Montag, 5. August 2013

Revolution, eine Hymne, Crowdfunding, und Goethe im Abgang

LA MARSEILLAISE
Frankreich 1938
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Andrex (Honoré Arnaud), Edmond Ardisson (Bomier), Pierre Renoir (Ludwig XVI.), Lise Delamare (Marie-Antoinette), Louis Jouvet (Roederer), Aimé Clariond (de Saint-Laurent), Nadia Sibirskaïa (Louison), Jenny Hélia (Louise Vauclair), Édouard Delmont (Cabri), Paul Dullac (Javel), Julien Carette und Gaston Modot (zwei Freiwillige)

Der König erhält eine Nachricht, deren Tragweite er nicht begreift
Versailles, 14. Juli 1789: König Ludwig XVI. liegt von der Jagd ermattet im Bett, als man ihm die Nachricht vom Sturm auf die Bastille überbringt. "Eine Revolte?" fragt er erstaunt und nur mäßig interessiert. "Nein, eine Revolution", wird er belehrt.

Arnaud, Bomier und Cabri (v.l.n.r.) in den Bergen
Szenenwechsel: Juni 1790, in den Bergen im Hinterland von Marseille. In dieser Abgeschiedenheit verbergen sich zwei junge Anhänger der Revolution, der Zöllner Arnaud und der Maurer Bomier. Zu ihnen stößt der alte Bauer Roux, genannt "Cabri" (Zicklein), dem wegen Wilderei Jahre als Galeerensträfling drohen - er hat gerade mal eine Taube erlegt, die sein Feld plünderte, und wurde dabei erwischt, konnte aber fliehen. Für das einfache Volk hat sich seit dem Beginn der Revolution nicht viel verbessert - die faktische Macht liegt immer noch bei den Großgrundbesitzern und Aristokraten, und letztere üben die Gerichtsbarkeit aus. Zusammen räsonieren die drei Flüchtlinge darüber, was sich alles ändern müsste. Einige Zeit später gibt es Fortschritte: Von ihrem Bergsitz sehen sie Adelspaläste brennen, und Arnaud und Bomier beschließen, dass es an der Zeit ist, nach Marseille zurückzukehren.

Ardisson (links) und Javel vor der Eroberung des Forts
Marseille, Oktober 1790: Arnaud dient als Offizier und Bomier als Soldat in einer republikanisch gesinnten Einheit der Nationalgarde, zu der auch ihre Freunde Moissan, Ardisson und der etwas großtuerische Maler Javel gehören. In einem unblutigen Coup, bei dem ein riesiges Weinfass als trojanisches Pferd dient, erobern sie ein von royalistischen Truppen gehaltene Hafenfort, das auch als Gefängnis dient. Unter den 22 befreiten Gefangenen ist auch Cugulière, ein alter Freund von Bomier und Arnaud. Marquis de Saint-Laurent, der Kommandant der Festung, nimmt den Vorgang gefasst und mit tadellosen Umgangsformen, aber einem gewissen Unverständnis zur Kenntnis. Als ihm Arnaud in einer Unterredung die Bedeutung der Begriffe "Nation" und "Volk" nahebringen will, weiß de Saint-Laurent nicht viel damit anzufangen - für ihn zählt nur die Treue zum König. Später wird er ins Exil nach Deutschland abgeschoben.

Der Marquis de Saint-Laurent (links) und Arnaud
Koblenz, April 1792: Hier hat sich eine Kolonie aristokratischer Exilanten etabliert, darunter der Marquis de Saint-Laurent und seine Frau. Man unterhält sich über die baldige Beendigung der revolutionären Umtriebe durch die preußischen und österreichischen Truppen, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung heranrücken - das wird nur ein Spaziergang, der in drei Wochen erledigt ist, glauben sie. Dann wendet man sich einem viel wichtigeren Thema zu, nämlich einer Schrittfolge der Gavotte, eines höfischen Tanzes, die man hier im Exil doch tatsächlich vergessen hat. Das hat gewiss etwas Lächerliches, aber Renoir präsentiert diese Adeligen nicht als Witzfiguren, sondern eher als tragische Gestalten, deren Denkmuster unrettbar in der Vergangenheit verhaftet sind. Nur de Saint-Laurent hebt sich etwas davon ab. Er teilt den naiven Optimismus seiner Kollegen nicht, und er ist durch Arnauds Ausführungen über Volk und Nation doch etwas ins Grübeln geraten, freilich ohne deshalb die Seiten zu wechseln. - Die Hoffnungen der Aristokraten scheinen nicht ganz unberechtigt zu sein: Zwei Freiwillige der Revolutionsarmee, die auf einem Feldposten bei Valenciennes ganz im Norden Frankreichs stationiert sind, sehen sich mit Flüchtlingen und Deserteuren konfrontiert und machen sich ihre Gedanken über die Ursachen der schlechten Lage, die sie in unzuverlässigen und mit dem Feind sympathisierenden Offizieren sehen.

Bürgerin Vauclair hält eine Rede
Ungefähr zur selben Zeit im Jakobinerclub von Marseille: Bürgerin Louise Vauclair, eine Fischhändlerin, hält eine flammende Ansprache über die schlechte Lage der Nation. Sie prangert die Nationalversammlung an, die von Großbürgern und liberalen Aristokraten dominiert wird, die nur auf ihre eigenen Pfründe achten, statt die Lage des Volkes zu verbessern. Und der König, der - jetzt im konstitutionellen Rahmen - nach wie vor über politische Macht verfügt, verhindert mit seinem regelmäßigen Veto ohnehin jede progressive Gesetzgebung, weshalb Louise ihn und die Königin als Monsieur und Madame Veto verhöhnt. Die Rede erhält begeisterte Zustimmung, und es wird die Aufstellung eines Freiwilligenbataillons von 500 Mann beschlossen, das nach Paris marschieren soll, um die Sache der Revolution voranzubringen, und sich erst dann den ausländischen Feinden entgegenzustellen. Arnaud, Bomier und die anderen Marseiller, die schon bei der Einnahme des Forts dabei waren, sind alle mit von der Partie. Bei der Einschreibung für das Bataillon singt jemand eine Hymne, die kürzlich in Strasbourg für die französische Rheinarmee geschrieben wurde. Bomier ist wenig begeistert: Das Lied werde in zwei Wochen wieder vergessen sein, meint er. Doch er täuscht sich: Beim Abmarsch des Bataillons, der zu einem großen Volksfest gerät, singt schon halb Marseille mit. Der Marsch nach Paris verläuft ohne Zwischenfälle, aber überall, wo man durchkommt, singt das Bataillon sein neues Lied, das so nach und nach von der Hymne der Rheinarmee zur Hymne der Marseiller und schließlich kurz La Marseillaise wird. In Paris, wo schon ähnliche Bataillone aus dem ganzen Land versammelt sind, werden die Marseiller begeistert empfangen. Bomier lernt die Pariserin Louison kennen und verliebt sich in sie.

Marsch nach Paris
Juli 1792: Jetzt, nach 80 Minuten, kehrt der Film zum ersten Mal seit dem Prolog an den Hof zurück, der sich nicht mehr in Versailles, sondern seit Herbst 1789 auf Druck der Revolutionäre in den Tuilerien in Paris befindet. Am 25. Juli hat der Herzog von Braunschweig, der Oberbefehlshaber der österreichischen und preußischen Koalitionstruppen, ein Ultimatum an die Pariser Bevölkerung unterzeichnet (der eigentliche Verfasser war ein französischer Adeliger aus der Koblenzer Kolonie), das die sofortige und bedingungslose Unterwerfung unter den König fordert, andernfalls wird die Eroberung und Verwüstung von Paris angedroht. Vorerst liegt nun aber eine Kopie dieses Manifests auf dem Tisch des Königs, der entscheiden soll, ob es tatsächlich veröffentlicht wird. Die Hardliner unter seinen Ministern und Beratern sind dafür, ebenso Marie-Antoinette, die es nicht erwarten kann, dass ihre österreichischen Verwandten und die preußischen Verbündeten sie wieder in ihren alten Stand einsetzen. Doch Ludwig XVI. zögert: der aggressive Ton des Dokuments ist ihm zuwider, und er fürchtet zu Recht, dass die Veröffentlichung seine eigene Popularität im Volk weiter untergraben würde. Doch er ist nur halb bei der Sache - nebenbei streitet er sich mit der Königin über die neumodische Erfindung des Zähneputzens mittels Zahnbürste und über die Treffsicherheit des österreichischen Kaisers bei der Jagd. Schließlich wickelt ihn Marie-Antoinette um den Finger, und das Manifest des Herzogs von Braunschweig wird an die Nationalversammlung weitergeleitet und am 1. August veröffentlicht.

Festlicher Empfang in Paris
Doch das erweist sich als schwerer Fehler. Statt wie erhofft die Bevölkerung einzuschüchtern, ruft das Ultimatum nur allgemeinen Zorn hervor. Vor allem die Sansculotten, die Pariser Arbeiter und Kleinbürger, radikalisieren und bewaffnen sich jetzt. Unter Umgehung der offiziellen Pariser Stadtregierung bilden die revolutionären Pariser Sektionen eine erste Kommune (commune insurrectionelle), die ein Gegenultimatum an die Nationalversammlung stellt: Absetzung des Königs bis zum 9. August. Bomier und seine Freundin Louison und die anderen Marseiller nutzen die freie Zeit bis zum Ablauf der Frist, um das Schattentheater von François Dominique Séraphin zu besuchen, das dieser seit 1770 zuerst in Versailles und dann in Paris führte - in gewissem Sinn das zeitgenössische Pendant zum Kino. Gegeben wird unter anderem ein kurzes aktuelles Stück: Le Pont Cassé (Die zerstörte Brücke). "Madame La France" als Personifizierung der französischen Nation steht auf einer Seite eines Grabens, der König auf der anderen Seite. Eine Brücke, die den Graben überspannte, ist zusammengestürzt. Der König will La France umarmen, aber er kann nicht hinüber. Als Grund für den Graben, der beide jetzt trennt, nennt sie das Manifest des Herzogs von Braunschweig. Madame geht von dannen, und der König fällt vor Schreck fast um.

