Donnerstag, 20. Juni 2013

Nachtasyl - der Dieb, der Baron und die Schnecke

LES BAS-FONDS (NACHTASYL)
Frankreich 1936
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Jean Gabin (Pepel), Louis Jouvet (Baron), Junie Astor (Natacha), Suzy Prim (Vassilissa), Vladimir Sokoloff (Kostylev), Robert Le Vigan (der Schauspieler), Jany Holt (Nastia), Gabriello (Inspektor), René Génin (Luka)

Ein Baron mit Schnecke
Am Anfang kreuzen sich die Wege von zwei Männern, die bisher nichts gemein hatten, abgesehen davon, dass sie beide Diebe sind. Der Baron (seinen Namen erfährt man nicht, ebenso wie jenen des Schauspielers) ist Angehöriger der Aristokratie und ein hoher Beamter, doch seine Spielsucht hat ihn ruiniert. Er hat nicht nur enorme Schulden, sondern er hat auch in eine geheime Kasse seiner Behörde gegriffen, was nicht unbemerkt blieb. Zunächst sah man darüber hinweg, doch nun fordert ihn sein Vorgesetzter in diplomatisch gedrechselten Worten auf, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ein letzter Versuch, im Spielcasino alles zurückzugewinnen, scheitert komplett, und er ist nun endgültig bankrott und wird von seinen Ämtern suspendiert. Für den nächsten Tag haben sich die Gläubiger mit dem Gerichtsvollzieher angesagt, um den geräumigen Stadtpalast des Barons leerzuräumen. Als er nächtens mit Selbstmordgedanken vom Casino dorthin zurückkehrt, trifft er einen unerwarteten Gast. - Pepel ist ein kleiner Dieb, der nichts anderes gelernt hat, weil schon sein Vater ein Dieb und Dauergast im Gefängnis war. Er haust in einem Nachtasyl, einem trostlosen Ort voller gescheiterter Existenzen, der im Wesentlichen aus einem einzigen großen Raum im Souterrain besteht, der auch tagsüber im Halbdunkel liegt. Dessen Besitzer, der windige Kostylev, ist zugleich Pepels Hehler, und Kostylevs Frau Vassilissa ist seine Geliebte. Er ist ihrer inzwischen überdrüssig, doch sie hängt an ihm wie eine Klette. Aber Pepel hat inzwischen ein Auge auf Vassilissas jüngere Schwester Natacha geworfen. Diese fühlt sich einerseits zu Pepel hingezogen, doch andererseits verachtet sie seine verbrecherische Lebensweise. Unter den Insassen des Asyls nimmt Pepel eine Sonderstellung ein: Er ist der einzige, der über Selbstachtung und Tatkraft verfügt, und der einer halbwegs einträglichen Arbeit nachgeht - und wenn es auch nur Einbruch und Diebstahl ist. Im Palast des Barons findet er aber in jener Nacht nicht die erhofften Reichtümer, und dann wird er auch noch vom Baron überrascht.

