Freitag, 22. November 2019

Volljährig, schlaflos & lustvoll in Nürnberg (Teil 1)

Euphorien vom 18. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos


Anfang des Jahres, vom 2. bis 6. Januar 2019, fand in Nürnberg wieder der Hofbauer-Kongress statt: ein fünftägiger Filmrausch, bei dem die Zuschauer das verfemte, verfluchte, verschüttete Kino der Lust wiederentdecken und zelebrieren konnten und das größtenteils präsentiert im originalen analogen 35mm-Format (manchmal auch 16mm oder 8mm).
Diese 18. Ausgabe – unter dem Motto "Endlich 18!" – war meine zweite Ausgabe (zum 17. Hofbauer-Kongress schrieb ich hier und hier). Leider erst meine zweite: vorherige Hofbauer-Kongresse verpasst zu haben, dürfte zu den Dingen gehören, die ich am meisten im Leben bereue. Aber umso größer die Freude, beim "Volljährigkeits-Kongress" mit dabei gewesen zu sein.





Mittwoch, 2. Januar

17.00 Uhr

THERESE AND ISABELLE ("Therese und Isabell")
Regie: Radley Metzger
Frankreich/USA/Niederlande/BRD 1968
35mm, DF
Therese (Essy Persson) besucht als erwachsene Frau das Internat, auf das sie einst als Teenagerin ging – und wo sie eine leidenschaftliche, aber heimliche Liebe mit ihrer Mitschülerin Isabelle (Anna Gaël) erlebte.
Isabelle und Therese
THERESE AND ISABELLE beginnt wie ein Puzzlespiel à la Resnais, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, Wahrnehmung und Erinnerung einander die Klinke in die Hand geben. Therese, gespielt von der wunderbaren Essy Persson (die grausamste aller Puppen in Rolf Olsens DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN, der beim Kongress 2018 lief), läuft durch das wahrscheinlich aufgrund der Schulferien praktisch leere Internat, hört die Stimmen der Vergangenheit, durchschreitet den Park, die Hallen, die Räume, die Toiletten, in denen sich ihre Erinnerungen vor ihrem Auge manifestieren. "Isabelle, mon amour" – ohne Atombombe und deutsche Besatzung, dafür aber mit einer umso tabuisierteren Teenagerliebschaft und Bildern in atemberaubenden Scope. Dieses Scope, das oft kleine "Gesichter-Duells" aufbaut: ein Gesicht in einem Bilddrittel, die restlichen zwei Drittel von Hinterkopf und Rücken der anderen Person ausgefüllt.
Der Film handelt von lesbischer Liebe und tut das auf eine angenehm nüchterne Weise: in den Annäherungen und Intimitäten zwischen den beiden Protagonistinnen gibt es keinerlei Kinkiness. Die Sexszenen zwischen Therese und Isabelle sind stets respektvoll distanziert, man könnte auch sagen unterkühlt gefilmt (einmal in Isabelles Zimmer – größtenteils als Spiegelung in einer Zinnvase gefilmt; einmal in einer Kapelle hinter einer Sitzreihe – in einer sehr langen, elegischen, sich entfernenden Kamerafahrt gefilmt; einmal im Internatpark – hier soweit ich mich erinnere relativ statisch). Sie werden immer von einem ausführlichen Offkommentar Thereses begleitet, meistens Gedichterezitationen – das war nach meinem Geschmack manchmal zu viel des verbalen Guten.
(Der Sex zwischen Therese und einem jungen Mann, der sie vorher praktisch gestalkt hat, ist hingegen extrem unangenehm, zieht sich äußerst unschön in die Länge, wirkt nicht direkt wie eine offene Vergewaltigung, ist aber so die letzte oder vorletzte Stufe davor. Therese lässt es über sich ergehen, aber es ist sichtlich unangenehm für sie. Er verschwindet hingegen nach der Triebabfuhr für immer aus dem Film.)
Der erotisch-sinnliche Höhepunkt des Films war aber die Aufnahme eines Fingers, der sanft über einen Arm streichelt – ein Moment, wo die Zeit und das Leben kurz stehen blieben. Dabei ist THERESE AND ISABELLE gewissermaßen ein Film über die Unaufhaltbarkeit der Zeit und des Lebens: die Liebe der beiden Titelfiguren steht immer unter dem Damoklesschwert des voranschreitenden Semesters (dessen Ende die beiden für immer trennen wird) und von dem Druck, den das "Leben" auf die beiden stetig ausübt: Thereses Mutter und Stiefvater (ein unangenehmer Typ, der heuchlerische Respektabilität ausstrahlt und dem man ohne weiteres Übergriffigkeiten gegenüber seiner Stieftochter zutrauen würde), die sie aus Konvention heraus nach ihren (männlichen) Verehrern ausfragen; reale männliche Verehrer, die sich – wie oben erwähnt – als äußerst hartnäckig herausstellen; das drakonische Regiment des Internats, das sinnliche Annäherungen unterbinden möchte (und von homosexuellen Begierden wohl nicht mal zu träumen wagt). Unter diesem Druck wird die Liebe immer mehr zermürbt. Ein Tagesausflug der beiden nach Paris endet in totaler Trostlosigkeit: sie gehen in ein Stundenhotel, doch das schmierige Ambiente erstickt die Lust. Ab diesem Moment geht irgendetwas für immer kaputt, leise, latent, ohne großen Knall. Es ist auch nur konsequent, dass THERESE AND ISABELLE nicht so sehr "endet" als vielmehr relativ abrupt "abbricht", als das Semester endet und die Sommerferien beginnen. Einfach aus...

Ein schöner, bittersüßer, melancholischer Einstieg in den Kongress. Vor dem unerbittlich harten nächsten Film war das Abendessen programmatisch gut gesetzt, denn eine Stärkung war vonnöten vor...