Pariser Volk (vorne Nadia Sibirskaïa und Sévérine Lerczinska)
Das Ultimatum der Revolutionäre verstreicht, und so kommt es am 10. August 1792 zum Sturm auf die Tuilerien, und die Marseiller Einheit ist an vorderster Front dabei. Das Schloss wird von der Leibgarde des Königs, die aus Schweizern besteht, sowie Einheiten der Nationalgarde mit zweifelhafter Loyalität verteidigt. Ludwig XVI. und sein Gefolge sind vor dem Kampf guter Dinge, aber als bei der Parade im Hof ein Teil der Truppen Vive la Nation statt Vive le Roi ruft, ist der König für einen Moment fassungslos. Kurz danach erscheint Pierre Louis Roederer, der procureur général syndic des Pariser Départments, also ein hoher Beamter der Stadtregierung, der zwischen dem König, der Nationalversammlung und den radikalen Revolutionären laviert. Angesichts der gewaltigen zahlenmäßigen Übermacht der Revolutionäre rät er dem König dringend, sich in den Schutz der Nationalversammlung zu begeben und mit seiner Familie unverzüglich von den Tuilerien in das nahegelegene Parlamentsgebäude überzusiedeln, und Ludwig XVI. stimmt resigniert zu. Beim kurzen Fußmarsch auf einer Allee spielt der siebenjährige Dauphin mit Laub, und der König merkt an, dass die Blätter dieses Jahr früh gefallen sind - ein Menetekel angesichts der bald fallenden Köpfe. Und dann beginnen die Kämpfe. Arnaud kann die Nationalgardisten unter den Verteidigern überreden, die Seiten zu wechseln, aber die Schweizergarde bleibt standhaft und eröffnet das Feuer. Anfangs gehen die Royalisten in die Offensive, aber in wilden Scharmützeln in den Straßen und Gassen von Paris werden sie niedergerungen, in den Palast zurückgedrängt und vollständig besiegt. Die Überlebenden werden reihenweise füsiliert. Aber auch einer der Marseiller, denen wir von Anfang an gefolgt sind, muss an diesem Tag sein Leben lassen. Um das Gemetzel an den Verlierern etwas einzuschränken, interveniert Roederer und opfert das Königspaar: Er erklärt im Namen der Nationalversammlung die vorläufige Absetzung und Anklage des Königs, die dann bekanntlich im Januar 1793 zur Enthauptung führte.

Marie-Antoinette
Aber der Film endet schon am 20. September 1792: Das Marseiller Bataillon rückt bei Valmy als Teil der Revolutionsarmee gegen das preußische Kontingent der Koalitionsarmee vor. Hier kommt es zu einem mehr oder weniger unentschieden verlaufenden Artillerieduell, an dessen Ende sich die Preußen zurückziehen. Renoir erspart sich neuerliches Schlachtengetümmel und lässt den Film schon vor dem eigentlichen Schlachtfeld enden. - Am preußischen Feldzug nahm auf Wunsch des Herzogs von Weimar auch Johann Wolfgang von Goethe als Beobachter teil. Nach der "Kanonade von Valmy" will er folgendes zu preußischen Offizieren gesagt haben: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Das steht so allerdings nur in einem Text, den Goethe 1822, also 30 Jahre nach dem Ereignis, veröffentlichte, und die Echtheit des Ausspruchs wird denn auch von der Forschung bestritten. Aber Renoir, ein Freund und Kenner deutscher Hochkultur, nutzte das Zitat (unter Weglassung des zweiten Halbsatzes) für ein optimistisches und patriotisches Schlusswort, indem er nach dem FIN noch einen Lauftext einblendet:
Bei Valmy widerstanden die Franzosen allen Attacken der berühmten preußischen Infanterie. Der große deutsche Dichter Goethe war Zeuge ihres Sieges. Sein Kommentar wird den Schlusspunkt dieser Geschichte bilden.

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus."

Der König erörtert das Manifest des Herzogs von Braunschweig - und ist not amused
LA MARSEILLAISE ist laut seinem Untertitel eine "Chronik gewisser Ereignisse, die zum Sturz der Monarchie beitrugen". Das ursprüngliche Konzept des mit 135 Minuten nicht gerade kurzen Films war noch weit ambitionierter: Wie sich anhand der ersten beiden Drehbuchfassungen herausfinden ließ, sollte es ein mehrstündiges Epos werden, gespickt mit Stars wie Jean Gabin, Maurice Chevalier und Erich von Stroheim. Louis Jouvet sollte eigentlich Robespierre spielen. Der Film sollte den Zeitraum von 1787 bis Valmy abdecken, und der episodische Charakter von LA MARSEILLAISE war darin schon angelegt, aber mit viel mehr Episoden, die nach Renoirs Vorstellung an Wochenschauberichte erinnern sollten. Aber auch im tatsächlich gedrehten Film erkannte mancher Kritiker (darunter Truffaut) eine Ähnlichkeit zu Wochenschauen. Der zweite Drehbuchentwurf stammt von Ende Juni 1937, doch dann wurde innerhalb kürzester Frist alles über den Haufen geworfen: Bei den Dreharbeiten im Sommer und Herbst 1937 blieb von der ursprünglich vorgesehenen Handlung so gut wie nichts übrig. Insbesondere wurden die Vordenker der Revolution wie Robespierre, Danton und Marat komplett aus der Handlung entfernt. Neben zu vermutenden finanziellen Gründen lag das auch daran, dass nicht die "Stars" der Revolution, sondern das Volk selbst der Held des Films werden sollte. Weil aber eine abstrakte Größe wie das Volk für das Filmpublikum schlecht zur Identifikation taugt, übernahmen die fiktiven Charaktere aus Marseille (und hier der volkstümliche Bomier mehr als der eher intellektuelle Arnaud) die Rolle der Identifikationsfiguren.

Schattentheater
Renoir lässt an seiner Sympathie für die Revolutionäre nie Zweifel aufkommen, aber er lässt auch der Gegenseite Gerechtigkeit angedeihen. Das Königspaar und die Aristokraten werden weder dämonisiert noch lächerlich gemacht, sondern, wie schon angedeutet, als Gefangene ihrer Denkstrukturen gezeichnet, die subjektiv aufrichtig und ehrenhaft handeln. Einzige negative Ausnahme ist der Adelige, der Cabri anfangs auf die Galeeren schicken will, aber auch der glaubt, damit die göttlich gegebene Ordnung zu verteidigen. Renoir hat dieses Konzept im August 1937 so umrissen: "Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich sei unparteiisch im Kampf dieser widerstreitenden Ideen. Ich drehe LA MARSEILLAISE mit einer sehr festen Überzeugung: ich möchte einen parteiischen, aber zugleich aufrichtigen Film machen." Diese Herangehensweise kulminiert in der Figur des Königs. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen (etwa dem nur einige Monate später gedrehten MARIE ANTOINETTE von W.S. van Dyke) ist Ludwig XVI. hier kein Blutsauger, auch kein Hampelmann oder eitler Geck, sondern ein sehr menschlicher, im Grunde gutmütiger und sympathischer König, dem allerdings jegliches Gespür für die Ursachen der Revolution und für die politischen Notwendigkeiten abgeht, der deshalb von den Ereignissen überrollt und zu einer tragischen Figur wird. Der Film stützt sich dabei auf die überragende Schauspielkunst von Pierre Renoir, der den König mit Leben und subtilen Nuancen erfüllt. Nach LA NUIT DU CARREFOUR, wo er Kommissar Maigret spielt, und nach seinem Charles Bovary in MADAME BOVARY hat Pierre Renoir hier seine dritte und letzte größere Rolle in einem Film seines jüngeren Bruders. Neben ihm glänzt auch Louis Jouvet in seinem kurzen, aber prägnanten Auftritt als Roederer, und auch alle anderen Rollen sind vorzüglich besetzt. Beim Casting achtete Renoir auf authentische Sprache: Für die Aristokraten mit ihrer kultivierten Ausdrucksweise verwendete er vorwiegend ausgebildete Theaterschauspieler, darunter einige von der Comédie-Française, für das Pariser Volk dagegen volkstümlichere Darsteller, und für die Marseiller solche aus Südfrankreich (von denen einige schon in TONI mitgespielt hatten).

Bomier und Louison
Sehr ungewöhnlich war die Finanzierung des Films: Sie beruhte teilweise auf dem, was heute Crowdfunding heißt. Diese Vorgehensweise war ausdrücklich politisch, nicht wirtschaftlich motiviert: "Denn dieser Film soll nicht der Film eines Mannes oder einer Produktionsfirma sein, es soll der Film der Arbeiterklasse sein", schrieb Renoir damals in einem Artikel. Renoir sympathisierte immer noch mit den Zielen der Volksfrontregierung, die nach wie vor im Amt war, auch wenn der Glanz und Elan der ersten Monate gewichen war. Interessenten konnten "Anteilscheine" zum Preis von 2 Francs erwerben, die dann später zum kostenlosen Besuch des Films berechtigten. In der kommunistischen Parteizeitung L'Humanité und in weiteren linken Zeitungen und Zeitschriften wurde das Konzept seit März 1937 vorgestellt, der eigentliche Startschuss erfolgte dann Ende Juli. Die kommunistische Gewerkschaft CGT leistete beim Verkauf der Anteilscheine organisatorische Hilfe und stellte auch Techniker und Arbeiter für die Dreharbeiten. Die Aktion erregte soviel Aufmerksamkeit, dass im Juli auch eine Zeitschrift in London unter dem Titel "Citizens of Paris Make a Film" darüber berichtete. Doch letztlich kam durch Subskription doch nicht genug Geld zusammen, um den gegenüber dem ursprünglichen Konzept zwar zusammengestutzten, aber immer noch sehr aufwendigen Film zu finanzieren, so dass schließlich auch auf konventionellere Geldquellen zurückgegriffen werden musste.