Der Baron noch in Amt und Würden; Pepel; Natacha; der Schauspieler
Die Begegnung verläuft anders, als man es unter solchen Umständen erwarten könnte. Der Baron erkennt in Pepel gewissermaßen einen Kollegen - Diebe unter sich -, und weil ihm in seinem Haus ohnehin nichts mehr wirklich gehört, lädt er Pepel kurzerhand ein. Der ist zunächst verblüfft und etwas misstrauisch, aber dann lässt er sich darauf ein. Und so gibt es ein improvisiertes Abendessen, und dann wird Karten gespielt bis zum Morgengrauen. Am Ende haben die beiden eigentlich sehr ungleichen Männer Freundschaft geschlossen, und der Baron hat aus der Unterhaltung mit Pepel die Erkenntnis gewonnen, dass auch ein Leben ohne Geld und Status lebenswert sein könnte. Zum Abschied schenkt er Pepel eine Bronzestatuette von zwei Pferden. Der wird damit von der Polizei aufgegriffen und ironischerweise für einen Dieb gehalten, doch der verständigte Baron, dessen Abstieg sich noch nicht herumgesprochen hat, eilt ins Polizeirevier und bekommt Pepel problemlos frei. Beim erneuten Abschied verspricht er, dass man sich wohl bald wiedersehen werde, ohne zu konkretisieren, was er damit meint. Doch das erweist sich bald: Er taucht in abgetragener Kleidung im Nachtasyl auf. Nachdem er buchstäblich alles bis auf die Kleider am Leib verloren hat, wird er jetzt selbst im Asyl wohnen. Dort hat sich unterdessen einiges getan. Pepel hat Vassilissa endgültig den Laufpass gegeben, aber die reagiert auf ihre eigene Art: Sie schlägt Pepel unverblümt vor, er solle Kostylev umbringen, dann könnten die beiden verschwinden und gemeinsam von dem Geld leben, das Kostylev durch seine Hehlerei angehäuft hat. Pepel lehnt nur angewidert ab. Kostylev droht Ungemach durch eine angekündigte Untersuchung der Polizei, aber ein korrupter jovialer Inspektor, der seine schützende Hand über seine krummen Geschäfte hält, bietet einen Ausweg: Er hat ebenso wie Pepel ein Auge auf Natacha geworfen, und so wird diese von Kostylev und Vassilissa genötigt, einen Sonntagsausflug mit dem Inspektor in ein Restaurant zu machen. Doch Pepel erwischt die beiden, was mit einem blauen Auge für den Inspektor endet und Pepel und Natacha dazu führt, sich gegenseitig ihre Liebe zu erklären. Pepel, der das Leben im Asyl schon lange satt hat, verspricht, das Stehlen aufzugeben und stattdessen seinen Unterhalt als ehrlicher Handwerker zu verdienen.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Aber zunächst kommt es anders. Nachdem sich der Inspektor bei Kostylev über den Vorfall im Restaurant beschwert hat, verprügeln dieser und seine Frau Natacha. Pepel schreitet ein und will nun seinerseits Kostylev verprügeln oder gar umbringen. Die anderen Bewohner des Asyls kommen hinzu, und im allgemeinen Tumult wird Kostylev umgestoßen, er fällt mit dem Kopf auf einen Amboss und stirbt. Das nutzt Vassilissa zur Rache: Sie behauptet gegenüber der Polizei, Pepel habe ihren Mann ermordet. Obwohl die anderen Asylbewohner für ihn aussagen, wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Vassilissa, die Kostylev jetzt los ist, packt ihre Koffer, um mit seinem Geld aus der Stadt (und aus dem Film) zu verschwinden, ohne juristisch oder vom Schicksal bestraft zu werden. Natacha dagegen bleibt und wartet auf Pepel. Am Tag seiner Freilassung holt sie ihn am Gefängnis ab, und nachdem sich die beiden im Asyl vom Baron verabschiedet haben, wandern sie auf einer Landstraße in eine gemeinsame Zukunft, die von ehrlicher Arbeit geprägt sein wird.

