich jetzt fragt, wie Jovan seinen Laptop über eine Woche lang in einer Berghütte nutzen kann, ohne ihn aufzuladen: keine Ahnung! Aber der Film ist ja sowieso symbolisch. Und vielleicht hat ihn die spannungsgeladene Atmosphäre aufgeladen.

Mittwoch, 28. November 2012

Kommissar Maigret gibt seinen Einstand

Jean Renoir, einer meiner Lieblingsregisseure, drehte seine ersten Filme Mitte der 20er Jahre, er war also noch ein Kind der Stummfilmzeit. Doch zu richtig großer Form lief er erst mit seinen Tonfilmen der 30er Jahre auf. Durch Renoirs Emigration nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 und die völlig anderen Produktionsbedingungen, die er in Hollywood vorfand, bilden die 15 Filme von 1931 bis 1939 einen in sich geschlossenen Teil von Renoirs Werk. Von diesen 15 Filmen kenne ich bislang neun, und einen Teil davon werde ich in einer losen Reihe chronologisch vorstellen. Dabei konzentriere ich mich auf Filme, die hier zu Lande etwas weniger bekannt sind als die Großtaten DIE GROSSE ILLUSION, BESTIE MENSCH und DIE SPIELREGEL. Vielleicht bespreche ich danach noch zwei oder drei von Renoirs späteren Filmen, aber das überlege ich mir noch. Es beginnt mit einem für Renoir ungewöhnlichen Stoff, nämlich einem Krimi.



LA NUIT DU CARREFOUR
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Pierre Renoir (Kommissar Maigret), Winna Winifried (als Winna Winfried, Else Andersen), Georges Koudria (Carl Andersen), Dignimont (Oscar), Jean Gehret (Michonnet), Georges Térof (Inspektor Lucas), G.A. Martin (Inspektor Grandjean)

"... der Geruch des Regens und der in Nebel gehüllten Felder, jedes Detail, in jedem Augenblick jeder Einstellung macht aus LA NUIT DU CARREFOUR den einzigen großen französischen Kriminalfilm, was sage ich, den einzigen großen französischen Abenteuerfilm." (Jean-Luc Godard, zitiert nach Meinolf Zurhorst: Lexikon des Kriminalfilms)

Kommissar Maigret
Von allen Roman- und Filmkommissaren ist Jules Maigret nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer derjenigen, die von den meisten verschiedenen Schauspielern dargestellt wurden. Wer bei der Frage nach dem ersten Film-Maigret etwa an Jean Gabin denkt, liegt weit daneben, denn schon rund 26 Jahre vor Gabin blickte ein Maigret von der Leinwand, und es war Pierre Renoir, der ältere Bruder des Regisseurs. Georges Simenon, ein bereits durch Groschenromane einigermaßen bekannter Schriftsteller, begann 1931, die ersten Maigret-Romane in Buchform zu publizieren, und wurde damit zum Shootingstar der französischsprachigen Literaturszene. "La Nuit du carrefour", im April 1931 verfasst, war bereits der sechste Maigret-Roman des Schnellschreibers Simenon. Renoir verfolgte Simenon, der sich damals häufig auf Reisen befand, im Herbst 1931 regelrecht, um an die Filmrechte zu kommen. Die Mühe hat sich gelohnt - er bekam nicht nur die Rechte, und Simenon schrieb gemeinsam mit Renoir das Drehbuch, das Zusammentreffen wurde auch zum Beginn einer langjährigen Freundschaft. Aber Renoir gewann das Rennen um den ersten Maigret-Film nur knapp: Rund zehn Wochen nach LA NUIT DU CARREFOUR erschien mit LE CHIEN JAUNE bereits der nächste, Anfang 1933 der dritte. Dann dauerte es aber bis 1943 bis zum vierten (mit dem vierten verschiedenen Maigret-Darsteller). Danach, aber noch vor Jean Gabin, spielten beispielsweise auch noch Charles Laughton und Michel Simon den bedächtigen Kommissar mit der Pfeife.

Carl und Else Andersen
Stilistisch ist LA NUIT DU CARREFOUR ein Vorläufer des Film noir, gelegentlich wurde er sogar als der erste Film noir überhaupt bezeichnet. Der Titel, der übersetzt "Die Nacht an der Kreuzung" bedeutet, beschreibt den Schauplatz treffend. An einer Straßenkreuzung in einer ziemlich einsamen und trostlosen Gegend, ungefähr 30 Kilometer südlich von Paris, stehen drei Anwesen: Eine Autowerkstatt und Tankstelle mit der Wohnung des Besitzers Monsieur Oscar samt Gattin, flankiert von zwei großbürgerlichen Wohnhäusern. In dem einen wohnt der dickliche Versicherungsagent Michonnet mit seiner ebenso dicklichen Frau, im anderen der verschlossene Däne Carl Andersen mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Else. Andersen, früher ein Offizier und Flieger aus nobler Familie, lebt jetzt davon, dass er einmal im Monat Stoffmuster an eine Firma in Paris verkauft. Else, die Carl gegenüber einen ziemlich dominierenden Ton an den Tag legt, zeigt eine Mischung aus (gespielter?) Naivität und Laszivität (Godard schreibt in dem Text, aus dem das obige Zitat stammt, von ihrem "altmodischen Sex wie bei einer rauschgift- oder philosophiesüchtigen Russin"). Eines Tages ist in Michonnets Garage sein Wagen verschwunden, dafür steht überraschenderweise der von Andersen darin. Als man daraufhin gemeinsam in Andersens Garage nachsieht, findet man tatsächlich Michonnets Wagen - mit einer Leiche darin.