Deep focus: Im Hof der Tuilerien inspiziert der König die Garde
Das aufgeheizte politische Klima jener Jahre schlug sich nicht nur in der Entstehung, sondern auch in der Rezeption des Film nieder. Weder beim Publikum noch bei den Kritikern war LA MARSEILLAISE ein großer Erfolg, und bei letzteren vorwiegend aus politischen Gründen. Zwar gab es auch sehr positive Rezensionen, etwa von Louis Aragon, der eine ausführliche Lobeshymne verfasste, aber auch wüste Verrisse, vor allem aus dem rechten Lager. LA MARSEILLAISE war ein Plädoyer für die Einigung des französischen Volkes unter progressivem Vorzeichen, und zwar im Angesicht eines äußeren Feindes, der von der anderen Seite des Rheins kam. Das passte perfekt zur Situation von 1938. Spätestens seit im März 1936 die Wehrmacht ins seit dem Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland einrückte, bedrohte Hitler unmittelbar die französische Flanke, und LA MARSEILLAISE konnte somit als ein Aufruf zur Wachsamkeit und Entschlossenheit verstanden werden. Solche Interpretationen mussten nicht erst von außen an den Film herangetragen werden, sie waren auch in Renoirs Sinn. Im Vorwort zur ersten Drehbuchfassung vom März 1937 heißt es: "[Der Schluss des Films] symbolisiert den Sieg der Volkstruppen über jene Kräfte, die wir heute faschistisch nennen." Aber politische Kontroversen über LA MARSEILLAISE waren nicht auf die 30er Jahre beschränkt. Der Schluss mit Valmy bot Renoir nicht nur die Möglichkeit, den Film mit Goethe enden zu lassen, er enthob ihn auch der Notwendigket, sich mit dem Terror der Massenhinrichtungen auseinanderzusetzen, die erst Monate später begannen. Doch gerade das wurde ihm von einigen späteren Kritikern vorgeworfen. 1962 widmete die Zeitschrift Premier Plan drei Ausgaben Renoir und ging darin kritisch mit ihm und mit LA MARSEILLAISE um, auch als Reaktion darauf, dass er inzwischen von den Cahiers du cinéma zum heiligen Übervater des französischen Films ernannt worden war. Und 1989, zum 200. Jahrestag des Beginns der Revolution, gab es abermals politisch motivierte Debatten um LA MARSEILLAISE. Bei all den politischen Auseinandersetzungen kam die Würdigung der filmischen Qualitäten des Werks lange zu kurz, und zwar sehr zu Unrecht. Renoir zelebriert einmal mehr seine üblichen Stilmittel wie lange flüssige Kamerafahrten und ausgiebigen Einsatz von deep focus (oft durch Fenster, Türen oder Torbögen hindurch) mit gewohnter Souveränität. Vor allem aber ist LA MARSEILLAISE über seine ganze Länge hinweg ein äußerst unterhaltsamer und schon allein deshalb sehr sehenswerter Film. 1967 wurde der nur in beschädigten oder gekürzten Kopien erhaltene Film restauriert und wieder in die französischen Kinos gebracht, zwar wiederum nur mit mäßigem Erfolg beim Publikum, aber mit einer sachlicheren Aufnahme bei den Kritikern. Cahiers du cinéma und das heftig damit konkurrierende Blatt Positif befassten sich Ende 1967 bzw. Anfang 1968 ausführlich damit.

Roederer
Einen nennenswerten Beitrag zu LA MARSEILLAISE leistete das Ehepaar Carl Koch und Lotte Reiniger, die durch Reinigers Scherenschnittfilme wie DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (an denen auch Koch großen Anteil hatte) in die Filmgeschichte eingegangen sind. Als 1926 DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED auch in Paris erfolgreich lief, gab es dort einen Presseempfang für Reiniger und Koch. Renoir und seine erste Frau Catherine Hessling, damals auch seine regelmäßige Hauptdarstellerin, waren auch da, und die vier schlossen sofort Freundschaft und arbeiteten dann gelegentlich zusammen, so 1929 in Berlin bei DIE JAGD NACH DEM GLÜCK, den Reiniger, Koch und Rochus Gliese gemeinsam inszenierten, und in dem Hessling und Renoir Hauptrollen spielten. Der Linksintellektuelle Koch und Reiniger (beide waren auch eng mit Brecht befreundet) übersiedelten 1935 nach London, wo Reiniger fortan ihre Filme herstellte, aber Koch verbrachte 1937-39 überwiegend in Paris, um für Renoir zu arbeiten, und zwar als technischer Berater und Mitautor der Drehbücher von LA GRANDE ILLUSION, LA MARSEILLAISE und LA RÈGLE DU JEU. Bei LA GRANDE ILLUSION war Koch auch Renoirs Deutschland-Experte, und die sehr schwierige Kommunikation mit Erich von Stroheim delegierte Renoir auch teilweise an Koch (jeder der drei hatte damals mindestens eine Nervenkrise). 1939 begann Renoir in Italien mit der Arbeit an LA TOSCA, Koch und Visconti waren Regieassistenten. Aber Anfang 1940 gab Renoir den Film auf, um in die USA zu emigrieren, und Koch übernahm die Regie. - Lotte Reiniger arbeitete nicht so oft mit Renoir zusammen, aber für LA MARSEILLAISE drehte sie in ihrer Scherenschnitttechnik die Schattentheater-Sequenz bei Séraphin, wofür sie im November 1937 von London nach Paris kam. Das gewählte Stück, Le Pont Cassé, wurde keineswegs für den Film geschrieben, sondern war ganz im Gegenteil ein Klassiker, der zur Revolutionszeit oft gespielt wurde, nicht nur bei Séraphin, sondern auch in anderen Schattentheatern. Reiniger schrieb in einem Text, der 1981, dem Jahr ihres Todes, veröffentlicht wurde: "Séraphins bekanntestes Stück war Le Pont Cassé, das nach ihm von vielen Schattentheatern nachgespielt wurde. Ich kann mich an kein gelehrtes Buch übers Schattenspiel erinnern, in dem nicht die abgebrochene Brücke als ehrenwerter Ahnherr europäischen Schattenspiels erwähnt würde."

10. August 1792: Kampf in den Straßen von Paris
LA MARSEILLAISE ist in den USA in einer Renoir-Box mit drei DVDs erschienen, die noch vier weitere Spielfilme sowie zwei Kurzfilme enthält. In England gibt es LA MARSEILLAISE auf einer Einzel-DVD, in Frankreich auf mindestens zwei verschiedenen DVDs.

Montag, 15. Juli 2013

Ein Sperling und ein Krieg

DER SPERLING (LE MOINEAU, AL ASFOUR bzw. AL USFUR, العصفور)
Ägypten/Algerien 1972
Regie: Youssef Chahine
Darsteller: Seif El Dine, Habiba, Salah Kabil, Mohsena Tawfik, Salah Mansour, Aly El Cherif, Miriam Fakr Eldine, Ragaa Hussein
(Es ist mir nicht gelungen, eine Zuordnung der Darsteller zu den Rollen aufzutreiben. Ich gebe die Namen hier in der Schreibweise und Reihenfolge wider, wie sie in den Credits am Anfang des Films aufscheinen.)

Ein Kairoer in der Provinz
Der Sechstagekrieg im Juni 1967 veränderte das Koordinatensystem im Nahen Osten grundlegend und zeitigte Folgen, die bis heute nachwirken. In Ägypten bewirkte die demütigende Turbo-Niederlage gegen Israel in der Bevölkerung, unter Intellektuellen ebenso wie in der breiten Masse, geradezu eine Traumatisierung. Wie konnte es dazu kommen? lautete die Frage, die man sich allgemein stellte, und Youssef Chahine stellte sich diese Frage ebenfalls. Seine Antwort: Es war die allgemein verbreitete Korruption, die den ägyptischen Staat (und damit auch die Armee) geschwächt hatte. Und weil der Fisch vom Kopf her zu stinken beginnt, suchte Chahine die Hauptschuld bei der politischen Führung des Landes. Chahine hatte früher schon politische Themen aufgegriffen, etwa die schlechte Lage der ägyptischen Bauern in IBN EL-NIL (1951) und SIRAA FIL-WADI (1954), in dem Omar Sharif in seiner ersten Rolle den Helden spielt, oder die Gründung einer Gepäckträger-Gewerkschaft (als Nebenthema in diesem erstaunlichen Film) in BAB EL HADID (TATORT HAUPTBAHNHOF KAIRO, 1958). Aber erst durch die Ereignisse von 1967 wurde Chahine im eigentlichen Sinn politisiert, wie er später selbst sagte. DER SPERLING ist der dritte und expliziteste Film einer informellen Trilogie, die den Ursachen des Debakels nachspürt.

Raouf (links) und Youssef
Bis 1967 war Chahine - wie damals die weit überwiegende Mehrheit der Ägypter - eigentlich ein Anhänger von Gamal Abdel Nasser und seiner Politik. Der Kampf gegen die feudalen Verhältnisse, die noch unter dem 1952 gestürzten König Faruk geherrscht hatten, das selbstbewusste Auftreten gegenüber den früheren Kolonialmächten England und Frankreich (mit der Verstaatlichung des Suezkanals als Höhepunkt), der gemäßigte Sozialismus im Rahmen einer blockfreien Außenpolitik, der panarabische Nationalismus - all das fand Chahines volle Zustimmung. Gänzlich ungetrübt war sein Verhältnis zum Regime dennoch nicht: Nach Querelen mit der Bürokratie der seit 1961 verstaatlichten Filmindustrie ging er 1965 ins freiwillige Exil in den Libanon (das Land seines Vaters), wo er das sehr erfolgreiche Musical DER RINGVERKÄUFER drehte, das von einem Kritiker einmal als die beste Musikkomödie der gesamten arabischen Welt bezeichnet wurde. Chahine kam dann aber doch zum Schluss, dass er nur in Ägypten vernünftig arbeiten konnte, und kehrte nach gut anderthalb Jahren zurück. Kurz danach kamen der Krieg und die Niederlage, und Chahine begann, seine Positionen zu überdenken. Zunächst inszenierte er noch als ägyptisch-sowjetische Coproduktion einen Film, der vor dem Hintergrund der Errichtung des Assuan-Damms spielt (und der in beiden Ländern auf wenig Gegenliebe stieß und in Ägypten wegen Schwierigkeiten mit der Zensur erst 1972 herauskam), dann folgte die erwähnte informelle Trilogie. AL-ARD (DIE ERDE, 1969) spielt ebenso wie der zugrundeliegende Roman in den 1930er Jahren, es lag also am Publikum, die aktuellen Bezüge herauszulesen. Auch in AL-IKHTIYAR (DIE WAHL, 1970), bei dem der spätere Nobelpreisträger Nagib Mahfuz am Drehbuch mitschrieb (wie zuvor schon bei zwei Filmen Chahines), ging er die Analyse der ägyptischen Gegenwart indirekt und allegorisch an (ein schizophrener Autor, der seinen Zwillingsbruder ermordet, um neben seinem eigenen Leben auch dessen Rolle auszufüllen, symbolisiert die in sich gespaltene ägyptische Gesellschaft).