Auf baldiges Wiedersehen
LES BAS-FONDS beruht auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Maxim Gorki (das nacheinander zwei Titel trug - das deutsche "Nachtasyl" ist eine Übersetzung des ersten Titels, das franz. "Les Bas-fonds" und das engl. "The Lower Depths" des zweiten Titels, den das Stück bekam, nachdem es sich Gorki anders überlegt hatte). Doch Kenner von Gorki werden sich inzwischen wundern: Ziemlich wenig von dem, was ich bisher beschrieben habe, kommt in dem Stück vor, und jede Menge von dem, was bei Gorki passiert, habe ich noch nicht erwähnt. Renoir verstand Literaturverfilmungen immer so, nicht einfach eine Vorlage von einem Medium in ein anderes zu transportieren, sondern sich von einer Vorlage zu einer eigenständigen Schöpfung inspirieren zu lassen, und diese Einstellung rechtfertigt per se Abweichungen vom Original. Doch bei LES BAS-FONDS überstiegen diese Abweichungen das sonst bei ihm übliche Ausmaß. Gorkis Stück spielt komplett im Asyl, während im Film nicht einmal die Hälfte der Zeit dort verbracht wird. Etliche von Gorkis Figuren wurden von Renoir und seinem Co-Autor Charles Spaak in ihrer Bedeutung stark reduziert, bis hin zu Statisten ohne Dialoge, oder sie verschwanden ganz. Dagegen wurden die Rollen von Pepel und dem Baron stark ausgebaut und auch viel positiver gestaltet als im Stück. Nur wenige der ursprünglichen Charaktere bleiben im Film erwähnenswert. Da ist einmal der alte Vagabund Luka, der aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe heraus den anderen im Asyl Trost spendet, was sich jedoch als zwiespältig entpuppt. Einerseits erleichtert er der sterbenskranken Anna mit seinen Tröstungen den unausweichlichen Tod (sie stirbt dann auch direkt nach ihrer einzigen Szene im Film), andererseits macht er dem Schauspieler Hoffnungen, die sich nicht erfüllen lassen. Dieser Schauspieler, der, wie oben schon erwähnt, namenlos bleibt, ist starker Alkoholiker und musste deshalb seinen Beruf schon vor Jahren aufgeben, doch Luka erweckt in ihm die Hoffnung, er könne in einer Klinik mit etwas Willensstärke von seiner Sucht geheilt werden und dann auf die Bühne zurückkehren. Doch am Ende des Films, während gleichzeitig Pepel aus dem Gefängnis entlassen wird, und Luka inzwischen weitergezogen ist, macht der Baron dem Schauspieler klar, dass das nur Illusionen sind. Aller Hoffnungen beraubt, und schon halb im Delirium, erhängt sich der Schauspieler (was den Schluss des Stücks bildet, während im Film noch der Aufbruch von Natacha und Pepel folgt). Die letzte nennenswerte Figur ist Nastia, eine Prostituierte, die den anderen ständig von ihrem Liebhaber erzählt, der sie eines Tages aus der Hölle des Asyls holen wird. Doch der Liebhaber existiert nicht, es handelt sich um ein Wolkenkuckucksheim, das sie sich aus Kitschromanen zusammenliest; alle wissen es, und alle (außer Luka) machen sich darüber lustig.

