Sonntag, 7. August 2022

Mütter und Töchter: Bericht vom 22. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Der große Ehrengast und zweifelsohne die Heldin der 22. goEast-Ausgabe (19.-25. April 2022) war Lana Gogoberidze (*1928): eine georgische Regisseurin und Autorin, deren Werk zum ersten Mal in Deutschland mit einer umfangreichen Retrospektive geehrt wurde. Einige großartige Filme zeigten, dass ihre Filmografie wohl einen "blinden Fleck" in der Wahrnehmung des nichtrussischen bzw. nicht-russischsprachigen sowjetischen Kinos, des georgischen Kinos und des Kinos weiblicher Regisseure darstellt. Vielleicht ein Startschuss für eine breitere Wiederentdeckung ihres Werkes?


Lana Gogoberidze mit Kameramann Lomer Akhvlediani beim Dreh des Musicals AURZARI SALKHINTESI ("Tumult")
© goEast Filmfestival


PROLOG


goEast hat während der Pandemie im Bereich Digitalisierung nachgerüstet und bot dieses Jahr für Pressevertreter eine Mediathek mit vielen der gezeigten Filme. Entsprechend der Terminierung der für mich interessanten Filme habe ich dann einen voraussichtlich verpassten Film vorab geschaut.



Mittwoch, 20. April 2022


Jena



Eva trauert auch in der Ehe mit Spiridon weiter um den verstorbenen Georgi (der Film ist in Farbe)
© goEast Filmfestival


DGES GAME UTENEBIA ("Der Tag ist länger als die Nacht")

Regie: Lana Gogoberidze

Sowjetunion 1983

104 Minuten, Mediathek-Screener

In einem georgischen Bergdorf, Anfang des 20. Jahrhunderts: die Bauerntochter Eva liebt Georgi, doch dieser kommt unter mysteriösen Umständen ums Leben. Ihres Lebensmuts beraubt heiratet sie Spiridon, einen opportunistischen Karrieristen aus der Stadt. Mit ihm in einer unbehaglichen Ehe gefangen durchlebt sie die Zeiten von Revolutionen, Bürgerkrieg, Zwangskollektivierung und Terror.

Gerade in den ersten zwanzig Minuten ist DGES GAME UTENEBIA von klassischem narrativem Kino sehr weit entfernt, fließt eher in einem wilden Bilderstrudel, der Zeit, Ort und Diegese sprengt: Routinen und Trubel des georgischen Dorflebens aus mindestens zwei verschiedenen Epochen, impressionistische Landschaftsaufnahmen, stilisierte Tableaus von Frauen, die vor einem kunstvollen Wandteppich sitzen sowie Gesangsnummern eines wandernden Schauspielerensembles wechseln sich ab, erst nach 20 Minuten schälen sich erste Ansätze von klassischer Narration heraus, und erst nach und nach stellt sich eine Art Kohärenz ein. DGES GAME UTENEBIA bleibt extrem elliptisch und trotz erkennbarer erzählerischer Episoden schert er in Handlungszeit und -Diegese immer wieder aus und kehrt zur älteren Eva in der Jetzt-Zeit oder zu den Gesangsnummern des Wandertheaters zurück.

Lana Gogoberidzes Filme seit den späten 1970ern bis zu den frühen 1990ern teilen ein kaleidoskopisches Herangehen an Erzählung: Puzzleteile aus Handlungen, Erinnerungen, Visionen, verfremdeten Kommentaren, stilisierten Tableaus setzen sich während der Laufzeit mehr und mehr zusammen und schaffen eher assoziative Verbindungen als eine geradlinige Erzählung. Ideen und Bilder stehen erst einmal fragmentiert für sich, doch durch Wiederholungen und Variationen gewinnen sie nach und nach Sinn. Gogoberidze hat sich im Laufe verschiedener Publikumsgespräche als gemäßigte Cinephile, aber als leidenschaftliche Liebhaberin internationaler Lyrik präsentiert – es ist vielleicht daher nur folgerichtig, dass ihr Kino am ehesten mit Lyrik vergleichbar ist: einzelne Zeilen mögen nichts "bedeuten", schaffen aber mit anderen Zeilen durch Reime, durch rhythmische Struktur, durch Wortvariationen Bedeutungen und Verknüpfungen.

Es gehört also durchaus zum Stil Gogoberidzes, Filme auf diese Weise zu inszenieren. Bei DGES GAME UTENEBIA kam allerdings hinzu, dass der sowjetische Verleiher die 138-minütige Urfassung um über 30 Minuten zensierte (darunter, wie Gogoberidze in Wiesbaden bei einem Publikumsgespräch erklärte, nicht nur "politische" Momente, sondern auch eine längere Sexszene, die in der Kinofassung nur noch kurz enthalten ist). Inwiefern das die ohnehin kaleidoskopische Struktur des Films noch radikalisierte, muss wohl vorerst Spekulation bleiben: mein Eindruck war, dass das letzte Drittel etwas "unrund", stellenweise zu brutal abgehakt wirkte.

Das "schädigt" diesen beeindruckenden Film im Gesamteindruck allerdings nur wenig. Gogoberidzes epischster Film, mit einer Handlung, die sich weit über 60 Jahre erstreckt, erzählt entlang des Schicksals einer "ungebildeten" Bäuerin auch von der bewegten und gewalthaften Geschichte Georgiens und der Sowjetunion. Wir erleben die Aktionen sozialistischer Agitatoren auf dem georgischen Dorf, die Etablierung des sowjetischen Regimes in der Stadt, begleitet von summarischen Gewalttaten, die zunehmende Paranoia in der Stalin-Ära, die ebenso von Paranoia und Gewalt geprägte Zwangskollektivierung auf dem Dorf.

Bei einem Spaziergang mit dem Berufsrevolutionär Artschil, mit dem Eva vielleicht eine Affäre hat oder in den sie vielleicht verliebt ist (in der Episodenhaftigkeit muss man sich hier ganz auf ambivalente Mikro-Gesten der Vertrautheit stützen), drückt sie ihre tiefe Trauer über die Erschießung des örtlichen Vogelimitators, nur kurz nach Machtübernahme der Kommunisten: ein wahrscheinlich geistig beschränkter Mann, der allerdings sämtliche Vögelpfiffe und -gesänge der Region nachpfeifen und nachsingen kann (und eine Person, die ein wenig Freude in Evas tristes Leben mit Spiridon bringt). Auf einem Kirchturm wird er von zwei revolutionären Aktivisten erschossen, weil er die Kirchenglocke während einer Parteiveranstaltung geläutet hat. Artschil spricht in blumigen Metaphern von notwendigen Verlusten: von der Notwendigkeit seines Arguments scheint er mehr überzeugt zu sein als von seiner Richtigkeit.

Willkürliche Gewalt ist in DGES GAME UTENEBIA nicht eine "Entgleisung" des Stalinismus, sondern integraler Bestandteil sowjetischer Herrschaft von Anbeginn an. Die "Fronten" sind dabei keineswegs säuberlich geordnet, übersichtlich, klar zu trennen. Den Idealisten nimmt man Artschil ab, ohne Zweifel: er blickt voller Zuversicht in eine Zukunft des Kommunismus – vielleicht ein Grund, warum er zunehmend zum perfekten Instrument des stalinistischen Terrors wird, weil er immer darauf hoffen kann, dass jetzt endlich die "letzten Opfer" gemacht werden? Spiridon hingegen, Evas trüber Ehemann, wird im Laufe des Films in vielen Rollen gezeigt: als städtischer Agitator auf dem Dorf vor der Oktoberrevolution; als gutbürgerlicher Stadtbewohner bzw. Erbe eines gewinnbringenden Ladengeschäfts, dem es auch in revolutionären Zeiten gut geht dank seiner eigenen "revolutionären Vergangenheit" und seiner guten Beziehungen zu den richtigen Leuten; als ein während des Großen Terrors in die Enge und in die Paranoia Getriebener, der auf's Land flieht, um dort wiederum als Agitator der Zwangskollektivierung den Dorfdiktator zu spielen.

Die Episode der Zwangskollektivierung auf dem Dorf gehört auch zu den bizarrsten und aus Perspektive des sowjetischen Sozialismus und der christlichen Religiosität blasphemischsten: Spiridon traktiert die Dorfbewohner mit den üblichen Parolen zur Kollektivierung der dörflichen Einzelwirtschaften und stößt auf Widerstand, weil einige der Dorfbewohner antworten, nicht "für die Faulen" arbeiten zu wollen. Eva "übernimmt": sie erklärt den versammelten (und von Spiridons Rede noch gereizten) Dorfbewohnern die Kollektivierung in salbungsvollen, metaphernreichen und stark christlich geprägten Worten in einer Art Nachstellung der Bergpredigt – und gewinnt sie damit (zumindest provisorisch) für die Idee. Es ist ein Moment, in dem zudem auch die labile Ehe Evas und Spiridons für einen kurzen Moment gekittet wird (bevor letzterer einige Dorfbewohner mit Beschimpfungen und Gewalt wieder gegen sich aufbringt – und sich auch Eva wieder in seiner ganzen Charakterschwäche offenbart).

Neben der wahrlich verblüffenden Bilderflut wird der Film schließlich auch von den beiden Hauptdarstellern getragen: Darejan Kharshiladze glänzt eher durch Charisma als durch ein fein nuanciertes Spiel, ist aber perfekt besetzt für die dauertrauernde Eva, deren Leben im sowjetisch-stalinistischen Georgien (in der Stadt wie auf dem Bergdorf) eine Art Daueralptraum ist. Sie wird später noch in Gogoberidzes OROMTRIALI eine kleine Rolle spielen. Guram Pirtskhalava ist mit seinem vernarbten Gesicht die Idealbesetzung für den trüben Opportunisten, der je nach Lage Opfer des neuen Regimes oder engagierter Täter ist: auch er wird noch mal in Gogoberidzes OROMTRIALI auftauchen (hier allerdings als durchaus einfühlsamer Mensch im zeitgenössichen Tbilissi) und den furchterregenden NKWD-Offizier in VALSI PECHORAZE spielen.



DAS FESTIVAL



Donnerstag, 21. April 2022


Theater im Pariser Hof, 17.00 Uhr



Sofikos Ehe befindet sich in einer Krise (Still in Schwarzweiß – der Film ist in Farbe)
© goEast Filmfestival


RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE ("Einige Interviews zu persönlichen Fragen")

Regie: Lana Gogoberidze

Sowjetunion 1978

95 Minuten, DCP

Szenen aus dem Lebensalltag der Journalistin Sofiko: wie sie – unter anderem – Leute interviewt, Ungerechtigkeiten untersucht, mit ihrem Mann streitet, sich an die Rückkehr der Mutter nach jahrelanger Haft erinnert oder beschwingt die Straßen von Tbilissi durchschreitet...

RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE lief bereits beim Symposium über weibliche Regisseure in Mittel- und Osteuropa beim goEast 2017: da gefiel mir der Film schon ganz gut. Die Einschätzung, dass dies nicht weniger als Gogoberidzes "magnum opus" darstellt, kann ich mittlerweile teilen. Vielleicht ist dies sogar einer der großen und essentiellen Filme des sowjetischen Kinos – aber das wollte bislang vielleicht niemand bemerken, weil der Film von einer Frau inszeniert wurde; weil es ein georgisch-sprachiger Film ist und sowjetisches Kino immer noch zu sehr mit "russischem" Kino gleichgesetzt wird; weil es ein "Frauenfilm" ist; weil ihm als eher "kleiner" und "intimer" Film das "Grandiose", das "Mystische", das "Visionäre" fehlt, für das z. B. Tarkovskij gefeiert wird.