Raouf und Scheich Achmed
Umso direkter war der Zugriff auf das Thema in DER SPERLING. Eine Texttafel (in der vorliegenden Fassung des Films auf Französisch) am Anfang macht klar, worum es geht:
In den Straßen von Kairo, Algier, Tunis und Bagdad, ja in allen arabischen Hauptstädten, und in den kleinsten Dörfchen, fragen mich die Jugendlichen: "Sag, Youssef, was ist denn im Juni '67 passiert? Woher kam diese Niederlage? Weshalb? Wir waren doch alle bereit, den Angriff zu ertragen?"

Für all die mutigen Menschen, einfache "Sperlinge", die ich so liebe, die ihrerseits am 9. Juni keine einzige Minute zögerten, auf die Straßen zu gehen, entschlossen, sich dem Feind gegenüberzustellen, da man ihnen in den Gassen ihrer Quartiere den Schwung genommen hat; für sie alle versuchen wir heute, mit "Le moineau", einige Aspekte der nationalen und internationalen Aufmachung aufzuhellen, denen sie ahnungslos zum Opfer gefallen sind.

          Youssef Chahine             (Übersetzung von der Schweizer DVD)
Als Aufhänger dient ein fiktiver (aber wohl wirklichkeitsnaher) Skandal: Eine Fabrik in der Nähe der Stadt Assiut in Mittelägypten, rund 400 km südlich von Kairo, wird seit sechs Jahren gebaut, ohne je fertig zu werden, was die nötige und eigentlich mögliche Verbesserung der lokalen Wirtschaft (und damit der Versorgungslage der einfachen Bevölkerung) hintertreibt. Grund dafür ist systematische Korruption und Unterschlagung: Maschinen und Bauteile, die tagsüber angeliefert werden, werden nächtens gleich wieder mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Lokaler Drahtzieher der dubiosen Verschiebeaktionen ist der Bandit Abu Khedr, aber die wahren Hintermänner sind andere, und sie dürfen in den höheren Kreisen Kairos vermutet werden. Gleich mehrere Personen brechen von Kairo in die Gegend um Assiut auf, um sich Abu Khedrs zu bemächtigen. Raouf ist ein junger Polizeihauptmann, der mit einer schwer bewaffneten Kompanie ausgeschickt wurde, um den Banditen tot oder lebendig zu fassen, doch zunächst bleibt Abu Khedr ein Phantom für ihn. Ihm eine Nasenlänge voraus ist Youssef, ein idealistischer Journalist, der die Hintergründe des Fabrikskandals recherchieren will. Es ist ihm gelungen, Abu Khedr aufzuspüren und ein Interview mit ihm zu führen, und dieser ließ dabei durchblicken, dass er in der Lage sei, die Hintermänner auffliegen zu lassen. Das sorgt in Kairo für Unruhe - auch bei Youssefs Vater, einem reichen Geschäftsmann. Und dann ist da noch der etwas grobschlächtige und polternde, aber eigentlich recht liebenswürdige Scheich Achmed, der aus der Gegend stammt, aber schon lange in Kairo lebt und ein Freund von Youssef ist. Er will aus Rache Abu Khedr töten, weil sein Cousin kürzlich bei einer der nächtlichen Transaktionen bei der Fabrik erschossen wurde. Angestachelt von der Mutter des Toten, gibt Achmed Abu Khedr die Schuld, ohne genau zu wissen, was eigentlich vorgefallen ist. Die Wege der verschiedenen Parteien, die alle hinter Abu Khedr her sind, kreuzen sich schnell. Raouf und Youssef kommen ins Gespräch und sind sich sympathisch, obwohl sie nicht ganz dieselben Ziele verfolgen. Scheich Achmeds Verhältnis zu Raouf ist dagegen zunächst mal gespannt. Weil er fürchtet, dass Scheich Achmed selbst getötet werden könnte, und damit er die Polizeiaktion nicht stört, lässt Raouf ihn kurzerhand verhaften. Dann trifft noch jemand aus Kairo ein, nämlich Raoufs Stiefvater Ismail, ein hoher Polizeioffizier. Er will die Aktion gegen Abu Khedr jetzt selbst leiten, weil er von Youssefs Vater inoffiziell damit beauftragt wurde. Und sein Erscheinen zeitigt das in Kairo gewünschte Resultat: Abu Khedr wird aufgespürt und in einer nächtlichen Aktion erschossen. Damit sind die verschiedenen Missionen erledigt, und man kann wieder nach Kairo zurückkehren, wo die zweite Hälfte des Films spielt.

Eine Fabrik verrottet, bevor sie fertig ist
Raouf und Scheich Achmed fahren zusammen in einem Jeep, raufen sich dabei zusammen und werden ebenfalls Freunde. Das wird befördert dadurch, dass Raoufs toter Vater Gaber, ein Sänger, mit Achmed und Youssef gut befreundet war. Ebenfalls zu diesem Freundeskreis gehört Baheya, die mit ihrer erwachsenen Tochter Fatma davon lebt, dass sie Zimmer vermietet und Kleider für Filmproduktionen näht. Zuhause erfährt Raouf von Ismail, zu dem sein Verhältnis schon zuvor nicht ungetrübt war, dass dieser nicht nur sein Stiefvater, sondern auch sein biologischer Vater ist, weil er ein Verhältnis zu Raoufs Mutter hatte, als diese noch mit Gaber verheiratet war. Diese Tatsache war vielleicht der Grund dafür, dass sich Gaber das Leben nahm, und Raouf, der Gaber nach wie vor als seinen "richtigen" Vater betrachtet, packt jetzt seine Koffer und zieht aus. Er nimmt sich ein Zimmer bei Baheya, wo er als Sohn des toten alten Freundes Gaber sehr herzlich aufgenommen wird. Unterdessen arbeitet Youssef weiter an seinen Recherchen, und es gelingt ihm, Raouf, der offenbar Urlaub hat, dafür zu begeistern, und Scheich Achmed, Baheya und Fatma beteiligen sich ebenfalls. Tatsächlich gelingt es, die Spur der LKWs, mit denen das Material aus der Fabrik abtransportiert wird, in Kairo wieder aufzunehmen. Und es bestätigt sich, was sich schon angedeutet hatte: Youssefs Vater ist einer der Strippenzieher der Aktion. Doch Youssef hat Schwierigkeiten, die Story bei seiner Zeitung anzubringen. Einerseits bekommt der Chefredakteur Druck, nicht zuviel zu enthüllen, andererseits überschatten der unmittelbar bevorstehende Krieg, mit dessen Ausbrechen jedermann rechnet, alle anderen Themen. Dieser zeitgeschichtliche Rahmen des Films wird von Anfang an etabliert. Nicht nur durch die Texttafel, sondern auch durch Zeitungsschlagzeilen, die ebenfalls ganz am Anfang eingeblendet werden, und dann immer wieder mal durch Dialoge, wenn sich die Protagonisten über die aktuelle Lage unterhalten, sowie durch Briefe von Raoufs Bruder Riad, der als Soldat auf dem Sinai stationiert ist, dem Hauptaufmarschgebiet des bevorstehenden Kriegs.


Und dann ist es tatsächlich so weit: Während Raouf und Fatma, die sich schnell näher gekommen sind, miteinander schlafen, beginnen die israelischen Angriffe, was Chahine in einer Montagesequenz zeigt, in die dokumentarische Aufnahmen der Kämpfe eingeschnitten sind. Die detektivische Recherche der fünf Freunde ist nun bedeutungslos geworden, der Krieg dominiert das Geschehen vollständig. Chahine zeigt jetzt, wie in geschönten Radiomeldungen die Bevölkerung über den aus arabischer Sicht desaströsen Verlauf des Kriegs getäuscht wird. Erst am 9. Juni, dem vorletzten Tag des Kriegs, wendet sich Präsident Nasser in einer Fernsehansprache an das Volk, gesteht die Niederlage ein und erklärt seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern (dem nach Massendemonstrationen für seinen Verbleib bald der Rücktritt vom Rücktritt folgte). "Wir haben den Krieg verloren, ohne es zu merken", kommentiert Scheich Achmed fassungslos diese Ansprache, von der ein Ausschnitt im Film zu sehen ist. Doch das ist für Chahine nicht das Ende. Er inszeniert jetzt den erwähnten Massenprotest, und er macht ausgerechnet die jetzt sehr heroisch gezeichnete Baheya zu einer Anführerin dieser spontanen Aufmärsche, mit denen der Film dann tatsächlich endet. "Wer hat diese Demonstration bestellt? Waren wir das?" fragt sehr bezeichnend ein ratloser Funktionär. Und Chahine interpretiert diese Aufwallung der Massen so, dass hier nicht in erster Linie für Nasser, sondern für eine Fortsetzung des Kampfes gegen Israel unter allen Umständen demonstriert wird. In diesen letzten Szenen hat Chahine auch ein allegorisches Bild untergebracht: Ein Sperling entkommt aus seinem Käfig und fliegt in die Freiheit (zur symbolischen Bedeutung des eponymen Vogels siehe die Texttafel vom Anfang). Aus Chahines damaliger Sicht ist der Schluss des Films sehr konsequent und wirkungsvoll. Für mich als neutralen Betrachter aus großer zeitlicher Distanz ist das aber eine Nummer zu patriotisch, pathetisch und martialisch geraten. Die Möglichkeit eines Friedens mit Israel scheint Chahine damals nicht erwogen zu haben. Aber wer hat das schon im Ägypten von 1972 (oder gar 1967)? Erst nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 wurde langsam die Zeit dafür reif.