Nastia geht ihrer Arbeit als Prostituierte nach
Dass Pepel und der Baron den Film dominieren, liegt nicht nur am Drehbuch, sondern auch an der grandiosen Besetzung. Louis Jouvet war zwar als Darsteller und Regisseur hauptsächlich ein Theaterstar, aber seit den 30er Jahren brillierte er auch regelmäßig auf der Leinwand, und seinem Baron verleiht er die nötigen Nuancen, um ihn zu einer ungemein interessanten Figur zu machen. Beispielhaft ist etwa eine Szene, in der Pepel und der Baron im Gras am Ufer eines russischen Flusses liegen (der für Eingeweihte wie die Marne aussieht, weil es die Marne ist) und sich von ihren Zukunftsplänen erzählen, wobei der Baron nicht Pepel ansieht, sondern fasziniert eine Schnecke betrachtet, die ihm auf die Hand gekrochen ist (die Schnecke stand übrigens nicht im Drehbuch, sondern wurde von Renoir improvisiert, nachdem die Szene für seinen Geschmack zunächst nicht richtig funktionierte). Jean Gabin war Mitte 1936 noch kein großer Star, aber LES BAS-FONDS beförderte ihn ein großes Stück in diese Richtung, und innerhalb weniger Jahre war er mit Filmen wie Renoirs LA GRANDE ILLUSION und LA BÊTE HUMAINE und Marcel Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE dort angekommen. Sein bodenständiger, im Grunde gutmütiger, aber bisweilen aggressiver Pepel gibt schon die Richtung dieser späteren Rollen vor, aber zu Gabins geradezu archetypischer Leinwand-Persona aus den letztgenannten drei Filmen fehlt noch der tragisch-fatalistische Zug zum Tod. Das dritte darstellerische Schwergewicht in LES BAS-FONDS ist Robert Le Vigans Schauspieler. Es ist eine pathetische, theatralische Figur, voller Selbstmitleid, gelegentlich Shakespeare-Verse deklamierend, und Le Vigan spielt das voll aus. Man kann das übertrieben finden, aber der Charakter ist jedenfalls in sich schlüssig. Es ist ein Jammer, dass dieser interessante Darsteller Le Vigan nach der Besetzung Frankreichs offen mit den Nazis sympathisierte und über das Radio antisemitische Botschaften verbreitete. Nach dem Krieg bekam er die Quittung präsentiert: Er wurde zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach drei Jahren wurde er auf Bewährung entlassen, was er nutzte, um sich zunächst nach Spanien und dann nach Argentinien abzusetzen. Leider gibt es in LES BAS-FONDS auch einen eklatanten schauspielerischen Schwachpunkt, und der heißt Junie Astor. Sie war eine Freundin von Produzent Kamenka (oder vielleicht auch seine Geliebte), der sie Renoir aufnötigte, und dieser äußerte sich später sehr unverblümt über ihr mangelndes Talent und ihr ausdruckloses Gesicht. Es ist zwar nicht in allen Szenen so schlimm, aber gerade in ihren gemeinsamen Auftritten mit Gabin, die ja eigentlich ein emotionales Zentrum des Films bilden sollten, wirkt sie schon sehr blass. So bleibt die Freundschaft zwischen Pepel und dem Baron eine weitaus interessantere Beziehung als die Liebe zwischen Pepel und Natacha.

Pepel, Vassilissa und Kostylev
Für die Aufwertung des Barons und Pepels gibt es außer der Absicht, Jouvet und Gabin Gelegenheit zur Entfaltung zu verschaffen, noch einen weiteren und tieferen Grund. Gorkis Nachtasyl ist eine in sich abgeschlossene Welt - nicht nur räumlich (wie gesagt spielt das ganze Stück im Asyl), sondern auch in Bezug auf die (nicht vorhandene) soziale Mobilität: Es gibt keinen Ausweg außer dem Tod. Das aber widerspricht Renoirs Ansichten fundamental. In seinen Filmen gibt es immer Möglichkeiten zur Veränderung, zum Besseren wie zum Schlechteren, Gelegenheiten für die Protagonisten, ihre eigene Zukunft zu beeinflussen. Und genau das wird in LES BAS-FONDS von den gegenläufigen Handlungssträngen der beiden Freunde widergespiegelt: Pepels bescheidener (aber aus seiner Sicht essentieller) Aufstieg vom Verbrecher zum Handwerker und der Abstieg des Barons aus der Aristokratie ins Proletariat. Dabei repräsentiert Pepels Entwicklung auch den optimistischen Geist der damals noch intakten Volksfront. Wenn man mag, kann man in der Freundschaft der beiden auch eine Metapher für die mögliche Aussöhnung der gesellschaftlichen Klassen sehen, aber ich finde, dass man das nicht überstrapazieren sollte. Niemand weiß, wie die Begegnung der beiden verlaufen wäre, wenn der Baron in jener Nacht nicht alles verloren, sondern alles gewonnen und somit seinen Status gewahrt hätte. Der Abstieg des Barons ist zwar nicht zu leugnen, aber er hat nicht nur tragische Aspekte, sondern er ist auch eine Befreiung von den sozialen Konventionen seines Standes. Nachdem der Baron erst einmal erkannt hat, dass man nicht nur in einem Federbett, sondern auch im Gras bequem schlafen kann, und dass ein Kartenspiel um ein paar Kopeken ebenso spannend sein kann wie eines um 1000 Rubel, kann er unbeschwert in den Tag hinein leben und sich weiter dem Glücksspiel widmen. Deshalb bleibt er am Ende auch freiwillig im Asyl, statt Pepel zu begleiten. Natacha, Vassilissa und Kostylev dienen dazu, um die Geschichte vom sozialen Auf- und Abstieg herum eine melodramatische Handlungsebene um Liebe, Eifersucht und Tod zu konstruieren, aber die anderen Bewohner des Asyls sind dazu nicht notwendig. Sie liefern nur den atmosphärischen Hintergrund des Films und werden von Renoir in ihrer Bedeutung entsprechend reduziert. Übrigens hat Renoir sein Drehbuch an Gorki geschickt, und der hat zu allen Änderungen am Stück seine Zustimmung erklärt und das sogar öffentlich kundgetan. Zumindest erzählt Renoir das so in einer sechsminütigen Einführung in LES BAS-FONDS, die er wohl für das französische Fernsehen aufnahm (das Zeitfenster für diese Korrespondenz war etwas eng, denn Gorki starb im Juni 1936).