21:15 Uhr

DIE TOTENSCHMECKER aka DER IRRE VOM ZOMBIEHOF aka DAS MÄDCHEN VOM HOF ("Der Irre vom Zombiehof")
Regie: Ernst Ritter von Theumer
BRD 1979
35mm, OV
Klassische Heimatfilmidylle in den Alpen – oder fast. Ein Patriarch alter Schule betreibt einen Bauernhof. Zwei seiner Söhne, Felix (William Berger) und Kurt, kümmern sich um die harte Arbeit, der dritte, Franz, ist geistig behindert. Es rumort schon zwischen den beiden Erstgeborenen, die um das künftige Erbe streiten. In dieser Situation siedelt sich eine Romafamilie auf einem peripheren Stück Land der Großbauern an. Anna, die Enkelin, Tochter von Felix, verliebt sich in Joschi, dem jüngsten Mitglied der Familie. Doch währenddessen tötet der geistig zurückgebliebene Franz aus Versehen eine Romnja, die beim Hof um Lebensmittel gebeten hat. Ihre Begleiterin wird als Zeugin sogleich von Felix ermordet. Nach diesen Affekthandlungen beginnen Felix und Kurt, systematisch sämtliche Angehörige der Romafamilie zu massakrieren...
DIE TOTENSCHMECKER hat dem deutschen Kinopublikum anno 1979 wenig gemundet. Da gerade George Romeros DAWN OF THE DEAD gut lief, wurde er dann unter dem neuen Verleihtitel DER IRRE VOM ZOMBIEHOF noch mal in die Kinos gebracht, um die Zuschauer mit dem Reizwort "Zombie" zu ködern (die gesichtete, übrigens wunderschöne, fast ungespielte Kopie trug auch diesen Titel). Lief auch nicht so gut. Der dritte Versuch, das als Neo-Heimatfilm mit dem Titel DAS MÄDCHEN VOM HOF zu verkaufen, war wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Irgendwann lief der Film (unter welchem Titel auch immer) im Fernsehen. Vierzig Jahre nach seinem Kinostart begeisterte und verstörte der Film die im KommKino versammelten Kongressbesucher. Ich denke, dass nicht nur mir immer wieder eiskalte Schauer des Grauens und des Schreckens über den Rücken liefen.
Der Patriarch und die zwei Söhne vereinigt beim Morden
In der Hülle eines Heimatfilms entpuppt sich DIE TOTENSCHMECKER als abgründiger Quasi-Backwood-Horrorfilm und als unverstellter, chirurgisch scharfer Blick in das kackbraune Herz des deutschen (Alltags)faschismus. Zur Entstehungszeit des Films lagen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust über 30 Jahre in der Vergangenheit – oder besser geschrieben: in der "Vergangenheit". Wir sehen Protagonisten, deren Hass in kurzer Zeit von verbalen Entgleisungen über eliminatorische Phantasien in den Massenmord führt. Der Blick in die "Vergangenheit" ist auch ein eher pessimistischer Blick in die Gegenwart und Zukunft. Man sieht Deutsche, die ethnische "Andere" systematisch ermorden, anschließend deren Leichen beseitigen – und am Ende sieht das alles so aus, "als wären sie nie hier gewesen", wie es ein Polizeibeamter dann auch im Film tatsächlich ausspricht. Es gibt kein Happy-End: am Ende werden die schrecklichen Morde unentdeckt (und damit auch ungesühnt) bleiben. Felix und Kurt richten sich selbst gegenseitig in einem Streit über das Erbe.
DIE TOTENSCHMECKER als "historisches Dokument" zu bezeichnen, wäre zu schön, ist aber leider unmöglich. Das kommt nicht davon, dass die gezeigte Kopie fast ungespielt war und geradezu kristallin wirkte, sondern weil das Stammtischgerede, das hier die Figuren vom Stapel lassen, heutzutage genauso zu hören ist (und leider immer geläufiger und alltäglicher wird). Wer "Zigeuner" durch "Flüchtlinge" ersetzt, dem werden die Parolen, mit denen Felix und Kurt ihre Verbrechen rechtfertigen, gar nicht mehr so fremd erscheinen. Rassismus ist oft auch eine Projektion der eigenen Mängel auf das "Andere": gewalttätig, anarchisch, durstig nach Blutrache – so bezeichnen die Brüder Felix und Kurt die "Zigeuner" (nachdem Felix bereits einen Menschen ermordet hat). Felix und Kurt vollziehen den Schritt von der Stammtischparole zur Gewalttat und auch, wenn sie im weiteren Verlauf des Films manchmal in ihrer schieren Brutalität einem Slasherkiller à la Jason in nichts nachstehen: sie sind und bleiben doch "ganz normale Männer" in einem völlig alltäglichen Setting, das in anderen Filmen als Kulisse für entspannte Familienkomödien dient.
À propos Alltag: als Anna den Joschi auf der Straße begegnet, beginnt sie aus heiterem Himmel ein antiziganistisches Spottlied zu singen. Die absolute Natürlichkeit, mit der sie das tut, ist niederschmetternd (ja, fast noch schlimmer als der Inhalt selbst) und ist wohl der erste große Schockmoment des Films. Hat sie es zuhause gelernt? In der Schule? Die von Verachtung und Hass erfüllten Worte sprudeln einfach so aus dem jungen Mädchen heraus – wie in einem "normalen" Heimatfilm vielleicht ein junges Mädchen irgendein Lied über die Schönheit der Berge singen würde? Dieser Moment ließe einen völlig zerstört zurück – wird aber von dem vielleicht einzigen Funken Hoffnung des ganzen Films "gesühnt": Joschi spielt ihr etwas auf der Geige vor und die Schönheit der Melodie bringt sie dazu, ein normales Gespräch mit ihm anzufangen. Und sich später mit ihm auch anzufreunden. Es gibt also noch Hoffnung bei den Kindern. Später wird sie ihre eigene Familie in der Öffentlichkeit als Mörder bezeichnen – nur, um anschließend von ihren eigenen Eltern im Dorf als geistig labiles Gör diffamiert zu werden.
Joschi und Anna, die "Dissidentin" der Familie
Es ist auch faszinierend, wie DIE TOTENSCHMECKER ganz nebenbei eine Art Gewaltsoziologie der "deutschen Familie" entwickelt. Besonders interessant und erhellend ist da die Figur des geistig behinderten Bruders Franz, der regelmäßig von seinen Familienangehörigen verprügelt, eingesperrt und wie ein Tier behandelt wird. Wahrscheinlich schützt ihn nur die Blutsverwandtschaft letztendlich davor, einfach ermordet zu werden und in den nahegelegenen See geworfen zu werden (wir wissen, dass Felix und Kurt zu solchen Taten bereit sind). In ihm äußert sich dann auch das latent Inzestuöse, das hermetisch geschlossenen Familienverbänden (und -institutionen) inne wohnt: so versucht er mehrmals, seine eigene Nichte Anna zu vergewaltigen. Am Ende vergewaltigt und erschlägt er im Affekt seine Schwägerin (unbeachtet von seinen Brüdern, die zu sehr damit beschäftigt sind, andere Leute kaltblütig zu morden). Franz ist das erste Opfer der mörderischen Familie und zugleich auch der erste Mörder. Und wahrscheinlich ist er zumindest das "ehrlichste", integerste Familienmitglied. Er vergewaltigt und tötet wie ein wildes Tier, sozusagen aus "unzivilisiertem" Instinkt – nicht planmäßig und mit aufwendigen Rechtfertigungen wie ein "zivilisierter" Mensch.
Sehr passend zu seinem Inhalt wirkte DIE TOTENSCHMECKER extrem karg und roh. Die geringe Budgetierung scheint an allen Ecken auffällig zu sein, doch mit zunehmender Laufzeit entpuppt er sich als extrem minutiös inszeniert (ein Co-Zuschauer meinte danach – halb im Spaß, halb im Ernst – dass da Hawks'ianische Formalökonomie im Spiel gewesen sei). Der Film hat auch Elemente eines Alpenwesterns. Die idyllische, in teils wunderschönen Bildern am Rande des Kitsch festgehaltene Berglandschaft ist wie ein eigener Protagonist, ein stiller, ruhiger Beobachter der schauererregenden Verbrechen, die sich abspielen. An einer Stelle zieht ein kleiner Sturm auf, und ein Paar Fensterläden klappt im stürmischen Wind auf und zu, gibt beim Aufklappen einen Blick auf wunderschöne Berggipfel frei, während sich der Sturm (meteorologisch und metaphorisch) zusammenbraut.
Einige Kongressniki erinnerte die Musik an den Harmonika-Score von C'ERA UNA VOLTA IL WEST: eine manchmal stark elektronisch verfremdete Geigenmelodie, oft aus der Ferne vom flüchtenden Joschi gespielt – für die Mörder immer wieder eine Quelle von Irritation. Ein Signal, dass eines ihrer Opfer noch nicht tot ist. Nach ihrem Ermessen eine Verfluchung: beim Versuch, die Leichen der Mordopfer zu verbrennen, verbrennt sich der alte Patriarch das Gesicht und erblindet dabei, und als Schuldiger dafür wird sofort Joschi und seine Melodie ausgemacht. Es ist natürlich auch ein Anklagelied, das den Mördern immer wieder ihre niederträchtigen Verbrechen in Erinnerung ruft... bis sie schließlich auch Joschi für immer zum Schweigen bringen.

DIE TOTENSCHMECKER war ohne Zweifel einer der großen Höhepunkte des Kongresses, ein Meisterwerk, aber natürlich auch ein brutaler, fieser Faustschlag von einem Film. Eine Swinging-London-Komödie im Anschluss zur Lockerung war also durchaus angebracht... Nun ja... das Lachen kam etwa bis zur Mitte des Halses, bevor es dort abrupt stecken blieb...


