Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

3 Kommentare:

  1. Ach... wenn doch Bahnfahren in Mittelthüringen so viel Spaß machen würde! Andererseits haben die Bahn-Privatisierungen der 1980er Jahre im Vereinigten Königreich nachweislich auch schon ihre Spaßbrems-Wirkung entfaltet.
    Alle drei Filme haben mich begeistert, aber der atemberaubende SNOW (mittlerweile schon vier mal geschaut) hat mich am schwersten umgehauen! Dass sich hinter diesen Clips so furiose und lebhafte Musterbeispiele für experimentelle, rhythmische Montage verstecken, hätte man bei den Stichworten „Werbe- und Industriefilmen“ erst einmal kaum vermutet.
    Wie du sagst wurde RAIL in Kinos gezeigt (wenngleich gekürzt), wie steht es aber mit SNOW und LOCOMOTION? Wurden diese Filme auch fürs Fernsehen ausgewertet? Es ist ja anzunehmen, dass die Eisenbahn und die BTF kein Interesse daran haben konnten, die Filme in den Regal zu stellen.
    Der überwältigende Einfluss des sowjetischen Kinos der 1920er scheint mir sehr augenscheinlich, gerade in den spektakulären Beschleunigungsmomenten. Daher wundert es mich etwas, dass du das gar nicht erwähnt hast. Die DVD-Info-Seite des BFI nennt Dziga Vertov, was sehr einleuchtend erscheint. Spricht Jones darüber im Interview? Und äußert er sich über politische Motivationen? Technik-Optimismus im allgemeinen ist ja ein Merkmal der liberalen und sozialistischen Linken.

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    1. Freut mich, dass Dir die Filme gefallen. Dann wirst Du ja vielleicht auf YouTube auch schon TRINIDAD & TOBAGO, THIS IS SHELL oder den kurzen SHELL SPIRIT angesehen haben. Zur Auswertung der Filme weiß ich nicht viel, aber zumindest ein Teil war ja zur Imagepflege gedacht und wird wohl irgendwie unter die Leute gebracht worden sein. Aber Industriefilme im engeren Sinn können auch für den internen Gebrauch gedacht gewesen sein, für Aktionärsversammlungen oder sowas.

      Du hast recht, ich hätte wirklich auch etwas über Jones' Einflüsse und Vorbilder schreiben können. Er nennt im Interview tatsächlich Wertows DER MANN MIT DER KAMERA als seinen wichtigsten einzelnen Einfluss. Außerdem waren Len Lye und Norman McLaren mit den Filmen, die sie in den 30er Jahren bei der GPO Film Unit unter den Fittichen von John Grierson drehten, seine Vorbilder. Bei zumindest einem Teil seiner Filme entstand zuerst der Soundtrack und wurde dann in Grafiken übertragen, die als Vorlagen für den Dreh bzw. den Schnitt der Bilder dienten. Christoph Hochhäusler hat hier in seinem Blog mal darüber berichtet, da sieht man auf Bildern, wie das aussah. Im Video-Interview wird so ein "Vis Guide" für ein paar Sekunden als Film abgespielt, und das sieht dann tatsächlich wie ein abstrakter Film von Lye oder McLaren aus. Der Einfluss der Vorbilder war also nicht nur irgendwie ideell vorhanden, sondern wirkte sich auch in der Arbeitstechnik aus. Zumindest McLaren hat ja auch gelegentlich so gearbeitet, wie ich hier anhand von BEGONE DULL CARE erläutert habe.

      Jones sagt auch etwas über Politik. Als junger Mann fiel ihm irgendwann auf, dass im Kapitalismus nicht alles in Ordnung ist, und diese Stelle wird mit Bildern aus dem ungestümen Antikriegs- und Antikapitalismusfilm HELL UNLIMITED von McLaren und Helen Biggar unterlegt. McLaren war ja in seinen jungen Jahren Kommunist, ich weiß aber nicht, ob Jones auch so radikal war, und ich weiß auch nicht, ob er seine kritische Einstellung im fortgeschrittenen Alter bewahrte. Einen gewissen Spagat hätte es ja schon erfordert, dann für Konzerne wie BP und Shell zu arbeiten. Übrigens wurde Edgar Anstey vorgeworfen, seine eigene sozialkritische Tendenz der frühen Jahre hinter sich gelasen zu haben, nachdem er bei BTF in Amt und Würden war. Beim BFI kann man etwas darüber lesen.

      Übrigens hab ich Jones und die drei Bahnfilme schon in meinem Artikel über DAS STAHLTIER erwähnt, aber da ging das ziemlich unter. Doch damals hatte ich einen Gedanken, der mir jetzt auch wieder kam. Willy Zielke hat ja auch Industriefilme gemacht, und seine Nachkriegsfilme wurden alle von Oskar Sala vertont, der wiederum auch viele andere Industriefilme vertonte (siehe dieses Interview), von denen eine ganze Menge nicht in IMDb oder Wikipedia erfasst sind. Da kam ich zum Schluss, dass sich das verallgemeinern lässt, und dass jede Menge interessante Industriefilme unbeachtet in irgendwelchen Firmenarchiven vergammeln, wenn sie nicht irgendwann einfach weggeschmissen werden. Da waren zwar sicher nicht immer Meister wie Jones am Werk, aber es muss da viele ungehobene Schätze geben.

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    2. Erst mal danke für die umfangreiche Antwort!
      Wenn THIS IS SHELL öffentlich gezeigt wurde, dann dürfte das Bewusstsein für Industriespionage zum damaligen Zeitpunkt wohl noch nicht besonders groß gewesen sein. Der Gedanke, dass der Film ausschließlich intern genutzt wurde, ist insofern reizvoll, als dass man sich unwillkürlich bildlich vorstellt, wie eine versammelte Aktionärsgruppe einen höchst anspruchsvollen Experimentalfilm vorgeführt bekommt...
      Sehr interessant zu erfahren war für mich, dass John Schlesinger ebenfalls bei BTF seine Karriere begonnen hat (http://www.youtube.com/watch?v=fx_lUCgC-Jo). Wenn man dem BFI-Artikel Glauben schenken mag, so war Jones dennoch der extravaganteste Mitarbeiter bei BTF – und ganz sicher ist er auch international ein Unikum. Aber in der Tat: Jones‘ Filme machen allgemein neugierig auf den Typus des Industrie-Films.
      Deine quantitativ grandiose Besprechung zu DAS STAHLTIER habe ich jetzt nachgeholt, und finde sie auch qualitativ grandios!

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