Samstag, 16. Februar 2013

Der Turm der sieben Buckligen

LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS
Spanien 1944
Regie: Edgar Neville
Darsteller: Antonio Casal (Basilio Beltrán), Isabel de Pomés (Inés), Guillermo Marín (Dr. Sabatino), Félix de Pomés (Robinsón de Mantua)

Ein Geist tritt auf
Madrid im 19. Jahrhundert. Basilio Beltrán ist ein etwas leichtlebiger Student, er ist sehr abergläubisch, und er ist pleite. Als ein Abendessen mit einer flotten Varietésängerin winkt, wenn er denn zahlen kann, geht er ins Spielcasino, um seine letzten Peseten einzusetzen. Dort erscheint ein merkwürdig aussehender großer Mann mit Zylinder, Augenklappe, und, wie Basilio erst später bemerkt, einer klaffenden Wunde am Hals, die aber nicht blutet. Schnell erkennt Basilio, dass außer ihm niemand den Fremden wahrnehmen kann. Und merkwürdiger noch: Die unheimliche Erscheinung deutet mit seinem Spazierstock auf die Felder am Roulettetisch, die dann gewinnen, so dass Basilio ein hübsches Sümmchen einsackt, bis der Fremde ihm bedeutet, dass es genug ist. Draußen auf der dunklen Straße erwähnt der Mann nebenbei, dass die Wunde am Hals seinen Tod verursacht hat, und er stellt sich vor: Don Robinsón de Mantua, zu Lebzeiten Professor der Archäologie. Er führt Basilio zu seiner Adresse und deutet beim Abschied an, dass er eine Gegenleistung für die Hilfe beim Roulette erwartet.

Hilfestellung beim Roulette
Als Basilio am nächsten Tag das Haus aufsucht, erfährt er vom Hausmeisterpaar, dass der Professor schon vor einem Jahr Selbstmord begangen habe, aber er lernt seine hübsche Nichte Inés kennen, die mit einer Haushälterin in der früheren Wohnung des Professors wohnt (und die Varietésängerin ist sofort vergessen). Im Arbeitszimmer des Verstorbenen staunt Basilio, der selbst Archäologie studiert, über Fundstücke mit seltsamen kabbalistischen Zeichen, die etwas über einen "Turm der sieben Buckligen" aussagen, und Inés erzählt ihm, dass damals, als Robinsón de Mantua starb, dessen Freund und Kollege Zacarías spurlos verschwand. Vor Inés' Wohnung begegnet Basilio mehrfach einigen buckligen Herren, darunter dem etwas aufdringlichen Doktor Sabatino. Einige Tage später erscheint der Professor in Basilios Wohnung und eröffnet ihm, dass er in Wirklichkeit ermordet wurde und jetzt seine Hilfe benötige. Aber nicht, um sich zu rächen, sondern um Inés zu beschützen, die jetzt selbst in Gefahr sei. Nähere Instruktionen gibt er nicht - Basilio muss selbst wissen, was zu tun ist. Dann taucht auch noch der Geist von Napoleon auf, der glaubt, spiritistisch herbeigerufen worden zu sein. Nach etwas Smalltalk mit dem Professor - von Geist zu Geist - verabschiedet er sich wieder, weil er sich wohl in der Etage geirrt habe und in den ersten Stock müsse.

Basilio trifft zwei Bucklige
Der Professor behält Recht: Dr. Sabatino, der über hypnotische Kräfte verfügt, die über eine gewisse Entfernung hinweg wirken, entführt Inés direkt aus ihrer Wohnung heraus. Mit seinem Freund, Inspektor Martínez von der Kriminalpolizei, macht sich Basilio auf die Suche nach ihr, in privater Mission, denn für eine offizielle Ermittlung gibt es nicht genug Hinweise auf eine Entführung. Martínez ist eigentlich einer Geldfälscheraffäre auf der Spur, in die ein Buckliger verwickelt ist, und als die beiden nächtens einen Verdächtigen beschatten, finden sie über ein baufälliges altes Gebäude den Zugang zum Turm der sieben Buckligen, der nicht nach oben, sondern in den Untergrund von Madrid errichtet wurde. Martínez stürzt in einem Schacht zu Tode, aber Basilio gelangt heil nach unten. Dort findet er zunächst Zacarías, der ihm das Geheimnis des Turms verrät: Es handelt sich um eine unterirdische Stadt samt Synagoge, die spanische Juden vor Jahrhunderten errichteten, um Verfolgung und Ausweisung zu entgehen. Jetzt dient sie als Fälscherwerkstatt und Rückzugsort der Bande von Buckligen, die von Sabatino geführt wird. Zacarías und de Mantua waren bei Ausgrabungen auf den Turm gestoßen, und während ersterer seitdem gefangengehalten wurde, gelang letzterem die Flucht, aber er wurde von der Bande ermordet, bevor er reden konnte.

Ein unerwarteter Gast
Basilio trifft auch auf Inés, aber die steht immer noch unter Hypnose und verhält sich abweisend. Dann wird Basilio von Sabatino ertappt und bedroht, aber er kann ihn überrumpeln und in waghalsiger Flucht wieder nach oben gelangen, allerdings ohne Inés. Dr. Sabatino gibt die Anordnung, die Zugänge zum unterirdischen Turm durch Sprengungen zu versperren. Bei der Polizei will man Basilio nicht glauben, aber immerhin begleitet ihn eine Abordnung in Inés' Wohnung. Doch dort wird Inés unversehrt angetroffen. Sie kann sich an nichts erinnern und streitet Basilios Erzählungen ab, so dass der nur knapp einem Arrest wegen groben Unfugs entgeht. Nachdem die Polizei abgezogen ist, redet Basilio weiter auf Inés ein, so dass sich diese doch noch dunkel daran erinnert, dass die unterirdische Stadt nach einer Explosion in sich zusammengestürzt ist, was in einer kurzen und nicht sehr überzeugend gefilmten Rückblende gezeigt wird. Der Professor, der noch einmal erscheint, um sich von Basilio zu verabschieden, erwähnt nebenbei, dass Sabatino tot ist, dann fallen sich Basilio und Inés in die Arme, und der Film ist aus.

Dr. Sabatino stellt sich vor
LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS entstand nach einem in den 20er Jahren erschienenen Roman mit dem selben Titel, der offiziell von Emilio Carrere stammt, der aber in Teilen von Jesús de Aragón als Ghostwriter verfasst wurde. Es handelt sich um einen guten Film, aber kein Meisterwerk. Nichts gegen humoristische Einlagen, aber die Napoleon-Episode ist dann doch etwas zu kindisch. Der größte Schwachpunkt ist aber der Schluss. Der zu erwartende spektakuläre oder zumindest spannende Showdown fällt kurzerhand aus. Vielleicht fehlten Neville die finanziellen oder technischen Mittel, um die unterirdische Welt wirklich überzeugend einstürzen zu lassen, aber dann hätte er sich eben etwas anderes einfallen lassen sollen. Inés' blasse Erinnerung ist da jedenfalls keine gelungene Lösung. Und zumindest einen finalen Zweikampf zwischen Basilio und Sabatino hätte es geben können, aber auch der fällt aus, und der Professor muss Sabatino rein verbal von den Lebenden zu den Toten befördern. Damit in Zusammenhang steht eine weitere Schwäche: Neville holt zuwenig aus Sabatino heraus, der eigentlich die interessanteste Figur im Film ist. Es gibt Ansätze, ihn nicht nur als platten Schurken, sondern als einen vielschichtigen Charakter zu zeigen, aber es bleibt eben bei den Ansätzen, die nicht ausgeschöpft werden. Gegen Schluss wird klar, dass auch Sabatino in Inés verliebt ist. Nachdem Basilio fliehen konnte, wird Sabatino von den anderen Bandenmitgliedern aufgefordert, Inés als gefährliche Zeugin zu töten, doch er zögert. Es ist am Ende eigentlich klar, dass nur er Inés in ihre Wohnung zurückgebracht haben kann, doch das muss man sich als Zuschauer selbst zusammenreimen. Weder sein innerer Konflikt zwischen Neigung und Verbrecherpflicht noch der äußere Konflikt mit seinen Komplizen wird dann tatsächlich ausgespielt. Man kann auch nur raten, ob sich Sabatino am Ende bewusst in die Luft gesprengt hat oder ob beim Versuch, die Zugänge zu schließen, etwas schiefgegangen ist. Die Chance, Dr. Sabatino als eine faszinierende Figur mit tragischem Abgang zu präsentieren, wurde verschenkt.