Verqualmtes Büro
Der Tote mit Kopfschuss ist, wie sich erweist, ein holländischer Diamantenhändler namens Goldberg. Der einzige Verdächtige ist zunächst Andersen, und Maigret, der die Ermittlungen übernimmt, lässt ihn ins Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres bringen. Doch bei einem stundenlangen zermürbenden Verhör beteuert er nur seine Unschuld und sagt sonst wenig. So lässt ihn Maigret wieder laufen und begibt sich an den Tatort, um sich dort ein Bild zu machen und alle Beteiligten nochmals zu verhören. Als der Abend hereinbricht, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Goldbergs Witwe, die zur Identifizierung ihres Gatten anreist, wird vor Maigrets Augen mit einem Gewehr aus dem Hinterhalt erschossen. Andersen, der seine monatliche Fahrt nach Paris unternimmt, kehrt nicht zurück - hat er sich abgesetzt, oder ist ihm etwas zugestoßen? Else, die allein im großen Haus zurückgeblieben ist, wirft sich jetzt Maigret an den Hals, doch der alte Fuchs hält sie auf Distanz. Mitten in der Nacht - alle Beteiligten sind aber noch wach und beschäftigt - fährt eine offene Limousine vor, und die Insassen beginnen, im Stil von Chicago-Gangstern wild in die Werkstatt hineinzuballern (wie gut, dass Maigret 30 Mann Verstärkung aus Paris kommen ließ). Und das ist noch lange nicht alles. Irgendjemand versucht anscheinend, Else mit Veronal in einer Bierflasche zu vergiften - oder galt der Anschlag etwa Maigret? Carl Andersen wird in der Nähe seines Hauses angeschossen aufgefunden, womit die Frage nach seinem Verbleib geklärt wäre; Michonnet wird beim Versuch, in Andersens Haus einzudringen, festgenommen; Maigret findet heraus, dass Else gar nicht Carls Schwester ist, und mit ihrer noblen Herkunft ist es auch nicht weit her; und als Maigrets Leute die Autowerkstatt auseinandernehmen, finden sie nicht nur Juwelen, die Goldberg anderswo gestohlen und mit sich geführt hat, sondern auch jede Menge Kokain. Am Ende wird eine ziemlich umfangreiche Bande verhaftet, der Mörder Goldbergs überführt, und der Fall ist gelöst - so halbwegs jedenfalls.

Trostlose Gegend bei Regen und Nebel
Denn die Handlung des Film glänzt nicht gerade durch Klarheit, und am Ende bleiben viele Fragen offen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass ein verwirrender Plot zum Konzept eines Film noir gehört (man denke etwa an Howard Hawks' THE BIG SLEEP), aber natürlich macht man es sich damit etwas zu einfach. Jean Mitry hat eine Erklärung für die Konfusion vorgebracht (der spätere Filmtheoretiker und Regisseur von PACIFIC 231 war als Schnittassistent und Nebendarsteller am Film beteiligt): Er habe während oder kurz nach dem Dreh versehentlich zwei bereits belichtete Filmrollen von LA NUIT DU CARREFOUR für einen eigenen Kurzfilm verwendet, den er gerade drehte, so dass sie durch Doppelbelichtung unbrauchbar wurden und für den Schnitt nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Geschichte ist aber angezweifelt worden. Der Produzent Pierre Braunberger, der in den 20er und 30er Jahren etliche Filme Renoirs produzierte (nicht jedoch LA NUIT DU CARREFOUR), soll bei einer Probevorführung gegenüber Renoir geäußert haben, dass bei der Verfilmung ungefähr zwölf Seiten des Scripts (das Braunberger kannte) schlicht vergessen worden seien. Pascal Mérigeau, der gerade eine nagelneue Renoir-Biographie von 1100 Seiten vorgelegt hat, hält Mitrys Version für falsch, ist aber auch nicht sicher, ob die Braunberger-Version stimmt - so bleibt die Frage vorerst (und vielleicht für immer) offen. (Für hilfreiche Informationen zu diesem Punkt danke ich Prof. Chris Faulkner von der Carleton University, Ottawa.)

Else umgarnt Maigret
Wie dem auch sein mag - Logik und eine stringente Handlungsführung gehören nicht zu den Stärken von LA NUIT DU CARREFOUR. Dafür punktet der Film im Atmosphärischen. Wie schon geschrieben, besitzt er Ingredienzien eines Film noir. Starke Schwarzweißkontraste; verqualmte Polizeibüros im Halbdunkel am Quai des Orfèvres; der ebenso verqualmte Salon im Haus der Andersens; die meisten Szenen im Freien bieten Regen, Nebel, Dämmerung oder eine Kombination daraus, und ein beträchtlicher Teil des Films spielt sowieso in der Nacht. Und es gibt eine echte femme fatale. Die Dänin Winna Winifried ist fast so mysteriös wie die von ihr gespielte Else Andersen. Das beginnt schon mit ihrem Geburtsdatum - in der IMDb findet man nur "ca. 1914". Ich nehme an, dass Renoir selbst die Quelle dafür ist, denn er hat irgendwann mal geäußert, dass sie beim Dreh erst 17 war. Die Unsicherheit setzt sich bei ihrem Künstlernamen fort. In den Credits erscheint sie als "Winna Winfried", in den meisten Quellen jedoch als "Winna Winifried", in manchen aber auch als "Winna Winifred". Immerhin scheint festzustehen, dass sie als Amalie Nielsen in Kopenhagen geboren wurde. (Godard hielt übrigens ihren dänischen für einen englischen Akzent - da kannte er wohl Anna Karina noch nicht.) LA NUIT DU CARREFOUR war ihr erster Film, dem laut IMDb sechs weitere folgten - zuerst drei in England, dann wieder drei in Frankreich. Sie scheinen allesamt ziemlich obskur und vergessen zu sein. Nach 1940 verliert sich dann offenbar Winifrieds Spur.