23:15 Uhr

COOL IT, CAROL! ("Die Liebesmuschel")
Regie: Pete Walker
UK 1970
35mm, DF
Carol (Janet Lynn) und Joe (der ein bisschen wie der vergessene gemeinsame Cousin von Mick Jagger und Brian Jones aussieht, gespielt von Robin Askwith) brechen aus der tristen englischen Provinz nach "Swinging London" auf, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Hoffnungen auf eine glamouröse Model- und Popstar-Karriere zerschlagen sich nach und nach. Auf Joes Betreiben prostituiert sich Carol immer öfter an ältere, zahlungswillige Herrschaften.
Carol und Joe erkunden Sleazing London
DIE TOTENSCHMECKER war ein Film über die Banalität des Bösen. Ist COOL IT, CAROL! ein Film über die Naivität des Bösen? Oder die Bosheit des Naiven?
COOL IT, CAROL! ist eine locker-fluffige Swinging-London-Komödie, die sich nach und nach in einen zappendusteren und fiesen Prostitutions-Sleaze-Hobel verwandelt. Besonders verwirrend ist allerdings, dass das Komödiantische der ersten Hälfte immer wieder Einzug hält in die zunehmend unangenehme Geschichte von Carols und auch Joes Hineinstrudeln in die Welt der Prostitution. Lebensweltlich ergibt das durchaus Sinn: dass im Swinging London eine Tür neben dem fetzigen Popclub ein Herrenclub angesiedelt ist, der sich als Bordell entpuppt, dürfte kaum verwunderlich sein. Doch dass das Glamouröse und Witzige immer wieder eruptiv in den Schmutz und die Niedertracht einbricht, gibt dem Film eine sehr eigenartige Atmosphäre: eine Komödie, bei der einem das Lachen regelmäßig im Hals stecken bleibt – ein Milieu-Schocker, der immer wieder unterbrochen wird von merkwürdig unpassenden Humoreinschüben.
Gesehen haben wir nicht COOL IT, CAROL!, sondern die deutsche Synchronfassung "Die Liebesmuschel", die den ohnehin starken Eindruck von Gegensätzlichkeiten noch verstärkte. Findige deutsche Verleihe haben internationale Filme nicht nur geschnitten, um wahlweise der Zensur oder Gewinnmarge zugute zu kommen – sondern manchmal im Gegenteil mit eigenen Inserts verlängert. "Die Liebesmuschel" beginnt mit einer recht uninspiriert gefilmten Orgie, die mit dem restlichen Film nichts zu tun hat. Während COOL IT, CAROL! den Sex recht dezent darstellt (am explizitesten bei der Bahnfahrt gen London, als Carol Joe verführt), blendet "Die Liebesmuschel" bei jeder Andeutung sogleich die gefühlt immer gleichen Nachdreh-Szenen ein: ein Mann und eine Frau in einem weißen Bett, die jeweils mit keinem der sonstigen Darsteller von COOL IT, CAROL! die entfernteste Ähnlichkeit haben, beleuchtet mit dem ekelhaftesten weißen Neonlicht, das man sich vorstellen kann, die eher unmotivierte Akrobatik besonders uninspiriert und statisch gefilmt. Letzteres fällt besonders auf, da COOL IT, CAROL! ansonsten recht dynamisch und elegant inszeniert ist. Und so beginnen sich Carol und Joe im Hotelzimmer bei ihrer ersten Nacht in London zu küssen – harter Schnitt zum Insert. Carol knutscht mit einem (später zwei Herren) in einem schummerigen Nachtclub – harter Schnitt zum Insert. Carol geht mit ihrem ersten Kunden auf's Zimmer – harter Schnitt zum Insert. Beim nächsten Date wartet eine ganze Schlange an Männern darauf, zu ihr ins Zimmer gehen zu dürfen – und schon wieder kommt der unsägliche Insert.
Letzteres ist ein besonders geschädigter Moment. Carol und Joe haben nach einigen ungeschickten Bemühungen einen Kunden auf der Straße gefunden. Dieser wiederum "vermittelt" Carol bei einem nächsten Date an einen anderen Mann (und kassiert eine Provision). Beim nächsten Date sind es schon ein halbes Dutzend Männer. Die sammeln sich im Wohnzimmer von Carols erstem, äußerst geschäftstüchtigen Kunden. Nachdem die junge Frau mit dem ersten Gast ins Schlafzimmer verschwindet, verweilt die Kamera im Wohnzimmer, wo die Kunden und Joe versammelt sind – letzterer sehr unangenehm berührt, besorgt, sich sehr bewusst, was gerade passiert, während andere Gäste sich in Smalltalk versuchen. Im Originalfilm dürfte das eine sehr, sehr, sehr lange, sehr intensive einzelne Einstellung sein, doch in der deutschen Fassung wird sie durch Inserts mehrfach unterbrochen.
Der Pornoregisseur? Oder die unbeabsichtigte Darstellung
der Nachdrehs von "Die Liebesmuschel"?
COOL IT, CAROL! wusste sich gegen "Die Liebesmuschel" ironischerweise zu wehren. Carol und Joe haben völlig naiv ihre Abwärtsspirale in die Welt der Prostitution für Altherren vorangetrieben: sie versichern sich jedes Mal, dass der nächste Termin nun der letzte sein würde (und dann der wirklich letzte, und dann der wirklich aller-allerletzte). So landen sie dann auch bei einem Termin, wo sie, kaum eingetreten, aufgefordert werden, sich auszuziehen und Sex zu haben: sie sind bei einem Pornodreh gelandet. Das Bett ist steril weiß, die Beleuchtung unangenehm blendend – während der Kameramann recht professionell aussieht, sitzt etwa 30 cm vom Bett ein alter Mann mit schweissiger (oder angeleckter?) Oberlippe auf einem Sessel, der das ganze still, aber offenbar stark aufgegeilt anschaut. Der Regisseur? Der Produzent? Der Verleiher? In "Die Liebesmuschel" entwickelte diese Szene einen ganz eigenen Drive: sollte man sich ungefähr so die Nachdrehs des deutschen Verleihs vorstellen? Dieser Moment wirkte so, als würde COOL IT, CAROL! sich über "Die Liebesmuschel" lustig machen.


Donnerstag, 3. Januar

13.30 Uhr
TrÜF – Der triste Überraschungsfilm

L'OSCENO DESIDERIO
Regie: Giulio Petroni
Italien/Spanien 1978
35mm, OV mit live eingespielten Untertiteln
Die Amerikanerin Amanda (Marisa Mell) und der Italiener Andrea (Chris Avram) ziehen in eine gotisch anmutende Villa irgendwo in der italienischen Provinz. Die Ehe der beiden wurde zwar kürzlich geschlossen, ist aber eher kalt. Die Belegschaft benimmt sich gegenüber Amanda eher merkwürdig. In den Gesprächen mit ihrem Landsmann, dem Archäologen Clark (Lou Castel) findet Amanda etwas Abwechslung. Als sie (nach einer nun doch vollzogenen Ehenacht) schwanger wird, mehren sich die mysteriösen Ereignisse in der Villa: ist Amanda in einen Kreis von Teufelsanbetern geraten?
L'OSCENO DESIDERIO gilt ein später Vertreter jener italienischen Filme, die auf der Erfolgswelle von THE EXORCIST reiten wollten, doch in den ersten zwei Dritteln erscheint mehr ROSEMARY'S BABY der Impuls gewesen zu sein. Regisseur Giulio Petroni, der einige wunderbare Westerns in seiner Filmografie zählt (darunter den grimmigen Rachefilm TEPEPA im Umfeld der mexikanischen Revolution und das großartige Trinker-Melodrama LA NOTTE DEI SERPENTI, der beim vierten Terza Visione lief), war offenbar alles andere als begeistert von dem Film, ließ seinen Namen in den Credits durch ein Pseudonym ersetzen. Die Produzenten, die das fertige Produkt ursprünglich als Exorzisten-Film vermarkten wollten, entschieden sich anders, versuchten, ihn zu einem Sexfilm umdrehen zu lassen, ließen den spanischen Kameramann Leopoldo Villaseñor noch passende Sexszenen mit den beiden Hauptdarstellern nachdrehen und gaben ihm einen ausdrucksvollen neuen Titel ("Obszöne Begierde"). Das Resultat war weder Fisch noch Fleisch: als Sexfilm ist er zu unsexy, als Horrorfilm trübt er etwas unspannend vor sich hin, als reiner Atmosphärenfilm wird er immer wieder von unspannender Füllhandlung unterbrochen. Da gibt es nichts Obszönes. Und Begierde gibt es nur in Spuren zu finden.
Geweihtes Gebäck gegen teuflische Besessenheit
Ganz entfernt hat mich das ganze an Riccardo Fredas ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA erinnert, der 2018 beim Terza Visione lief: ein merkwürdiger Film, den niemand mögen wollte, den sein Regisseur verstoßen hatte, mit schwierigen Produktionsbedingungen und Nachdrehs. Wo Fredas faszinierender Film einen wahrhaft dekonstruktiven Wahn und eine ganz eigene Poesie entwickelt, ließ mich der insgesamt doch allzu gemächliche L'OSCENO DESIDERIO leider ziemlich kalt. Mehr denn als Sexfilm (dazu hat er eigentlich zu wenig Sex) oder als Horror-Thriller hat er für mich am ehesten als Atmosphärenfilm funktioniert. Die Gothic-Villa, die den Hauptschauplatz des Films bildet, ist zwar groß, aber auch leicht verfallen, der umliegende Park ist irgendwie ungepflegt – das sieht alles so aus wie das Set eines Mario-Bava-Films, das man zehn Jahre den Naturkräften überlassen hat. Und genau dieser latente Verfall verlieh L'OSCENO DESIDERIO in seinen besten Momenten eine ganz eigensinnige, manchmal jenseitige Atmosphäre.
Der Exorzisten-Moment ist relativ kurz gehalten. Clark alias Lou Castel, der während fast des ganzen Films wie bestellt aber nicht abgeholt aussieht, entpuppt sich als Priester, versucht Amanda zu exorzieren, aber als sie ihm eine Hostie ins Gesicht spuckt, rennt er völlig hysterisch weg, raus auf die Straße und lässt sich dort von einem LKW überfahren. Sollte mit dieser einfachen "Lösung" Spezialeffekte für etwas gruseligere Vorkommnisse als nur Spucke im Gesicht eingespart werden? Wer jedenfalls einen wirklich gruseligen Exorzisten-Wiedergänger sehen möchte, sollte sich eher an Alberto De Martinos großartigen L'ANTICRISTO halten (ein Film übrigens, dem der Titel "Obszöne Begierde" auch inhaltlich wesentlich besser stehen würde; den ich persönlich, auch als großer Friedkin-Fan, besser als das "Original" finde und hiermit jedem mit missionarischem Eifer ans Herz lege!).
L'OSCENO DESIDERIO ist ein "geschädigter" und dadurch irgendwie auch sehr zärtlichkeitsbedürftiger Film, aber so richtig warm bin ich damit nicht geworden. Ich wäre es gerne... Vielleicht bei einer neuen Sichtung irgendwann?