Inés und Basilio
Kein Meisterwerk also, aber doch ein sehr ordentlicher und vor allem unterhaltsamer Film. Die Erzählhaltung würde ich als naiv bezeichnen, was nicht abwertend gemeint ist. Als filmisches Vorbild für Dr. Sabatino und seine Bande kam mir nicht Dr. Mabuse in den Sinn (der in einer spanischen TV-Doku über Neville in diesem Zusammenhang genannt wird), sondern eher Louis Feuillades Serials aus den 1910er Jahren wie FANTÔMAS und LES VAMPIRES. Die Schauspieler machen ihre Sache gut, ohne dass einer herausstechen würde. LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS punktet aber vor allem mit seinem fantasievollen Design und der guten Kameraarbeit, die gelegentlich Erinnerungen an den Expressionismus aufkommen lässt. Die unterirdische Welt mag vielleicht nicht besonders aufwändig gestaltet sein, aber durch die sparsame Beleuchtung ins Halbdunkel getaucht, fällt das nicht besonders auf. Eine wirklich unheimliche oder bedrohliche Atmosphäre entsteht allerdings nicht - neben Napoleon sorgen weitere Nebenfiguren regelmäßig für Auflockerung und eine insgesamt entspannte Grundstimmung.

Entführung per Fernhypnose
Das spanische Kino der 40er Jahre genießt einen schlechten Ruf, der wohl im Großen und Ganzen auch berechtigt ist. Im repressiven Klima nach dem Bürgerkrieg gediehen Anpassung, Mittelmaß und Belanglosigkeit. Ambitionierte Regisseure wie Juan Antonio Bardem oder Luis García Berlanga, die zumindest unterschwellig die herrschenden Verhältnisse in Frage stellten, traten erst in den 50er Jahren auf. Aber die eine oder andere Nische gab es doch, und natürlich gab es Regisseure, die ihr Handwerk verstanden, und Neville war einer von ihnen. Edgar Neville (1899-1967) war mütterlicherseits von aristokratischer Herkunft (sein Vater war ein englischer Ingenieur) und hieß vollständig Edgar Neville Romrée, IV Conde de Berlanga del Duero. In den 20er Jahren gehörte er zum erweiterten Dunstkreis einer Gruppe von Schriftstellern und weiteren Künstlern, die man Generación del 27 nannte. Nach seinem Jurastudium war er einige Zeit im diplomatischen Dienst in verschiedenen Ländern tätig, u.a. als Botschaftssekretär in Washington. Von dort zog es ihn in den frühen 30er Jahren nach Hollywood und endgültig zu den Künsten. Er war an der Herstellung spanischsprachiger Filmversionen bei MGM beteiligt, und er schloss Freundschaft mit Größen wie Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin (er spielte auch eine kleine Rolle in CITY LIGHTS). Dann ging er zurück nach Spanien, und seine Laufbahn als Regisseur begann. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs ging er kurz ins Ausland, aber er arrangierte sich schnell mit den Franquisten, kehrte zurück und drehte sogar einige Propagandafilme für das neue Regime. Die Gründe dafür werden in Spanien anscheinend kontrovers diskutiert (siehe dazu hier). Jedenfalls hatte er in seiner Laufbahn beim Film und als Roman- und Bühnenautor nie Schwierigkeiten mit dem Franco-Regime.

Expressive Kameraarbeit
Privat war Neville, seit Kindheit an Luxus gewöhnt, ein Bonvivant, dessen Vorliebe für gutes und reichliches Essen sich mit den Jahren in zunehmender Körperfülle niederschlug. Seine Freundschaften mit internationalen Kollegen pflegte Neville weiterhin (so hatte er 1959 einen Cameo-Auftritt in Michael Powells LUNA DE MIEL Korrektur: Er spielt in diesem Film gar nicht selbst mit, sondern wird von dem Produzenten Jaime Prades dargestellt). Nach seinem Tod geriet er in Spanien etwas in Vergessenheit, aber seit den 90er Jahren gab es ein Neville-Revival. 1991 entstand mit EL TIEMPO DE NEVILLE ein Dokumentarfilm über ihn, einige seiner Filme wurden erstmals im Fernsehen gezeigt, und als 1995 die erste Ausgabe der neuen Filmzeitschrift Nickel Odeon die besten spanischen Filme aller Zeiten kürte, landete LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS auf dem 10. Platz, zur Überraschung vieler, denen der Name Neville überhaupt nichts sagte.

Der unterirdische Turm
LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS ist in Spanien und Frankreich auf weitgehend identischen DVDs der Firma Versus Entertainment erschienen (franz. LA TOUR DES SEPT BOSSUS), mit span. und franz. Untertiteln. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Seiten zum Download, doch diese sind zur DVD-Version des Films nicht ganz synchron, so dass man mit einem Untertitel-Editor wie Subtitle Edit nacharbeiten muss.

Sonntag, 10. Februar 2013

Ein Blick in den Balkan: verbotene Kurzfilme der „schwarzen Welle“

In knapp zwei Monaten beginnt in Wiesbaden das 13. go East Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Es wird interessierten Cinephilen erneut die große Vielfalt des Kino-Schaffens von Warschau bis Belgrad, von Prag bis Moskau, von Priština bis Taškent aus vielen Jahrzehnten präsentieren. Letztes Jahr zeigte das Festival einige Leihgaben der slowenischen Kinemathek. In einer Nachmittags-Vorstellung wurden vier Kurzfilme des jugoslawischen Regisseurs Karpo Godina unter dem Motto „Poetisch-subversive Ironie“ in der Caligari FilmBühne projiziert.
Karpo Godina, 1943 im mazedonischen Skopje geboren, beteiligte sich Ende der 1960er Jahre als Kameramann und Cutter an Filmen der sogenannten „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ – gewissermaßen ein lokaler Ableger der nouvelle vague. Regisseure wie Želmir Žilnik und Dušan Makavejev bemühten sich darum, die ästhetischen und thematischen Grenzen des jugoslawischen Kinos auszuloten und zu erweitern, mussten aber oft mit Zensur kämpfen. Als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in Personalunion drehte Godina seit 1968 eigene Kurzfilme.




GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK (Gratiniertes Hirn von Pupilija Ferkeverk), 1970



Die sehr extreme formale Strenge Karpo Godinas wird bei GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK schnell deutlich: eine statische Kamera hält unentwegt das selbe Dekor fest, filmische Bewegung entsteht ausschließlich durch das Spiel der Darsteller sowie durch Bildmontage und musikalische Untermalung. Welch kreatives und auch humoristisches Resultat diese Selbstbeschränkung erzeugen kann, ist im Endresultat sehr deutlich!
Die Figuranten (von „Schauspiel“ oder „Darstellung“ im engeren Sinne kann hier eigentlich kaum die Rede sein) waren Mitglieder einer experimentellen Theatergruppe aus Ljubljana. Zusammen mit dem ein Jahr später gedrehten ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU wurde der Film bei den 17. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1971 gezeigt. In Jugoslawien selbst wurde er jedoch sogleich verboten, nicht zuletzt, weil der letzte Zwischentitel zum Konsum von LSD auffordert.



ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU (Die Litanei der heiteren Leute), 1971



Die autonome Region Vojvodina im Norden Serbiens beherbergt bis heute eine der ethnisch-sprachlich vielfältigsten Bevölkerung in Europa. Nebst einer relativen Mehrheit an Serben beherbergt dieses landwirtschaftlich fruchtbare Gebiet auch Magyaren, Slowaken, Kroaten, Roma, Rumänen, Montenegriner, Bunjewatzen, Russinen, Mazedonier, Ukrainer, Muslime, Deutsche, Albaner, Slowenen, Bulgaren und andere Nationalitäten. Wenngleich eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber Serbien unwahrscheinlich ist, so pflegt die Vojvodina durchaus eine gewisse Distanz und Autonomie zum Kerngebiet Serbiens: Novi Sad ist nicht Belgrad!
In ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU präsentiert Godina ein multiethnisches Dorf in dieser Region. Er lässt einige Bewohner frei über alles mögliche sprechen und sinnieren, und kommentiert die Bilder mit einem Lied, der das Brüderlichkeit-und-Einigkeit-Dogma von Titos Jugoslawien mittels Übertreibung auf den Korn nimmt – erneut beansprucht die Musikbegleitung eine so zentrale Rolle, dass man praktisch von einem Musik-Clip sprechen kann. Auch dieser Film wurde verboten, unter dem Vorwurf, das multinationale Zusammenleben in Jugoslawien zu verhöhnen.
Ein gewisses Maß an Frechheit und Respektlosigkeit verströmt der Film sicher, wenngleich nicht unbedingt gegenüber den dargestellten Menschen, sondern durch parodierende Übertreibung eher gegenüber politischen Dogmen, die gerade in Jugoslawien über populäre Musik transportiert wurden. Godina zeigt eben keine funktionale, multikulturelle, sozialistisch-entwickelte Gesellschaft, sondern eher eine in ethnische Clans zersplitterte dörfliche Gemeinschaft. Feindseligkeit zwischen den dargestellten Menschen ist nicht zu spüren – sie leben einfach nur separiert in unterschiedlichen Trachten gekleidet und in verschiedenartig bemalten (und stellenweise durchaus renovierungsbedürftigen) Häusern wohnend nebeneinander und in einer Welt, in der die Begriffe Sozialismus und Jugoslawien anscheinend keine überragende Rolle spielen.
Folgende Nationalitäten werden nacheinander präsentiert:
1 Russinen (bzw. Rusniaken, Ruthenen, Karpato-Ukrainer), deren Sprache von manchen Philologen als unabhängige ostslawische Sprache, von anderen wiederum als westlicher Dialekt des Ukrainischen bezeichnet wird. Der Geistliche bezeichnet sich selbst als „Ukrainer“. Die weltbekannteste Person russinischer Herkunft dürfte übrigens Andy Warhol sein.
2 Magyaren (Ungarn): nach den Serben die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der Vojvodina.
3 Kroaten bzw. eigentlich Bunjewatzen: kleine ethnische Minderheit katholischen Glaubens und mit einem eigenen Dialekt, die trotz beharrlicher ikavischer Aussprache im sozialistischen Jugoslawien den Kroaten zugerechnet wurde.
4 Slowaken
5 Rumänen
6 Roma: mehrere Kommilitonen und Spezialisten des Balkans meinten in Gesprächen mit mir, dass „cigany“ nicht nur eine Fremd-, sondern auch die Eigenbezeichnung südslawischer Roma ist, und per se keinen pejorativen Charakter hat wie „Zigeuner“ oder „tsigane“ in Westeuropa.



O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM (Von der Kunst der Liebe oder Ein Film in 14441 Bildern), 1972



Nach mehreren Verboten dürfte Godina 1972 eigentlich als „heißes Eisen“ gegolten haben. Deshalb erscheint es so skurril, dass er tatsächlich den Zuschlag zur Inszenierung eines Rekrutierungs-Werbefilms für die Jugoslawische Volksarmee erhielt! Das bedeutete, dass dem Regisseur Armee-Gelder und -Materialien sowie Hunderte von Soldaten zur Verfügung gestellt wurden. Was sich die größte Armee Jugoslawiens dabei dachte, erscheint angesichts dessen, wie O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM im Endeffekt aussah, als Rätsel. Soldaten werden scheinbar vollkommen sinnlos durch eine Gebirgslandschaft gehetzt, während dazu ein Sänger fröhlich von den Freuden des Sommers trällert und sich wundert, warum es so viele Männer, so viele Frauen, aber keine Kinder gäbe.
Das Resultat war als Werbefilm für die Volksarmee natürlich vollkommen ungeeignet, und der Regisseur wanderte aufgrund des Vorwurfs, Armee-Gelder, -Personal und -Eigentum missbraucht und zweckentfremdet zu haben, für einige Monate ins Gefängnis (Armee-Verantwortliche sollen sogar eine siebenjährige Haftstrafe gefordert haben).



NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Ich vermisse Sonja Henie), 1972

(Der zweite Teil des Films neigt zu leichter Bild-Ton-Asynchronität. Diese Fassung hier hat dieses Problem nicht, verfügt allerdings auch nicht über Untertitel)

Dieser Film wurde 1972 während des Belgrader Filmfestivals gedreht. Godina wirkte hier nicht so sehr als Regisseur im engeren Sinne, sondern eher als Konzeptgestalter. Er hatte mehrere Filmemacher, die das Festival besuchten, gefragt, ob sie mit jeweils einem Fragment an einem Kurzfilm teilnehmen würden: Tinto Brass, Puriša Đorđević, Miloš Forman, Buck Henry, Dušan Makavejev, Paul Morrissey, Frederick Wiseman. Mit von der Partie war auch der Filmkritiker Bogdan Tirnanić. Folgende Instruktionen erhielten sie von Godina: das Fragment sollte nicht länger als drei Minuten dauern, mit fixer Kamera in einem einzigen Raum gedreht werden und mindestens einer der Darsteller sollte an einer Stelle das Snoopy-Zitat „I miss Sonja Henie“ äußern.
Das Resultat ist ein Film, der größtenteils ziemlich dumm, ziemlich geschmacklos und ziemlich anstrengend ist – und wahlweise frivol oder obszön. Godinas gestalterische Kohärenz mit ihren musikalisch-poetischen rhythmischen Montagen fehlt, ohne, dass irgendetwas wirklich gewinnbringendes an die Stelle tritt. In seiner vollkommenen Absurdität ist NEDOSTAJE MI SONJA HENI trotzdem ganz witzig, zumal Miloš Forman in seinem eigenen Filmabschnitt als ganzkörper-bandagierter Patient mitwirkt. Letzteres hat die jugoslawischen Behörden natürlich nicht davon abgehalten, auch diesen Film zu verbieten.


Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

Montag, 28. Januar 2013

Ode an eine lächerliche Existenz: Von der Radikalisierung des „Melville-Touch“


LE DEUXIÈME SOUFFLE (DER ZWEITE ATEM)
Frankreich 1966
Regie: Jean-Pierre Melville
Darsteller: Lino Ventura (Gustave Minda, dit „Gu“), Paul Meurisse (Commissaire Blot), Christine Fabréga (Simone, dite „Manouche“), Michel Constantin (Alban), Marcel Bozuffi (Jo Ricci), Pierre Zimmer (Orloff), Raymond Pellegrin (Paul Ricci), Paul Frankeur (Inspecteur Fardiano)

„Bei seiner Geburt erhält der Mensch nur ein einziges Recht: die Wahl seines Todes. Wenn aber diese Wahl durch Ekel vor seinem Leben diktiert wird, so wird seine Existenz eine reine Lächerlichkeit gewesen sein...“

Drei Männer versuchen, aus einem Gefängnis auszubrechen. Einer von ihnen springt etwas zu weit, verfehlt das Seil und stürzt in die Tiefe. Die beiden anderen stellen emotionslos seinen Tod fest und fliehen durch den Wald. Sie springen in einen Güterzug und nach kurzer Zeit verabschiedet sich einer der Männer und geht seinen eigenen Weg. So beginnt LE DEUXIÈME SOUFFLE, der zu recht als transitorisches Werk der Stiländerung in Jean-Pierre Melvilles Schaffen gedeutet wird. Diese ersten fünf Minuten des Films konzentrieren (dialog- und musiklos) alle Themen, die das Spätwerk des französischen Regie-Exzentrikers prägen: Flucht, Ausbruch, Tod, die Unterdrückung von bzw. der Unwillen zu Emotionen, Einsamkeit, die Vergänglichkeit von Kameraderie und Loyalität, Verrat, und die Ambivalenz zwischen hyperrealistisch-naturalistischer und künstlich-stilisierter Welt (das Einsteigen in den fahrenden Güterwagon wird in „Echtzeit“ inklusive Anlaufnehmen, Stolpern, erneutes Anlaufnehmen, Raufklettern, Fast-Fallen, erneutes Raufklettern gefilmt, während der vorangegangene Ausbruch als Kletteraktion über eine eindeutig als artifiziell erkennbare Kulisse inszeniert wird).

Der Flüchtling, dem wir für den Rest des Films folgen, ist Gustave Minda, genannt „Gu“: ein Gangster, der gerade eine lebenslängliche Strafe wegen eines Raubüberfalls mit Mord absaß. Zuflucht findet er bei seiner Geliebten Manouche und bei seinem besten Kumpel, dem Scharfschützen Alban. Beide befinden sich gerade in einer Art Bandenkrieg mit dem Mobster und Nachtclub-Besitzer Jo Ricci. Dessen beiden Handlanger, die Manouche und Alban aus dem Weg räumen sollen, werden von Gu überwältigt und wenig später hingerichtet. Der flüchtige Gangster macht sich nach Wochen des Verstecks in den Süden auf, um seine Überfahrt nach Italien vorzubereiten, doch der Kommissar Blot, ein intimer Kenner des „Milieus“, ist ihm schon nahe an den Fersen. Um im Ausland untertauchen zu können, braucht Gu aber vorher Geld. Der Profi-Räuber Orloff bietet ihm die Teilnahme an einem Projekt Paul Riccis an (Jos Bruder): ein Raubüberfall auf einen Platin-Konvoi, bei dem die Tötung zweier Wächter schon fest eingeplant ist...

LE DEUXIÈME SOUFFLE basiert auf einem Roman des Schriftstellers und späteren Regisseurs José Giovanni, erschienen in der série-noire-Reihe des Verlags Gallimard. Hier wurden nicht nur Übersetzungen US-amerikanischer hard-boiled-Romane, sondern auch von ihnen inspirierte französische Werke publiziert. Überaus amerikanisch geprägt ist also der Stoff von LE DEUXIÈME SOUFFLE, was bei einem Film Jean-Pierre Melvilles ohnehin nicht wunderlich ist. Wie vier Jahre zuvor in LE DOULOS frönte der „American in Paris“ (Ginette Vincendeau) erneut hemmungslos seinem Trenchcoat-Fedora-Gangster-Cool-Fetischismus. Auch sonst enthält LE DEUXIÈME SOUFFLE viele Elemente des film noir, nicht zuletzt eine expressive Schwarzweiß-Fotografie – effizient lotete Melville deren Möglichkeiten aus, bevor er für seine letzten vier Filme definitiv auf Farbe umstieg (oder zumindest auf farbähnliche Monochromie).

Das noir-Feeling entsteht auch aus der fast unübersichtlichen Zahl an Figuren, die teilweise nur als namentliche Erwähnungen die Bühne betreten, oder die Allianzen wechseln, oder schnell eines gewaltsamen Todes sterben. Auch eine noir-typische moralisch-existentielle Unsicherheit zieht sich durch den ganzen Film. Als völlig bedeutungslos erscheinen die Grenzen zwischen Gangster und Polizisten: nur die Dienstmarke unterscheidet sie. Kommissar Blot kennt alle Leute des milieu ganz genau, wie intime Freunde. Er duzt die Gangster hinter den Kulissen, trinkt mit ihnen bedenkenlos Cognac, fragt nach Befinden von Frau und Kind, warnt vor rachesüchtigen Rivalen... Hinter dieser höflichen Freundlichkeit steckt auch eine Kaltblütigkeit, die jener der mordenden Gangster in nichts nachsteht. Als es Blot zusammen mit dem Marseiller Inspektor Fardiano gelingt, Gu und Paul Ricci zu verhaften, versuchen die Polizisten aus den Inhaftierten mittels Folter Geständnisse und die Nennung von Namen zu erpressen. Nebst dumpfen Prügeln wird auch eine primitive Form des waterboarding zumindest angedeutet (die explizitere, komplette Szene entfernte Melville auf Druck der Zensur). Einen monolithischen Block bildet die Polizei dennoch nicht: Die Missgunst und Verachtung, die zwischen dem Pariser Kommissar Blot und dem Inspektor Fardiano aus Marseilles in der Luft hängt, ist geradezu mit dem Messer zu schneiden. Ihre erbitterte Rivalität um Kompetenzen inklusive aller Schläge unter die Gürtellinie ist letztlich ein Spiegelbild der Streitigkeiten zwischen den Verbrechern. Den ungehemmten Polizei-Brutalitäten stehen Gus eiskalte Morde an meist unbewaffneten Personen gegenüber. Von beiden distanziert sich Melville explizit in einer einleitenden Texttafel.

"Der Autor [Majuskel!] dieses Films hat nicht die Absicht, die „Moral“ GUSTAVE MINDAs mit der Moral [Majuskel!] gleichsetzen. Er möchte betonen, dass die Umstände, die Situationen und die Figuren dieser Geschichte keinerlei reale Grundlage haben und dass, folglich, ein Urteil über die Ermittlungsmethoden anhand dieses Werks der Fantasie auf Grundlage eines Romans außer Frage steht."