Ein Zeitungsstand als "Uhr"
Ich bin zwar nicht so enthusiastisch wie Godard, aber sehenswert ist LA NUIT DU CARREFOUR allemal. Renoir zeigt sein Gespür für Stimmungen und glänzt mit kleinen Details. Beispielsweise verdeutlicht er die stundenlange Dauer von Andersens Verhör durch mehrmalige Zwischenschnitte zum unteren Teil eines Zeitungsstands. Man sieht nur die Beine der Kunden, aber man hört ihre Bestellungen: Beim ersten Mal "Le Matin" (eine Morgenzeitung), beim nächsten Mal "Paris-Midi" (ein Mittagsblatt), schließlich - man ahnt es schon - mit "Paris-Soir" eine Abendzeitung. Am Schluss liegen die Zeitungen gelesen und weggeworfen im Rinnstein. Gekonnt ist auch Renoirs Umgang mit Direktton (in der Frühzeit des Tonfilms keine Selbstverständlichkeit) in der Autowerkstatt und auf der Straße. Gelegentlich gewinnt die Geräuschkulisse die Dichte von Musique concrète. Und nicht zuletzt ist Pierre Renoir mit seinem "faulen Falkenauge" (Godard schon wieder) ein ganz ausgezeichneter Maigret. Simenon soll ihn sogar mal als den überzeugendsten Maigret bezeichnet haben, allerdings ist andernorts auch zu lesen, dass er diese Ehre Gabin und Rupert Davies zuerkannte. - LA NUIT DU CARREFOUR ist unter seinem Originaltitel in den USA auf DVD erschienen.

Montag, 19. November 2012

Lantana

Dies ist nun die letzte Besprechung, die Bruno geschrieben hat, vor ungefähr drei Monaten.

Manfred




Lantana
(Lantana, Australien/Deutschland 2001)

Regie: Ray Lawrence

Obwohl die Figuren im Abräumer bei den AFI-Awards 2001 zu komplex sind, als dass sich der Film von Ray Lawrence auf ein einzelnes Thema festlegen liesse,  kann man doch sagen, die Bereitschaft, sich über sich selber zu täuschen und sich von anderen täuschen zu lassen, spiele eine grosse Rolle. Die Täuschungsproblematik überträgt sich sogar auf den Zuschauer, der Erwartungshaltungen aufbaut, die sich schlicht als falsch erweisen. Denn „Lantana“ spielt nicht in einem nach Australien verlegten Twin Peaks, hat überhaupt nur auf den ersten Blick etwas mit David Lynch zu tun. Er lässt sich auch nicht mit Robert Altman’s „Short Cuts“ (1993) vergleichen, schon gar nicht mit dem Krötenregner „Magnolia“ (1999) von P.T. Anderson. Wer solche verlockenden Vergleiche, wie sie vom Criticus Roger Ebert angeboten werden, einmal überwunden hat, wird das dichte, auf einem Bühnenstück von Andrew Bovell mit dem passenden Titel „Speaking in Tongues“ beruhende Werk in seiner Eigenständigkeit zu würdigen lernen.


Im Mittelpunkt von „Lantana“ stehen vier Paare. Der unter dem Verlust seiner Gefühle leidende Polizist Leon Zat betrügt seine Frau Sonja mit Jane O’May, die sich von ihrem Mann getrennt hat. O’May wiederum beneidet ihren arbeitslosen Nachbarn Nik Daniels und dessen Frau um ihre offen gezeigte, uneingeschränkte Liebe zueinander. Sonja versucht Leidenschaft in ihre Ehe zurückzubringen, indem sie ihren Mann für einen wöchentlichen Salsa-Abend begeistern will, an dem allerdings auch die Frau teilnimmt, mit der er zweimal Sex hatte. Doch auch Sonja verheimlicht etwas vor Leon: Sie besucht die Psychotherapeutin Valerie und erzählt ihr von ihren Ängsten, betrogen zu werden. Valerie, die die Ermordung ihrer Tochter nie überwunden hat, ist allerdings selber vor Täuschungen nicht gefeit: Als ihr ein schwuler Patient zunehmend herausfordernd von seiner Beziehung zu einem verheirateten Mann berichtet, überkommt sie das Gefühl, er spiele auf ihren verschlossenen Gatten John an. – Und über all dem schwebt unheilvoll die Leiche einer Frau, zu der uns die Kamera am Anfang im dichten Tropengestrüpp, das dem Film seinen Titel gab, geführt hat.


Diese Leiche ist es, die den Zuschauer vom eigentlichen Problem der Vorstadtbewohner, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, ablenkt. Sie verlockt ihn zu gewohnten Vorstellungen vom Ablauf eines Krimis, und er rätselt während der ersten Hälfte von „Lantana“, um wen es sich bei dieser Leiche handeln möge, während er die zweite Hälfte der Frage widmet, ob und von wem die entdeckte Tote ermordet worden ist. Denn Jane, die von ihrem Liebhaber verlassen wurde und ihren Mann nicht zurück haben will, entdeckt, das Glück anderer Menschen nicht ertragend, an ungewöhnlicher Stelle einen Schuh… - Erst mit der Zeit erkennt man, dass der Toten im Gestrüpp eine ganz unerwartete Funktion zukommen könnte: Sie ist vielleicht das Opfer, das die Figuren benötigten, um wenigstens für eine gewisse Zeit ihrem Beziehungsgestrüpp zu entkommen und zu dem zu finden, was ihnen entgangen war oder von ihnen verdrängt wurde. Am Ende sieht man eine Jane O’May, die sich ihre Einsamkeit durch konsequent falsches Handeln unbewusst erstritten hatte, sich ganz alleine dem Salsa hingeben, während ein anderes Paar seine Probleme überwunden hat und eng umschlungen tanzt. Ein Schwuler beobachtet im Regen seinen kurzfristigen Liebhaber, der zu seiner Frau zurückgekehrt ist, während sich ein anderer Mann endlich der stillen Trauer um sein verlorenes Kind hingeben darf, die er vor seiner Frau verheimlichte.