Lukas Foerster hat einen wunderschönen Text über einen Artefakt in der vorgeführten, leider schon ziemlich rotstichigen Kopie geschrieben (und bezeichnet den Film ziemlich treffend als "schläfrig").


15:30 Uhr

DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK
Regie: Peter Heller
BRD 1989
16mm, OV
Martin Humers Lebensinhalt dreht sich um Pornografie: mit großer Leidenschaft arbeitet dieser Mann daran, diese mit allen Mitteln aus Österreich zu verbannen – mit der Beantragung von Strafanzeigen, spektakulären Aktionen, Amtsanmassung und teils auch Erpressung.
Mit Rechtsradikalen zu reden ist nicht nur heutzutage dämlich. Es war schon 2014 dämlich. Und 1932. Und selbstverständlich war es das auch 1989. Das sieht man sehr schön im Gespräch zwischen Martin Humer und seinem Erzfeind, einem großen Wiener Verleger von Pornozeitschriften: beide kommen im Wartesaal eines Wiener Gerichts ins Gespräch, der Verleger gibt sich sichtlich Mühe, mit Humer zu reden, doch dieser brüllt ihn immer wieder mit weiteren Beleidigungen, Obszönitäten, Unterstellungen und Schimpftiraden nieder...
Der TV-Dokumentarfilm DER PORNOJÄGER gehörte für mich zu den großen Highlights des Hofbauer-Kongresses. Wie DIE TOTENSCHMECKER ein Blick in das kackbraune Herz des teutonischen Alltagsfaschismus. Humer, der selbsternannte Kämpfer für Anstand, scheut sich nicht davor, Gegner systematisch zu dehumanisieren: immer wieder bezeichnet er sie als "Schweine". Die "Massenpornografie" ist für ihn ein Mittel des Weltkommunismus, der Marxisten und der Ausländer, um das deutsche Volk zu destabilisieren. Humer spricht meist von "deutsch" und "Deutschland" und entpuppt sich damit als echter "Großdeutscher". Den aktuellen österreichischen Staat bezeichnet er als Diktatur, die wesentlich schlimmer sei als das Dritte Reich und scheut sich nicht, seine Gegner als Nazis zu beschimpfen. Er beteuert immer wieder, dass er natürlich den Frauen im Pornomilieu helfen wolle, nur um sie wenig später außer sich vor Zorn als "Huren" und "Schlampen" zu bezeichnen, denen alles "Mütterliche" fehle – als liege der einzige Existenzgrund von Frauen, (sexlose) Mutter zu sein. Wilde Verschwörungstheorien mit Linken und Ausländern als Sündenböcke, vulgärer Sexismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Beschimpfung der Gegner als Nazis... Wer bei der Sichtung des Films das höchst unangenehme Gefühl bekommt, das alles kürzlich schon ähnlich gehört zu haben – tja, so "neuartig" ist die sogenannte "Neue Rechte" halt auch wieder nicht...
Martin Humer erklärt seiner Tochter schematisch die
Beziehung zwischen Weltkommunismus, Immigration
und Pornografie
DER PORNOJÄGER "redet" nicht mit Humer, aber er beobachtet ihn beim Reden. Ohne jeglichen Off-Kommentar lässt er den selbsternannten Tugendwächter seine Tiraden ausspucken und voller Stolz die vielen angesammelten Regalmeter an Pornozeitschriften (Beweismittel) in seinem Büro zeigen. Zwischendurch kommen natürlich auch weitere Personen zu Wort: am häufigsten der Geschäftsführer eines Pornomagazins, aber auch Staatsanwälte und Richter (von denen einige tatsächlich fast ihre komplette Arbeitszeit den Strafanzeigen Humers widmen müssen) sowie Humers erste Ehefrau. Der Film lässt sämtliche gezeigte Personen für sich sprechen, nutzt keinerlei Off-Kommentar und greift auch so gut wie nicht ein. Das ist natürlich weder "neutral", noch heißt es, dass Regisseur und Autor Peter Heller zu dem Gezeigten keine Position beziehen würde, denn die Kadrage und die Montage werden doch immer wieder als ironisierende Mittel eingesetzt (für Zuschauer natürlich, die das so sehen wollen). So stellt sich Humer einmal in seiner Arbeitszentrale ganz stolz vor eine grotesk überdimensionierte, gefühlt fünf Meter hohe Regalwand, in der sorgfältig Pornozeitschriften sowie Aktenordner mit Beweismitteln verstaut sind. Die Kamera schwenkt auch mal genüsslich über die Ordnerrücken (ein ziemlich dicker Ordner ist mit "Pasolini" beschriftet). Putin hat einmal gesagt, dass er Terroristen bis aufs Klo verfolgen würde, aber das hat der Pornojäger Humer schon Jahrzehnte vor dem russischen Präsidenten gemacht: die Kamera folgt Humer und seiner ihn assistierenden Tochter durch mehrere Räume voller Regale, und eines dieser Räume ist dann auch das stille Örtchen, vollgestellt mit Ordnern voller Beweismittel (also Pornozeitschriften). Hier ging wahrscheinlich das lauteste Lachen durch den ganzen Saal.
Natürlich ist Humer irgendwo auch eine "komische" Figur. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit großem Ernst nennt er auch mal einige Dutzend völlig bestialische und absurde Titel von Pornofilmen, die er gerade rechtlich verfolgen will (was auch für große Erheiterung im Saal sorgte). Das Lachen bleibt einem aber auch regelmäßig im Hals stecken, denn Humer und seine Leute schrecken auch vor Amtsanmaßung, latenter Bedrohung und schließlich auch Erpressung nicht zurück. Ein unkenntlich gemachter Interviewpartner entpuppt sich als Besitzer eines Pornoladens, den Humer erfolgreich zur "Kollaboration" erpresst hat: Insider-Hinweise werden getauscht gegen den Verzicht auf eine Strafanzeige (die in Fällen kleiner Betriebe durch die potentielle, juristisch angeordnete Unterbrechung der Geschäftstätigkeit während der Untersuchung tatsächlich zum Konkurs führen kann – Humers Tätigkeiten haben also in seinem Sinne manchmal durchaus Erfolg). Auch wenn DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK durchaus in einigen ironischen Momenten ein lustiger Film war (und der Saal hat an einigen Stellen sehr herzlich gelacht), ist er doch auch beklemmend.

DER PORNOJÄGER hätte wahrscheinlich ein sehr schönes Double-Feature mit Lucio Fulcis LA PRETORA ergeben, in dem Edwige Fenech eine Richterin spielt, die gnadenlos Pornografie verfolgt, und zugleich deren naiv-freizügige Zwillingsschwester verkörpert, die schließlich als Mittel ausgenutzt wird, um die Richterin zu diffamieren, als sie sich in anderen Belangen als zu störend, weil nicht-korrupt erweist...
Das vom Hofbauer-Kommando kuratierte Folgeprogramm war aber auch sehr passend... Nach DER PORNOJÄGER gab es nämlich erst einmal einen Porno.