Und trotzdem LE DEUXIÈME SOUFFLE genau wie LE DOULOS in der traditionellen Welt des film noir verwurzelt ist, hat er doch auch eine ganz andere Qualität. Wie erwähnt wird er als Übergangs-Werk Melvilles gekennzeichnet: als Verknüpfung zwischen den noch durchaus Genre-verhafteten frühen Filmen Melvilles und dessen puristisch-abstrakten Film-Meditationen über den Tod, die das Spätwerk prägen. Er enthält vielleicht als erstes Werk des Regisseurs ganz explizit das, was man mangels anderer Begriffe wohl als den „Melville-Touch“ bezeichnen könnte. Es handelt sich zunächst darum, dass Zeit und das Verstreichen von Zeit spürbar gemacht werden. Im klassischen cinematographischen Sinne uninteressante Handlungen werden in scheinbar langatmigen Bilderfolgen geradezu zelebriert, und zwar in „Echtzeit“. Das Fahren zum Ort des Überfalls, das Parken, und dann das Warten auf den Platin-Transporter nimmt fünf ganze Filmminuten in Anspruch: qualvolles Warten... auf die Schuhe starren... die Ameisen in der Nähe beobachten... die vor Nervosität schweißnassen Hände mit einem Taschentuch abwischen... das Rumsitzen... das Warten auf den Platin-Konvoi am Horizont... unterbrochen lediglich von einer fast halluzinierenden Kamerafahrt von Paul zu Gustave, die einem Treppengeländer folgt... Die Nachbereitung des relativ raschen Überfalls wird ebenso minutiös eingefangen.

Genauso penibel wird auch die Vorbereitung auf ein Gangster-Treffen in einer leeren Dachgeschoss-Wohnung inszeniert. Der erste Gangster sucht sie auf, betritt sie, untersucht diese, sucht nach dem besten Ort, um eine Pistole zu verstecken, die in einem kritischen Moment schnell und überraschend gezogen werden kann, probiert verschiedene Stellen aus, hinterlegt die Waffe und geht. Es folgt der Gangster der gegnerischen Seite, der ebenfalls die Wohnung gründlich untersucht, sogar die vier für die Sitzung vorgesehenen Sessel ausprobiert und schließlich die versteckte Pistole (offenbar wenig überrascht) findet, einsteckt und geht... Eine erstaunliche fünf-minütige Sequenz komplett ohne Dialog oder Musik, in der eigentlich „nichts“ passiert, und dennoch so viel „gesagt“ wird. In diesen Momenten verletzt Melville sämtliche Regeln des klassischen dramatischen Spannungsaufbaus, um durch den langsamen bzw. punktuell verlangsamten Filmrhythmus seine ganz eigene, persönliche Form der Spannung aufzubauen. Die Filmdauer von 144 Minuten entsteht keineswegs durch episches Erzählen, sondern durch solche voll ausgekosteten Zeit-Verlangsamungen.


Auch als „Gu“ von Paris nach Marseille mit Regionalbussen flieht, wird dies in einer rhythmischen Montage von Bildern dargestellt, die ihn beim Warten auf den Bus, beim Hetzen zu einem startenden Bus, beim Einsteigen und beim sitzenden Nachdenken, Lesen und Schlafen zeigen. Aufgrund der Zeitraffung, die hier faktisch stattfindet, ist das zwar ein Grenzfall im Bezug auf die eben gemachten Ausführungen. Nichtsdestotrotz hebt Melville hier eine banale Handlung (Reisen) auf sehr ungewöhnliche Art sehr bewusst hervor. In LE CERCLE ROUGE wird dies noch radikalisiert, wenn man Alain Delon dabei zusieht, wie er minutenlang „nur“ in seinem schicken amerikanischen Auto durch die Gegend fährt.

Dieses Spürbarmachen von Zeit ergänzt Melville mit einer zutiefst „asozialen“ Atmosphäre, im Sinne einer fast vollkommenen Abwesenheit von „Gesellschaft“. Ansätze davon waren bereits in früheren Filmen vorhanden, doch radikalisiert der Regisseur in LE DEUXIÈME SOUFFLE diese Tendenz zu einem integralen Bestandteil des „Melville-Touch“. Die Figuren handeln nicht aufgrund gesellschaftlicher Zwänge, die sie geformt haben, sondern in einem fast abstrakten Raum. Andere Menschen, etwa Passanten auf der Straße, wirken eher als Teil der Kulisse denn als soziale Einbettung der Handlung. Die „Parallel-Gesellschaft“ der abgebrühten Polizisten und Gangster, die Melville intensiv und dicht inszeniert, lebt im Grunde in einem „Parallel-Universum“. Es ist ein Leben in einem permanenten Ausnahmezustand, dem die Figuren nicht entkommen können (außer durch Tod). Sie können nicht in die „normale Welt“ entfliehen, weil es diese in den späten Melville-Filmen nicht gibt, und bewusst oder unterbewusst wissen sie das auch. Gu weiss dieses Faktum, als er dies seiner Geliebten Manouche bei einem Abendessen in der konspirativen Versteckwohnung beichtet: ein gemeinsames Leben kommt nicht in Frage, da es für ihn nur noch das Leben auf der Flucht gäbe. Melvilles Filmwelten sind also geschlossene Fantasiewelten, in denen normale gesellschaftliche und zivilisatorische Regeln, Wahrscheinlichkeit, Vernunft und Realismus wenig Geltung haben, dafür Pessimismus, Fatalismus und Desillusion umso schwerer wiegen. Diese hermetische Geschlossenheit der Atmosphäre führt zu einer erstickenden Klaustrophobie, die sich unabhängig vom Setting entwickelt. LE DEUXIÈME SOUFFLE spielt zwar folgerichtig größtenteils in beengten Wohnungen, Geheimunterkünften oder in den geschlossenen Räumen von Autos. Gerade deswegen ist es bezeichnend, dass die Raubüberall-Szene, die in einer luftigen und fast Western-artigen Gebirgspass-Landschaft spielt, keine Erleichterung bringt... weder für die Figuren, noch für den Zuschauer!


DVD
Jean-Pierre Melville wird in Deutschland ziemlich stiefmütterlich behandelt: Von den 13 seiner abendfüllenden Filme sind nur fünf auf DVD erhältlich (einer von ihnen in einer fürchterlichen Bildqualität und mit falschem Bildseitenformat). LE SAMOURAÏ, der immer wieder Melville-Top-Listen anführt und hierzulande nur stark geschnitten ausgestrahlt wird, gehört ebenso wenig dazu wie dazu wie LE DEUXIÈME SOUFFLE – der 1966 in einer um 33 Minuten (über ein Fünftel der Gesamtlänge!) gekürzten Fassung in die bundesdeutschen Kinos kam!
Daher sei hier für sehr gute Kenner der französischen Sprache die René-Chateau-Edition empfohlen: gute Bildqualität, Bonus-Material in Melville-typischer Art karg, keine Untertitel. Trotzdem Melville ein Regisseur ist, der den imdb-Tag „very little dialogue“ abonniert hat, ist LE DEUXIÈME SOUFFLE zwischendurch trotzdem recht gesprächig, so dass für Nichtkenner der französischen Sprache mit Untertitelbedarf die US-amerikanische Criterion-Edition wohl am geeignetsten ist.
Wer nach einer DVD von Melvilles LE DEUXIÈME SOUFFLE sucht, wird wahrscheinlich auch auf das Remake Alain Corneaus aus dem Jahre 2007 stoßen. Meine Grundskepsis nicht verbergend, kann ich mich über diese Version nicht qualifiziert äußern: trotzdem ist es traurig, dass wieder einmal die DVD-Ausgabe des Remakes einfacher und günstiger aufzutreiben ist, als jene des Originals.