Wenn ich es richtig sehe, ist RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE der erste Film Gogoberidzes, der den stalinistischen Terror direkt konfrontiert, wenngleich, ohne ihn direkt zu zeigen: es ist ein zeitgenössischer Film über Leben, Liebe und Alltag in Tbilissi Ende der 1970er Jahre – der stalinistische Terror schwebt aber immer noch als für viele prägendes Element über den Alltag.

Auch wenn ich leider nicht alle Filme sehen konnte, aber RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE scheint auch der erste Film Gogoberidzes zu sein, in dem ihr fragmentierter, der Lyrik nachempfundener Stil zu voller Blüte kommt. Das Resultat ist ein komplexer, filigraner Teppich aus Atmosphären und Gefühlen: es gibt Lachen und Weinen, Momente der unbehaglichen Anspannung wie auch der totalen Entspannung, Erzählungen der wichtigsten Hauptfigur und unzählige Nebenpfade, in denen Geschichten von Nebenfiguren zum Zuge kommen.

Der rote Faden, oder besser gesagt der Kitt, der alles zusammenhält, ist die Figur der Sofiko, gespielt von der wunderbaren Sofiko Chiaureli: eine der bedeutendsten Theaterschauspielerinnen Georgiens, in der Filmwelt besonders berühmt für ihre Rollen in Filmen Sergej Parajanovs ("Die Farbe des Granatapfels", "Die Legende der Festung Suram"). Sofiko, die Journalistin, ist keine "besonders außergewöhnliche" Frau, sondern eine engagierte Journalistin, die ihren Job liebt, gerne Geschichten "normaler" Menschen nachgeht (dies führt zu den titelgebenden Interview-Szenen, in denen verschiedene Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten über ihren Lebensalltag plaudern), gerne auch investigativ Ungerechtigkeiten aufdeckt (z. B. wenn ein Bauherr illegalerweise Grundstückteile einer Dorfschule bebaut) und ansonsten auch mit der Doppelbelastung als vollzeitarbeitende Frau und Mutter/Ehefrau kämpfen muss. Eine Frau, deren Leben getrübt ist durch die traumatischen Erinnerungen an die Rückkehr der Mutter aus dem stalinistischen Lager und durch eine aufziehende Ehekrise (ihr Ehemann betrügt sie).

RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE hat an manchen Stellen fast etwas Rauschhaftes, Traumartiges: bei einem Auftrag in einem Dorf außerhalb von Tbilissi lässt sie sich in einem Moment der Blödelei durch einen rötlich-goldenen Herbstwald in einem Karren wie eine Prinzessin von ihrem Fotografen kutschieren; bei einem feierlichen Abendessen zuhause fängt sie an, ausgelassen zu tanzen, verfällt fasst in eine Art Rausch, jäh unterbrochen, als eine geisterhafte Erscheinung plötzlich im Flur steht (die Tochter im hellen Pyjama, die geweckt wurde und nun etwas verschlafen-erschrocken das Treiben beobachtet).

Bereits bei der ersten Sichtung sah ich es als emotionalen Höhepunkt: Sofikos spontaner Besuch bei ihrem Fotografenkollegen, der gerade in eine neue Wohnung gezogen ist. Sie entdeckt dabei, dass ihr Kollege Bilder von Interviewpartnern, auf denen sie zu sehen ist, in Fragmenten gesammelt hat: die Abschnitte mit den Interviewpartnern ordnungsgemäß für die Zeitung verwendet, die weggeschnittenen Abschnitte, in denen sie zu sehen ist, geradezu obsessiv für die Privatsammlung, für den Ikonenschrein der Liebe, gesammelt. Der Fotograf ist gewissermaßen einer von mehreren "heiligen Narren", die Gogoberidzes Filme bevölkern: der Vogelgesangimitator in DGES GAME UTENEBIA, der "Dorfidiot" in ME VKHEDAV MZES. Hier ist eher im übertragenen Sinne ein "heiliger Narr" zu sehen: in jeder Situation zu Späßen aufgelegt und leicht herumblödelnd – eine Tarnung für seine Liebe zu Sofiko, wie wir vermuten müssen.

RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE ist nicht nur das Portrait einer Frau: als solches ist er großartig – er erforscht aber auch zahlreiche Nebenpfade, nicht nur in den zahlreichen, eingefügten Interviewausschnitten. In einem kleinen Subplot wird Sofiko beim Einkaufen in einer Markthalle von einer grundsätzlich freundlichen, aber doch sehr penetranten Frau bedrängt, die auf "ihren" Platz in der Warteschlange besteht: Sofiko beobachtet sie und sieht hier eine Frau, die dies sehr systematisch in sämtlichen Schlangen (Brot, Eier, Milch etc.) macht, von einer Schlange zur nächsten geht und "ihren" Platz lautstark reserviert. Durch den Markt folgt Sofiko der "Schlangenplatzbetrügerin" schließlich auch in eine Nebengasse, wo sie sie in ein Gespräch verwickelt (und potentiell ein weiteres Interview in die Wege leitet). An Nebenpfade, Nebengeschichten und Seitenstimmen war Gogoberidze im Laufe ihrer Filmografie zunehmend interessiert, in diesem Film sehen wir wohl die größte Verdichtung dieser "unfokussierten" Erzählweise.

Wenn RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE ein Film über Sofiko, aber auch allgemein über Menschen in Tbilissi ist, dann ist er auch ein Film über Tbilissi: gefüllt mit langen Spaziergängen und Busfahrten durch die großen Hauptboulevards (die einen leicht mediterranen Flair haben), mit Ausblicken auf den Bauboom der Republikhauptstadt, mit kleinen Ausflügen in verwinkelte Nebenstraßen und schließlich auch Schlendern oder Rennen durch die steilen Gassen in terrassenartig angelegten Wohnvierteln.

Es ist auch ein Film über den Stalinismus, und wie der Terror auch die nachfolgende Generation, die Töchter und Söhne der unmittelbar Betroffenen prägt. Immer wieder durchbrechen Erinnerungsrückblenden die zeitgenössische Ebene, führen in die Teenager-Jahre Sofikos, als ihre Mutter aus der Lagerhaft entlassen wurde, und sie eine Frau als "Mama" begrüßen muss, die sie nicht kennt. Eine "unzuverlässige" Erinnerung: die gleiche Umarmung wird gleich drei Mal hintereinander mit leicht geändertem Bewegungsablauf wiederholt. Ebenso auch Erinnerungen an ihren Aufenthalt in einer Institution, die wie ein sehr tristes Kinderheim aussieht.

An diesen Erinnerungsfetzen wird Gogoberidze in ihrem ersten postsowjetischen Film, VALSI PECHORAZE, anknüpfen.



Theater im Pariser Hof, 21.00 Uhr



ROTSA AKVAVDA NUSHI ("Als die Mandelbäume blühten")

Regie: Lana Gogoberidze

Sowjetunion 1972

75 Minuten, DCP

Alltag, Leben und Träume einer Gruppe von Schülern in Tbilissi. 

In ihrem Teenager-Coming-of-Age-Drama zeigt Gogoberidze eine lose Gruppe von Schülerinnen und Schülern, ihre Liebeleien, und ihre Träume von einer Karriere als Rennradfahrer. Es ist einer ihrer wenigen Scope-Filme (die Angabe bei IMDb mit 1.78:1 ist falsch). Gedreht in einem schönen, kontrastreichen Schwarzweiß macht das auch visuell einiges her (auch wenn diese DCP, im Gegensatz zu RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE, leider sehr totgefiltert aussah).

Am Ende muss ich aber gestehen, dass ROTSA AKVAVDA NUSHI für mich als der uninteressanteste aller Gogoberidze-Filme im Gedächtnis bleibt – bzw. eigentlich verblüffend wenig im Kopf geblieben ist, weder Figuren (außer, dass ich den ambitionierten Radrennfahrer und Klassen-Rowdie Zura, gespielt von Zura Kipshidze, sehr unsympathisch fand) noch besonders viele Situationen (außer vielleicht ein Moment, in dem ein Telefon zwischen dem Wohnzimmer eines Hauses und dem Garten mit blühenden Mandelbäumen hin- und her getragen und immer wieder an eine neue Person gereicht wird).



Freitag, 22. April 2022


Thematisch ein besonders "harter" Tag über Genozid, Massenmord, politische Gewalt und Krieg.


Museum Wiesbaden, 12.00 Uhr



Weibliche Häftlinge in Auschwitz-Birkenau in PASAŻERKA
© goEast Filmfestival


PASAŻERKA ("Die Passagierin")

Regie: Andrzej Munk, Witold Lesiewicz

Polen 1963

58 Minuten, DCP

Bei einer Kreuzfahrt mit ihrem Ehemann erblickt Liza eine ihr bekannte Frau und erinnert sich an ihre Vergangenheit: während des Zweiten Weltkriegs war Liza SS-Mitglied und Aufseherin im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Die Frau, die sie zu erkennen glaubt, könnte die Inhaftierte Marta sein, mit der sie eine schwierige Beziehung verband.

PASAŻERKA lief im Rahmen des Symposiums "Wo geht's hier nach Osten? Godard, Kino und Ideologie in Mittel- und Osteuropa": dieses widmete sich einigen im weitesten Sinne mit osteuropäischen Themen verbundenen Filmen Godards sowie Filmen, mit denen er sich entweder in Filmkritiken oder in Filmen beschäftigt hatte. Godard hatte PASAŻERKA wohl als gelungenes Beispiel für eine filmische Darstellung des Holocaust hervorgehoben.

Zunächst: PASAŻERKA ist ein unvollständiger, fragmentarischer Film. Nach dem plötzlichen Unfalltod des Regisseurs Andrzej Munk 1961 wurden die Dreharbeiten abgebrochen. Aus den bereits gefilmten Szenen sowie mithilfe von Standbildern konstruierte Witold Lesiewicz später eine Annäherung an den geplanten Film.

Die Erklärungen über die Entstehungsumstände des Films sind im Film selbst als Off-Kommentar integriert. Die Rahmenhandlung auf dem Passagierschiff wird dann auch als eine lockere Abfolge von Standbildern präsentiert, kommentiert und erzählt vom gleichen Off-Sprecher. Ein nicht-geplanter Einstieg in den Film, der zunächst sehr ungewöhnlich und befremdlich wirkt – dem Film aber auch passenderweise gleich den Anstrich eines Essayfilms gibt.