17:30 Uhr

CITY OF SIN ("Ashley – Sattelfest in allen Betten")
Regie: Henri Pachard
USA 1991
35mm, DF
Intrigen in der Stadt der Sünde! Die Dokumentenmappe eines korrupten Kandidaten zum Posten des Bürgermeisters von L.A. geht in einem Bordell verloren. Die Geschäftsführerin Ashley nimmt die brisanten Dokumente an sich und taucht damit – von den Häschern des Fieslings und besonders ihrem Ex-Geliebten Mosie verfolgt – unter. Eine Hatz zwischen Betten und Sofas beginnt...
Oder so ungefähr. Durch diverse Verzögerungen im Vorprogramm folgte CITY OF SIN fast nahtlos an DER PORNOJÄGER – während ich mit Pinkelpause und einer Auffrischung meines Getränks beschäftigt war. So verpasste ich die ersten fünf bis vielleicht zehn Minuten: die oben aufgeschriebene Synopsis ist – bis auf den letzten Satz und den vorletzten Halbsatz – eher eine Vermutung darüber, was da so passiert. Natürlich dient das alles in erster Linie dazu, Männlein und Weiblein zu ertüchtigender Gymnastik in diversen Betten und Sofas zusammen zu bringen. Wirklich atemberaubend war der Film für mich nicht – aber wirklich schlecht war das auch nicht, zumal CITY OF SIN mit vielen kleinen, liebevollen Details und einigen sehr netten Figuren zu unterhalten weiß.
Kurz zu den Figuren: es gibt also Ashley, die Geschäftsführerin eines mehr oder minder mondänen Bordells, die mit brisanten Dokumenten flieht. Eine toughe Frau, die Männer und Frauen gleichermaßen vernascht. Ihr einziger wunder Punkt: ihre emotionale Last von ihrer vergangenen Beziehung mit Mosie – der jetzt für den korrupten Politiker arbeitet und ihr die Dokumente abluchsen will, aber selbst doch eigentlich ein ganz lieber Typ ist, der ebenfalls noch nicht emotional über Ashley hinweg ist. In einer ausgedehnten Sexszene zwischen den beiden wußte besonders ein riesiger Wandteppich mit Katzenmotiv im Hintergrund die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders schön: Ashley (bzw. Hauptdarstellerin) hatte ein Zierfisch-Tattoo auf einer Pobacke – so dass unterschwellig auch die Jagd einer Katze nach einem Goldfisch zu sehen war. Wie passend, da sie gerade die Verfolgte ist, die mit ihrem Verfolger auf dem Sofa liegt.
Bei den Antagonisten gibt es den ultraschmierigen Bürgermeisterkandidaten (oder ist er schon Bürgermeister?). Seine Sonnenbrille ist ihm möglicherweise fest im Gesicht angetackert, zumindest setzt er sie auch beim Sex nicht ab. Dass er irgendwelche verfänglichen Dokumente hat und korrupt ist, dürfte nicht das Schlimmste sein: wirklich widerwärtig ist, wie er seine Frau behandelt. Vor lauter Verzweiflung, mit so einem Fiesling verheiratet zu sein, trinkt sie. Zumindest versucht sie es verzweifelt: in einer sehr ausgedehnten und rein inhaltlich wahrscheinlich etwas langweiligen Dialogszene unterhält sich der Politiker mit seinen Schergen über die verschwundenen Dokumente, seine Frau serviert sich in der Zwischenzeit einen Drink – und er nimmt ihn ihr weg. Immer wieder versucht sie in dieser langen Szene das Glas zu ergreifen, aber ihr Ehemann nimmt es ihr immer wieder weg. Eine tragikomische Szene für eine wahrhaftig tragische Figur, denn es ist ganz eindeutig, dass ihr Mann sie nicht nur lebensweltlich, sondern auch sexuell nicht befriedigen kann. In der gemeinsamen Sexszene nimmt er sich, was er will, und lässt sie, die Durstige, auch hungrig zurück. Ich hoffte bis zum Schluss des Films, dass sie noch mit Mosie ins Bett landet: Mosie, der im Laufe des Films mit gefühlt fast jeder weiblichen Figur Sex hat, nur eben nicht mit der Frau des Politikers. Ihr einziger Trost ist, dass in ihren Szenen immer ein stilvoller Jazz-Score zu hören ist, während die anderen mit einem auf die Dauer etwas langweiligen Spätachtziger-Fahrstuhl-Muzak beschallt werden.
Für mich war aber Johnny "Tatta" die absolute Lieblingsfigur. Der loyale rechte Arm Ashleys ist immer im Dienst: mögen alle anderen um ihn herum ihrer Libido hemmungslos nachgeben, und möge ihn die deutsche Synchro als "Tschonni Tatter" bezeichnen (wie in: Tattergreis) – Johnny bewahrt immer seinen kühlen Kopf und sein völlig von Schweiß getränktes Hemd unter seinem schwarzen Anzug. Für seine Chefin würde er sich zweifelsohne um Kopf und Kragen schwitzen. Nur zweimal darf er sich mal erfrischen: einmal mit einer rothaarigen Schergin des korrupten Politikers (eine ganz fiese Falle, die ihm gestellt wird, um ihm die Dokumente abzunehmen) und einmal mit einer schnellen Dusche...
Mosie, Johnny Tatta und Katzen-Teppichkunst
CITY OF SIN spielt in L.A., an einem helllichten Sommertag (gleichwohl der Titel einen noir'ischen Nachtfilm suggeriert – diese Version von CITY OF SIN würde ich natürlich auch gerne sehen) und die Kamera fängt diese kalifornische Sonne in manchen Momenten geradezu magisch auf – die wunderschöne 35mm-Projektion dürfte vielleicht nicht ganz unschuldig daran sein. Es ist eine sehr warme Sonne, die es Ashley ermöglicht, sich meist sehr knapp bekleidet von A nach B zu bewegen und die Johnny ausgiebig zum Schwitzen bringt. Auch Mosie, nachdem er ein lose verschlossenes Einfahrtstor übermäßig umständlich passiert hat (was für große Erheiterung sorgte – manchmal ist es eben doch besser, den ersten, "verpatzten" Take zu nutzen), wird ganz warm, und er zieht sein T-Shirt aus, während er zu Ashleys Versteck läuft, einer ziemlich hübschen Gartenlaube auf einem Hügel in Sichtweite der Engelsstadt. So passiert das eben: die Figuren lockern ihre Kleidung, und schon kommt es zur Sache. Angekommen in Ashleys Versteck wartet allerdings nicht Ashley auf ihn, sondern Johnny "Tatta", frisch geduscht, mit einem Badetuch um die Hüften (und einem frischen, also noch nicht vollgeschwitzten Hemd). Es hätte zum natürlichen Fluss der Szene gepasst, wenn die beiden nun Sex gehabt hätten, aber dann gab es doch nur einen Expositionsdialog, um die sexuelle Spannung zwischen Mosie und Johnny aufzulösen. Schade... natürlich bleibt CITY OF SIN den Regeln eines heterosexuellen Mainstream-Pornofilms verpflichtet (zur größeren sexuellen Offenheit des schwulen Pornofilms folgt später noch mehr).
Seinen ganzen Charme hätte CITY OF SIN vielleicht besser in einer Late-Night-Vorstellung entwickeln können. Ein bisschen langweilig fand ich den Film bei der Sichtung schon, aber es war wohl doch dieses "geil-langwelig" – rückblickend mag ich ihn irgendwie ganz gerne!

Abendessen in der Gruppe!


21:15 Uhr

LE DICIOTTENNI ("Mädchen von 18 Jahren")
Regie: Mario Mattòli
Italien 1955
35mm, DF
Auf einem Mädcheninternat: die Gefühle der Schülerinnen fahren gerade Achterbahn, denn der neue Physiklehrer (Anthony Steffen) ist ein absolut unwiderstehlicher junger Mann. Er selbst, der noch bei seiner Mutter (einer verarmten und trotz ihres vordergründigen Humors leicht verbitterten Adeligen) wohnt, kriegt davon nichts mit. Die Schuldirektorin, die sämtliche Tagebücher ihrer Schutzbefohlenen zu eben ihrem Schutz konfisziert hat, liest hingegen von der allgemeinen Verliebtheit. Eskalationen folgen...
Klavierlektion mit Komplikationen
Ich muss zugeben, dass mir von LE DICIOTTENNI nicht viel mehr hängen geblieben ist als ein wunderschönes, angenehmes Gefühl von Glück, Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Ein toll gemachter Film, mit tollen Figuren, die von mir größtenteils unbekannten Schauspielern dargestellt wurden, mit einem flotten Timing, mit einem schönen Gefühl für einzelne Szenen und für den großen Bogen, mit einer guten Balance zwischen Komik und Melodramatik.
In meinem Notizbuch, in das ich mir im Hotel nach dem Aufwachen jeweils Notizen zu den Filmen des Vortags machte, stand zu LE DICIOTTENNI nur "Scope! Tiefenschärfe!". Der Film unterhielt nicht nur wunderbar, sondern war auch visuell ziemlich großartig. Wie diese "kleine" italienische Komödie mit dem gerade mal zwei Jahre alten Cinemascope umgeht, hat mich immer wieder erstaunt und beglückt: die Kamera fängt das Setting, die Figuren und die Räume zwischen den Figuren geradezu brillant ein – als wäre Scope das natürlichste Filmformat auf der Welt (und nicht eine gerade mal zwei Jahre alte Innovation, über die sich viele noch lustig machten).
LE DICIOTTENNI wäre auch ein sehr schöner Film für's Terza. Die Kopie war noch knackig scharf und ohne große Gebrauchsspuren, an einigen Stellen aber leider schon leicht angerötet.