Interview-Bonus
Hier an dieser Stelle sei auf einen zeitgenössischen Beitrag über LE DEUXIÈME SOUFFLE verwiesen, auf das ich gestoßen bin – hauptsächlich bestehend aus Interviews mit Jean-Pierre Melville und Lino Ventura. Der exzentrische Regisseur spricht hier in der Wohnung über seinem privaten Filmstudio (Studios Jenner), das ein Jahr später durch ein Feuer zerstört wurde. Man beachte, unabhängig von Französisch-Kenntnissen, seine theatralische Selbstdarstellung (mit Sonnenbrille, hier aber ohne Hut), seine klangvolle, tiefe Stimme und seine sehr ausgesuchte Wortwahl und Diktion!
Für Leser/Zuschauer mit Französisch-Defiziten fasse ich mal einige Leckerbissen kurz zusammen: Melville wurde des öfteren als „Vater der nouvelle vague“ bezeichnet. Das störte ihn nicht, bis er eines Tages in einem Magazin eine umfangreiche Liste mit Regisseuren und wichtigen Figuren der nouvelle vague entdeckte und erfuhr, dass er „182 uneheliche Kinder“ habe. Er wollte sie nicht alle adoptieren, und um keine Eifersüchteleien zu erzeugen, hat er entschieden, ihnen en bloc die Anerkennung zu verweigern. Von da an habe er sich sehr schnell alleine wiedergefunden – was er richtig gut mochte.
Melville erzählt auch, dass man ihm angeboten habe, WEEK-END À ZUYDCOOTE (Henry Verneuil, 1964) und LE JOURNAL D‘UNE FEMME DE CHAMBRE (Luis Buñuel, 1964) zu inszenieren, was er abgelehnt habe. Er begründet dies damit, dass er nur Filme dreht, für die er auch bereit ist, 70 Tage seines Lebens voll und ganz zu widmen.
Als die Kamera Bilder seiner seiner zwei, drei, vier (?) Katzen einfängt (die später wahrscheinlich einen Gastauftritt in LE CERCLE ROUGE hatten), sagt Melville vergnügt und stolz, dass er natürlich ein Misanthrop sei.
Das Interview mit Lino Ventura dreht sich vor allem um dessen Weigerung, sich selbst als Schauspieler zu bezeichnen. Der Italiener begründet dies mit seiner mangelnden Schauspieler-Ausbildung und damit, dass er gegebenenfalls unfähig wäre, eine Rolle zu spielen, auf die er keine Lust habe.
Gegen Ende des Beitrags erzählt Melville, dass er 1950 nach den vernichtenden Kritiken zu LES ENFANTS TERRIBLES entschieden habe, mit dem Kino aufzuhören. Fast bankrott ging er zusammen mit seiner Ehefrau zu einem Café an der Place des Ternes, um eine Cola (aufgrund pekuniärer Nöte wirklich nur ein Getränk für beide zusammen) zu trinken. Dort saßen Jacques Becker und Daniel Gélin, die gerade Melvilles Film im Kino zusammen geschaut hatten. Sie sprachen den Regisseur an und teilten ihm ihre schiere Begeisterung mit, woraufhin dieser seinen Entschluss revidierte... se non è vero, è ben trovato!


Freitag, 18. Januar 2013

TONI - Proto-Neorealismus und gedämpfte Tragödie

TONI
Frankreich 1934
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Charles Blavette (Toni), Celia Montalván (Josefa), Jenny Hélia (Marie), Max Dalban (Albert), Édouard Delmont (Fernand), Andrex (Gabi), Michel Kovachevitch (Sebastian)

Ankunft in Martigues
Wenn man nach stilistischen Vorläufern des Neorealismus sucht, dann wird man u.a. im Frankreich der 30er Jahre fündig. Schon 1929 drehte etwa Jean Epstein FINIS TERRAE, der unter den Bewohnern abgelegener bretonischer Inseln spielt und auch komplett dort mit einheimischen Laiendarstellern produziert wurde. Auch einige Filme von Marcel Pagnol wie JOFROI (1933) und ANGÈLE (1934) entstanden außerhalb des Studios in Dörfern der Provence, mit meist wenig bekannten Schauspielern, die durch Laiendarsteller verstärkt wurden. Und auch Renoirs TONI wird in diesem Zusammenhang öfters genannt - nicht nur wegen einer Personalie: Luchino Visconti war bei den Dreharbeiten Praktikant (bei PARTIE DE CAMPAGNE und LES BAS-FONDS war er dann einer der Regieassistenten, ebenso wie bei TOSCA, den Renoir 1940 in Angriff nahm, dann aber abgab, um in die USA zu emigrieren).

Herbergssuche
Über ein Eisenbahn-Viadukt fährt ein Zug in den Bahnhof von Martigues ein, eine Kleinstadt zwischen Marseilles und der Rhône-Mündung. Sie liegt am Étang de Berre, einer großen Salzwasser-Lagune, die über einen schmalen natürlichen Kanal mit dem Mittelmeer verbunden ist. Dem Zug entsteigt eine Schar von Südländern - Italiener, Spanier, Portugiesen -, die sich in Südfrankreich Arbeit und damit ein besseres Leben als in der Heimat erhoffen. Zwei Polizisten greifen einen heraus, kontrollieren seine Papiere, lassen ihn wieder gehen. Damit wurde wie zufällig der Held der Geschichte ausgewählt: Es ist der Italiener Antonio Canova, genannt Toni. Die Kamera folgt den Arbeitssuchenden auf ihrem Weg vom Bahnhof in die Stadt, hält dann inne, bis sie aus dem Bild sind, und schwenkt auf den Viadukt. Dann sehen wir wieder Toni, wie er in der Pension der Französin Marie ein Zimmer nimmt. Ein Zwischentitel - der einzige im Film - verkündet das Ende des Prologs, und die Handlung springt einige Monate in die Zukunft.

Fernand und Marie
Wie die anderen Bewohner von Maries Pension, darunter sein Freund Fernand, arbeitet Toni im Steinbruch von Martigues. Toni und Marie sind jetzt ein Paar, aber es kriselt bereits. Tonis Zuneigung zu Marie ist erkaltet, während sie ihn eifersüchtig liebt und ihn verdächtigt, anderen Frauen nachzustellen - nicht ganz ohne Grund. Denn er hat ein Auge auf die Spanierin Josefa geworfen, die bei ihrem Onkel Sebastian, einem Weinbauern, nicht weit von Maries Pension wohnt. Als er ihr eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit begegnet und mit ihr flirtet, gerät eine Wespe unter ihr Kleid und sticht sie in den Nacken. Toni zieht nicht nur den Stachel heraus, sondern saugt auch gleich das Gift heraus, was nahtlos in eine Umarmung übergeht. Solchermaßen ermutigt, macht sich Toni ernsthaft Hoffnungen, und er sondiert schon mal bei Sebastian, ob er Josefa heiraten kann. Doch es kommt anders, weil ihm Albert, der Vorarbeiter des Steinbruchs, dazwischenfunkt. Der arrogante, aber letztlich schwache und unsichere Nordfranzose Albert ist unter den Südfranzosen und den Immigranten ein Fremdkörper und Außenseiter. Als er Josefa am selben Tag ihrer Begegnung mit Toni nachstellt, schläft sie mit ihm, obwohl er ihr nur begrenzt sympathisch ist, und Toni, der sie überrascht, kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, Albert an Ort und Stelle umzubringen. Aber Albert schafft nun vollendete Tatsachen, indem er mit Sebastian seine Hochzeit mit Josefa arrangiert. Marie überredet den resignierten Toni, sie zu heiraten, und um Geld zu sparen, wird eine Doppelhochzeit ausgerichtet, die von einem Teil der Beteiligten bereits ziemlich freudlos absolviert wird.