Einzelne geradezu erlösend wirkende Szenen deuten an, was eigentlich im Zentrum steht: die Unfähigkeit der von Anthony LaPaglia, Geoffrey Rush, Barbara Hershey und  anderen hervorragend verkörperten Charaktere,  Gefühle einander mitzuteilen und sie offen auszuleben: Ein Mann, der beim Joggen mit dem Polizisten Leon zusammenstösst, sich plötzlich an ihn klammert und hemmungslos zu weinen beginnt, ein verstörter Mann, der von der sich befreiend ihrer Hysterie ergebenden Valerie nachts auf der bevölkerten Strasse angeschrien wird, weil er sie angesprochen haben soll. – Versuche, den Ensemblefilm mit „Short Cuts“ oder dem Krötending zu vergleichen, sind nicht berechtigt: Das Hauptthema und die sich daraus ergebenden Beziehungsprobleme halten die  Geschichte enger zusammen als die lockeren, verschiedenen Erzählungen von Raymond Carver entnommenen Episoden in Altman’s Meisterwerk. Und das unaufgeregte Fortschreiten mit scheinbar  dem echten Leben entnommenen Figuren zeigt, wie wenig sich „Lantana“  der Küche Hollywood mit ihrem gelegentlich unerträglichen Pathos anpasst. Hier wird in einer eigenen Liga gespielt, die derjenige für entdeckenswert halten wird, der seine Erwartungen ablegt und sich – Missverständnisse überwindend - dem Salsa hingibt.

Donnerstag, 15. November 2012

Fūkeiron - Landschaft mit Serienmörder

A.K.A. SERIAL KILLER (RYAKUSHŌ RENZOKU SHASATSUMA)
Japan 1969/75
Regie: Masao Adachi


Um es vorwegzunehmen: A.K.A. SERIAL KILLER hat mit dem Genre des Serienkillerfilms nichts zu tun, obwohl die reale Geschichte eines vierfachen Mörders nacherzählt wird. Der Film wird gelegentlich als Dokumentation bezeichnet, aber das trifft es auch nicht ganz. Es gibt keine Aufnahmen des Mörders aus Fernseh- oder Wochenschauberichten zu sehen, keine aktuellen Aufnahmen der unmittelbaren Tatorte, keine Interviews mit Zeugen, Polizisten, Anwälten oder Angehörigen der Opfer. Was es zu sehen gibt, sind Bilder der Orte, in denen der Mörder im Lauf seines Lebens gelebt hat, und von denen er - nach Ansicht Adachis und seiner Mitstreiter - geprägt wurde. Ich würde A.K.A. SERIAL KILLER am ehesten als Essayfilm bezeichnen. Tatsächlich hat er mich etwas an SANS SOLEIL von Chris Marker erinnert, der als der Essayfilm schlechthin gilt und zu einem großen Teil in Japan gedreht wurde. Sein (nicht unberechtigtes) Image als Vertreter des unabhängigen japanischen Sexfilms (pink film, japan. pinku eiga) hat Adachi mit diesem Film unterlaufen, und sein (erst recht berechtigtes) Image als politischer Radikalinsky scheinbar auch - aber nur scheinbar.


Der Film beginnt mit einer Texttafel: "Im Herbst letzten Jahres gab es vier Mordfälle, die in vier Städten mit derselben Schusswaffe begangen wurden. Diesen Frühling wurde ein 19-jähriger Mann verhaftet. Er wurde als der "Schusswaffen-Serienmörder" bekannt". Der Name des Täters wird weder hier noch später im Film genannt, aber das war auch nicht notwendig, weil damals in Japan auch so jeder wusste, wer gemeint war. Zwischen dem 11. Oktober und dem 5. November 1968 erschoss der 19-jährige Norio Nagayama bei vier Überfällen jeweils einen Mann. In einem Land mit einer so geringen Verbrechensquote wie damals in Japan war das ein ungemein spektakulärer Vorgang. Bei einem erneuten versuchten Überfall im April 1969 wurde Nagayama festgenommen. Er wurde zum Tod verurteilt, und nach langwierigen Gerichtsverhandlungen wurde das Todesurteil 1990 endgültig bestätigt. Nagayama, der im Gefängnis ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war, wurde 1997, fast 29 Jahre nach seinen Taten, gehängt, auf die in Japan übliche Art: Der Delinquent erfährt erst am Tag der Hinrichtung von seinem unmittelbar bevorstehenden Ableben, Angehörige und Anwälte erfahren erst hinterher davon, und die Öffentlichkeit wird von den Behörden überhaupt nicht informiert.