PASAŻERKA ist nämlich kein Film über den Holocaust, sondern tatsächlich eher ein Film über die Erinnerung an den und das Erzählen vom Holocaust. Liza, die SS-Wärterin, die Jahre später nun als "einfache" Zivilistin ihren Urlaub genießt, offenbart sich ihrem Ehemann, der von ihrer "Vergangenheit" nichts wußte. Sie übernimmt dann auch den Off-Kommentar des Films und erzählt ihrem Mann ihre Version der Ereignisse: dass sie als Aufseherin eigentlich auch nur ein Opfer des Krieges war, dass sie Marta aus Mitgefühl zahlreiche Privilegien gewährte etc. Diese Erzählung ist dann auch der "eigentliche" Film bzw. wird in einigen der fertig abgedrehten Szenen als "normaler" Spielfilm präsentiert. Nach – grob geschätzt – einem Drittel der Laufzeit bricht dann Lizas Erzählung auch ab: ihre stark beschönigte "Version", für ihren Ehemann an den Ecken und Kanten schön abgeschliffen, hat sie auserzählt. Nach einer Rückkehr zur Rahmenhandlung (und zu den Standbildern) beginnt eine zweite, alternative "Version" von Lizas Geschichte, diesmal ohne offensichtliche Verschönerungen für den Ehemann, aber doch mit immer wieder spürbaren Elementen der Selbsttäuschung (das Narrativ, das sie selbst eigentlich ein Opfer sei, glaubt sie offenbar wirklich): in dieser Version wird klar, dass Liza ihren Dienst in Auschwitz durchaus sehr ambitioniert vollbrachte und dass sie Marta keineswegs aus Humanismus gesonderte Privilegien gewährte – sondern um sie bei einer internationalen Lagerinspektion als "ihre" Mustergefangene präsentieren zu können und damit ihre Karriere voranzubringen. Lizas Fixierung auf Marta entwickelt in der zweiten Version ihrer Geschichte durchaus etwas Obsessives, Sado-Masochistisches, Abgründiges, das in dieser Konstellation spätere Naziploitation-Filme (der besseren Sorte, ich denke da an IL PORTIERE DI NOTTE von Liliana Cavani und L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH von Cesare Canevari) vorwegnimmt. 

PASAŻERKA ist wie gesagt kein Film über den Holocaust, sondern eher über das Erzählen über den Holocaust: die unzuverlässige Erzählerin, der Bruch der Erzählung, die mehrfache Erzählung von Geschehnissen aus unterschiedlichen Perspektiven (RASHOMON hatte das ein paar Jahre vorher schon gemacht; hier allerdings kommen die unterschiedlichen Perspektiven von der gleichen Person) machen stets deutlich, dass hier keine "objektive", "dokumentarische" Darstellung zu sehen ist. Das macht den Film ungeheuer modern, intellektuell herausfordernd und wahrscheinlich auch wesentlich tiefgründiger als viele gängige Holocaust-Filme, die eine Illusion von "so war es" erzeugen möchten (ohne auf SCHINDLER'S LIST zu sehr rumhacken zu wollen). Mehr ein fragender Film als einer, der säuberliche Antworten bereit hält.



Caligari-Filmbühne, 14.00 Uhr



Weibliche Häftlinge aus allen Teilen der Sowjetunion tanzen zusammen Walzer auf der gefrorenen Petschora (im Film nicht sepia-getönt, sondern schwarzweiß)
© goEast Filmfestival

VALSI PECHORAZE ("Der Walzer auf der Petschora")

Regie: Lana Gogoberidze

Georgien 1992

104 Minuten, 35mm

Tbilissi zur Zeit des Großen Terrors: die Eltern der Teenagerin Anna sind deportiert worden, sie selbst ist in ein Waisenheim gebracht worden. Von dort bricht sie aus und kehrt in die Familienwohnung zurück – die mittlerweile von dem NKWD-Offizier bewohnt wird, der für die Deportation der Eltern verantwortlich ist. Zwischen den beiden entspinnt sich allmählich eine unbehagliche Vater-Tochter-Ersatzbeziehung.

VALSI PECHORAZE ist wahrscheinlich Gogoberidzes persönlichster und autobiografischster Film. Ein Teil des Films ist von den Erzählungen Nutsa Gogoberidzes, Lanas Mutter, über ihre Erfahrungen im Lager inspiriert. Ich hatte es zum Teil schon bei meinem Bericht über die Retrospektive zu weiblichen Regisseuren geschrieben, hier noch mal gesondert bzw. ergänzt: Nutsa Gogoberidze war eine Filmpionierin des georgischen Kinos, die wahrscheinlich erste georgische Regisseurin, die Ende der 1920er Jahre, Anfang der 1930er Jahre kurze Dokumentarfilme inszenierte (einer von ihnen in Co-Regie mit Mikheil Kalatozishvili, später bekannt als Michail Kalatozov). 1937, im Zuge des Großen Terrors, wurde ihr Ehemann, der hohe georgische Parteifunktionär Levan Gogoberidze, hingerichtet; sie selbst wurde deportiert und war über zehn Jahre lang in einem Lager inhaftiert. Nach ihrer Entlassung brach sie sämtliche Verbindungen zur Filmkunst, sprach auch mit ihrer Tochter nie über ihr Filmschaffen (Lana vermutet, dass sie Angst hatte vor weiteren Repressalien) und wurde Mitarbeiterin eines Sprachinstituts in Tbilissi. Im Geheimen verfasste Nutsa aber Kurzgeschichten über ihre Erfahrungen während der Lagerhaft, die ihre Tochter Lana dann irgendwann las (ob zu Lebzeiten Nutsas oder erst später, weiß ich nicht). Sie starb 1966 mit etwa 63 Jahren.

In VALSI PECHORAZE lässt Lana Gogoberidze also die Tochter einer deportierten Frau und den NKWD-Offizier, der für die Deportation verantwortlich ist, aufeinander treffen: ein bedrückendes, unbehagliches, unbequemes Kammerspiel, ein sehr außergewöhnlicher Coming-of-Age-Film und eine sehr vielschichtige, komplexe filmische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in Georgien.

Die Wohnung, in der sich das abspielt, ist nicht nur ihrer früheren, deportierten Bewohner beraubt, sondern wird von dem NKWD-Offizier bereits in seiner ersten Nacht teilweise vandaliert: er zerstört impulsiv Familienfotos – vielleicht, damit seine Opfer ihn nicht ständig vom Kaminsims aus anschauen? Wo früher Familienfotos hingen, stellt er unpersönliche Collagen mit Zeitungsausschnitten über den Fortschritt des sowjetischen Regimes hin. In diesem Zustand der partiellen Zerstörung findet Anna dann auch die Wohnung vor, und ein Teil der Spannung zwischen beiden Figuren entspringt auch der Frage, wie Überreste der früheren Besitzer angeeignet und genutzt werden. Klasse spielt dabei eine große Rolle: Anna ist die Tochter von offensichtlich gebildeten, "gutbürgerlichen" Leuten, in deren Haushalt europäische klassische Musik gehört, westliche Literatur und Lyrik im englischen und französischen Original gelesen und Tee aus feinen Porzellantassen getrunken wird. Sie rügt den NKWD-Offizier dann auch, als er Rotwein aus besagter Teetasse trinkt. Er wundert sich über die ganzen fremdsprachigen Bücher, die er vorfindet, und fragt das Mädchen dann auch nach der Entsprechung einzelner Begriffe auf Französisch. Sie könne jeden einzelnen Gegenstand in der Wohnung auf Französisch benennen, so Anna. Es sind Momente, in denen klar ist, wie sehr Anna den Offizier bäuerlicher Herkunft in seiner Grobklotzigkeit (zunächst) verachtet.

Auch wenn Anna im Laufe der Zeit den Mut findet, gegen den neuen Bewohner der Familienwohnung die Stimme zu erheben: es herrscht eine dauerhafte, bedrückende Atmosphäre der Bedrohung – ein Damoklesschwert hängt dauerhaft über Anna. Als sie zum ersten Mal in die Wohnung zurückkehrt, fordert der Offizier sie auf, ihm beim Ausziehen der Stiefel zu helfen und ihm die Pantoffeln zu holen, während er dabei seinen Uniformgürtel lockert – die schwebende Bedrohung bekommt für wenige Augenblicke eine latent sexuelle Komponente.

Aus einer Art Kampfsituation (bei der allerdings immer klar zu sein scheint, dass der Offizier am längeren Hebel sitzt) entsteht zwischen den beiden semi-freiwilligen Mitbewohnern (er toleriert, dass sie in der Wohnung bleibt und übernachtet) eine Art stabiles Arrangement. Anna nutzt dann auch die Zeiten, in denen der Offizier arbeitet und abwesend ist, dazu, über ihre Mutter nachzudenken. In wiederkehrenden Visionen oder Erinnerungen oder Träumen (die Unterscheidung scheint keine große Rolle zu spielen), die das bedrückende Kammerspiel auflockern, sieht sie sich und ihre Mutter in der noch heilen Wohnung, in schicken weißen Kleidern gekleidet, die Wohnung mit weißen Tüchern behangen und dekoriert, zum Plattenspieler Walzer tanzen. Und dann denkt sie auch an die aktuelle Situation ihrer Mutter und sieht sie zusammen mit einer größeren Gruppe deportierter Frauen einen langen Fußweg durch das verschneite Nordrussland gehen. In Annas Vorstellung wird den Frauen der Zugang zu den Lagern, die sie erreichen, verweigert, und sie müssen immer weiter und weiter und weiter laufen: diese Bilder sehen wir im Gegensatz zum restlichen Film in Schwarzweiß. Dazwischen stellen sich einige Weggefährtinnen von Annas Mutter persönlich vor und sprechen in die Kamera von ihrem Leben (ein wenig wie Sofikos Interviewte in RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE): neben Georgisch ist auch Russisch, Ukrainisch, Armenisch zu hören, von Frauen mit vielen unterschiedlichen Biografien (Bäuerin, Opernsängerin, Dorflehrerin). Annas Vision von der Deportation ihrer Mutter ist von Anfang an recht symbolisch und wird im Laufe des Films dann auch zunehmend surreal: ein indigener Fischer taucht aus dem Nichts auf und verteilt den Frauen Fische, die sie roh essen; aus Erschöpfung fallen die Frauen wie tot um und stehen dann später wieder auf; im titelgebenden Moment tanzen die Frauen schließlich zusammen Walzer auf einem gefrorenen Fluss.

So symbolisch diese Darstellung der Deportationen ist, so "handfest" wird Stalinismus in anderen Momenten gezeigt. Annas "Mitbewohner" arbeitet vor allem in der Nacht: er leitet und befehligt Massenhinrichtungen außerhalb der Stadt (die Erschießungen werden nicht explizit gezeigt, sondern laufen nur auf der Tonspur, während wir sein regungsloses Gesicht sehen). VALSI PECHORAZE unterläuft die weitverbreitete (und von der Forschung auch zunehmend widerlegte) Vorstellung von Stalinismus als bürokratische Struktur: Terror ist hier ein sehr persönlicher Akt, der von Menschen ausgeführt wird, die durchaus auch für persönliche Zwecke politische Macht nutzen – wobei Ideologie nur zum Teil die treibende Kraft ist. Der Offizier mag Anna gegenüber zwar ab und zu von Feinden, die vernichtet gehören, sprechen – im Alltag genießt er vor allem die Vorzüge, in einer schicken Wohnung leben zu können. Dass Gewalt nur von Kommunisten getragen wurde, widerspricht der Film zwischendurch auch in einer denkwürdigen Episode: die Mutter des NKWD-Offiziers kommt zu Besuch – der autoritäre Mann sieht sich dann auch für kleine Augenblicke wie ein kleiner Bub von der alten Frau behandelt (oder wie ein sehr junger Mann, der endlich heiraten soll). Seine Mutter ist tiefreligiös (im Gegensatz zu ihm erkennt sie einen traditionellen Betstuhl in Annas Familienwohnung), dörflich geprägt, auf den ersten Blick kulturell sehr weit entfernt vom Kommunismus: die Gewalthaftigkeit des nunmehr nicht mehr ganz so neuen Regimes weiß sie aber auch zu schätzen, nicht nur, weil "böse Menschen" hart bestraft gehören, sondern weil sie ein schönes Landhaus bekommen könnte, wenn ihr Sohn die aktuellen Besitzer denn endlich deportieren oder erschießen lassen würde.