Nachwirkungen eines Wespenstichs
Zwei Jahre später. Josefa und Albert haben ein Kind bekommen, aber sie streiten dauernd, und Albert geht fremd. Die Ehe von Toni und Marie ist ebenfalls nicht glücklich. Er kann Josefa nicht vergessen, und Marie spürt das. Sebastian ist inzwischen todkrank, und weil er Albert nicht mag und ihm nicht traut, macht er Toni zum Paten seines Enkels und nimmt ihm das Versprechen ab, auf Josefa aufzupassen, was Albert und Marie gleichermaßen aufbringt. Als Sebastian stirbt, will Marie Toni nicht zur Beerdigung gehen lassen, aus Angst, dass er wieder mit Josefa anbandelt. Weil er dennoch geht und es deshalb zu einem heftigen Streit kommt, droht Marie, sich umzubringen, was Toni ignoriert. Daraufhin rudert Marie auf den Étang de Berre hinaus, um sich zu ertränken. Als Toni gemeinsam mit Fernand dann doch nach ihr sucht, wird sie gerade von Fischern, die sie lebend aus dem Wasser zogen, ans Ufer gebracht, doch sie trennt sich jetzt an Ort und Stelle von Toni. Fernand, der schon lange in Marie verliebt ist, ohne etwas zu unternehmen, solange sie mit Toni zusammen war, kümmert sich jetzt um sie. Toni dagegen zieht in eine Hütte zu korsischen Köhlern auf einen Hügel, von dem aus er Sebastians Anwesen beobachten kann. Er hofft, Josefa von Albert loseisen und mit ihr irgendwohin verschwinden zu können.

Im Steinbruch
Albert hat unterdessen nach Sebastians Tod dessen kleines Weingut heruntergewirtschaftet, er ist so gut wie pleite und hat überall Schulden. Mit Josefas Cousin Gabi streitet er sich um dessen Anteil an Sebastians Erbe. Josefa hält es mit Albert nicht mehr aus, und sie plant mit Gabi, das restliche vorhandene Bargeld Albert im Schlaf abzunehmen und dann zusammen mit dem Kind zu verschwinden. Doch sie wird von Albert beim versuchten Diebstahl ertappt, und er verprügelt sie mit seinem Gürtel. Da erschießt sie Albert mit seinem Revolver, den er achtlos herumliegen ließ. Gabi hat inzwischen Toni in den Plan eingeweiht und ihm nebenbei eröffnet, dass er und Josefa nicht nur Cousin und Cousine, sondern seit zwei Jahren ein Liebespaar sind. Doch als Toni und Gabi bei Josefa und Alberts Leiche eintreffen, ist es mit Gabis Liebe schnell vorbei. Er nimmt nur das Geld an sich, von dem er glaubt, dass es ihm zusteht, und macht sich aus dem Staub. Er überlässt es Toni, Josefa mit der neuen Situation vertraut zu machen. Diese ist verzweifelt, weil sie Angst hat, ins Gefängnis zu kommen und von ihrem Kind getrennt zu werden, aber Toni macht den Vorschlag, die Leiche mitsamt dem Revolver im Wald zu deponieren, so dass es aussieht, als hätte sich Albert wegen seiner Schulden erschossen. Doch just, als Toni Alberts Körper ablädt, wird er von einem Gendarmen ertappt. Um Josefa zu schützen, nimmt Toni den Mord auf sich, dann überrumpelt er den Gendarmen und ergreift die Flucht. Als er den Viadukt überqueren will, wird er von einem dort aufgestellten Wachposten erschossen. Es ist ein sinnloser Tod - Josefa hat sich inzwischen gestellt und ein Geständnis abgelegt, damit Toni nicht wegen ihr ins Gefängnis muss. In dem Moment, als Toni stirbt, fährt direkt daneben wieder ein Zug nach Martigues ein, drei Jahre nach Tonis Ankunft. Wieder steigen Arbeitssuchende aus dem Süden aus, wieder folgt ihnen die Kamera, hält dann inne und schwenkt auf den Viadukt.

Albert macht sich an Josefa heran
Natürlich macht Renoir damit den zyklischen Charakter der Geschichte deutlich - Toni ist nur einer unter vielen, die Bedeutung seiner Geschichte relativiert sich durch den Lauf der Zeit (in THE RIVER wird Renoir 1951 diesen Gedanken aufgreifen und noch expliziter ausformulieren). Das ist nicht der einzige, sondern nur der letzte Kunstgriff, um der Geschichte eine gewisse Beiläufigkeit zu verleihen, um jede Melodramatik und Sentimentalität herauszunehmen. Es beginnt schon mit dem Innehalten der Kamera in der Anfangssequenz, als sich Renoir plötzlich mehr für die Landschaft als für die Protagonisten zu interessieren scheint. Immer wieder gibt es solche Schwenks weg von den Personen, oder sie werden so von der Kamera umkreist, dass sie zeitweise von Bäumen oder Büschen verdeckt werden, oder sie werden gleich in der Halbtotalen gezeigt, eingebettet in die provenzalische Landschaft. Deren Schönheiten - Felder im gleißenden Sonnenlicht, knorrige Wälder auf den Hügeln um Martigues - kommen dabei auch gelegentlich ins Bild, aber nicht, weil sie so schön, sondern weil sie eben da sind. Für die Protagonisten sind sie nicht wichtiger als etwa der Steinbruch, in dem sie einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Und es scheint auch nicht immer die Sonne, sondern es darf auch mal regnen. Aber nicht nur in die Landschaft sind die Charaktere eingebunden, sondern auch in ihren sozialen Kontext. Dazu dienen viele kleine Dialoge, die nichts zur Handlung beitragen, die auch kein Smalltalk sind, sondern das, was man eben zueinander sagt, wenn man tagtäglich miteinander zu tun hat.

Katzenjammer bei Toni und ein Beinahe-Mord
Neben flüssigen, aber unaufdringlichen Kamerabewegungen ist es auch hier wieder das Drehen mit großer Tiefenschärfe, mit dem Renoir seine Absichten umsetzt. Aber anders als etwa in BOUDU oder LA RÈGLE DU JEU werden in TONI keine komplexen Innenräume ins Bild gesetzt. Innenaufnahmen gibt es nur in den kleinen und architektonisch schlichten Häusern von Marie und Sebastian. Vielmehr entfaltet die deep focus cinematography hier ihre Wirkung im Freien. Besonders spektakulär etwa, wenn Toni und Fernand am oberen Rand eines Abhangs im Steinbruch sitzen und tief unter ihnen andere Arbeiter herumwuseln. Ein weiteres typisches Stilmittel, das Renoir auch hier verwandte, sind lange Einstellungen. In seiner Autobiographie "Mein Leben und meine Filme" (1974, dt. 1975) schrieb er dazu: "Außerdem war ich immer bemüht und bin es heute noch, die Zerstückelung der Aufnahmen zu verhindern und durch lange Einstellungen dem Schauspieler die Möglichkeit zu geben, seine Interpretation des Dialogs langsam selbst aufzubauen."