Doch das lag 1969 noch in weiter Zukunft. Nach der Texttafel wird die Geschichte Nagayamas bis zu seiner Verhaftung von einem Sprecher verlesen: Adachi selbst, der mit sachlicher Stimme, ohne Anteilnahme oder Sensationalismus, in kleinen Texthäppchen die wichtigsten äußeren Stationen von Nagayamas Biographie vorträgt: Ort und Jahr der Geburt, Zahl der Geschwister, wann die Familie von dieser in jene Stadt umzog. Dialoge oder sonstigen gesprochenen Text außer diesen kurzen Statements gibt es nicht. Schon als Grundschüler reisst Nagayama zum ersten Mal aus, wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Über die Gründe dafür, allgemein über Nagayamas Innenleben, erzählt der Text nichts. Mehrere Anläufe Nagayamas, eine höhere Schule zu besuchen, bricht er schnell wieder ab, und in den Gelegenheitsjobs, die er dazwischen ausübt, hält er es auch nicht lange aus. Er wohnt in irgendwelchen provisorischen Unterkünften, und es gibt weitere Ausreissversuche, sogar als blinder Passagier auf einem Schiff, aber alle scheitern. Er wird mehrfach durch kleine Diebstähle auffällig, aber immer glimpflich oder gar nicht bestraft. Meist hilft ihm einer seiner Brüder aus der Patsche. Als er nichts besseres mehr mit sich anzufangen weiß, meldet er sich freiwillig zur Armee, aber er wird abgewiesen. Anfang Oktober 1968 stiehlt er in einer amerikanischen Militärbasis den kleinkalibrigen Revolver, mit dem er kurz darauf mit den Überfällen beginnt.


Dazu gibt es, wie gesagt, dokumentarische Bilder von den jeweiligen Orten: Angefangen mit der Kleinstadt in Hokkaido, in der Nagayama geboren wurde, über seine verschiedenen Stationen bis Harajuku in Tokyo. Es gibt Straßen und Gebäude zu sehen, öffentliche Verkehrsmittel, Passanten, Menschen bei der Arbeit, zwischen den meist urbanen Schauplätzen gelegentlich auch ländliche Gegenden. Statische Aufnahmen, Zooms, lange Schwenks, Aufnahmen aus dem fahrenden Auto heraus. Wer mag, kann die Stationen hier nachvollziehen. Adachi und sein Team brauchten vier Monate, um sie abzuklappern. Die wichtigste Erkenntnis, die sie dabei für sich selbst gewannen, war der Eindruck einer weit fortgeschrittenen Homogenisierung, einer Uniformisierung der Landschaften: Überall im japanischen Archipel sah es im Grunde gleich aus. Das unterschied ihre Reise von derjenigen Nagayamas - dessen "Reise" hatte ja 19 Jahre gedauert.


Der gesprochene Text nimmt zusammengenommen nur einen sehr kleinen Teil der Laufzeit des Films ein. Dazwischen gibt es lange bis sehr lange wortlose Passagen, in denen neben den Bildern auch der free-jazzige Soundtrack dominiert, der Schlagzeug und traditionelle japanische Schlaginstrumente mit Saxophon vereint. Neben ruhigen Passagen gibt es dabei immer wieder schrille Misstöne und jähe Crescendi, die die Bilder wirkungsvoll akzentuieren. Eingespielt wurde der Score vom Schlagzeuger Masahiko Togashi und dem Saxophonisten Mototeru Takagi, und der Musikkritiker Hisato Aikura war auch irgendwie an der Entstehung beteiligt.


Nach einer guten Dreiviertelstunde, etwas mehr als Halbzeit des Films, sagt der Sprecher folgendes: "Der erste Zwischenfall ereignete sich am 11. Oktober beim Tokyo Prince Hotel, der zweite am 14. Oktober beim Yasaka-Schrein in Kyoto, der dritte am 26. Oktober auf einer Straße in einer Vorstadt von Hakodate in Hokkaido, und der vierte am 5. November auf einer Straße in Nagoya." Die "Zwischenfälle" sind die Überfälle mit den Morden, und mehr als das erfährt man über die Tathergänge nicht. Nach diesem Angelpunkt des Films folgt die mit 24 Minuten bei weitem längste wortlose Passage. Danach gibt es nur noch zwei Texthäppchen: Nach den Morden vergräbt der Täter die Waffe in einem Versteck, und nach einigen Monaten gräbt er sie wieder aus, um den Überfall zu begehen, bei dem er dann geschnappt wird. Am Ende des Films schließt sich der Kreis: Es wird nochmal dieselbe Texttafel wie am Anfang eingeblendet.


Was will uns Adachi mit diesem Film sagen? Will er überhaupt etwas sagen? Ja, er will. Adachi, dessen Anfänge um 1960 im studentischen Experimentalfilm lagen, verfolgte schon damals Ansätze zum Kollektivfilm, in dem der einzelne Autor (oder auteur) in den Hintergrund tritt. 1969 nahm er diese Tendenzen wieder auf, wohl inspiriert von der Groupe Dziga Vertov, die Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin und andere 1968 aus der Taufe hoben. Adachi, der Drehbuchautor Mamoru Sasaki, der Filmkritiker Masao Matsuda und einige weitere Gleichgesinnte gründeten die Gruppe "Kritische Front" (Hihyō Sensen) und entwarfen gemeinsam eine "Theorie der Landschaft" (fūkeiron). Unter "Landschaft" verstanden sie nicht nur natürliche Landschaften, sondern auch und vor allem die vom Menschen geschaffenen Kultur- und Stadtlandschaften, die, so die Theorie, die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegeln, und die einen bestimmenden Einfluss auf die darin lebenden Menschen ausüben. Gesellschaftskritische Filme sollten sich nun nicht mehr mit "Situationen", sondern mit diesen "Landschaften" auseinandersetzen. A.K.A. SERIAL KILLER war der erste und prototypische Film, der die Prinzipien von fūkeiron in die Tat umsetzen sollte. In einer Filmzeitschrift, die die Gruppe 1970 gründete, wurden fūkeiron und andere Aspekte linken Filmschaffens weiter diskutiert. Der kürzlich verstorbene Kōji Wakamatsu, mit dem Adachi jahrelang eng zusammenarbeitete, gehörte zwar nicht zu Hihyō Sensen, aber zumindest sein RUNNING IN MADNESS, DYING IN LOVE von 1969, zu dem Adachi das Drehbuch schrieb, ist auch von fūkeiron geprägt. Ungefähr zur selben Zeit entwickelte auch Nagisa Ōshima (mit dem Adachi ebenfalls zusammengearbeitet hat) ähnliche Ideen, die einige seiner Filme beeinflussten, v.a. BOY (1969).