Nasser hält eine schwere Ansprache im Fernsehen
Ich hatte gewisse Schwierigkeiten, in den Film hineinzufinden. Zwar kreuzen sich, wie erwähnt, die Handlungsstränge schnell, aber trotzdem war für mich nicht so schnell zu erkennen, worauf das alles hinausläuft. Das Erzähltempo ist durchaus hoch, besonders am Anfang, dazu kommt eine nichtlineare Zeitstruktur. Die Geschichte wird insgesamt chronologisch erzählt, aber es gibt viele sehr kurze Flashbacks, die nicht deutlich abgegrenzt sind. So bekam ich erst ungefähr in der Mitte den roten Faden zu fassen, und eine zweite Sichtung war fällig. Die enthüllte dann einen komplexen, aber nie trockenen, sondern sehr lebendigen und in den Details liebevoll gezeichneten Film. Neben dem Hauptthema werden auch weitere Aspekte beleuchtet, beispielsweise das Aufeinandertreffen moderner Sitten (und insbesondere moderner Frauenbilder) aus Kairo und archaischer Vorstellungen in der Provinz am mittleren Nil. Trotz eines ideologisch etwas fragwürdigen Endes ist DER SPERLING ein sehr sehenswerter Film. Um ihn - in der inzwischen wieder weitgehend privatisierten Filmlandschaft Ägyptens - drehen zu können, hatte Chahine eine eigene Firma gegründet und das algerische Office National pour le Commerce et l'Industrie Cinématographique, das die Hälfte der Kosten trug, als Kooperationspartner an Bord geholt. Erst diese algerische Beteiligung (der bei späteren Filmen Chahines weitere folgen sollten) verschaffte ihm die notwendige Unabhängigkeit, um das nach wie vor unbequeme Thema des Films in Angriff nehmen zu können. Wie heikel das Thema noch war, zeigte sich schnell: Der Film wurde 1972 in Ägypten von der Zensur verboten und erst 1974 freigegeben. - DER SPERLING ist in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen, und zwar in einer Box, die auch TATORT HAUPTBAHNHOF KAIRO und DIE RÜCKKEHR DES VERLORENEN SOHNES (1976) sowie drei halbstündige Dokus als Bonus enthält. Eine französische DVD-Box mit DER SPERLING und drei weiteren Chahine-Filmen gibt es auch.

Frauen aus der Provinz und aus Kairo (oben Zebeida, eine Verwandte
von Scheich Achmed, l.u. Baheya, r.u. Fatma)

Dienstag, 2. Juli 2013

Bittere Rache und vertauschte Kinder, oder: Montags immer Ravioli

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE (DAS LEBEN IST EIN LANGER, RUHIGER FLUß)
Frankreich 1988
Regie: Étienne Chatiliez
Darsteller: André Wilms (Jean Le Quesnoy), Hélène Vincent (Marielle Le Quesnoy), Catherine Hiegel (Josette), Daniel Gélin (Docteur Mavial), Benoît Magimel (Maurice „Momo“ Groseille-Le Quesnoy), Valérie Lalande (Bernadette Le Quesnoy-Groseille), Patrick Bouchitey (Père Auberger), Catherine Jacob (Marie-Thérèse)




Es ist Heiligabend, und die Krankenschwester Josette freut sich darauf, den Abend mit ihrem Liebhaber, dem Gynäkologen Mavial, zu verbringen – so wie er es ihr versprochen hat. Doch daraus wird nichts, denn im letzten Moment beschließt der Arzt, den Feiertag doch zu seiner Ehefrau nach Hause zu gehen. Josette tobt! Schon wieder ist sie versetzt worden und steht nach dem Weggang Mavials wie bestellt und nicht abgeholt da. Und dann schreien die beiden kleinen Kinder, die Mavial gerade entbunden hat, sich gleichzeitig auch noch die Lunge aus dem Hals. Impulsiv beschließt die völlig entnervte Krankenschwester, die Identität der beiden Neugeborenen zu tauschen, um ihrem griesgrämigen Liebhaber und überhaupt auch der ganzen Welt eins auszuwischen: das Mädchen der Unterschichtsfamilie Groseille wird fortan bei den gutbürgerlich-reichen Le Quesnoy leben, während deren Junge in der Sozialwohnung aufwachsen wird. Und nur Josette weiß es.

Docteur Mavial und Josette
Zwölf Jahre später sind sie und der Doktor Mavial immer noch ein Paar, doch Mavial lebt immer noch mit seiner Frau, die nun mittlerweile auch erkrankt ist. Josette behandelt er wie stets äußerst verächtlich, wenn er sie nicht zwischen zwei Gläsern Weißwein und der nächsten Entbindung ins Sprechzimmer zerrt, um sich mit ihr zu vergnügen. Als Madame Mavial verscheidet, sieht die Krankenschwester ihre Chance und lädt ihren langjährigen Liebhaber dazu ein, endlich mit ihr zusammen zu ziehen, doch der Arzt lehnt ab. Da gehen Josette definitiv die Pferde durch: sie verfasst ein paar böse Briefe, in denen sie die „Umtausch-Aktion“ von vor zwölf Jahren enthüllt und schickt sie an die Familie Le Quesnoy, an die Familie Groseille, an Mavial (und, wie anzunehmen ist, auch an den örtlichen Ärzteverband).

Die Karriere des ehemals respektierten Arztes ist zerschmettert. Doch Étienne Chatiliez‘ schwarze Komödie überlässt dann die beiden zerstrittenen Liebhaber ihren Problemen und folgt den Auswirkungen der Enthüllung auf die beiden völlig unterschiedlichen Familien. Die Le Quesnoy sind eine überaus wohlhabende, großbürgerliche Familie wie aus dem Bilderbuch (bei der Sichtung könnte man auch denken: wie aus der Hölle). Vater Le Quesnoy ist der Direktor der städtischen EDF, Mutter Le Quesnoy ist Hausfrau und kümmert sich um die fünf Kinder und die Organisation des Haushaltes (das heisst, sie kommandiert die Haushälterin herum). Alles ist streng durchorganisiert: die Kinder waschen sich natürlich vor dem Essen die Hände und Montags gibt es immer Ravioli. Am Essenstisch wird das nächste Kanu-Ferienlager der Kinder mit Vorfreude, die vielleicht jüdische Herkunft des Verlobten einer Familienfreundin mit skeptischer Sorge und die schwierige Situation der sozial Benachteiligten mit salbungsvoller Selbstgerechtigkeit diskutiert. Das Milieu ist konservativ-katholisch: begeistert nehmen die Le Quesnoy am kirchlichen Gemeinde-Leben teil, regelmäßiger außerschulischer Religionsunterricht für die Kinder und Engagement bei kitschigen Kinderchor-Aufführungen inklusive. Der Stock, den alle Le Quesnoy offenbar Tag und Nacht im Arsch tragen, ist gewissermaßen de rigeur!

oben: die Le Quesnoy; unten: die Groseille
Die Groseille hingegen wohnen in einem Sozialbau und zapfen ihren Strom illegal ab. Vater Groseille ist ein Kriegsinvalide, der den ganzen Tag Karten spielt, über die Araber schimpft und stolz darauf ist, wie er ihnen während des Algerienkriegs eingeheizt hat. Mutter Groseille guckt vor allem Fernsehen und kümmert sich darum, in welchem Blond-Ton sie heute ihre Haare färben wird. Den einen Sohn sieht man erst später im Film, weil er wegen Diebstahl im Gefängnis sitzt und der jüngste ist offenbar geistig etwas zurückgeblieben. Die älteste Tochter teilt Beschäftigungsarten der Mutter. Um den Lebensunterhalt der Familie kümmern sich die beiden mittleren Söhne, (besonders aber Maurice, der vertauschte Le Quesnoy), in dem sie alten Damen Handtaschen klauen oder sonstige kleine Betrügereien organisieren.

Auf die Nachricht, die ihnen die frustrierte Josette schickt, reagieren beide Familien ebenfalls sehr unterschiedlich. Nachdem die erste Nervenkrise (und die Brechreiz-Anfälle) Marielles überwunden sind, beschließen die Le Quesnoy-Eltern, den „verlorenen Sohn“ Maurice unter jeglichem Preis wieder in seine recht- und standesmäßige Umgebung „zurückzuholen“. Über den Preis haben sich die Groseille ihrerseits schon Gedanken gemacht, und besonders der „verlorene“ Maurice regt dazu an, die Le Quesnoy ordentlich auszunehmen. Nachdem einige Bündel Geldscheine übergeben worden ist, einigen sich Jean Le Quesnoy und die Groseille-Eltern darauf, dass Maurice zu seiner biologischen Familie übersiedelt, Bernadette jedoch erst einmal eine Weile bei den Le Quesnoy bleibt, um die junge Teenagerin zu schonen – angesichts dessen, dass sie erste Anzeichen pubertärer Bockigkeit und Rebellion zeigt, ist das vorerst keine schlechte Idee.

Maurice verrät Bernadette ein Geheimnis.
Ihr vergeht daraufhin der Appetit auf Suppe.
Maurice passt sich an die neue Situation sehr schnell an, zumal ihm das nunmehr sehr viel bequemere Leben verständlicherweise gut behagt. Die großbürgerlichen Umgangsformen seiner „neuen“ Familie nimmt er rasch an, wenngleich nur äußerlich: emotionale Bindungen baut er keine auf, denn diese gehören seiner „alten“ Familie, den Groseille. Auch das Tafelsilber der Le Quesnoy eignet sich Maurice nach und nach an, um es in seinem alten Viertel zu Bargeld zu verwerten. Seine „neuen“ Geschwister wurden von den Eltern nicht über die wahren Hintergründe informiert: ihnen sagen sie, dass sie Maurice aus christlich-wohltätigen Motiven adoptiert haben. Als jedoch Bernadette ihrem „neuen“ Bruder gegenüber sehr „klassenbewusst“ mitteilt, dass sie arme Leute hasst und verabscheut, weiht er sie in das Geheimnis ein. Es kommt zur Krise: in einer sehr denkwürdigen Szene verschüttet Bernadette beim Familien-Mittagsmahl ihre grüne Suppe auf das weiße Tischtuch, verstößt mit aller verbaler Gewalt ihre Eltern, ihre bisherige Familie und ihre „richtige“ Familie, sperrt sich in ihrem Zimmer ein und reißt schließlich sogar aus.

Der wunderschöne Schein der Le Quesnoy-Familie bricht immer mehr zusammen. Sohnemann Paul bandelt mit der grell-vulgären Groseille-Tochter Roselyne an und will sich ein Motorrad kaufen. Logisch, dass es für ihn und die anderen Le Quesnoy-Söhne nur noch wenige Schritte hin zu Baden an illegalen Stränden, Bier-Trinken, Rauchen und schließlich Klebstoff-Schnüffeln ist. Das alles ist dann auch für Marielle Le Quesnoy zu viel, die nach und nach eine erhöhte Neigung zu Alkoholkonsum und erratischem Verhalten an den Tag legt.