Neuankömmling im Asyl
Die Idee zu LES BAS-FONDS hatte Produzent Alexandre (ursprünglich Alexander) Kamenka, der sie an Renoir herantrug. Der Exilrusse Kamenka hatte einen gewissen Anteil daran, dass Renoir überhaupt Regisseur geworden war. Als junger Mann ging Renoir in den frühen 20er Jahren sehr häufig ins Kino, aber er sah fast nur Hollywoodfilme, denn die französischen Filme dieser Zeit fand er langweilig und prätentiös. Unter diesen Umständen schien ihm eine eigene Karriere im Film aussichtslos. Doch 1923 produzierte Kamenka mit einer gemischten Crew aus Russen und Franzosen LA BRASIER ARDENT (Regie und Hauptrolle Ivan Mosjoukine), der offenbar ein unterhaltsames Spektakel war. Renoir war begeistert, und er war jetzt überzeugt, dass man auch in Frankreich solche Filme drehen konnte, wie sie ihm vorschwebten. 1924 nahm er seinen ersten Film in Angriff. - Obwohl die Dreharbeiten zu LES BAS-FONDS wegen der Verzögerungen bei PARTIE DE CAMPAGNE mit zwei Wochen Verspätung begannen, lief die Produktion völlig reibungslos. Der Film war an der Kasse ein enormer Erfolg (bei Renoir in den 30er Jahren eher die Ausnahme als die Regel). Die Aufnahme bei den Kritikern war gemischt, aber es gab einen Prix Louis-Delluc (den ersten, der überhaupt vergeben wurde). Eine Eigenheit von LES BAS-FONDS habe ich oben schon mit der Erwähnung der Marne angedeutet: Der Film spielt ja eigentlich in Russland, die Charaktere haben russische Namen, die Polizisten tragen russische (oder irgendwie russisch aussehende) Uniformen. Und doch ist das alles erkennbar nicht Russland, sondern Frankreich. Das liegt nicht nur an den Schauplätzen, sondern vor allem an der Besetzung. Um den Effekt zu vermeiden, hätte Renoir wohl mit Exilrussen als Darstellern arbeiten müssen. Die gab es in Frankreich reichlich, und Kamenka hatte auch die nötigen Kontakte. So hätte wohl Mosjoukine auch einen guten Baron abgeben können. Doch Renoir beschränkte sich auf Vladimir Sokoloff (und Jany Holt war eine gebürtige Rumänin). Ironischerweise beschwerten sich einige Kritiker, dass Sokoloff unter all den Franzosen "zu russisch" wirke. In der oben erwähnten Einführung erzählt Renoir, er habe von vornherein beabsichtigt, den Film nicht russisch, sondern französisch aussehen zu lassen. Ob das nun stimmt oder nicht - russisches Flair darf man von LES BAS-FONDS jedenfalls nicht erwarten. Die Stärken (und leider auch Schwächen) liegen bei den Schauspielern, und die Kameraarbeit (wie zu erwarten wieder mit reichlich deep focus) erfüllt die von Renoirs früheren Filmen gesetzten Standards, mit einigen interessanten Plansequenzen und stimmungsvoll-schummrigen Aufnahmen aus dem Asyl mit seiner verwinkelten Holz-Architektur.