Ich muss gestehen, dass mir Adachis Absichten beim ersten Sehen von A.K.A. SERIAL KILLER weitgehend verborgen blieben. Da ich seine radikalen politischen Ansichten schon länger kannte, erwartete ich etwas in der Richtung "der Mörder wurde erst vom Staat oder der Gesellschaft dazu gemacht" - allein, ich konnte es aus dem Film nicht herauslesen. Allenfalls Bilder von Militär und martialisch auftretender Polizei gegen Ende des Films schienen Gesellschaftskritik zu transportieren. Der gesprochene Text vermeidet jede Schuldzuweisung oder Erklärung für Nagayamas Taten, und die Gesamtheit der Bilder, unterstützt vom Soundtrack, wirkte auf mich wie ein Filmgedicht oder eine filmische Meditation über die japanische Gegenwart von 1969, ohne klare politische Stoßrichtung. Das wurde dadurch befördert, dass ein Teil der Bilder trotz ihres dokumentarischen Charakters von erlesener Schönheit ist - da war ein Könner an der Kamera am Werk. (Kameramann Yutaka Yamasaki gibt mir übrigens Rätsel auf. Laut IMDb war A.K.A. SERIAL KILLER sein erster Film, und sein zweiter war AFTER LIFE (1998) von Hirokazu Koreeda, für den Yamasaki seitdem noch mehrmals arbeitete. Was hat Yamasaki in den 29 Jahren zwischen seinem ersten und zweiten Film gemacht? Ich weiß es nicht.) Trotz oder vielleicht auch wegen seiner Uneindeutigkeit hat mich A.K.A. SERIAL KILLER schon bei der ersten Sichtung fasziniert. Nachdem ich nachgelesen habe, was es mit fūkeiron auf sich hat, und ihn dann nochmals ansah, hat sich die Faszination durchaus gehalten, wenn nicht sogar noch gesteigert. Aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, wurde A.K.A. SERIAL KILLER nach seiner Fertigstellung zunächst nicht veröffentlicht, sondern er kam erst 1975 heraus. Mich würde interessieren, inwieweit das damalige japanische Publikum Adachis Absichten verstand, ohne vorher in Interviews oder Manifesten davon gelesen zu haben, aber leider weiß ich nichts darüber.


Nachdem im Juli 1973 Terroristen der "Japanischen Roten Armee" (Nihon Sekigun oder JRA für Japanese Red Army) ein japanisches Flugzeug über den Niederlanden entführt hatten, trat Adachi als Sprecher dieser Gruppierung in Erscheinung. Die JRA war u.a. für das Gemetzel im Flughafen von Tel Aviv im Jahr 1972 (26 Tote und Dutzende Verletzte) verantwortlich. 1974 tauchte Adachi im Libanon unter, um sich endgültig der JRA anzuschließen. Erste Kontakte zu der Gruppe hatte er schon 1971 geknüpft. Adachi und Kōji Wakamatsu legten auf der Rückreise von Cannes einen Zwischenstopp in Beirut ein und drehten dort (wiederum mit fūkeiron im Hinterkopf) die Propaganda-Doku SEKIGUN - PFLP: SEKAI SENSŌ SENGEN (RED ARMY - PFLP: DECLARATION OF WORLD WAR) über die JRA, die sich gerade erst im Libanon etabliert hatte, und ihre Gastgeber von der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP). Adachis Leben im Untergrund dauerte bis 1997. Dann wurden er, die JRA-Gründerin und -Führerin Fusako Shigenobu und drei weitere Mitglieder im Libanon verhaftet und zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Passfälschung verurteilt. Im Jahr 2000 wurden dann vier der fünf, darunter Adachi und Shigenobu, nach Japan ausgeliefert. Weil man ihm keine direkte Beteiligung an Anschlägen nachweisen konnte, wurde Adachi in Japan wiederum wegen Passfälschung zu einer weiteren kurzen Haftstrafe verurteilt, und seit September 2001 ist er frei (Shigenobu wurde dagegen zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt). Was genau Adachi in den 23 Jahren im Untergrund gemacht hat, ist noch ziemlich im Dunkeln. In den Interviews, die er seit 2001 gegeben hat, wird das Thema weitgehend umschifft (zumindest in denen, die ich gelesen habe). Man könnte fast den Eindruck gewinnen, er sei nur auf einem sehr langen Abenteuerurlaub gewesen. Die Journalistin Regine Igel schreibt aber in einem Artikel in Telepolis, dass sich anhand von Stasi-Dokumenten nachweisen lasse, dass Adachi sich als Strippenzieher der JRA im Hintergrund betätigte. Mindestens seit 1987 und wahrscheinlich schon vorher waren Adachi und Shigenobu auch als Agenten der Stasi registriert, so Igel in ihrem Artikel. Was immer Adachi da nun tatsächlich getrieben hat - er ist und bleibt eine schillernde Figur.