Stalinismus in Georgien, das ist im Grunde in allen Filmen Gogoberidzes klar, ist ein Problem, mit dem sich die georgische Gesellschaft als eben AUCH ein georgisches Problem auseinandersetzen muss. Seit dem Ende der Sowjetunion gibt es in Mittel- und Osteuropa immer wieder die Tendenz, stalinistische Verbrechen "auszulagern", also Russen (oder je weiter extrem rechts das politische Spektrum: Juden) für sie verantwortlich zu machen. Gogoberidzes Filme nehmen nicht diese einfache Ausflucht – und begeben sich auch nicht in einen Wettbewerb nationalistischer Erinnerung: die deportierten Frauen sprechen wie gesagt mehrere, unterschiedliche Sprachen.

Guram Pirtskhalava habe ich bereits als tollen Darsteller bei DGES GAME UTENEBIA erwähnt, aber hier ist er noch mal ein bisschen großartiger: seine Figur ist ein Gewalttäter, ein Massenmörder, ein unkultivierter Grobian, aber eben auch ein sensibler Mensch, ein Mann, der tatsächlich väterliche Zuneigung zu Anna entwickelt. Als er eines Abends zornig Annas Zimmer betritt und sie schlafen sieht, verschwindet sein Zorn – und große Zärtlichkeit macht sich in seinen Augen breit. Der namenlose NKWD-Offizier ist eben kein Monster, sondern "nur" ein Mensch mit vielen Seiten und Pirtskhalava füllt den Charakter mit vielen feinen Facetten.

VALSI PECHORAZE war Gogoberidzes erster postsowjetischer Film und zugleich auch ihr letzter Film vor dem Zusammenbruch der Filmindustrie in Georgien in den 1990er Jahren: mit dem Ende der Sowjetunion lösten sich die sowjetischen, teils (vor allem finanziell) sehr nach Moskau ausgerichteten Strukturen der Filmindustrie in Georgien auf. Es gab sicherlich viele Filme zu inszenieren, aber keine Infrastruktur mehr dafür. Bis zur Wiederbelebung des Kinos in Georgien dauerte es viele Jahre. Lana Gogoberidze begann eine politische Karriere als Abgeordnete und Diplomatin und legte (gemäß IMDb) eine 27-jährige Pause vom Filmemachen ein (bevor sie einen Film inszenierte, den man ohne Zögern als großes Alterswerk bezeichnen kann – dazu später mehr).



Theater im Pariser Hof, 18.00 Uhr


In einer Episode begeben sich Chatia und Dato auf die Suche nach Getreide bei Bauern in benachbarten Dörfern
© goEast Filmfestival

ME VKHEDAV MZES ("Ich sehe die Sonne")

Regie: Lana Gogoberidze

Sowjetunion 1965

87 Minuten, DCP

Ein georgisches Dorf während des Zweiten Weltkriegs: die Schülerin Chatia ist blind, wird im Alltag allerdings oft von ihrem Mitschüler Dato begleitet und geführt. Ihre Freundschaft und die keimende Liebe ist ein Fels in der Brandung der unsicheren Zeiten, in denen Nachbarn im Krieg fallen, Lebensmittelnot herrscht und marodierende Deserteure Überfälle verüben.

Die etwas ambivalente, missverständliche Ankündigung des Films, sowohl im Programmheft ("Kein Autorenfilm") wie auch durch die Kuratorin (die ehemalige Festival-Direktorin Gaby Babić) deutete an, dass Gogoberidze diesen Film wohl nicht zu "ihren" Filmen zählt, weil dies eine Romanadaption und kein eigener Stoff war. Ich bin nicht sicher, ob dies eine Geste der Bescheidenheit vor dem Romanautor Nodar Dumbadze ist, oder ob Gogoberidze diesen Film nicht mag und sich von ihm distanziert. Letzteres wäre aus meiner Sicht sehr schade, denn ich würde ihn definitiv zu ihren schönsten Filmen zählen.

Das fängt schon mal damit an, dass er großartig gefilmt ist, mit einer extrem fluiden Kamera, die sich ohne größere Bildinstabilität (Jahre vor der Erfindung der Steadicam) ihren Weg durch große Menschenmengen bahnt: das erinnert ein wenig an die Arbeiten Michail Kalatozovs und seines Kameramanns Sergej Urusevskij. Der Zufall will, dass der Kameramann von ME VKHEDAV MZES Giorgi Kalatozishvili war – der Sohn von Michail Kalatozov (dem ehemaligen Co-Regisseur von Lanas Mutter). Zu Beginn befinden wir uns auf dem Marktplatz eines georgischen Bergdorfs, eine über Lautsprecher geschaltete Radioansage (Stalins?) verkündigt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und in einer langen Fahrt windet sich die Kamera durch die Menge an Menschen, die stillstehen und mit Blick auf den Lautsprecher der Nachricht zuhören. Die Credits laufen dann über den anfänglichen Rückzug der Sowjetunion vor dem deutschen Angriff: ein LKW fährt mit hoher Geschwindigkeit über eine Straße und die Kamera ist nach hinten gerichtet auf die Straße, ein Gefühl der Flucht erzeugend (später in der Chronologie des Films, als die Situation im Krieg sich gewendet hat, sehen wir die gleiche Kamerafahrt, aber in der Bewegung nach vorne ausgerichtet).

ME VKHEDAV MZES ist ein eher lose, episodisch strukturierter Film, der kleine Erzählfragmente vom Leben im Zweiten Weltkrieg in einem georgischen Bergdorf präsentiert. Als Klammer dienen die beiden Teenager Chatia und Dato, ihre Liebe zueinander bilden dann Herz und Seele des Films. Es ist auch ein Film voller Stimmungs- und Atmosphärenwechsel. Ein älterer Soldat, der in der Klasse Chatias und Datos eine Art Wehrkundeunterricht halten soll, wird zunächst von der versammelten Klasse ausgelacht: wir sind dem Schülerkomödienklamauk hier recht nahe. Doch als er merkt, dass Chatia blind ist, löst sich die ganze Situation in großen Gefühlen auf: aus der anfänglichen Schießbudenfigur des Soldaten wird ein Mensch, der von eigenen Verwundungen und einer partiellen Erblindung während des Ersten Weltkriegs erzählt.

Das ikonische Plakatmotiv des Films zeigt Chatia auf dem Rücken eines Esels, der von Dato geführt wird. Die Ernährungssituation auf dem Dorf ist prekär, und so brechen die beiden (gegen den Widerstand von Datos Mutter) auf, um in umliegenden Dörfern Getreide gegen Kleidungsstücke auszutauschen, die Datos Vater zurückgelassen hat. Die beiden Teenager kommen schließlich bei einem älteren Bauernpaar an, das offenbar tatsächlich Getreide tauschen könnte: der Wintermantel, den die beiden jungen Leute anbieten, ist zwar schick, aber wirklich brauchen tut der Bauer ihn nicht. In einem kleinen Smalltalk kommt er dann auf seine zwei Zwillingssöhne zu sprechen, die an die Front geschickt wurden und von denen er seit langer Zeit nichts mehr gehört hat. Chatia nimmt diesen Faden auf und beginnt eine Geschichte zu spinnen über Nachrichten eines Frontsoldaten ihres Dorfes, der von Zwillingsbrüdern in seiner Einheit schreibt. Es ist offensichtlich, dass Chatias Erzählung nicht wahr ist, ebenso wie es offensichtlich ist, dass sie sie aus besten Absichten heraus erzählt. Ich glaube, dass der Bauer das auch weiß, der schönen Erzählung vom Wohlbefinden seiner Zwillingssöhne in dem Moment aber nur zu gerne glaubt. Die Episode endet damit, dass der Bauer, nachdem die beiden Teenager bei ihm übernachten durften, ohne materiellen Tausch soviel Getreide mitgibt, wie der Esel es noch tragen kann. Das liest sich vielleicht tränendrückend und kitschig-sentimental, doch im Film gelingt es Gogoberidze, diese Momente emotional authentisch und ergreifend zu inszenieren.



Theater im Pariser Hof, 20.00 Uhr



Bei der zeitgenössischen Hochzeit tauchen plötzlich Figuren aus der polnischen Vergangenheit auf
© goEast Filmfestival


WESELE ("Der Hochzeitstag")

Regie: Wojciech Smarzowski

Polen/Lettland 2021

134 Minuten, DCP

Ryszard ist der Chef eines erfolgreichen Schlachtbetriebs und steht kurz vor einem lukrativen Investitionsvertrag mit deutschen Partnern. Am Hochzeitstag seiner Tochter geht allerdings einiges schief: die Deutschen wollen aus formal-bürokratischen Gründen nicht unterschreiben, Tierschutzaktivisten erpressen ihn mit Videos über die horrenden Zustände in seinem Betrieb, die Hochzeitsband will sofort in bar bezahlt werden und sein hochbetagter Vater Antoni macht sich nicht nur kurz vor Zeremoniebeginn in die Hosen, sondern erhält überraschend von zwei israelischen Diplomaten die Auszeichnung als "Gerechter unter den Völkern" überreicht. Während die Hochzeitsfeier nach und nach in ein totales Chaos versinkt, erinnert sich Antoni an die Jahre 1939-1941: an seine Liebe für eine jüdische Schneidertochter, an den zunehmend gewalttätigen Antisemitismus unter den Polen, an die sowjetische Besatzung, an die deutsche Besatzung, an die Terrorisierung und schließlich Ermordung der jüdischen Bevölkerung des Ortes durch ihre polnischen Nachbarn (der Film bezieht sich auf das bis heute kontrovers diskutierte Pogrom von Jedwabne am 10. Juli 1941).

WESELE (2021) ist ein Remake, eine Variation, eine Dekonstruktion von WESELE (2004) des gleichen Regisseurs und Autors. Letzterer (den ich nicht kenne) gilt als Klassiker des neueren polnischen Films: eine schwarze Komödie über eine chaotische Hochzeit, in der die materielle und moralische Korruption der Feiernden nach und nach zutage tritt. Dieser Film war wiederum von Andrzej Wajdas WESELE (1972) inspiriert: eine Verfilmung von Stanisław Wyspiańskis gleichnamigen Theaterstück aus dem Jahr 1901, in dem eine Hochzeitsgesellschaft von den Geistern aus Polens Vergangenheit besucht wird. In Smarzowskis neuester Variation des Stoffes schließt sich also der Kreis wieder. Die Themen, von denen er handelt, sind jedoch neu: der konservative, homophobe, extrem nationalistische Backlash der PiS-Regierung, Antisemitismus, Rassismus und Neofaschismus im zeitgenössischen Polen, der Umgang mit der hochgradig komplizierten Geschichte Polens im Zweiten Weltkrieg, inklusive der Massenverbrechen gegen Juden durch polnische Zivilisten, der Umgang mit den antisemitischen Kampagnen der späten 1960er Jahre.