Eine Beziehung in der Krise
Renoir drehte TONI in einer Phase der Neuorientierung, die er später in einem Rückblick einmal eine "Krise von zugespitztem Realismus" nannte (und der er auch "anti-realistische Krisen" gegenüberstellte). Sein vorheriger Film MADAME BOVARY war eine artifizielle und werkgetreue Verfilmung von Flauberts Roman, produziert von einem der etablierten Pariser Studios. Er dauerte eigentlich dreieinhalb Stunden, aber in dieser Form mochte ihn das Publikum nicht sehen, und auf Druck der Verleiher kürzte ihn das Studio auf zwei Stunden. Wie nicht anders zu erwarten, floppte die verhunzte Fassung erst recht, und Renoir war in jeder Hinsicht frustriert. Bei seinem nächsten Film wollte er sich nicht nur von den traditionellen Studios befreien, sondern auch stilistisch neu orientieren. Den passenden Stoff dazu hatte er schon seit Jahren in der Schublade.

Beinahe-Selbstmord
TONI beruht lose auf einem echten Mordfall, der sich in den frühen 20er Jahren in Martigues im Milieu südeuropäischer Immigranten zutrug. Jacques Mortier, ein alter Schulfreund von Renoir, war damals Polizeichef von Martigues. Er schrieb ein Dossier über den Fall und überließ es Ende der 20er Jahre Renoir (unter dem Pseudonym Jacques Levert machte Mortier auch einen Roman aus dem Stoff). Renoir war kein Mann für Schnellschüsse. "Ich muss eine Idee erst einmal verdauen, bevor ich etwas damit anfangen kann", schrieb er einmal. So ließ er das Dossier erst einmal ruhen, aber nach dem Debakel mit MADAME BOVARY war die Zeit dafür reif. Das Drehbuch schrieben Renoir und der mit ihm befreundete Carl Einstein, ein deutsch-jüdischer Kunsthistoriker. Einstein hatte bis dahin (und auch danach) nichts mit Filmen zu tun, aber das war für Renoir kein Nachteil. In einem Interview, das Truffaut und Rivette mit ihm führten, sagte er, solche fachfremden Experten auf anderen Gebieten könnten manchmal einen Film bereichern, und er nannte Carl Koch und Carl Einstein als Beispiele aus seinem eigenen Schaffen. Produzent war Pierre Gaut, ebenfalls ein Kunstexperte, der mit Film ansonsten nichts zu tun hatte, und mit Renoir und Einstein befreundet. Weil er das Geld nicht allein aufbringen konnte, wurde Marcel Pagnol, der sein eigenes Studio in Marseilles gegründet hatte, als Co-Produzent an Bord geholt.

Arbeitspause
"TONI ist deshalb eine Geschichte, die in einem gewissen Ausmaß das repräsentiert, was wir heute Neorealismus nennen. Ich fuhr nach Martigues, ich lebte mit den neuen Einwohnern von Martigues, und ich habe eine Kamera mitgebracht. Die Kamera habe ich übrigens meinem Neffen Claude anvertraut. Es war einer seiner ersten größeren Filme. Und das war es. Wir haben es so gedreht, mit Einheimischen, während wir dieselbe Luft atmeten, dasselbe Essen aßen, dasselbe Leben lebten wie diese Arbeiter." So Renoir 1961 in einer Fernsehsendung. Tatsächlich wurde der ganze Film komplett in Martigues gedreht. Die Hauptdarsteller stammten vorwiegend aus kleineren Theatern in Marseilles und Umgebung, einige davon hatten auch schon in den frühen Filmen von Pagnol mitgespielt, so auch Charles Blavette, aber keiner von ihnen war ein Star. Der einzige, der aus Renoirs eingespielter Truppe stammte, war Max Dalban, der beispielsweise in LA NUIT DU CARREFOUR und in BOUDU SAUVÉ DES EAUX kleinere Rollen gespielt hatte. Nebenrollen in TONI wurden mit lokalen Laiendarstellern besetzt. Besonderes Augenmerk richtete Renoir auf die Authentizität der Sprache. Abgesehen von Albert bekommt man südfranzösischen Dialekt und Französisch mit italienischem oder spanischem Akzent zu hören, mit gelegentlichen kurzen Einschüben der jeweiligen Muttersprache. Renoir frönte auch wieder seiner Leidenschaft für Direktton, es wurde nichts nachsynchronisiert. Das gilt auch für die Musik, die vollständig diegetisch, also in die Handlung integriert ist. Es handelt sich um mal hoffnungsvolle, mal wehmütige Volkslieder der Immigranten, mit italienischem oder korsischem Einschlag.

Josefa mit Revolver
Ist TONI nun ein neorealistischer Film? Renoirs Aussagen dazu waren widersprüchlich, neben Zustimmung wie im obigen Zitat betonte er gelegentlich auch die durchaus vorhandenen Gegensätze. Unbestritten ist aber die realistische Grundhaltung des Films. In seiner Autobiographie schrieb Renoir: "In TONI habe ich mir alle Mühe gegeben, nicht dramatisch zu sein. [...] Die Verwendung natürlicher Elemente gestattete mir, einen möglichst wenig transponierten Realismus zu erreichen. [...] Mein Ehrgeiz ging dahin, den Eindruck zu erwecken, ich hätte eine Kamera und ein Mikrophon in meiner Tasche versteckt und nähme auf, was mir gerade unterkäme, ohne jede Rangfolge." Freilich wusste Renoir natürlich, dass es so nicht ging, und er war auch so ehrlich, das zuzugeben. So sagte er denn an anderer Stelle: "Für das Publikum sollte es so aussehen, als hätten wir den Film wie nebenbei gedreht, ohne uns besonders darum zu bemühen, als stände die Kamera wie zufällig herum, ganz leger. Doch in Wirklichkeit muss ein solcher Film minutiös vorbereitet und komponiert werden." Tatsächlich weist TONI neben der zyklischen Klammerung auch eine gewisse innere Symmetrie auf, die noch stärker zur Geltung kommen würde, wenn nicht eine Szene fehlen würde. Beim ersten Zusammentreffen zwischen Toni und Josefa (die Szene mit der Wespe) transportierte Josefa mit einem Handkarren Wäsche zum Waschplatz, und das Gegenstück dazu war eine Szene, in der Toni und Josefa Alberts Leiche auf demselben Karren, von Wäsche verdeckt, in den Wald bringen. Dabei werden sie ein Stück von den korsischen Köhlern begleitet, die, nichts ahnend, ein fröhliches Lied anstimmen. Aber die Szene erschien den Produzenten für das damalige Publikum zu morbid oder zynisch, und Renoir musste sie herausschneiden, woraufhin sie verlorenging, was er später sehr bedauerte. So wurde Renoir also auch in der südfranzösischen Provinz wieder von Schnittauflagen heimgesucht. Trotzdem blieb TONI zeitlebens einer seiner Favoriten in seinem Œuvre.

Flucht und Tod auf dem Gleis
TONI ist mit sehr gutem Bonusmaterial in England bei Masters of Cinema auf DVD erschienen. Leider ist die DVD out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich. In Frankreich gibt es den Film auch auf DVD, wie üblich ohne fremdsprachige Untertitel. Mit engl. Untertiteln bekommt man TONI noch auf einer DVD aus Hongkong, die z.B. auf eBay vertrieben wird.