Im Asyl (r.o. Luka mit dem Schauspieler)
1957 drehte Akira Kurosawa mit DONZOKO seine eigene, äußerst sehenswerte Version der Geschichte (dt. ebenfalls NACHTASYL). Kurosawa verlegte die Handlung ins Tokyo des 19. Jahrhunderts, ansonsten hielt er sich aber viel enger an die Vorlage als Renoir. Und obwohl Toshirō Mifune den Dieb spielt, ist DONZOKO ein astreiner Ensemblefilm, und kein Starfilm wie LES BAS-FONDS. Renoir, der DONZOKO in den 70er Jahren sah, bezeichnete ihn als "viel wichtiger" als seinen eigenen Film. Diese beiden bekanntesten Verfilmungen des Stoffs (es gibt noch weitere) sind zusammen in einem 2-DVD-Set von Criterion in den USA erschienen (als THE LOWER DEPTHS). Wer keine Probleme mit Regionalcode 1 hat, kann beherzt zu dieser Version greifen. Ansonsten ist LES BAS-FONDS auch in Frankreich auf DVD erhältlich.

Am Flussufer

7 Kommentare:

  1. Ich hatte vor wenigen Tagen die Gelegenheit, den Film zu sehen, und er hat mir sehr gut gefallen. Wie zu erwarten fand ich besonders die Dynamik zwischen Jouvet und Gabin in deren gemeinsamen Szenen sehr faszinierend. Der bemerkenswerte Robert Le Vigan spielte später in LE QUAI DES BRUMES eine ähnlich gelagerte Rolle wie hier: den depressiv-desillusionierten Künstler mit suizidalen Tendenzen. Dass er im wahren Leben eine derart unsympathische Figur war, wusste ich aber bis dato nicht.
    LES BAS FONDS findet auch eine sehr eigentümliche und gelungene Balance zwischen handlungstreibenden und rein "atmosphärischen" Szenen, die die Handlung quasi „unterbrechen“ – letztere eben die Ensemblestücke im Asyl unter anderem mit dem alkoholkranken Schauspieler. Ein kleines Detail fand ich köstlich: dass der Kammerdiener des Barons die sozialen Konventionen des reichen Adels nach außen hin mit einer sehr viel größeren Pedanterie einzuhalten versucht als der Baron selbst (der Baron deutet dann trotzdem an, dass er eigentlich auch nur ein Dieb ist).
    Zwei kleine Fragen bzw. Bemerkungen: gleich im ersten Satz steht in der Klammer „ebenso wie jenen des Schauspielers“. Was meinst du damit? Jouvet wird doch durchaus in den Anfangs-Credits genannt. Und weiter unten im Text, als es um die potentielle exilrussische Besetzung aller Rollen geht, schreibst du: „(und Jany Holt war auch eine gebürtige Rumänin)“. Hat mich zum Schmunzeln gebracht. Ist ja nur ein Katzensprung von Rumänien nach Russland... und beide Länder fangen mit „Ru-“ an... ;-)

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    1. Ja, die Szenen mit Felix sind recht witzig. Auch der Dialog, wo der Baron fragt, ob der ausstehende Lohn durch das abgegolten ist, was Felix im Lauf der Zeit gestohlen hat, und der dann nonchalant abwinkt.