Der Debütfilm des früheren Werbespot-Filmers Étienne Chatiliez zeichnet sich, wie auch seine späteren zynischen Komödien, durch ein hervorragendes Schauspieler-Ensemble aus, das bis in die letzte kleine Nebenrolle perfekt besetzt ist. Mehr als alles andere ist LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ein Schauspieler-Film, dessen zahlreiche Humor-Pointen eben vor allem dank der tollen Darsteller gelingen. Wo soll man hier nur anfangen? Bei den Kindern? Die Hauptrolle des Films hat zweifelsohne Benoît Magimel als Maurice. Als 12-Jähriger wurde er über eine Anzeige in der Tageszeitung „Libération“ auf die Rolle des „Momo“ aufmerksam. Dass er damals nur ein Laie war, ist fast unglaublich: die verschiedenen „Masken“ (von Zynismus bis Engelsgesicht), die seine Rolle jeweils in unterschiedlichen Umgebungen fordert, meistert er scheinbar mühelos. Magimel ist mittlerweile ein etablierter Schauspieler (er hat u. a. mit Michael Haneke, Jean Becker und mehrmals mit Claude Chabrol gedreht), ganz im Gegensatz zur nicht weniger überzeugenden Valérie Lalande: die angepisst-rebellische Bernadette blieb ihre einzige Filmrolle. Das selbe gilt auch für Guillaume Hacquebart, der die Wandlung des Paul Le Quesnoy vom musterhaften Ältesten zum Möchtegerne-Motorrad-Rebell solide darstellt. Claire Prévost, die ihm als nuttig-trashige Groseille-Tochter Roselyne im Film den Kopf verdreht, spielt seitdem eher gelegentlich in TV-Produktionen mit. 

Bei den Erwachsenen ist Daniel Gélin derjenige, zu dem man hier an dieser Stelle wohl am wenigsten sagen muss. Besonders denkwürdig ist der Moment, nach dem er den Rachebrief seiner Geliebten gelesen hat: der sonst immer so gefasste Arzt kommt vor lauter Erstaunen kaum noch klar, und stammelt völlig ungläubig und empört wiederholt „la salope“ (diese Schlampe) vor sich hin. Catherine Hiegel, die zwar einige Filme gedreht hat, ist in Frankreich vor allen Dingen als renommierte Theater-Schauspielerin der Comédie-Française bekannt. Auch André Wilms, der den Vater Le Quesnoy mit überaus passender Trockenheit darstellt, ist vor allen Dingen ein Theaterschauspieler, hat aber auch immer wieder mit Aki Kaurismäki (u. a. LE HAVRE) zusammengearbeitet und später auch in Chatiliez‘ TATIE DANIELLE und TANGUY gespielt.

Zunächst streng und resolut, später etwas aufgelöst:
Die wunderbare Hélène Vincent als Marielle Le Quesnoy.
Ohne Zweifel die schwierigste, weil zutiefst undankbarste Rolle, spielt Hélène Vincent als Marielle Le Quesnoy: katholisch-verklemmte, scheinheilige Spießigkeit auf zwei Beinen, die nach und nach immer mehr die Fassung verliert und als groteskes Alkohol-Wrack endet. Grandioser Mut zur Hässlichkeit! Zwischendurch erinnert ihre Stimme ein wenig an den Klang von Kreide auf einer Schultafel, was hier sehr adäquat erscheint. Der „César“ für die beste weibliche Nebenrolle im Jahr 1989 war mehr als verdient!

Sehr bemerkenswert ist auch Patrick Bouchitey als hyperaktiv-engagierter und überaus schleimiger katholischer Priester Auberger. Seine Sternstunde hat er bei der Kinderchor-Aufführung, als er das Lied „Jésus reviens“ (Jesus komm zurück) anstimmt. Dass LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE in Frankreich als Kultfilm gefeiert wird, ist sicherlich in erheblichen Teilen dieser Szene zu verdanken, die zwar dramaturgisch relativ sinnfrei ist, jedoch die Atmosphäre bissiger Satire gegen katholisch-konservative Spießer-Kultur auf die Spitze treibt.

Dieser unglaubliche Moment ist hier zu sehen. Damit auch Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, ihn mit Genuss anschauen können, ist hier der Text (von Étienne Chatiliez und Co-Drehbuchautorin Florence Quentin) mit eigener Übersetzung:

Quand il reviendra il fera grand jour
Pour fêter celui qui inventa l‘amour
Au fond d‘une étable, il naquit de Marie
Personne n‘avait voulu de lui
(Wenn er zurückkommt wird es taghell sein
Um jenen zu feiern, der die Liebe erfand
In der Tiefe eines Stalls wurde er von Maria geboren
Niemand hatte ihn haben wollen)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien
(Jesus komm zurück, Jesus komm zurück
Jesus komm zurück zu den Deinigen
Zeig uns von oben am Kreuz den Weg
Du, der ihn so gut kennt)

Toute sa vie, il prêchait le bonheur, la paix
La bonté et la justice étaient sa loi
Quand il reviendra, il nous pardonnera
Comme il l‘avait fait pour Judas
(Sein ganzes Leben lang predigte er das Glück, den Frieden
Die Güte und die Gerechtigkeit waren sein Gesetz
Wenn er zurückkommt, wird er uns verzeihen
Wie er das für Judas getan hatte)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien

Dans une grande clarté il apparaîtra
Comme il le fit pour Marie de Magdala
Le monde entier laissera éclater sa joie
En chantant: Jésus est là
(In einem großen Licht wird er erscheinen
Wie er es für Maria von Magdala getan hat
Die ganze Welt wird wird vor Freude platzen
In dem sie singt: Jesus ist hier)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE war 1988 mit knapp über vier Millionen Eintritten der vierterfolgreichste Film, der in diesem Jahr in den französischen Kinos lief. Der überwältigende Erfolg ermunterte die Macher dazu, eine Single des Liedes (mit einer zusätzlichen Strophe!) herauszugeben (hier ein Link mit Abbildung des Covers und einer Hörprobe).

Wittert den Duft von Ravioli: Père Auberger
Im Hintergrund: Paul Le Quesnoy
Ebenso für den Kultstatus des Films dürfte eine kleine Phrase des Films sein, die die satirische Darstellung provinzieller Spießbürgerlichkeit am wohl treffendsten zusammenfasst: als der Priester Auberger die Familie Le Quesnoy eines Abends kurz besucht, merkt er beiläufig an, dass es im Haus gut rieche und Marielle Le Quesnoy sagt daraufhin „C‘est lundi, c‘est ravioli“ (sinngemäß: „Es ist Montag, es gibt Ravioli“). Der Spruch erfährt im weiteren Verlauf des Films zwei kleine Variationen. Als Marielle Le Quesnoy ihren Zusammenbruch erleidet und nicht mehr kochen kann, werden (es ist wohl Montags) Fertig-Dosenravioli gereicht: die Kinder sind sich daraufhin uneinig, ob diese besser als Muttis Ravioli schmecken. Wenig später erwischt Jean Le Quesnoy seine Söhne, die Groseille-Söhne und einige von deren Freunden dabei, wie sie Klebstoff in der Garage schnüffeln und fragt zornig, was das denn sein solle. High und kichernd antwortet ihm sein ältester Sohn Paul mit... „C‘est lundi, c‘est ravioli“. Der Spruch ist dermaßen kultig geworden, dass sogar damit bedruckte T-Shirts verkauft wurden (siehe hier: der Status ausverkauft deutet auf den Erfolg dieses Produkts hin)!

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ein witziger Film ist und bleibt sicher nicht grundlos als satirisch-bissige Komödie in Erinnerung, die mit einem herrlich bösen Humor glänzt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich Chatiliez‘ Debüt allerdings auch als sehr düster, pessimistisch und zynisch. Stellenweise sind auch blanker Nihilismus und Misanthropie spürbar: ein trostloses Bild der Menschheit durchzieht den Film. So interessant, skurril und witzig die meisten Figuren sind, so sind sie auch durch die Bank antipathisch und zutiefst korrupt – sieht man von den allerjüngsten der Kinder ab, die sowieso eine periphere Rolle spielen. Egoismus, Geldgier, Rassismus, Scheinheiligkeit, Intoleranz und moralische Korruption prägen die Groseille genauso wie die Le Quesnoy. Alle beide treten mit Vergnügen jeweils nach unten, in Richtung der jeweils Schwächeren: die Le Quesnoy in den eigenen vier Wänden gegen die Groseille, die Groseille gegen den arabischen Lebensmittelhändler um die Ecke. Davon sind auch die Teenager nicht ausgenommen. Die Frage, inwiefern Umwelt oder die genetischen Prädispositionen prägender auf den Menschen wirken, wird hier absolut eindeutig beantwortet: egoistisch, dumm und moralisch korrupt sind alle Menschen – kleine Variationen in der Form (aber nicht im Inhalt) ergeben sich aus den sozialen Umständen. Alle Figuren in LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE bleiben (fast unmenschliche) Typen und jede weitere Facette, die wir über sie lernen, ist meistens eher abstoßend. Die Radikalität in den Charakterzeichnungen ist für ein Mainstream-Film bemerkenswert: mutigerweise wird der Zynismus bis zum bitteren Ende durchexerziert. In seinen späteren Filmen ist Chatiliez sicherlich nicht zum verständnisvollen Humanisten geworden, milderte jedoch die Erbarmungslosigkeit seiner satirischen Vision etwas ab.

Süße Rache mit einem Schuss Cognac
Vielleicht höchstens bei den beiden Hauptfiguren der Rahmenhandlung, der Krankenschwester Josette und dem Gynäkologen Mavial, findet sich etwas wirklich Menschliches – bedingungslose und reine Liebe, die freilich beide ins Verderben stürzt. Zweifelsohne liebt Mavial seine Ehefrau, und seine tiefe Trauer nach ihrem Tod ist sicherlich nicht gespielt. Trotz dieses sympathischen Charakterzugs ist er aber nicht nur ein gefühlskalter Alkoholiker, sondern missbraucht auch völlig schamlos seine Liebhaberin (die, wie wir dann herausfinden, sogar einmal von ihm schwanger geworden ist und zur Abtreibung genötigt wurde). Josettes bedingungslose Liebe zu Mavial ist in diesem Licht etwas unverständlich, wenngleich um so bemerkenswerter. So irrational ihre Liebe, um so heftiger ist dann auch ihre Rache, die die Haupthandlung des Films überhaupt erst einleitet. Die letzte Minute des Films, nachdem die Konflikte der Groseille und Le Quesnoy vorerst durch die Sommerferien aufgeschoben werden, kehrt wieder zur Rahmenhandlung zurück und fasst den zynischen Humor und das trostlose Weltbild des Films zusammen: zufrieden kann Josette mit Cognac und aufgedrehtem Radio in einem schönen Strandhäuschen feiern – sie hat nun beides bekommen, ihre Rache und ihren Liebhaber!