Wenn ich schreibe "Während die Hochzeitsfeier nach und nach in ein totales Chaos versinkt, erinnert sich Antoni an die Jahre 1939-1941", dann soll das keinen straighten Historienfilm mit fein säuberlich getrennter Rahmenhandlung suggerieren. Tatsächlich lässt Smarzowski Geschichte, Gegenwart und Nachdenken über Geschichte mit filmischen Mitteln in einen Dialog treten. Zu Beginn erinnert sich Antoni zwar noch in klassischen Rückblenden an die Jahre 1939, doch mit zunehmender Laufzeit löst sich der Unterschied zwischen Jetzt und Damals auf. In einer sehr denkwürdigen Montage hetzt ein katholischer Priester bei einer Sonntagspredigt anno 1939 gegen Juden – und 2021 hetzt bei der religiösen Trauerzeremonie der Priester gegen Homosexuelle. Historische Figuren tauchen plötzlich bei der Hochzeitsfeier auf, wenn etwa der Hochzeitskameramann diverse Gäste für das Erinnerungsvideo interviewt und plötzlich sowjetische und deutsche Soldaten, polnische und jüdische Personen aus dem Jahr 1941 vor seiner Linse das Brautpaar beglückwünschen – später sind sie auch beim Ringelpietztanzen der mittlerweile stark alkoholisierten Hochzeitsgesellschaft dabei. Genauso dringen dann auch zeitgenössische Hochzeitsgäste in die Erinnerungsrückblenden Antonis ein. Der erschütternde Höhepunkt des Films ist die lange qualvolle Szene, in denen anno 1941 polnische Zivilisten ihre jüdischen Nachbarn vom Marktplatz, wo sie stundenlang festgehalten wurden, zu einer etwas außerhalb der Stadt stehenden Scheune bringen, sie dort einsperren und die Scheune mit darin gefangenen jüdischen Nachbarn niederbrennen – hier erreicht WESELE ein Niveau an Intensität, das sich dem von Elem Klimovs singulärem IDI I SMOTRI annähert. Als die Scheune brennt, stehen plötzlich die Hochzeitsgäste aus dem Jahr 2021 davor, sehen sich das an – und sprechen miteinander über die kleinen Probleme, Nöte und Intrigen, die sie gerade auf der Hochzeitsfeier beschäftigen.

WESELE weigert sich, ein gut konsumierbarer, klassischer Historienfilm mit kleiner zeitgenössischen Rahmenhandlung zu sein und vor allem weigert er sich, Geschichte als etwas Abgeschlossenes zu sehen, das nach Betrachtung ad acta gelegt werden kann. Das Bild von Polen, das er zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft, der Film ist dabei ebenso ein Diskussionsbeitrag zur Rolle Polens bei Massakern an Juden im Zweiten Weltkrieg wie auch eine Abrechnung mit dem zeitgenössischen Polen der PiS-Ära.

Die zwei Hauptfiguren des Films, Ryszard und sein Vater Antoni, verhindern dabei aber, dass WESELE zum Thesenfilm wird. Ryszard wird durch die Dramaturgie des Films zur Hauptfigur und gewissermaßen zur Identifikationsfigur gemacht – obwohl er ein bestenfalls korrupter, wahrscheinlich aber eher offen krimineller Geschäftsmann ist, der seine ukrainischen und ostasiatischen Fabrikarbeiter scheusslich behandelt; ein krass-vulgärer Mensch, der immer einen rassistischen, antisemitischen Spruch auf den Lippen hat sowie ein offensichtlich abscheulich schlechter Ehemann und Vater. Der Film zeigt gewissermaßen seinen "Fall": seine Geschäfte gehen schief, er wird erpresst, seine engsten Familienmitglieder wenden sich in dem Moment der Schwäche von ihm ab und beunruhigende Hinweise auf seine Herkunft werden zunehmend konkreter. Doch statt Schadenfreude hervorzurufen macht WESELE Ryszards Fall tatsächlich spannend und seine Figur wird tatsächlich zunehmend bemitleidenswert.

Antoni ist noch komplizierter: ein schwer kranker alter Mann, der offenbar nicht mehr Herr seines Schließmuskels ist und trotzdem noch genug Energie findet, um antisemitische Sprüche von sich zu geben; der sich in seinen Erinnerungen als Geliebter einer jüdischen Schneidertochter erweist, schließlich aber zum antisemitischen Mittäter wird, als sie eine arrangierte Ehe mit einem Juden eingeht – und dennoch dazu beiträgt, dass sie das Massaker überlebt. Täter oder Retter ist hier nicht die Frage, denn Antoni ist beides. Es ist eben nicht so einfach...

WESELE ist ein unglaublich kraftvoller und nachwirkender Film. Die Mischung aus sehr direkter Krassheit, konzeptioneller Intelligenz, einer ausgesprochenen Neigung zum Sleaze und einer inmitten von ikonoklastischer Provokationslaune leicht übersehbaren Subtilität in der Zeichnung von Charakteren erinnert mich ein wenig an Paul Verhoeven: mit dessen ZWARTBOEK über das Leben und Überleben einer jüdischen Widerstandskämpferin in den besetzten Niederlanden würde WESELE wohl ein explosives Double-Feature ergeben.



Samstag 23. April 2022


Caligari-Filmbühne, 10.00 Uhr


Die Kolchoschefin Maria wird von den beiden gestrandeten Seemännern Aljoscha und Yussuf der Hof gemacht
© goEast Filmfestival

U SAMOGO SINEGO MORJA ("Am blausten aller Meere")

Regie: Boris Barnet

Sowjetunion 1936

72 Minuten, 35mm

Die zwei schiffbrüchigen Seemänner Aljoscha und Yussuf stranden auf einer Insel am Kaspischen Meer. Dort verlieben sich beide in die Chefin der Inselkolchose, Maria.

U SAMOGO SINEGO MORJA gehört zu den großen sowjetischen Lieblingen der Leute aus dem Umfeld der "Cahiers du cinéma" und der Cinémathèque Française. Eine beschwingte, leichte Liebeskomödie mit Musical-Elementen, die auf einer paradiesischen Insel spielt – entstanden zu Hochzeiten des Sozrealismus-Dogma und kurz vor Beginn des Großen Terrors.

Ich sah den Film nun zum zweiten Mal und meine Eindrücke des ersten Mals haben sich bestätigt. Die großen Momente des Films jagen mir Schauer über den Rücken, lassen meine Kinnlade runterklappen und die Augen weit aufreissen. Der Beginn: eine audiovisuelle Sinfonie der Naturgewalten, mit einem tosenden Meer, Bildern von Möwenschwärmen im Himmel, dazwischen zwei schiffbrüchige Männer, dazu die hochdramatische Orchestermusik Sergej Potockijs. Immer wieder werden wir zu diesen Naturgewaltbildern zurückkehren und immer wieder werden das ganz große Kinomomente sein. Dazwischen mehrere Gesangsnummern, in denen die Handlung unterbrochen wird, um Bilder purer Emotionen zu schaffen: Maria, die vor Bildern des Meeres in Rückprojektion geht und singt (das klingt nach einem schlechten Effekt, gehört aber zu den großen unfassbaren Momenten des Films). Und ein dramatischer Moment, in dem Maria eine Perlenhalskette zerreisst: die Perlen fallen in Zeitlupe auf den Boden (ein Moment, der für Godard wohl in seinen Filmtexten wie auch in seinen Filmen geradezu zur Obsession geworden ist).

Dazwischen allerdings auch: viele längere, auch sehr hölzerne Dialogszenen, die dem Film meiner Meinung nach viel von seiner zurecht gerühmten Magie nehmen. Aljoschas Darsteller, Nikolaj Krjučkov, erinnert ein wenig an einen späteren, jungen (und etwas schlankeren) Gérard Depardieu, ohne aber dessen Charisma annähernd zu erreichen – dass er, trotzdem es eigentlich um drei Protagonisten geht, die zentrale Hauptfigur ist, macht den Film manchmal etwas mühsam. Gerne hätte ich mehr von Lev Sverdlins Yussuf gesehen, den der Film leider etwas zu sehr zum comic-relief, zur Clownsfigur macht. Elena Kuzmina als Maria ist natürlich über jegliche Zweifel erhaben und wunderbar.

Boris Barnet kommt vom Stummfilm und benutzt auch immer wieder Texttafeln wie zu Stummfilmzeiten. Die stärksten Momente von U SAMOGO SINEGO MORJA sind dann auch "Stummfilmmomente", fast abstrakte Momente, während die schwächeren, hölzernen Dialogmomente tatsächlich ein bisschen was von abgefilmten Theater haben. Mit dieser Erklärung mache ich es mir vielleicht zu einfach und insgesamt klingt das, was ich geschrieben habe, vielleicht allzu negativ. Trotzdem bleibt: die großen Momente von U SAMOGO SINEGO MORJA gehörten ohne Zweifel zu den Höhepunkten des diesjährigen goEast.



Caligari-Filmbühne, 12.00 Uhr



SOIGNE TA DROITE ("Schütze deine Rechte")

Regie: Jean-Luc Godard

Frankreich/Schweiz 1987

81 Minuten, 35mm

Ein Filmregisseur (Godard) versucht, die Filmrollen seines neuesten Films erfolglos zum Premierentermin zu lotsen. Das Pop-Duo Les Rita Mitsouko versucht währenddessen, einen neuen Song aufzunehmen.

Zu den Tiefpunkten des goEast gehörte für mich Godards SOIGNE TA DROITE. Terminlich hat der Film gut gepasst, und eine 35mm-Kopie, das will man sich nicht entgehen lassen, aber das war dann doch ein ziemlicher Reinfall. Sowohl der Programmtext wie auch einige Szenen zu Beginn deuteten an, dass das hier Godards Variante eines Slapstickfilms werden könnte, mit Godard höchstpersönlich als Keaton-/Chaplin-/Lloyd-/Lewis-Wiedergänger. Dazwischen eine Band, die einen Song aufnimmt – ganz nach dem Rezept von ONE PLUS ONE mit den Rolling Stones (den ich sehr mochte)...

Am Ende war das dann doch eine Ansammlung von "Godard macht Godard'ische Sachen" mit Cameos von Jane Birkin, François Périer, Michel Galabru und Jacques Villeret.



Theater im Pariser Hof, 16.00 Uhr



Publikumsgespräch mit Lana Gogoberidze und Salomé Alexi


Moderiert von der Kuratorin der Retrospektive (und ehemaligen goEast-Festivaldirektorin) Gaby Babić sprachen Lana Gogoberidze und ihre Tochter, die Regisseurin und Produzentin (und in ihrer Jugend Nebendarstellerin in Gogoberidzes Filmen) Salomé Alexi über ihre Filme, ihre künstlerischen Einflüsse, den Arbeitsalltag in der Sowjetunion, den Zusammenbruch der georgischen Filmindustrie in den 1990er Jahren und erzählten dabei auch die eine oder andere Anekdote.

Wie bereits weiter oben erwähnt: Gogoberidze erzählte davon, dass sie keine reine Cinephile sei, sondern sich lebenslang für Lyrik interessiert hat, besonders für englischsprachige und französische Klassiker. Sie ist studierte Literaturwissenschaftlerin und hat unter anderem Walt Whitman und Edgar Allen Poe ins Georgische übersetzt. Ihre Freundesclique in der Jugendzeit bestand auch nicht aus Kinogängern, sondern vor allem aus literarisch interessierten Leuten. Ich denke, dass einige ihrer Filme, besonders "Einige Interviews zu persönlichen Fragen", "Walzer auf der Petschora" und "Der Tag ist länger als die Nacht" sich formal durchaus mit Lyrik vergleichen lassen.