      Zu deinen Fragen: Oops, da habe ich missverständlich formuliert. Ich meine nicht Jouvet, sondern "den Schauspieler" (also Le Vigans Charakter), der ja auch namenlos bleibt. Das hätte ich irgendwie anders formulieren sollen, aber jetzt lasse ich es mal so.

      Und natürlich werfe ich Russen und Rumänen nicht in einen Topf. Aber um den übermäßig "französischen" Eindruck zu vermeiden, wären wohl nicht nur Russen geeignet gewesen, sondern auch andere Osteuropäer.

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    2. Genau diesen Moment meinte ich vordergründig. Auch sehr komisch, als der Baron (aus positiver Neugierde) Felix fragt, ob er jemals im Freien im Gras geschlafen habe und dieser (zutiefst und demonstrativ empört) verneint und meint, dass Gerüchte dieser Art unterbunden werden sollten.
      Bezüglich Rumänen und Russen: war natürlich kein Vorwurf. Allerdings sprechen beide Darsteller (Vladimir Sokoloff und Jany Holt) meiner Einschätzung nach perfektes, akzentfreies Französisch und die tatsächlich interessante Intonation Sokoloffs erscheint mir eher eine theatralische Diktion denn ein russischer Akzent zu sein. Da wäre die Frage, wie viel Fremdenfeindlichkeit bei der damaligen Kritik, Sokoloff sei nicht „französisch genug“, drinsteckte. Weitaus auffälliger war eine deutliche Midi-Diktion bei einem anderen Darsteller (ich habe aber vergessen, an welcher Stelle das war).

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    3. Den echten oder falschen Akzent bei Sokoloff kann ich mangels Sprachkenntnis nicht beurteilen, aber vielleicht ist es wirklich nur gespielt. Das mit den Kritikern, die sich beschwerten, habe ich aus A. Sesonskes Renoir-Buch, und er macht da keine genaueren Angaben über Gründe und Zeitpunkt. Da das Buch von 1980 ist, können auch Kritiken bis in die 70er Jahre hinein gemeint sein.

      Auf jeden Fall der Fremdenfeindlichkeit unverdächtig ist Jacques-Bernard Brunius. Der war bei diesem Film nicht beteiligt, und er mochte ihn nicht. In seinem Buch En marge du cinéma français schreibt er 1954: "Zudem hat Renoir einen Vertrag für einen anderen Film unterzeichnet. Tatsächlich ist etwas völlig Unerwartetes eingetreten: die Kapitalisten, die er vor den Kopf stieß, indem er für die kommunistische Partei arbeitete, interessieren sich plötzlich wieder für ihn. Er lässt PARTIE DE CAMPAGNE im Stich, um LES BAS-FONDS (1936) nach Gorki zu drehen, mit Gabins Vorstadtakzent und Sokoloffs russischer Aussprache. Es sei uns gestattet, unser Bedauern darüber auszudrücken." Hm, vielleicht war Brunius noch etwas beleidigt, weil er ja selbst in PARTIE DE CAMPAGNE stark involviert war.

      Sesonske liefert übrigens auch eine Begründung dafür, warum Renoir die Handlung nicht gleich nach Frankreich verlegte, was bei all den anderen Änderungen ja eigentlich auch eine naheliegende Option gewesen wäre: Im Kielwasser der Volksfront gab es ein neu erstarktes Interesse an der Sowjetunion und an allem Russischen, und Gorkis Stück war ohnehin populär. Das Kinopublikum wollte wenigstens ein Mindestmaß an Gorki sehen, und dazu gehörte einfach, dass der Film im zaristischen Russland spielen musste.