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ist in französischen, britischen und deutschen DVD-Editionen verfügbar.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Nachtasyl - der Dieb, der Baron und die Schnecke

LES BAS-FONDS (NACHTASYL)
Frankreich 1936
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Jean Gabin (Pepel), Louis Jouvet (Baron), Junie Astor (Natacha), Suzy Prim (Vassilissa), Vladimir Sokoloff (Kostylev), Robert Le Vigan (der Schauspieler), Jany Holt (Nastia), Gabriello (Inspektor), René Génin (Luka)

Ein Baron mit Schnecke
Am Anfang kreuzen sich die Wege von zwei Männern, die bisher nichts gemein hatten, abgesehen davon, dass sie beide Diebe sind. Der Baron (seinen Namen erfährt man nicht, ebenso wie jenen des Schauspielers) ist Angehöriger der Aristokratie und ein hoher Beamter, doch seine Spielsucht hat ihn ruiniert. Er hat nicht nur enorme Schulden, sondern er hat auch in eine geheime Kasse seiner Behörde gegriffen, was nicht unbemerkt blieb. Zunächst sah man darüber hinweg, doch nun fordert ihn sein Vorgesetzter in diplomatisch gedrechselten Worten auf, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ein letzter Versuch, im Spielcasino alles zurückzugewinnen, scheitert komplett, und er ist nun endgültig bankrott und wird von seinen Ämtern suspendiert. Für den nächsten Tag haben sich die Gläubiger mit dem Gerichtsvollzieher angesagt, um den geräumigen Stadtpalast des Barons leerzuräumen. Als er nächtens mit Selbstmordgedanken vom Casino dorthin zurückkehrt, trifft er einen unerwarteten Gast. - Pepel ist ein kleiner Dieb, der nichts anderes gelernt hat, weil schon sein Vater ein Dieb und Dauergast im Gefängnis war. Er haust in einem Nachtasyl, einem trostlosen Ort voller gescheiterter Existenzen, der im Wesentlichen aus einem einzigen großen Raum im Souterrain besteht, der auch tagsüber im Halbdunkel liegt. Dessen Besitzer, der windige Kostylev, ist zugleich Pepels Hehler, und Kostylevs Frau Vassilissa ist seine Geliebte. Er ist ihrer inzwischen überdrüssig, doch sie hängt an ihm wie eine Klette. Aber Pepel hat inzwischen ein Auge auf Vassilissas jüngere Schwester Natacha geworfen. Diese fühlt sich einerseits zu Pepel hingezogen, doch andererseits verachtet sie seine verbrecherische Lebensweise. Unter den Insassen des Asyls nimmt Pepel eine Sonderstellung ein: Er ist der einzige, der über Selbstachtung und Tatkraft verfügt, und der einer halbwegs einträglichen Arbeit nachgeht - und wenn es auch nur Einbruch und Diebstahl ist. Im Palast des Barons findet er aber in jener Nacht nicht die erhofften Reichtümer, und dann wird er auch noch vom Baron überrascht.

Der Baron noch in Amt und Würden; Pepel; Natacha; der Schauspieler
Die Begegnung verläuft anders, als man es unter solchen Umständen erwarten könnte. Der Baron erkennt in Pepel gewissermaßen einen Kollegen - Diebe unter sich -, und weil ihm in seinem Haus ohnehin nichts mehr wirklich gehört, lädt er Pepel kurzerhand ein. Der ist zunächst verblüfft und etwas misstrauisch, aber dann lässt er sich darauf ein. Und so gibt es ein improvisiertes Abendessen, und dann wird Karten gespielt bis zum Morgengrauen. Am Ende haben die beiden eigentlich sehr ungleichen Männer Freundschaft geschlossen, und der Baron hat aus der Unterhaltung mit Pepel die Erkenntnis gewonnen, dass auch ein Leben ohne Geld und Status lebenswert sein könnte. Zum Abschied schenkt er Pepel eine Bronzestatuette von zwei Pferden. Der wird damit von der Polizei aufgegriffen und ironischerweise für einen Dieb gehalten, doch der verständigte Baron, dessen Abstieg sich noch nicht herumgesprochen hat, eilt ins Polizeirevier und bekommt Pepel problemlos frei. Beim erneuten Abschied verspricht er, dass man sich wohl bald wiedersehen werde, ohne zu konkretisieren, was er damit meint. Doch das erweist sich bald: Er taucht in abgetragener Kleidung im Nachtasyl auf. Nachdem er buchstäblich alles bis auf die Kleider am Leib verloren hat, wird er jetzt selbst im Asyl wohnen. Dort hat sich unterdessen einiges getan. Pepel hat Vassilissa endgültig den Laufpass gegeben, aber die reagiert auf ihre eigene Art: Sie schlägt Pepel unverblümt vor, er solle Kostylev umbringen, dann könnten die beiden verschwinden und gemeinsam von dem Geld leben, das Kostylev durch seine Hehlerei angehäuft hat. Pepel lehnt nur angewidert ab. Kostylev droht Ungemach durch eine angekündigte Untersuchung der Polizei, aber ein korrupter jovialer Inspektor, der seine schützende Hand über seine krummen Geschäfte hält, bietet einen Ausweg: Er hat ebenso wie Pepel ein Auge auf Natacha geworfen, und so wird diese von Kostylev und Vassilissa genötigt, einen Sonntagsausflug mit dem Inspektor in ein Restaurant zu machen. Doch Pepel erwischt die beiden, was mit einem blauen Auge für den Inspektor endet und Pepel und Natacha dazu führt, sich gegenseitig ihre Liebe zu erklären. Pepel, der das Leben im Asyl schon lange satt hat, verspricht, das Stehlen aufzugeben und stattdessen seinen Unterhalt als ehrlicher Handwerker zu verdienen.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Aber zunächst kommt es anders. Nachdem sich der Inspektor bei Kostylev über den Vorfall im Restaurant beschwert hat, verprügeln dieser und seine Frau Natacha. Pepel schreitet ein und will nun seinerseits Kostylev verprügeln oder gar umbringen. Die anderen Bewohner des Asyls kommen hinzu, und im allgemeinen Tumult wird Kostylev umgestoßen, er fällt mit dem Kopf auf einen Amboss und stirbt. Das nutzt Vassilissa zur Rache: Sie behauptet gegenüber der Polizei, Pepel habe ihren Mann ermordet. Obwohl die anderen Asylbewohner für ihn aussagen, wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Vassilissa, die Kostylev jetzt los ist, packt ihre Koffer, um mit seinem Geld aus der Stadt (und aus dem Film) zu verschwinden, ohne juristisch oder vom Schicksal bestraft zu werden. Natacha dagegen bleibt und wartet auf Pepel. Am Tag seiner Freilassung holt sie ihn am Gefängnis ab, und nachdem sich die beiden im Asyl vom Baron verabschiedet haben, wandern sie auf einer Landstraße in eine gemeinsame Zukunft, die von ehrlicher Arbeit geprägt sein wird.

Auf baldiges Wiedersehen
LES BAS-FONDS beruht auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Maxim Gorki (das nacheinander zwei Titel trug - das deutsche "Nachtasyl" ist eine Übersetzung des ersten Titels, das franz. "Les Bas-fonds" und das engl. "The Lower Depths" des zweiten Titels, den das Stück bekam, nachdem es sich Gorki anders überlegt hatte). Doch Kenner von Gorki werden sich inzwischen wundern: Ziemlich wenig von dem, was ich bisher beschrieben habe, kommt in dem Stück vor, und jede Menge von dem, was bei Gorki passiert, habe ich noch nicht erwähnt. Renoir verstand Literaturverfilmungen immer so, nicht einfach eine Vorlage von einem Medium in ein anderes zu transportieren, sondern sich von einer Vorlage zu einer eigenständigen Schöpfung inspirieren zu lassen, und diese Einstellung rechtfertigt per se Abweichungen vom Original. Doch bei LES BAS-FONDS überstiegen diese Abweichungen das sonst bei ihm übliche Ausmaß. Gorkis Stück spielt komplett im Asyl, während im Film nicht einmal die Hälfte der Zeit dort verbracht wird. Etliche von Gorkis Figuren wurden von Renoir und seinem Co-Autor Charles Spaak in ihrer Bedeutung stark reduziert, bis hin zu Statisten ohne Dialoge, oder sie verschwanden ganz. Dagegen wurden die Rollen von Pepel und dem Baron stark ausgebaut und auch viel positiver gestaltet als im Stück. Nur wenige der ursprünglichen Charaktere bleiben im Film erwähnenswert. Da ist einmal der alte Vagabund Luka, der aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe heraus den anderen im Asyl Trost spendet, was sich jedoch als zwiespältig entpuppt. Einerseits erleichtert er der sterbenskranken Anna mit seinen Tröstungen den unausweichlichen Tod (sie stirbt dann auch direkt nach ihrer einzigen Szene im Film), andererseits macht er dem Schauspieler Hoffnungen, die sich nicht erfüllen lassen. Dieser Schauspieler, der, wie oben schon erwähnt, namenlos bleibt, ist starker Alkoholiker und musste deshalb seinen Beruf schon vor Jahren aufgeben, doch Luka erweckt in ihm die Hoffnung, er könne in einer Klinik mit etwas Willensstärke von seiner Sucht geheilt werden und dann auf die Bühne zurückkehren. Doch am Ende des Films, während gleichzeitig Pepel aus dem Gefängnis entlassen wird, und Luka inzwischen weitergezogen ist, macht der Baron dem Schauspieler klar, dass das nur Illusionen sind. Aller Hoffnungen beraubt, und schon halb im Delirium, erhängt sich der Schauspieler (was den Schluss des Stücks bildet, während im Film noch der Aufbruch von Natacha und Pepel folgt). Die letzte nennenswerte Figur ist Nastia, eine Prostituierte, die den anderen ständig von ihrem Liebhaber erzählt, der sie eines Tages aus der Hölle des Asyls holen wird. Doch der Liebhaber existiert nicht, es handelt sich um ein Wolkenkuckucksheim, das sie sich aus Kitschromanen zusammenliest; alle wissen es, und alle (außer Luka) machen sich darüber lustig.