Nicht weniger unterhaltsam, aber doch in einer sehr viel härteren Gangart:


23:30 Uhr

WU FA WU TIAN FEI CHE DANG ("Die wilden Engel von Hong Kong")
Regie: Kuei Chih-Hung
Hong Kong 1976
35mm, DF
Zwei gutbürgerliche Pärchen aus Hongkong werden auf dem Weg zu ihrem Wochenendhäuschen auf einer kleinen Insel von einer Motorradgang belästigt. Die kultivierten Städter wissen den zunehmend bedrohlicheren Rowdies (zunächst) wenig entgegen zu setzen. Die Situation eskaliert...
Tschechows sprichwörtliches Gewehr muss nicht immer ein Gewehr sein. Manchmal ist es auch der Propeller eines Motorboots!
Auch wenn "Die wilden Engel von Hong Kong" für mich nicht so eine Kino-Epiphanie war, wie für das Hofbauer-Kommando, so hat er mich doch mit seiner unaufhörlichen Eskalationsspirale von bestialischen Gewalttaten wie wahrscheinlich die meisten im Kinosaal gut weggefegt. Dabei ist der Film so minimalistisch in seiner Dramaturgie, dass er umso mehr Platz hat, um unglaublich viele kleine oder größere Ideen umzusetzen.
Die wilden Engel von Hong Kong – bereit zum Angriff
Es gibt eine sehr ausgedehnte Sequenz, in der die Motorradgang einen Fahrwettbewerb am Strand organisiert. Einige der Frauen bieten sich dem Gewinner als Hauptgewinn an. Das ganze beginnt als völlig halsbrecherisches Rennen durch die Dünen der Insel, gefolgt von einem wilden Zweierkampf am Rand des Wassers, bei dem die Kontrahenten auf den Motorrädern aufeinander zufahren und sich mit Ketten (oder Stöcken?) prügeln und endet schließlich mehr oder weniger in einer großen Orgie. Diese Szene könnte man "Selbstzweckhaftigkeit" vorwerfen – doch ich würde eher sagen, dass dies der Moment ist, in dem der Film sich selbst Zeit zum Atmen gibt und ganz und gar in sich aufgeht. Seine rohe Kraft entwickelt der Film nicht zuletzt durch die spektakulären Motorrad-Rennen und die entsprechenden Stunts, von denen viele höllisch gefährlich aussehen (und es wahrscheinlich auch waren).
Am Ende entpuppen sich die männlichen Städter als doch ziemlich wehrhaft und als nicht minder bestialisch als die "unkultivierten" Rowdies. Da kommt, wie bereits angedeutet, der Propeller eines Motorboots ebenso zum Einsatz wie ein großer, mit siedendem Öl gefüllter Kochtopf. Die schwer traumatisierte junge Städterin, die nur "Ich will zurück nach Hong Kong!" vor sich hin jammern kann, wird dann sogar als "Köder" für die Biker ausgesetzt. Am Ende gibt es ein "apokalyptisches" Tableau der massakrierten Biker, mit einem elegischen Kameraschwenk über ihre Leichen, unterlegt von Bachs "Toccata und Fuge".

Der angekündigte VELLUTO NERO des italienischen Regie-Außenseiters Brunello Rondi (dessen INGRID SULLA STRADA beim Terza Visione 2017 lief) konnte aufgrund des letztlich zu kritischen Zustands der Kopie leider nicht gezeigt werden. Als Ersatz wurde ein "Videoknüppel" kredenzt.


01:45 Uhr

HOT STEPS ("More Than Feelings")
Regie: Gerry Lively
Italien/USA 1990
2K-Abtastung einer VHS, DF
Zwei Gruppen von Jugendlichen bereiten sich auf einen Tanzwettbewerb vor. Eifersüchteleien, Intrigen, Seitenwechsel, Liebe und vieles mehr folgen...
Ich muss gestehen, dass mir von diesem Film nicht so vieles im Gedächtnis geblieben ist und meine Notizen nicht gerade besonders reichhaltig ausfielen. Das hatte nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen Zeit zu tun.
Nur ein paar Bruchstücke... Einer der reichen Schnösel-Kids mit Namen Kevin fährt einen teuren Sportwagen mit dem Nummernschild "KEV-IN". Ein nächtliches Tanztraining im Autogeschäft. Die Rivalen werden mit dem Feuerwehrschlauch nassgespritzt. Der eine Junge möchte bei einem Radio-Gewinnspiel unbedingt gewinnen (es geht darum, ein nur wenige Sekunden lang eingespieltes Lied zu erkennen), doch leider ruft er immer einen Tick zu spät an. Biertrinken und Abhängen am Strand. Beim finalen Tanzwettbewerb meint einer der geladenen Väter, unter den Tänzerinnen eine junge Version seiner Ehefrau zu erkennen, ist von diesem Anblick sichtlich angegeilt – bis er merkt, dass das seine eigene Tochter ist. Ich selbst wiederum habe mich etwas in die schwarzhaarige Tanzlehrerin verliebt, die die finanziell nicht ganz so gut situierte Tanzgruppe (mit hohem Anteil an Latinos – die besser situierten sind fast alle weiß und angelsächsisch) trainiert...



Warum Kakao zum Kultgetränk des Volljährigkeitskongresses avancierte, wie nahe Ozu und Pinku eigentlich sind, was gastronomische Verkostungen mit Sexstellungen zu tun haben und wie man die Sau richtig (oder eben doch falsch) rauslässt – dazu gibt es demnächst hier Antworten.

Fortsetzung folgt... (hier zum zweiten Teil)


Wer noch ein bisschen mehr zu den eben besprochenen Filmen bzw. auch zu anderen, später gezeigten Kongressfilmen etwas lesen möchte, dem sei die wunderschöne "XXL-Collage an Festivaleindrücken" vieler anderer Kongressniki auf critic.de empfohlen. Auch sehr empfehlenswert: Roberts Einträge zum Kongress in seinem Filmtagebuch auf Eskalierende Träume.

Freitag, 23. August 2019

Klaus Wildenhahn, Merce Cunningham und die Mühen des Tanzes

Direct Cinema aus deutschen Landen

498, 3rd AVE. (auch 498, THIRD AVENUE)
Deutschland 1967
Regie: Klaus Wildenhahn
Mit: Merce Cunningham, den Tänzern Carolyn Brown, Sandra Neels, Barbara Lloyd (= Barbara Dilley), Valda Setterfield, Yseult Riopelle, Gus Solomons jr. und Albert Reid, sowie Viola Farber

Der Titel des Films bezeichnet eine Adresse in New York. Dort, nur zwei, drei Stockwerke über dem Straßenlärm, hatte damals Merce Cunningham, einer der führenden Tänzer und Choreographen des 20. Jahrhunderts, das Probenstudio seiner Merce Cunningham Dance Company (MCDC). Klaus Wildenhahn begleitete für seinen knapp eineinhalbstündigen Dokumentarfilm, den er für den NDR drehte, im Frühsommer 1967 zwei Monate lang die Proben zu dem Stück Scramble - ausgestrahlt wurde der Film erstmals im März 1968 im Programm Nord 3.