Als cinematographische Einflüsse nannte sie namentlich Ingmar Bergman sowie die französische Nouvelle Vague. Ein Zuschauer fragte nach einem Einfluss von Sergeyj Parajanov: den verneinte Gogoberidze mit der Erklärung, dass Parajanovs Stil zu singulär sei, um ein Einfluss sein zu können – und fügte hinzu, dass sie ihn sehr bewundere und ihn für einen der größten Filmemacher überhaupt halte.

Beim Gespräch erzählte Gogoberidze auch, dass "Der Tag ist länger als die Nacht" um über dreißig Minuten zensiert wurde, weniger aus politischen denn aus ästhetischen und puritanischen Gründen: sie erwähnte besonders eine längere Sexszene, die unzählige Frames lassen musste. Als sowjetische Filmemacherin unterlag sie keinem formalen Ausreiseverbot, doch die Moskauer Verleihe, die für den internationalen Vertrieb zuständig waren, leiteten halt im Zweifelsfall Einladungen internationaler Filmfestivals einfach nicht weiter bei "unbequemen" Filmemachern. Das Cannes-Festival etwa versandte einmal eine Einladung, die nie ankam. Gilles Jacob, Leiter von Cannes, machte durch mysteriöse Kanäle die private Telefonnummer Gogoberidzes in Tbilissi ausfindig, rief sie an und bat um eine Antwort auf die "verschollene" Einladung – Gogoberidze konnte dann auch nach Cannes fahren.

Ihr Film OROMTRIALI ("Hin und her") – später dazu mehr – erhielt beim Filmfestival in Tokyo 1987 den Preis für die beste Regie, überreicht von Gregory Peck (für Gogoberidze ein besonders aufregender Moment, da sie sich als große Bewunderin Pecks bekannte). Mit der Ehre des Preises kam auch ein Preisgeld in einem vierstelligen Dollarbereich (ich glaube 2000 oder 5000 Dollar): als Sowjetbürgerin war es Gogoberidze allerdings nicht möglich, Devisen in die Sowjetunion zurückzubringen, weshalb sie sich entschied, das Preisgeld sofort, vor Ort in Tokyo, in einer großen Shopping-Tour auf den Kopf zu hauen. Sie kaufte Kameratechnik ein – und für sich selbst einen Goldring, den sie dem Publikum im Wiesbadener Kleinkunsttheater mit hochgehaltener Hand zeigte.

Aufgrund ihrer dunklen Kleidung und – gleichwohl sie natürlich recht langsam ging – auch nicht zuletzt aufgrund ihrer spürbaren Energie war es sehr schwer zu erkennen, dass einer ihrer Arme in einer Schlinge lag und die 93-jährige Regissurin sich von einem Knochenbruch erholte. Jedenfalls sprach sie in Wiesbaden nicht als Rentnerin mit dem Publikum, sondern als aktive Filmemacherin, die dann auch von ihrem nächsten Filmprojekt erzählte: ein Dokumentarfilm über ihre Mutter, die Filmpionierin, Regisseurin, Autorin und langjährige Gefangene des sowjetischen Lagersystems Nutsa Gogoberidze ist aktuell in Planung.

Gogoberidze beendete das Gespräch schließlich mit Gedichtrezitationen. Zunächst zitierte sie Goethe im deutschen Original: sie spricht persönlich zwar kein Deutsch, hat aber trotzdem einige seiner Werke phonetisch auswendig gelernt und trug dann Goethe im Original perfekt verständlich vor. Zum Abschluss zitierte sie dann einen Ausschnitt aus Poes "Annabel Lee" im englischen Original – und trug dann ihrer eigene, georgische Übersetzung vor.



Theater im Pariser Hof, 16.00 Uhr


Die georgische Prinzessin geht in das Meer
© goEast Filmfestival

ERTI TSIS KVESH ("Unter einem Himmel")

Regie: Lana Gogoberidze

Sowjetunion 1961

85 Minuten, DCP

"Tavadis Kali Maia" ("Die Gräfin Maja"). 1921: eine georgische Prinzessin spinnt bei einem dörflichen Volksfest Intrigen gegen ihren ehemaligen Liebhaber, einem kommunistischen Aktivisten, der jetzt ihre Tochter begehrt.

"Mtredebi" ("Tauben"). 1941: zwei Jugendliche verlieben sich ineinander, während sie Flugbeobachtungsdienste über den Dächern von Tbilissi leisten.

"Preska" ("Fresco"). 1961: Eine Architektin setzt sich beim Bau eines Sportstadions für das ungewöhnliche Fassadengemälde eines akademisch gescheiterten Malers ein, und verliebt sich in ihn.

ERTI TSIS KVESH ist Lana Gogoberidzes erster abendfüllender Spielfilm (sie hatte vorher einen Dokumentarfilm und einen Kurzfilm gedreht). Ihre kommende Größe als Regisseurin ist in Ansätzen erkennbar, aber meiner Meinung nach noch nicht voll entfaltet. Ich kann nicht sagen, dass der Film mich wirklich als Ganzes begeistert hätte. Die erste Episode hat mich trotz der schönen Anteaserung im Programmheft ("ihren Geliebten ins Verderben stürzende adlige Femme fatale") eher wenig gefallen: trotzdem sie komplett chronologisch und geradlinig erzählt ist (wie alle Episoden dieses Films), habe ich große Mühe gehabt, der Handlung überhaupt zu folgen. Visuell gab es allerdings durchaus einige sehr beeindruckende Bilder zu sehen: einerseits fast ethnografisch-dokumentarisch wirkende Impressionen der Dorffeierlichkeiten und der Tänze, gefilmt bei Nacht im Schein eines großen Lagerfeuers, andererseits das poetische Ende mit der Protagonistin, die in einem weißen Tuch gehüllt in das Meer schreitet.

Die zweite Episode, "Tauben", um die jugendliche Liebe über den Dächern von Tbilissi hat mir schon besser gefallen, gerade durch das wunderbare Setting: ein großer Teil des Films spielt sich vor einem weiten, beeindruckenden Hintergrundpanorama der Stadt ab (Erinnerungen an das ikonischste Bild aus Jacques Rivettes PARIS NOUS APPARTIENT, veröffentlicht im selben Jahr, kamen auf). Zu Beginn gibt es auch eine wahre "tour de force": eine lange Plansequenz, in der wir der Protagonistin von ihrer Wohnung in einem Mietshochhaus die Außentreppe herunter folgen, dann durch die engen Straßen ihres Viertels begleiten und schließlich mit ihr einen Teil des Gebäudes hochsteigen, auf dessen Dach sie Wachdienst leistet. Schauspielerisch trumpft hier besonders Kira Andronikashvili als das junge Mädchen Nana auf.

"Fresco", die dritte Episode, hat mich leider auch nicht wirklich mitgenommen. Sie wirkte fast eher wie ein "kurzer Langfilm": zu verkürzt, um die Charaktere wirklich kennen zu lernen, die leider etwas eindimensional im Gedächtnis bleiben.



Caligari-Filmbühne, 20.15 Uhr


Edina bei einer ihrer Performances
© goEast Filmfestival

SZELÍD ("Sanft")

Regie: Csuja László, Nemes Anna

Ungarn/Deutschland 2022

92 Minuten, DCP

Die Bodybuilderin Edina trainiert hart für einen europäischen Meistertitel. Die Rechnungen für ihre Spezialernährung (und die chemischen Booster) wachsen ihr und ihrem Manager und Lebensgefährten (selbst ein ehemaliger Champion-Bodybuilder) allmählich über den Kopf. Sie sucht sich einen Nebenjob als Edelprostituierte für Muskelfetischisten und findet immer mehr Zuneigung zu einem ihrer Stammkunden.

Aufgrund der Gogoberidze-Retrospektive habe ich dieses Jahr auf die meisten aktuellen Filme des internationalen Wettbewerbs verzichtet. SZELÍD habe ich mir aber aufgrund einer sehr begeisterten Besprechung einer amerikanischen Kritikerin (leider finde ich den Artikel nicht mehr) aufgehoben. Das war es dann auch wert, denn er wahrhaft fantastisch: Ein melancholisches Sportler-Melodrama, ein unglaublich sinnlicher Film über extreme Körper und extreme Gefühle! SZELÍD ist auch ein humanistischer Film und löst seinen eigenen Titel voll ein: er ist sanft, zärtlich, von großer Liebe durchdrungen.

SZELÍD ist unter der Co-Regie und -Autorenschaft von Csuja László und Nemes Anna entstanden. Csuja ist als Regisseur etwas erfahrener und kommt aus dem Dokumentarfilm und dem Theater. Nemes ist hingegen bildende Künstlerin, hat sich bereits in einer Aquarellserie mit Bodybuildern beschäftigt und hat etwa zeitgleich mit SZELÍD – unabhängig von Csuja – einen Essayfilm über weibliches Bodybuilding, BEAUTY OF THE BEAST, inszeniert (der wohl ein gutes Companion-Piece zu SZELÍD gewesen wäre).

In der Eingangsszene, die einen Auftritt Edinas bei einem Vorauswahlwettbewerb zeigt, entfaltet der Film mit seinem atemberaubend fetischistischen Blick auf den gestählten Körper der Hauptdarstellerin, auf ihre Inszenierung ihrer Körperlandschaft durch sorgfältig einstudierte Posen eine hypnotische Sogwirkung. Der Blick ist fetischistisch, aber keineswegs in einer exploitativen Art, sondern stets sehr zärtlich – ja: sanft! Bodybuilder werden oft – auch ich kann mich da nicht ganz entziehen – als grotesk gesehen, was in so unterschiedlichen Filmen wie PAIN & GAIN oder KILLING AMERICAN STYLE durchaus genrespezifisch eingesetzt wird (oder in vielen Filmen mit Arnold Schwarzenegger), doch SZELÍD behandelt Edina wie einen ganz normalen Menschen.

Tatsächlich wäre "Body and Soul" (wie der wunderbare Jazz-Standard) ein toller Alternativtitel für den Film. Die Bodybuilderin Csonka Eszter, die Edina spielt, ist zunächst einmal ein massiver Körper, eine physische Landschaft, doch Csonka entpuppt sich nach und nach auch als sehr facettenreiche, sehr emotionale, subtile und seelenvolle Schauspielerin, die ihre charismatische Präsenz auch mit vielen Gefühlsschichten anzureichern versteht. Ihre Erfahrung als performative Sportlerin kommt ihr da durchaus zugute.

SZELÍD blickt mit den Augen eines Bewunderers auf Edinas Performances bei Wettbewerben (hier ist sie tatsächlich ein Star). Ohne Rampenlicht und ohne Körperschminke ist sie wieder ein normaler Mensch – und hier beobachtet der Film sie dann kontrastiv zu ihrem Star-Dasein in einem von Verzicht, von Regulationen, von endlosem, harten Training, von abendlicher Erschöpfung geprägtem Alltagsleben. Und in einem Leben, in dem auch Rechnungen, finanzielle Prekarität und Beziehungsproblemen mit ihrem Manager/Mentor/Lebensgefährten eine zunehmende Rolle spielen. Momente, die durchaus als unspektakuläres, leises, aber stets sehr gekonnt inszeniertes Sozialdrama rüberkommen.