Mehr über Masao Adachi gibt es hier auf Deutsch und hier auf Englisch. 2011 drehte der Künstler Eric Baudelaire als Teil einer Ausstellung, die in Frankreich, Spanien und England gezeigt wurde, den Dokumentarfilm L'ANABASE DE MAY ET FUSAKO SHIGENOBU, MASAO ADACHI ET 27 ANNÉES SANS IMAGES (Mei oder May Shigenobu ist die Tochter von Fusako), und zwar interessanterweise nach den Prinzipien von fūkeiron. Der Miterfinder der "Theorie der Landschaft" wird also selbst zum Untersuchungsobjekt seiner Theorie. Ob man daraus wirklich etwas Konkretes über Adachis Aktivitäten erfährt, weiß ich aber nicht. - 1970 drehte Kaneto Shindō den Spielfilm HEUTE LEBEN, MORGEN STERBEN (HADAKA NO JŪKYŪ-SAI), der eng an die Geschichte von Norio Nagayama angelehnt ist.

Sonntag, 11. November 2012

Randnotizen zu Zwillingsschwestern und Olivia de Havilland

Wie ich schon angekündigt habe, gibt es noch zwei Besprechungen von Bruno, die wir euch nicht vorenthalten wollen. Diese hier ist die erste, die zweite folgt dann nach meinem nächsten Text in ungefähr zehn Tagen.

Manfred




Der schwarze Spiegel
(The Dark Mirror, USA 1946)

Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Olivia de Havilland, Lew Ayres, Thomas Mitchell, Richard Long, Charles Evans, Lela Bliss u.a.

Wen hätte es erstaunt, wenn Olivia de Havilland nach ihrer für einen Oscar nominierten Melanie Hamilton in “Gone With the Wind” (1939) nur noch als sich aufopfernde Frau mit engelhaftem Gesicht zu sehen gewesen wäre? - Tatsächlich sollte ihre Karriere jedoch einen anderen Verlauf nehmen, was nicht zuletzt mit einem Prozess zusammenhing, den sie gegen Warner Brothers führte und im Gegensatz zu ihrer Freundin Bette Davis, die in den 30ern etwas Ähnliches versucht hatte, auch gewann. Dieser Prozess ging zwar mit einer dreijährigen Zwangspause einher , ermöglichte der Schauspielerin, von der man behauptet, sie sei privat alles andere als “engelhaft” gewesen (sie soll mit ihrer Schwester Joan Fontaine zeit ihres Lebens kein Wort mehr gewechselt haben, weil diese vor ihr einen Oscar erhielt), aber anschliessend ein wesentlich vielfältigeres Rollenspektrum.

Olivia de Havilland ging schon früh einen jener berüchtigten Siebenjahresverträge mit Warner ein und wurde in der Folge mit Vorliebe als Partnerin von Errol Flynn besetzt, der dafür bekannt war, dass er sämtliche gut aussehenden Frauen und Männer, mit denen er spielte, ins Bett zu kriegen versuchte, während ausgerechnet die Schauspielerin, in die er sich hoffnungslos verliebte, nicht an ihm interessiert war. - Es kam zu einem ersten Konflikt mit ihrem Studio, als man sie für “Gone With the Wind” nicht an Selznick ausleihen wollte. Anfangs der 40er Jahre wurde de Havilland von Warner suspendiert, weil sie sich weigerte, eine Rolle anzunehmen. Gleichzeitig entliess man sie nicht aus ihrem mittlerweile abgelaufenen Vertrag. Gegen diese Allmacht der Studios zog die Schauspielerin bis vor den Obersten Gerichtshof der USA. Ihr Sieg läutete den Beginn einer neuen Ära ein.

Nach ihrer Rückkehr ins Filmgeschäft war de Havilland zwar weiterhin auch in Melodramen zu sehen (ihren ersten Oscar erhielt sie für die Mitchell Leisen-Schnulze “To Each His Own”, 1946); aus heutiger Sicht interessanter dürfte jedoch ihre Entscheidung sein, vor allem auch zwielichtige, zwiespältige, ja in sich gebrochene Charaktere zu spielen - denn solche Rollen ermöglichten es ihr, in der zweiten Hälfte der 40er Jahre Gestalten auf die Leinwand zu bringen, wie man sie bis anhin nicht gesehen hatte. Dass solche Rollen überhaupt in den Bereich des Möglichen gerieten, hatte mit dem aufflammenden Interesse Hollywoods am Psychoanalytischen zu tun, das dank über 400 aus Europa emigrierter Psychiater und Psychoanalytiker dabei war, die USA zu erobern. Und es waren, was wohl nicht erstaunlich ist, vor allem ursprünglich aus Europa stammende Regisseure, die das Interesse mit zum Teil kleinen Meisterwerken zu bedienen wussten. --- Hier soll an einen Film erinnert werden, mit dem Olivia de Havilland nach ihrem Comeback das Publikum überraschte: "The Dark Mirror".