Merce Cunningham
Es gibt immer zwei Antworten auf eine Frage. Ich weiß nie, welche die bessere ist. (Merce Cunningham in Wildenhahns Übersetzung)
In our society, if you are going to do anything, you have to get funds. (Merce Cunningham)

Das Studio und der Ausblick auf die Straße
Diese beiden Zitate aus dem Film fassen wesentliche Erkenntnisse daraus zusammen. Der erste Abschnitt, ungefähr eine halbe Stunde, widmet sich dem anstrengenden Alltag der Proben und Cunninghams Arbeitsweise dabei. Schritt für Schritt wird die Choreographie aus elementaren Bewegungsabläufen aufgebaut, wie etwa an einem Duett von Sandra Neels und Gus Solomons jr. veranschaulicht wird. Dass hier ein Schwarzer und eine Weiße in Posen zu sehen sind, die man auch als sexuell aufgeladen verstehen könnte, wird von Wildenhahn übrigens mit keinem Wort thematisiert. Im Kontext des liberal-intellektuellen Ostküsten- und Künstlermilieus, und damit im Kontext des Films, spielt es auch tatsächlich keine Rolle. Solche Ökonomie oder auch Lakonie könnte typisch für Wildenhahn gewesen sein. In seinem Film FREIER FALL: JOHANNA K. (1993) über die Transsexuelle Johanna Kamermans verwendet er in seinem eigenen Text kein einziges Mal Wörter wie "transsexuell" oder "transgender" - "weil es nicht wichtig war", wie er irgendwann mal sagte. Ich kenne aber zuwenig Filme von Wildenhahn, um das nun zu einem allgemeinen Charakteristikum seines Schaffens zu erklären.

Carolyn Brown (oben) und Sandra Neels
Carolyn Brown, damals die Solotänzerin der Company, und Sandra Neels gaben neben Cunningham selbst auch Tanzunterricht im Studio. Die dafür angestellte Pianistin (ihren Namen erfährt man nicht, aber sie wird von Neels als die gute Seele des Studios gelobt), Mitglieder der Tanztruppe und Cunningham selbst erhellen dessen Vorgehensweise. Und die bestand darin, dass er den Tänzern nur so viele Informationen zukommen ließ, wie unbedingt nötig. Vor allem versorgte er sie nicht mit Interpretationen dessen, was sie da tanzen sollten - sie sollten sich lieber eigene Gedanken machen. Es war geradezu verboten, Cunningham diesbezügliche Fragen zu stellen. Dabei wirkte er aber durchaus bestimmend, und wenn er mit Händeklatschen und Fingerschnipsen den Takt vorgab, dann klingt das im Film laut und geradezu schneidend. Auch bei den praktischen Belangen des Probenablaufs war Cunningham knauserig mit Informationen - Termine und dergleichen erfuhr man immer nur knapp und kurzfristig. Nicht jeder kam damit gut zurecht, und bei den Proben fließen auch mal Tränen bei Sandra Neels, und es gibt Unstimmigkeiten der Tänzer untereinander. Yseult Riopelle, eine Tochter des kanadischen Malers und Bildhauers Jean-Paul Riopelle und mit 18 oder 19 jüngstes Mitglied der Truppe, fühlte sich von Cunninghams dominanter Persona und der permanent abverlangten Disziplin eingeschüchtert, wie man aus Carolyn Browns 2007 erschienenen Memoiren Chance and Circumstance: Twenty Years with Cage and Cunningham erfährt. Wenig später verließ sie die Company.

Barbara Lloyd (l.o.), Yseult Riopelle (r.o.), unten Valda Setterfield
(die falschen Wimpern sind für den Auftritt in New Canaan angeklebt)
Auch existenzielle Sorgen kommen im ersten Abschnitt zur Sprache. Die bestehen bei Tänzern nicht zuletzt darin, nicht oder zu selten auftreten zu dürfen. Während Brown, Neels und Riopelle (und die Herren im Ensemble) tragende Rollen im Stück Scramble zugewiesen bekamen, hatten die beiden restlichen Damen, Barbara Lloyd (besser bekannt als Barbara Dilley) und die Engländerin Valda Setterfield, darin nur kleine Nebenrollen - ohne zu wissen, warum. Vielleicht lag es daran, dass beide damals kleine Kinder hatten und diese öfters zu den Proben ins Studio mitnahmen, weil Babysitter teuer waren. Aber vielleicht auch nicht - wie immer knauserte Cunningham mit Informationen, so dass beide im Ungewissen blieben. Sie trösteten sich damit, dass sie am Feierabend nach den anstrengenden Proben nicht von einer leeren Wohnung, sondern von ihren Familien empfangen wurden.

Duett von Sandra Neels und Gus Solomons jr.
Nach einer halben Stunde gibt es eine Zäsur im Film, und damit sind wir beim zweiten der oben angeführten Zitate von Cunningham - wir sind beim lieben Geld. Künstler abseits des kommerziellen Mainstreams, wie Cunningham und seine Truppe, die Aufwendungen etwa für Probenräume oder Tourneen haben, waren (und sind) in den USA auf private Sponsoren und Mäzene angewiesen. Die Merce Cunningham Dance Company unternahm 1964 eine ausgedehnte Welttournee, die sie international bekannt machte, die jedoch finanziell nicht genügend abgesichert war, so dass die Company Steuerschulden von über 5000 Dollar (nach heutigem Wert rund 40.000 Dollar) angehäuft hatte. Jetzt, drei Jahre später, setzte das Finanzamt ein Ultimatum. Wenn die Schulden nicht in Kürze bezahlt würden, drohte die Pfändung des Studios und damit vielleicht das Aus für die Company. Doch Cunningham konnte sich auf seine Mäzene verlassen. Der reiche, aus Frankreich stammende Bankier, Unternehmer, Kunstsammler und Mäzen Jean/John de Ménil, dessen Frau Dominique (die einst als Schnittassistentin an Sternbergs DER BLAUE ENGEL mitgewirkt hatte) und der radikale und umstrittene (auch wegen seiner Nazi-Vergangenheit) Architekt Philip Johnson organisierten ein Wohltätigkeitsevent, bei dem die Tanztruppe zu ihren eigenen Gunsten auftrat. Johnson besaß ein großes Grundstück in der Kleinstadt New Canaan in Connecticut, auf dem er einige avantgardistische Bauten errichtete, insbesondere sein berühmtes Glass House. Dieses Grundstück stellte Johnson für das Event zur Verfügung, und die Ménils spendierten die (sicher exquisite) Verpflegung. Es wurden Einladungen an die Oberschicht Neuenglands versandt, und wer annahm, musste einen sehr gehobenen Eintrittspreis entrichten. Die Dance Company sollte ungefähr 45 Minuten lang Teile des im Entstehen begriffenen Scramble und weitere Passagen aus ihrem Repertoire vorführen, daneben gab es weitere Programmpunkte, so wurde für einen "Mitternachtsbeat" eine "Beatkapelle" engagiert, wie das Wildenhahn im Film ausdrückt.

Unten sind die Tänzerinnen im großen Wandspiegel des Studios zu sehen
Langjähriger Lebenspartner und wichtigster musikalischer Kollaborateur des schwulen Cunningham war der Avantgardekomponist John Cage. Und Cage und dessen Schüler und Mitarbeiter David Tudor, Gordon Mumma und Toshi Ichiyanagi sorgten auch in New Canaan für die musikalische Untermalung. Man sieht elektronische Gerätschaften, und zu hören waren laut Wildenhahn "elektronisch verstärkte Geige, Autotüren, Scheibenwischer und ein japanischer Gong". Und das offenbar in sehr erheblicher Lautstärke. Denn die gut betuchten Anwohner des Grundstücks in New Canaan fühlten sich gestört, und einer erschien persönlich und protestierte hartnäckig gegen die Lärmbelästigung. Wie man nicht aus dem Film, aber aus anderen Quellen erfährt, wurde sogar die Polizei gerufen, und schließlich wurde die Performance vorzeitig abgebrochen. Vielleicht sollte man milde über die Nachbarn urteilen, denn sogar Carolyn Brown bezeichnete die Soundkulisse in ihren Memoiren als Kakophonie. Das geladene Publikum spendete trotzdem freundlichen Beifall. Es gab ja auch noch mehr zur Unterhaltung, und für das leibliche Wohl war auch gesorgt. Die "Beatkapelle", deren Namen Wildenhahn unterschlägt, hieß übrigens Velvet Underground. Zu Philip Johnsons Freunden und den von den Ménils finanziell unterstützten Künstlern zählte auch Andy Warhol. Warhol war selbst bei dem Event in New Canaan zugegen, und man sieht ihn wohl auch kurz von hinten im Film, aber man erkennt ihn nicht deutlich, und Wildenhahn erspart sich überflüssiges name-dropping. Jedenfalls war es wohl naheliegend, Warhols zeitweilige Hausband aus der Factory auch gleich zu engagieren. Man sieht Velvet Underground im Film nicht im Bild, aber man hört kurze Passagen aus I'm Waiting for the Man und Venus in Furs, und dazu schwingen die adrett gekleideten Oberen Zehntausend der Ostküste zu nächtlicher Stunde das Tanzbein. Das hatte auch etwas Bizarres an sich, aber das ist Wildenhahn möglicherweise entgangen, jedenfalls ging er nicht darauf ein.