Nastia geht ihrer Arbeit als Prostituierte nach
Dass Pepel und der Baron den Film dominieren, liegt nicht nur am Drehbuch, sondern auch an der grandiosen Besetzung. Louis Jouvet war zwar als Darsteller und Regisseur hauptsächlich ein Theaterstar, aber seit den 30er Jahren brillierte er auch regelmäßig auf der Leinwand, und seinem Baron verleiht er die nötigen Nuancen, um ihn zu einer ungemein interessanten Figur zu machen. Beispielhaft ist etwa eine Szene, in der Pepel und der Baron im Gras am Ufer eines russischen Flusses liegen (der für Eingeweihte wie die Marne aussieht, weil es die Marne ist) und sich von ihren Zukunftsplänen erzählen, wobei der Baron nicht Pepel ansieht, sondern fasziniert eine Schnecke betrachtet, die ihm auf die Hand gekrochen ist (die Schnecke stand übrigens nicht im Drehbuch, sondern wurde von Renoir improvisiert, nachdem die Szene für seinen Geschmack zunächst nicht richtig funktionierte). Jean Gabin war Mitte 1936 noch kein großer Star, aber LES BAS-FONDS beförderte ihn ein großes Stück in diese Richtung, und innerhalb weniger Jahre war er mit Filmen wie Renoirs LA GRANDE ILLUSION und LA BÊTE HUMAINE und Marcel Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE dort angekommen. Sein bodenständiger, im Grunde gutmütiger, aber bisweilen aggressiver Pepel gibt schon die Richtung dieser späteren Rollen vor, aber zu Gabins geradezu archetypischer Leinwand-Persona aus den letztgenannten drei Filmen fehlt noch der tragisch-fatalistische Zug zum Tod. Das dritte darstellerische Schwergewicht in LES BAS-FONDS ist Robert Le Vigans Schauspieler. Es ist eine pathetische, theatralische Figur, voller Selbstmitleid, gelegentlich Shakespeare-Verse deklamierend, und Le Vigan spielt das voll aus. Man kann das übertrieben finden, aber der Charakter ist jedenfalls in sich schlüssig. Es ist ein Jammer, dass dieser interessante Darsteller Le Vigan nach der Besetzung Frankreichs offen mit den Nazis sympathisierte und über das Radio antisemitische Botschaften verbreitete. Nach dem Krieg bekam er die Quittung präsentiert: Er wurde zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach drei Jahren wurde er auf Bewährung entlassen, was er nutzte, um sich zunächst nach Spanien und dann nach Argentinien abzusetzen. Leider gibt es in LES BAS-FONDS auch einen eklatanten schauspielerischen Schwachpunkt, und der heißt Junie Astor. Sie war eine Freundin von Produzent Kamenka (oder vielleicht auch seine Geliebte), der sie Renoir aufnötigte, und dieser äußerte sich später sehr unverblümt über ihr mangelndes Talent und ihr ausdruckloses Gesicht. Es ist zwar nicht in allen Szenen so schlimm, aber gerade in ihren gemeinsamen Auftritten mit Gabin, die ja eigentlich ein emotionales Zentrum des Films bilden sollten, wirkt sie schon sehr blass. So bleibt die Freundschaft zwischen Pepel und dem Baron eine weitaus interessantere Beziehung als die Liebe zwischen Pepel und Natacha.

Pepel, Vassilissa und Kostylev
Für die Aufwertung des Barons und Pepels gibt es außer der Absicht, Jouvet und Gabin Gelegenheit zur Entfaltung zu verschaffen, noch einen weiteren und tieferen Grund. Gorkis Nachtasyl ist eine in sich abgeschlossene Welt - nicht nur räumlich (wie gesagt spielt das ganze Stück im Asyl), sondern auch in Bezug auf die (nicht vorhandene) soziale Mobilität: Es gibt keinen Ausweg außer dem Tod. Das aber widerspricht Renoirs Ansichten fundamental. In seinen Filmen gibt es immer Möglichkeiten zur Veränderung, zum Besseren wie zum Schlechteren, Gelegenheiten für die Protagonisten, ihre eigene Zukunft zu beeinflussen. Und genau das wird in LES BAS-FONDS von den gegenläufigen Handlungssträngen der beiden Freunde widergespiegelt: Pepels bescheidener (aber aus seiner Sicht essentieller) Aufstieg vom Verbrecher zum Handwerker und der Abstieg des Barons aus der Aristokratie ins Proletariat. Dabei repräsentiert Pepels Entwicklung auch den optimistischen Geist der damals noch intakten Volksfront. Wenn man mag, kann man in der Freundschaft der beiden auch eine Metapher für die mögliche Aussöhnung der gesellschaftlichen Klassen sehen, aber ich finde, dass man das nicht überstrapazieren sollte. Niemand weiß, wie die Begegnung der beiden verlaufen wäre, wenn der Baron in jener Nacht nicht alles verloren, sondern alles gewonnen und somit seinen Status gewahrt hätte. Der Abstieg des Barons ist zwar nicht zu leugnen, aber er hat nicht nur tragische Aspekte, sondern er ist auch eine Befreiung von den sozialen Konventionen seines Standes. Nachdem der Baron erst einmal erkannt hat, dass man nicht nur in einem Federbett, sondern auch im Gras bequem schlafen kann, und dass ein Kartenspiel um ein paar Kopeken ebenso spannend sein kann wie eines um 1000 Rubel, kann er unbeschwert in den Tag hinein leben und sich weiter dem Glücksspiel widmen. Deshalb bleibt er am Ende auch freiwillig im Asyl, statt Pepel zu begleiten. Natacha, Vassilissa und Kostylev dienen dazu, um die Geschichte vom sozialen Auf- und Abstieg herum eine melodramatische Handlungsebene um Liebe, Eifersucht und Tod zu konstruieren, aber die anderen Bewohner des Asyls sind dazu nicht notwendig. Sie liefern nur den atmosphärischen Hintergrund des Films und werden von Renoir in ihrer Bedeutung entsprechend reduziert. Übrigens hat Renoir sein Drehbuch an Gorki geschickt, und der hat zu allen Änderungen am Stück seine Zustimmung erklärt und das sogar öffentlich kundgetan. Zumindest erzählt Renoir das so in einer sechsminütigen Einführung in LES BAS-FONDS, die er wohl für das französische Fernsehen aufnahm (das Zeitfenster für diese Korrespondenz war etwas eng, denn Gorki starb im Juni 1936).

Neuankömmling im Asyl
Die Idee zu LES BAS-FONDS hatte Produzent Alexandre (ursprünglich Alexander) Kamenka, der sie an Renoir herantrug. Der Exilrusse Kamenka hatte einen gewissen Anteil daran, dass Renoir überhaupt Regisseur geworden war. Als junger Mann ging Renoir in den frühen 20er Jahren sehr häufig ins Kino, aber er sah fast nur Hollywoodfilme, denn die französischen Filme dieser Zeit fand er langweilig und prätentiös. Unter diesen Umständen schien ihm eine eigene Karriere im Film aussichtslos. Doch 1923 produzierte Kamenka mit einer gemischten Crew aus Russen und Franzosen LA BRASIER ARDENT (Regie und Hauptrolle Ivan Mosjoukine), der offenbar ein unterhaltsames Spektakel war. Renoir war begeistert, und er war jetzt überzeugt, dass man auch in Frankreich solche Filme drehen konnte, wie sie ihm vorschwebten. 1924 nahm er seinen ersten Film in Angriff. - Obwohl die Dreharbeiten zu LES BAS-FONDS wegen der Verzögerungen bei PARTIE DE CAMPAGNE mit zwei Wochen Verspätung begannen, lief die Produktion völlig reibungslos. Der Film war an der Kasse ein enormer Erfolg (bei Renoir in den 30er Jahren eher die Ausnahme als die Regel). Die Aufnahme bei den Kritikern war gemischt, aber es gab einen Prix Louis-Delluc (den ersten, der überhaupt vergeben wurde). Eine Eigenheit von LES BAS-FONDS habe ich oben schon mit der Erwähnung der Marne angedeutet: Der Film spielt ja eigentlich in Russland, die Charaktere haben russische Namen, die Polizisten tragen russische (oder irgendwie russisch aussehende) Uniformen. Und doch ist das alles erkennbar nicht Russland, sondern Frankreich. Das liegt nicht nur an den Schauplätzen, sondern vor allem an der Besetzung. Um den Effekt zu vermeiden, hätte Renoir wohl mit Exilrussen als Darstellern arbeiten müssen. Die gab es in Frankreich reichlich, und Kamenka hatte auch die nötigen Kontakte. So hätte wohl Mosjoukine auch einen guten Baron abgeben können. Doch Renoir beschränkte sich auf Vladimir Sokoloff (und Jany Holt war eine gebürtige Rumänin). Ironischerweise beschwerten sich einige Kritiker, dass Sokoloff unter all den Franzosen "zu russisch" wirke. In der oben erwähnten Einführung erzählt Renoir, er habe von vornherein beabsichtigt, den Film nicht russisch, sondern französisch aussehen zu lassen. Ob das nun stimmt oder nicht - russisches Flair darf man von LES BAS-FONDS jedenfalls nicht erwarten. Die Stärken (und leider auch Schwächen) liegen bei den Schauspielern, und die Kameraarbeit (wie zu erwarten wieder mit reichlich deep focus) erfüllt die von Renoirs früheren Filmen gesetzten Standards, mit einigen interessanten Plansequenzen und stimmungsvoll-schummrigen Aufnahmen aus dem Asyl mit seiner verwinkelten Holz-Architektur.

Im Asyl (r.o. Luka mit dem Schauspieler)
1957 drehte Akira Kurosawa mit DONZOKO seine eigene, äußerst sehenswerte Version der Geschichte (dt. ebenfalls NACHTASYL). Kurosawa verlegte die Handlung ins Tokyo des 19. Jahrhunderts, ansonsten hielt er sich aber viel enger an die Vorlage als Renoir. Und obwohl Toshirō Mifune den Dieb spielt, ist DONZOKO ein astreiner Ensemblefilm, und kein Starfilm wie LES BAS-FONDS. Renoir, der DONZOKO in den 70er Jahren sah, bezeichnete ihn als "viel wichtiger" als seinen eigenen Film. Diese beiden bekanntesten Verfilmungen des Stoffs (es gibt noch weitere) sind zusammen in einem 2-DVD-Set von Criterion in den USA erschienen (als THE LOWER DEPTHS). Wer keine Probleme mit Regionalcode 1 hat, kann beherzt zu dieser Version greifen. Ansonsten ist LES BAS-FONDS auch in Frankreich auf DVD erhältlich.

Am Flussufer