Es war nicht zuletzt der amerikanischen Kriminalfilm, der sich psychoanalytischer Elemente begeistert annahm und dem von John Huston und Billy Wilder (“Double Indemnity”, 1944) geprägten Modell (desillusionierter Mann erliegt einer “femme fatale”) ein zweites entgegenstellte, das sich ebenfalls einiger Stilelemente des "Film noir" bediente und in dem ursprünglich psychologische Elemente von Drehbuchautoren oft derart popularisiert wurden, dass sie kaum mehr etwas mit der eigentlichen Wissenschaft zu tun hatten (Hitchcocks “Spellbound”, 1945, Langs “Secret Beyond the Door”, 1947, Ophüls’ “The Reckless Moment”, 1949). - Robert Siodmak, ein Regisseur, dem ein typisch deutsches Emigranten-Schicksal beschieden war (er hatte 1929 in Deutschland als Co-Regisseur mit dem Meisterwerk “Menschen am Sonntag” begonnen und endete auch in Deutschland mit Karl May-Filmen!), drehte im Exil in Hollywood einige Klassiker des psychologisch angehauchten Krimis, darunter einen der grossen Nägelkauer der Filmgeschichte, “The Spiral Staircase” (1945). - “The Dark Mirror” zeigt schon zu Beginn, dass er diesem Subgenre zuzuordnen ist, machen doch bereits hinter dem Vorspann die berühmten Rorschach-Tintenkleckse auf sich aufmerksam. Ein Arzt wird in seiner Wohnung ermordet aufgefunden, und der Fall scheint für Lieutenant Stevenson auf den ersten Blick so gut wie gelöst zu sein: Mehrere Zeugen sagen aus, der Ermordete habe mit Terry Collins ein Verhältnis gehabt, und diese sei nach der Tat beim Verlassen der Wohnung beobachtet worden. Plötzlich tauchen aber auch Zeugen (darunter ein Polizist) auf, die Terry zur Tatzeit in einem weit entfernten Park gesehen haben. Die junge Frau scheint also ein perfektes Alibi zu haben. Der verzweifelte Lieutenant begibt sich noch einmal in die Wohnung der ursprünglich Verdächtigten - und es erwartet ihn eine Überraschung: Terry hat eine (identische) Zwillingsschwester namens Ruth! Von nun an zeigen sich die beiden Frauen (beide gespielt von Olivia de Havilland) wenig kooperativ, was den Polizisten dazu veranlasst, die Hilfe des Psychologen Dr. Scott Elliott in Anspruch zu nehmen. Dieser soll es mithilfe “psychologischer” Ermittlungsverfahren ermöglichen, zwischen einer “guten” und einer “bösen” Zwillingsschwester zu unterscheiden.

Der Film musste mit einem kleinen Budget gedreht werden, was man ihm an vielen Details anmerkt: Lew Ayres, der nach seiner Hauptrolle in Lewis Milestone's "All Quiet On the Western Front" (1930) vor allem mit seinen Dr. Kildare-Filmen eine gewisse “Berühmtheit” erlangt hatte, wirkt als sich langsam in die unschuldige Schwester verliebender - langweiliger - Psychiater so deplaziert wie manche andere Darsteller, die man wohl verzweifelt akzeptieren musste; das Drehbuch, dessen Pseudo-Anleihen bei der Psychoanalyse gelegentlich zum Lachen reizen und Mark Rutland's nächtliche Analyse seiner Frau in Hitch’s “Marnie (1964) direkt professionell erscheinen lassen, strotzt vor Ungereimtheiten (der “Kenner” der Materie negiert die Möglichkeit, dass Zwillinge die gute und die böse Seite im Menschen repräsentieren können, was aber genau der Clou dieser Neuauflage von “Dr. Jekyll and Mr. Hyde” mit weiblicher Besetzung ist, der man allerdings zugute halten muss, dass sie nicht darauf aus ist, einem klassischen “Whodunit” Konkurrenz zu machen). Auch die Musik von Dimitri Tiomkin übertreibt es in gewissen Szenen (beim Test mit dem Lügendetektor wird jeder Ausschlag mit der Nadel musikalisch derart hysterisch unterstützt, dass der Eindruck entsteht, man eile dem unausweichlichen Höhepunkt, einer Katastrophe entgegen). Sogar Siodmak scheint sich einige Nachlässigkeiten zu erlauben: Warum etwa muss er die beiden Schwestern durch Halsketten und Broschen mit Namen voneinander unterscheiden, wo Olivia de Havilland’s Gestik und Mimik doch bereits mehr als deutlich verraten, mit wem wir es gerade zu tun haben (die unschuldige Schwester tritt stets freundlich, aber mit gesenktem Blick und unruhig gefalteten Händen, die schuldige selbstbewusst, sich ihrer zu sicher, auf). Ein typisches B-Movie eben! Oder doch nicht so ganz?

“The Dark Mirror” beeindruckte mich als kleinen Knirps, der sich in den 60ern auch Krimis erlaubte, zutiefst. Eine kürzlich erfolgte Neusichtung  liess mich ihn vor allem als Kind seiner Zeit verstehen und früher nicht bemerkte Details schätzen: Ich denke etwa an die in vielen Szenen unauffällig platzierten Spiegel und das raffiniert eingesetzte Schüfftan-Verfahren, mit dessen Hilfe eine hervorragend spielende Olivia de Havilland als Zwillingsschwestern Terry und Ruth im gleichen Bild gezeigt werden konnte. Und noch immer weist die beängstigende Entwicklung zwischen den Schwestern (die Mörderin versucht ihre zunehmend besorgt reagierende Schwester in den Wahnsinn zu treiben, indem sie ihr einredet, sie leide unter Halluzinationen) auf die dunkle Seite der menschlichen Psyche hin, lässt uns an Freuds “Das Unheimliche” denken. Als dann gegen Schluss die eine (böse) Variante von de Havilland der Polizei einzureden versucht, ihre tot geglaubte Schwester habe den Mord begangen, blitzt der blanke Wahnsinn aus ihren Augen. Diese schauspielerische Meisterleistung (wer hätte sie von “Melanie Hamilton” je erwartet?) kann man nur bewundern. - Sie lässt das tatsächliche Zerbrechen eines Spiegels am Ende des Films wie eine Erlösung erscheinen.


Der zügig inszenierte Thriller erhielt immerhin eine Oscar-Nominierung für das Drehbuch, was zeigt, dass er dem entsprach, was die Zuschauer damals von einem psychologisch angehauchten Krimi erwarteten. Wenn man ihn kritisiert, dann muss man es auf hohem Niveau tun, ihn etwa mit den oben genannten Filmen von Hitchcock oder Lang vergleichen. Dass ein 1984 gedrehtes Remake mit Jane Seymour in der Hauptrolle in die Hosen (der Geschichte!) gehen musste, liegt auf der Hand.