Und so gelangt dann SZELÍD zu Edinas drittem Leben, als Edelprostituierte für gutbetuchte Freier mit Muskelfetisch. Hier findet Edina eine alternative Form der Bewunderung, ein eigenes, paralleles Startum – und der Film inszeniert die Begegnungen, in denen sie beispielsweise Freiern mit ihren Beinen die Luft abschnürt, als elegische, surreal-verträumte, teils fast schon sakrale Tableaus. Ja, es sind Fantasien, Träume und Obsessionen, die Edina hier bedient. Eine der Tragiken des Films ist dann auch, dass sie in diesem parallelen Leben selbst auf diese Träume "reinfällt" und sich in einen Stammkunden verliebt, der gerne von ihr durch einen Wald gejagt oder in einem Teich in den Armen gehalten werden möchte (letzteres ein ikonisches Bild, das in einer Variante des Filmposters zu sehen ist). So läuft sie dann auch eines Tages von ihrem Training weg, bewegt sich zielstrebig durch einen kunstvoll beleuchteten Umkleideraum ihres Fitnessstudios, öffnet die Tür eines Spindes und lässt ihn, ihren geliebten Stammkunden, herauskommen. Später wird er (real, nicht im Traum) ein elektrisches Eingangsgitter vor ihren Augen zuschließen, nachdem sie ihn in einer Transgression der formellen Dienstleisterin-Kunde-Beziehung in seiner heimischen Luxusvilla heimlich besucht hat, vor freudiger Erwartung aber im Bett seines kleinen Kindes eingeschlafen ist. In Every Dream Home a Heartache – doch Edina ist keine Gummipuppe, sondern trotz der riesigen Muskeln eine zunehmend verletzliche Person, die sich nach einem schweren Kreislaufkollaps umso härter in ein unbarmherziges Training und ins eigene Selbstverderben stürzt und die Fackel ihres geölten und geschminkten Bodybuilding-Startums bis zum bitteren Ende hochhält, bis sie nicht mehr kann.

SZELÍD hat mich in seiner ganzen Laufzeit völlig fasziniert, hypnotisiert, bezaubert und mich am Ende tiefbestürzt und den Tränen nahe wieder aus dem Kino entlassen. Ein fantastischer Film, der zurecht den Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie gewonnen hat und der hoffentlich auch demnächst einen regulären deutschen Kinostart haben wird.



Caligari-Filmbühne, 22.15 Uhr



Kurzfilmprogramm "Anarcho Shorts"


Ich müsste mich schon sehr verbiegen um nicht zu sagen, dass mich dieses Kurzfilmprogramm nicht hart durchgestählt hat. Von den sechs gezeigten Filmen hat mir ehrlich gesagt keiner gefallen, der letzte und längste Film hat mich schon hart an meine physischen Grenzen gebracht. Daher verzichte ich lieber darauf, jeden einzelnen zu besprechen.



Sonntag, 24. April 2022


Caligari-Filmbühne, 11.00 Uhr



MARIUPOLIS

Regie: Mantas Kvedaravičius

Litauen/Deutschland/Frankreich/Ukraine 2016

96 Minuten, DCP

Impressionen aus der ukrainischen Stadt Mariupol und ihrem Lebensalltag – einem Alltag unter dem Schatten des ukrainisch-russischen Kriegs, der in dieser Region bereits seit 2014 tobt.

MARIUPOLIS wurde in der traditionellen goEast-Sonntagsmatinee in Gedenken an den litauischen Regisseur Mantas Kvedaravičius gezeigt, der am 2. April 2022 in Mariupol von russischen Soldaten getötet wurde.

Als Geste des Gedenkens und als Positionierung in der aktuellen Situation war es sicherlich richtig, MARIUPOLIS zu zeigen. Leider hat mich der Film eher wenig mitgenommen und hat mir weder die Stadt, noch ihre Menschen wirklich näher gebracht. Zwischen entvölkerten Totalen und Nahaufnahmen, die so extrem an Details kleben, dass sie fast schon abstrakt werden, hat der Film nur selten eine passende Einstellungsgröße gefunden (mit Extremnahaufnahmen auf Arme oder dem Abschneiden von Gesichtern an den Rändern fängt MARIUPOLIS die Bewohner der Stadt in oft sehr undankbaren Bildern ein – Jacques Rivette hätte wohl gesagt, dass der Film Körper zerschneidet). So endete das Festival auf einer insgesamt eher betrübten Note.



EPILOG


Nicht mehr auf einer großen Leinwand, aber immerhin noch auf einem Bildschirm sichtbar blieben die Filme bis zwei Tage nach meinem Aufenthalt in der Presse-Mediathek. Eine Gelegenheit, verpasste Gogoberidze-Filme noch zu erhaschen. Ganz verpasst habe ich leider ihre Musical-Komödie im Umfeld eines Tbilisser Restaurants AURZARI SALKHINTESI ("Tumult") von 1975 und ihr Drama um einen Theaterregisseur, der Zeuge eines Mords wird PERISTSVALEBA ("Grenzen") von 1968.



Jena


Einst eine gefeierte Schauspielerin neigt Manana heute zu Diva-Allüren
© goEast Filmfestival


OROMTRIALI ("Hin und her")

Regie: Lana Gogoberidze

Sowjetunion 1986

100 Minuten, Mediathek-Screener

Alltagstrott, kleine Lebensfreuden und größere Familientragödien im Leben der gealterten Schauspielerin Manana: einst ein großer Filmstar, nun eine schnorrende Diva ohne Rollen und Geld, die von niemandem mehr ernst genommen wird.

OROMTRIALI, für den Gogoberidze 1987 von Gregory Peck einen Regiepreis in Tokyo überreicht bekam, ist ohne Zweifel ein schöner Film, auch wenn ich zugeben muss, dass vieles in meinem Gedächtnis auch schon wieder verloren gegangen ist.

Die Synopsis, die ich gegeben habe, ist mehr einer von vielen kleinen Plots des Films. Da gibt es auch einen Mann (gespielt von Guram Pirtskhalava, hier mal eher gutmütiger, wenn auch trotzdem melancholischer Mensch), dessen Frau sterbend im Krankenhaus liegt und der sie täglich besucht. Es gibt einige Nebenplots um die Schauspielertochter (gespielt von Salomé Alexi). Mehr als durch eine episodisch-elliptische Inszenierung wirkt OROMTRIALI eher durch eine größere Anzahl an Figuren impressionistisch und schlendernd, desinteressiert an einem determinierten roten Faden. Eher ein Ensemble-Film à la Robert Altman.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine kleine Episode: die gealterte Schauspielerin Manana lässt bei einem Schuster mit einem Stand auf dem Markt Schuhe reparieren. In seinem kleinen Büdchen hat er eine kleine improvisierte Pinnwand, an der nicht nur ein Bild von Stalin hängt, sondern auch ein Bild von Manana in jungen und erfolgreicheren Jahren. Ob Genosse Koba jemals seine Schuhe bei ihm hat reparieren lassen, sei dahingestellt – die Manana der Jetztzeit erkennt der Schuster auf jeden Fall nicht, was sie natürlich sichtlich pikiert zur Kenntnis nimmt. Wenn man ehrlich ist: die Pinnwand macht auch weniger den Eindruck eines Heiligenschreins als den von altem Gerümpel, das aus Faulheit nicht aufgeräumt wird. Was Mananas Laune natürlich auch nicht heben wird. 



Montag, 25. April 2022


Jena



Die Schriftstellerin Elene, die ehemalige Kulturfunktionärin und Zensorin Miranda und Elenes Tochter
© goEast Filmfestival

OKROS DZAPI ("Der goldene Faden")

Regie: Lana Gogoberidze

Georgien 2019

90 Minuten, Mediathek-Screener

Die 80-jährige Autorin Elene lebt zusammen mit ihrer Tochter, deren Ehemann und der Enkelin in einer großen Wohnung, die sie wegen gesundheitlicher Probleme nicht mehr verlassen kann. Geistig ist sie dennoch absolut fit, und wenn sie nicht arbeitet, also schreibt, plaudert sie gerne mit den Nachbarn im Hinterhof oder telefoniert mit ihrem ehemaligen Liebhaber. Bewegung in die ganze Sache kommt, als die Schwiegermutter ihrer Tochter einziehen soll: Miranda, eine ehemalige hohe Partei- und Kulturfunktionärin, die einst Elenes Bücher zensiert hatte und nun erste Anzeichen von Demenz hat.

OKROS DZAPI ist ein Film, den man wohl als Alterswerk bezeichnen kann, nicht nur, weil Gogoberidze bei der Premiere des Films 91 Jahre alt war, weil es ein Film über das Alter und das Altern ist, sondern weil er von einer tiefenentspannten Gelassenheit und Ruhe geprägt ist, die man wohl nur haben kann, wenn man nunmehr schon das 61. Jahr der Regiekarriere erreicht hat (das ist natürlich weniger als Manoel de Oliveira, aber zum Beispiel schon mehr als John Ford). Ja, OKROS DZAPI hat viel von einem reinen Abhängfilm. 

Herz, Seele und Mittelpunkt, ja der wortwörtlich rote (bzw. goldene) Faden des praktisch komplett plotfreien Films ist Nana Dzhordzhadze, die zwar bereits in RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE mitgespielt hatte, hauptberuflich aber schon seit Ende der 1970er Jahre selbst Regisseurin ist (es ist auch ihr erster Schauspiel-Credit seit 1987). Wir sehen Elene beim Schreiben, beim Beobachten eines jungen, oft streitenden Ehepaars in einer gegenüberliegenden Wohnung (nicht nach dem Rezept von L. B. "Rear Window" Jefferies – sie spricht beide tatsächlich auch an), beim Plaudern mit dem Betreiber eines naheliegenden Copyshops oder mit der Enkelin (die sie offenbar wesentlich besser leiden kann als ihre eigene Tochter und den Schwiegersohn) und bei Telefongesprächen mit ihrem ehemaligen Liebhaber Archil, der selbst mit physischen Problemen und bewegungsunfähig in einem Altersheim festsitzt. Der Darsteller Archils, Zura Kipshidze, ist ein alter Bekannter: er spielte bereits den Radrennfahrer in "Als die Mandelbäume blühten" und ist nun mit 47 Jahren im besten Sinne gereift. Die langen, intimen, von Erinnerungen schwelgenden Telefongespräche bilden das emotionale Kernstück von OKROS DZAPI: die beiden Darsteller im Gespräch und Gogoberidze mit ihrer einfühlsamen Inszenierung lassen hier die Zeit komplett still stehen.

Wie viele Filme Gogoberidzes ist auch OKROS DZAPI ein Film über die conditio femina und über den schwierigen, komplizierten, manchmal schmerzhaften Dialog zwischen Gegenwart und politisch repressiver Vergangenheit. Es geht hier zwar nicht mehr um Massenterror, Deportationen und Erschießungen, doch auch die Wunden kultureller Repressionen mit dem Verbot von Büchern reichen tief, bis in die Gegenwart. Wie in "Walzer an der Petschora" finden sich hier auch zwei Personen in einer Wohnung wieder, die auf verschiedenen Seiten standen. Dennoch findet eine richtige Zuspitzung auf einen klaren Konflikt zwischen der ehemaligen Dissidentin und der ehemaligen Sowjetfunktionärin in Reinform nicht statt: vielmehr steckt da auch viel zwischenmenschliche Animosität zwischen den beiden – auf der einen Seite die sehr überlegte Intellektuelle, auf der anderen Seite eine dauerquasselnde, etwas oberflächliche und unterschwellig arrogante Staatsbedienstete in Rente. Die beiden wären wohl auch so nicht Freundinnen geworden. Aber das ist bei Gogoberidze nicht verwunderlich: Menschen bleiben Menschen und sind bei ihr niemals reine Funktionsgehilfen eines Staates oder einer Agenda.