Die Pianistin, und Wildenhahn von hinten (mehr als diesen Ausschnitt sieht man von ihm nicht im Film)
Für die Tanztruppe war dieser Ausflug eine zwiespältige Erfahrung, aber der wichtigste Zweck wurde erreicht. Der Reingewinn betrug 23.355 Dollar und 10 Cent, inflationsbereinigt ungefähr 180.000 Dollar. Damit konnten die Steuerschulden auf einen Schlag getilgt werden, und es blieb noch ein schönes Sümmchen für zukünftige Projekte übrig. - Nach diesem Intermezzo, im Film eine Viertelstunde, sind wir für die restliche Zeit wieder in New York und im Alltag der Proben für das neue Stück. Das Duett von Neels und Solomons wird weiterentwickelt, und in der 13. Probe sind erstmals alle Tänzer zusammen im Einsatz. - Zu den existenziellen Ängsten der Tänzer gehörte nicht nur, vom Maestro nicht gebührend berücksichtigt zu werden, sondern, elementarer noch, durch eine Verletzung aus der Spur geworfen zu werden. Darüber berichtet Viola Farber, die von der Gründung 1953 bis 1965 Mitglied der Merce Cunningham Dance Company gewesen war. Eine Fußverletzung und die Angst vor weiteren Verletzungen veranlassten sie, aus dem Team auszuscheiden und ihre Karriere als Tänzerin mehr oder weniger zu beenden. Jetzt, 1967, gibt sie Tanzunterricht, auch in Cunninghams Studio, und sie entwirft Choreographien (1968 wird sie dafür ihre eigene, durchaus erfolgreiche Dance Company gründen). Man sieht und hört eine Weile dabei zu, wie Farber Valda Setterfield Einzelunterricht erteilt - auch auf so hohem Niveau kann man immer noch etwas dazulernen -, und dann erzählt die in Heidelberg geborene Farber noch auf Deutsch, dass man als Mitglied einer so geschlossenen Gruppe wie der MCDC eine Art von kollektivem Bewusstsein entwickelt, und dass es nach dem Ausscheiden eine Weile dauert, bis man sich davon abnabelt und eigene Ansichten entwickelt. Sie selbst hat ein halbes Jahr gebraucht, um sich in ihre neue Realität einzufinden. Mit wortlosen Impressionen von Gruppenunterricht im Studio - man sieht da aus damaliger Sicht vielleicht die Tanzstars von morgen, vielleicht auch nicht - klingt der Film schließlich aus.

Happening in New Canaan ...
In den 60er Jahren entstand in den USA die Dokumentarfilmbewegung des Direct Cinema als Gegenstück zum französischen Cinéma vérité, bei Unterschieden im Detail (was 1963 bei einem Kongress in Lyon schon mal zu heftiger Polemik zwischen Jean Rouch und Richard Leacock führte). Als Urknall des Direct Cinema gilt PRIMARY (1960), den Robert Drew, Leacock, D.A. Pennebaker, Albert Maysles und weitere Mitarbeiter in einer gemeinsamen Anstrengung über den Vorwahlkampf der Demokratischen Partei in Wisconsin zwischen John F. Kennedy und Hubert Humphrey drehten. Die Philosophie des Direct Cinema sah vor, sich mit damals neuen kleinen und leichten (also tragbaren) und sehr leisen 16mm-Kameras und ebenfalls tragbaren, batteriebetriebenen Tonbandgeräten so unauffällig wie möglich unter die zu filmenden Leute zu mischen, damit die in ihrem Verhalten durch die Anwesenheit der Filmcrew so wenig wie möglich beeinflusst werden. So sollte die Realität so objektiv wie möglich eingefangen werden.

... mit protestierendem Nachbarn (ganz links) und Mitternachtsbeat
In Deutschland gilt Klaus Wildenhahn (1930-2018) als wichtigster Vertreter des Direct Cinema. Nachdem er anfangs kürzere Fernsehbeiträge für den NDR drehte, z.B. für das Magazin "Panorama", folgten dann längere, auch kinotaugliche Filme, Wildenhahn blieb dem NDR aber verbunden. Als einen seiner ersten Filme im Stil des Direct Cinema drehte er den ursprünglich 45-minütigen PARTEITAG 64 auf einem Parteitag der SPD, der im November 1964 in Karlsruhe stattfand. Wildenhahn konzentrierte sich dabei (jedenfalls in der mir bekannten kurzen Fassung des Films) auf die kontroverse Debatte darüber, ob die Bundesrepublik einer geplanten multilateralen westlichen Atomstreitmacht beitreten sollte, also auch selbst mit Atomwaffen hantieren sollte, wenn auch unter internationalem Befehl. Dafür war fast der gesamte Vorstand der SPD (die damals noch in der Opposition war, aber baldige Regierungsbeteiligung anstrebte - 1966 war es dann soweit), im zuständigen Ausschuss (und damit im Film) vertreten durch Fritz Erler, dagegen war der frühere Hamburger Oberbürgermeister Max Brauer. Brauer unterlag und wurde als einziges bisheriges Vorstandsmitglied nicht wiedergewählt. Wildenhahn enthält sich in der politischen Streitfrage jeden Kommentars, und doch meint man, seine Sympathie für Brauer herauslesen zu können. Aber das war dem NDR wohl suspekt. Die eigentlich vorgesehene Ausstrahlung des Films wurde abgesagt, und von den Kurzfilmtagen in Oberhausen wurde er auch zurückgezogen. Erst 17 Jahre später wurde eine stark gekürzte Fassung ausgestrahlt.

Viola Farber mit Valda Setterfield
Auch 498, 3rd AVE. ist weitgehend nach den Prinzipien des Direct Cinema gestaltet. Wildenhahn stellt gelegentlich Fragen, aber meistens hört er nur zu. Die Statements und Dialoge, mit Ausnahme derer von Viola Farber, sind natürlich auf Englisch, und nur sporadisch wird dabei etwas von Wildenhahn nachübersetzt (Untertitel gibt es nicht). Überhaupt ist Wildenhahns eigener Text recht knapp gehalten. Freilich ist die Theorie des Direct Cinema das eine, und die Praxis das andere. Anders als bei zahlreich erschienenem Parteitagsvolk, konnte es in der geschlossenen Gesellschaft der acht Tänzer nicht ausbleiben, dass die Anwesenheit des Filmteams (Wildenhahn plus Kameramann Rudolf Körösi und Tontechniker Herbert Selk) erhebliche Rückwirkungen auf die Gefilmten hatte. Carolyn Brown schreibt dazu in Chance and Circumstance: Twenty Years with Cage and Cunningham:
In May, Merce began concentrated work on new choreography. The German documentary film team from Hamburg arrived and all but moved into the studio, their eagle-eyed cameras and eavesdropping microphones zeroing in on every facet of our working lives. [...] but there was no forgetting the film crew. Merce tolerated their invasion, but it made him as uneasy and self-conscious as it did the rest of us. Rehearsals were fraught with tension. The dance wasn't going well; he showed the material quickly, changing it from day to day, leaving us unsure of exactly what the rhythms were, or the phrasing, or even the steps. The film captures it all, along with the disagreements among the dancers, the exasperations, frustrations, and tears.
Ein Musiker in der U-Bahn könnte einem Film von Jim Jarmusch entsprungen sein
(wenn es damals schon Filme von Jim Jarmusch gegeben hätte)
Im Lauf der Zeit entstanden viele weitere Filme über Merce Cunningham. Ich kenne keinen davon, bin aber trotzdem ziemlich sicher, dass nur wenige so nah dran sind am Geschehen wie 498, 3rd AVE. Klaus Wildenhahn starb im August 2018 mit 88 Jahren. Damals sendete der NDR anlässlich seines Todes fünf seiner Filme, und letzte Woche, anlässlich des ersten Todestages, drei weitere, nämlich PARTEITAG 64 (in einer nur 17-minütigen Fassung - vermutlich die, die 1981 erstmals gezeigt wurde), 498, 3rd AVE. und FREIER FALL: JOHANNA K. Alle bis auf einen sind derzeit in der NDR-Mediathek abrufbar. Bei absolut Medien ist eine Box mit 14 Wildenhahn-Filmen auf fünf DVDs erschienen, die Auswahl der Filme hat Wildenhahn selbst getroffen (498, 3rd AVE. ist nicht dabei).