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  2. Sokoloff spielt ja diesen fiesen Greis. Also ich habe da keinen russischen Akzent raushören können, auch wenn er von allen vielleicht am "russischsten" klingt. :D

    Ich fand die weiblichen Schauspieler leider allesamt nicht überragend und ihren männlichen Pendants gegenüber gestellt waren sie deutlich unterlegen, was gerade die Beziehungsspielchen ein wenig lahm wirken lässt. Grandios sind hingegen die Gespräche zwischen dem gefallenen Aristokraten und Pepel. Da hätte man sich sogar mehr darauf konzentrieren können, wenn man mich fragt. Oder den Theaterschauspieler noch mehr involvieren müssen, statt jede zehn Minuten Liebesgeplänkel aufzuführen, um es mal streng zu formulieren. Allerdings ist das alles in allem schon wieder rumjammern auf hohem Niveau, denn der Film ist auch so ziemlich gut geworden und die von David attestierte Mischung zwischen plotrelevanten und unterbrechenden, das Asylleben zeigenden Stellen ist wirklich sehr gut ausbalanciert. Über die Kameraarbeit muss gar nicht erst gesprochen werden. xD

    Besprichst du jetzt eigentlich die bekannten Titel von Renoir, oder lässt du die aus, um dich ganz den dunkleren und unerforschteren Ecke von Renoirs Schaffen zu widmen?

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    1. Sokoloff war offenbar ein Sprachtalent. Deutsch konnte er auch ziemlich gut, und dann (spätestens mit Beginn seiner Hollywood-Zeit) auch noch Englisch.

      Ich fand die weiblichen Schauspieler leider allesamt nicht überragend und ihren männlichen Pendants gegenüber gestellt waren sie deutlich unterlegen

      Aber Suzy Prim war schon deutlich lebhafter als diese Schlaftablette Junie Astor, und Jany Holt hatte in ihren zwei oder drei größeren Szenen nicht viel Gelegenheit zur Entfaltung. Aber gegen das Dreigestirn Gabin - Jouvet - Le Vigan konnten sie alle drei nicht anstinken, das stimmt schon.

      Grandios sind hingegen die Gespräche zwischen dem gefallenen Aristokraten und Pepel. Da hätte man sich sogar mehr darauf konzentrieren können, wenn man mich fragt.

      Vom filmischen Standpunkt aus gebe ich Dir völlig recht. Aber wie ich schon im anderen Kommentar schrieb: Es musste noch ein gewisses Maß Gorki übrig bleiben, weil das das Publikum (und vielleicht der Produzent) so wollte.

      Über die Kameraarbeit muss gar nicht erst gesprochen werden. xD

      Deshalb hab ich das diesmal auch auf einen Halbsatz beschränkt, nachdem ich in den früheren Artikeln ausführlicher darauf eingegangen bin. Schön langsam beginnt die Gefahr, mich zu wiederholen.

      Besprichst du jetzt eigentlich die bekannten Titel von Renoir, oder lässt du die aus, um dich ganz den dunkleren und unerforschteren Ecke von Renoirs Schaffen zu widmen?

      LA GRANDE ILLUSION und LA RÈGLE DU JEU werde ich auslassen. Über die kann man ja ganze Bücher schreiben (und es wurden schon Bücher darüber geschrieben), und ich will mich da nicht zu sehr verausgaben oder überheben. LA BÊTE HUMAINE wollte ich auch weglassen, aber vielleicht überlege ich es mir noch anders. Den habe ich nicht auf DVD, aber das kann sich ja noch ändern. Es eilt auch nicht, denn vorher kommt auf jeden Fall noch LA MARSEILLAISE.

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  3. Mir ist gerade wieder eingefallen, dass ich vor einem guten Monat ein sehr interessantes Blog-Posting von Kristin Thompson über ein neues DVD-Set gelesen habe, das fünf Filme enthält, die zwischen 1923 und 1929 von Alexandre Kamenkas Albatros Films produziert wurden, darunter auch LA BRASIER ARDENT. Wer mag, kann sich also selbst davon überzeugen, warum Renoir durch diesen Film zum Regisseur berufen wurde.

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