Ebenso wenig wie auf einen sich zunehmend zuspitzenden Konflikt führt der Film auch nicht in eine Versöhnung zwischen den beiden antagonistischen Frauen. Gogoberidze lässt auch diesen Film mit offenen Fragen, ohne Auflösung, ohne glatte Abrundung der Konflikte enden: Miranda, die in Elenes Wohnung gebracht wird, weil sie ihre eigene Single-Wohnung aus Versehen fast in Brand gesetzt hat, wirkt über große Teile des Films sehr klar im Kopf, bekommt aber tatsächlich an zwei Stellen einen erkennbaren Schub an akutem Gedächtnisverlust und geistiger Verwirrtheit – und büchst beim zweiten Mal aus, verläuft sich in Tbilissi und findet auch nicht mehr nach Hause (weil sie sich bei einem diplomtischen Empfang wähnt und in den Straßen verzweifelt nach dem Botschafter sucht).

Gogoberidzes Filme enden, wenn man die Erwartung dramaturgisch klassisch erzählten Kinos an sie heranträgt, oft sehr unbefriedigend, offen – brechen eher ab, als dass sie enden. Die Geschichten von Menschen enden nicht einfach: sie gehen immer weiter. Bis dato galt dies, trotz einer langen langen Pause nach Beginn der 1990er Jahre, auch für Gogoberidzes Kino. Ich hoffe sehr, ihren nächsten Film beim nächsten goEast 2023 sehen zu können.

Freitag, 15. April 2022

Diese zwei obskuren Objekte der Begierde

Viele Freunde von Luis Buñuel kennen wahrscheinlich seinen letzten Film DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE, und wer sich für Josef von Sternberg und/oder Marlene Dietrich interessiert, hat vielleicht auch THE DEVIL IS A WOMAN gesehen, den letzten der gemeinsamen Spielfilme der beiden. Beide Werke beruhen auf derselben Vorlage, dem 1898 erschienenen Roman La Femme et le pantin von Pierre Louÿs (1870-1925), einem Schriftsteller, der auf erotische Literatur spezialisiert war (David Hamiltons BILITIS wurde von seiner Gedichtsammlung Die Lieder der Bilitis lose inspiriert). La Femme et le pantin wurde von 1920 bis 2007 noch mehrfach verfilmt. Hier geht es nun um zwei französische Fassungen, die erste davon ein Stummfilm, die beide den Titel des Romans tragen. Pantin bedeutet Marionette, Hampelmann - auch im übertragenen Sinn. Es geht also um einen Mann an den Fäden einer Frau.

Der Mann, ein Spielball der Frauen (Francisco de Goya: El Pelele. 1791/92, Museo del Prado)
LA FEMME ET LE PANTIN (dt. DAS SPIELZEUG EINER FRAU, auch WENN DU ZUM WEIBE GEHST...)
Frankreich 1929
Regie: Jacques de Baroncelli
Darsteller: Conchita Montenegro (Conchita), Raymond Destac (= Tristan Sévère, Don Mateo), Henri Lévêque (André Stévenol), Jean Dalbe (als Jean d'Albe, Morenito), Andrée Canti (Conchitas Mutter)

Spanien um die vorletzte Jahrhundertwende. Der reiche, nicht mehr ganz junge Aristokrat und Lebemann Don Mateo lernt in einem Zug die temperamentvolle junge Tänzerin Conchita kennen, und zwischen den beiden funkt es. Zwar verlieren sie sich zunächst aus den Augen, aber nach einiger Zeit treffen sie sich zufällig in Sevilla wieder, wo beide leben. Don Mateo besucht Conchita regelmäßig in ihrer Wohnung, doch sie lässt ihn zappeln. Mal sagt sie, dass sie ihn liebt, mal liebt sie ihn wieder nicht, mal wirft sie ihm vor, dass er sie nicht oder nicht genug liebe. Das Wechselbad der Gefühle beginnt, an Mateos Nervenkostüm zu zehren. Und dann ist da auch noch der schnieke junge Habenichts Morenito, angeblich der Bruder einer Freundin von Conchita. Ob er etwas von Conchita will (und sie von ihm), bleibt vorerst offen, aber schon seine gelegentliche Anwesenheit in ihrer Nähe macht Mateo eifersüchtig. Und zweimal verlässt sie Mateo und Sevilla "endgültig", und stürzt ihn damit immer tiefer in die Krise. Beim ersten Mal kehrt sie nach einiger Zeit in die Stadt zurück und setzt ihr Katz-und-Maus-Spiel fort, beim zweiten Mal findet sie Don Mateo zufällig in einer Spelunke in Cádiz, wo sie vor Einheimischen und Touristen tanzt.

Conchita und Éva, Mateo und Matteo
Als sie einen Nackttanz hinlegt, rastet er vor Eifersucht aus und will sie fast umbringen, aber sie besänftigt ihn und wickelt ihn nun endgültig um den Finger. Er will sie heiraten, und sie stimmt zu - unter der Bedingung, dass er ihr ein Haus und allerhand Reichtümer schenkt, und zwar vor der Hochzeit - damit niemand sagen könne, sie hätte ihn nur wegen des Geldes geheiratet. Mateo hält das für eine gute Idee und stellt ihr eine Villa hin, fast schon einen Palast im maurischen Stil, und überhäuft sie mit Geschmeide und Juwelen. Und dann, man hat es schon geahnt, lässt sie ihn wieder zappeln. Mehr noch, sie verlacht und demütigt ihn. Und siehe da, Morenito entpuppt sich tatsächlich als ihr Liebhaber. Sie küsst ihn im Hof der Villa, und Mateo steht draußen vor dem verschlossenen Eisengitter und muss zusehen. Der Film könnte hier zu Ende sein (es sind auch schon 90 Minuten rum), aber er nimmt noch eine unerwartete Wendung. Mateo bekommt zufällig mit, wie Morenito eine andere Frau küsst, mit Geldscheinen wedelt und der Frau erzählt, dass er das Geld von Conchita bekommen hat. Mateo meint nun, dass Conchita ihrerseits auf einen Betrüger hereingefallen ist. Er stürzt sich auf Morenito und kann nur mit großer Mühe davon abgehalten werden, ihn zu erwürgen. Doch dann wird ihm glaubhaft versichert, dass die andere Frau Morenitos Verlobte ist, und dass er von Conchita nur für etwas Geld engagiert wurde, um Mateo in der Villa eine Komödie vorzuspielen - eine Komödie, über die schon ganz Sevilla lacht.

Wenn Don Mateo ein Fest feiert, dann richtig
Um die erneute Demütigung auszukosten, besucht Conchita Mateo in seinem eigenen Palast. Doch jetzt hat sie scheinbar das Blatt überreizt. Er sperrt sie ein und man fürchtet schon, dass er sie umbringt, aber es setzt "nur" eine Tracht Prügel. Und seltsamerweise hat sie nun zum ersten Mal Respekt für ihn und kann ihm das auch glaubhaft machen. Die beiden raufen sich zusammen und versuchen es nochmal miteinander. Doch kann das wirklich gutgehen? - Epilog: Ein Jahr später in Paris. Um es gleich zu verraten, es ist nicht gutgegangen. Sie ist ihm nach nur zwei Wochen wieder auf der Nase herumgetanzt, und nach einigen Monaten hat sich Mateo von ihr getrennt, und diesmal endgültig mit ihr abgeschlossen, wie er einem französischen Freund versichert. Um ihm das zu beweisen, nimmt er den Freund mit in ein Varieté, wo Conchita jetzt wieder als Tänzerin arbeitet. Er werde ihr dabei ganz kühl und unbeteiligt zusehen können, meint Mateo zu dem Freund. Doch als er sie tanzen sieht und sie einem Verehrer im Publikum aufmunternde Blicke zuwirft, spricht sein eifersüchtiger Blick eine andere Sprache. Und dann lässt er ihr einen Zettel zustecken mit der Botschaft, dass er ihr verzeiht, und dass er ihr die Füße küsst. Er wird nie von ihr loskommen, so wie eine Marionette nie vom Puppenspieler loskommt.

Conchita will auch zu den Reichen ... mit Erfolg
LA FEMME ET LE PANTIN, ital. FEMMINA, dt. EIN WEIB WIE DER SATAN, auch DIE FRAU UND DER HAMPELMANN
Frankreich / Italien 1959
Regie: Julien Duvivier
Darsteller: Brigitte Bardot (Éva Marchand), António Vilar (Don Matteo Diaz), Michel Roux (Albert), Jacques Mauclair (Stanislas Marchand), Lila Kedrova (Manuela), Espanita Cortez (Maria Teresa), Dario Moreno (Arabadjian)

Duvivier und seine Co-Autoren beim Drehbuch verlegten die Handlung in die Gegenwart der 1950er Jahre. Das kann man ohne weiteres machen, ohne großen Schaden oder Nutzen. Und aus Conchita wird Éva, eine Französin in Sevilla - als Spanierin wäre Brigitte Bardot nicht besonders glaubwürdig gewesen. Problematischer sind für mich zwei (miteinander korrespondierende) andere Änderungen: Während Don Mateo bei Baroncelli abgesehen davon, dass er ein paar Freunde hat, ein Mann ohne Bindungen ist, ist Don Matteo verheiratet. (In den Quellen findet man sowohl "Mateo" als auch "Matteo", und der Film selbst gibt keinen Aufschluss. Zur besseren Unterscheidbarkeit bleibe ich bei der zweiten Inkarnation bei "Matteo".) Seine Frau Maria Teresa, wie er selbst wohl in den 40ern, sieht eigentlich gut aus, aber sie ist gehbehindert, und das rechtfertigt es in Matteos Augen offenbar, sie nicht als vollwertige Partnerin zu sehen, und immer eine bis zwei Geliebte nebenher zu haben. Maria Teresa weiß über seine Eskapaden Bescheid, und sie leidet darunter, aber sie nimmt sie zähneknirschend hin, um ihn nicht ganz zu verlieren. Und Matteo findet nichts dabei, sie dreist anzulügen, obwohl er weiß, dass sie ihn durchschaut. Baroncellis Mateo mag ein reicher Schnösel sein, aber er tut im Film eigentlich nichts, was ihn unsympathisch macht. Soll man ihm vorwerfen, dass er ein Opfer seiner Triebe wird? Das, was ihm mit Conchita widerfährt, hat er so eigentlich nicht verdient. Duviviers Matteo dagegen ist ein selbstsüchtiger und arroganter Unsympath, der mehr Strafe verdient hätte, als er am Ende empfängt. Und sozusagen komplementär dazu ist Conchita eine Femme fatale von den Haar- bis zu den Zehenspitzen, Éva dagegen ist eine Moralistin. Sie benimmt sich oft kokett, manchmal fast wie eine Hure, doch in Wirklichkeit ist sie noch Jungfrau. Und diese ganz andere Figurenkonstellation nimmt Duviviers Film den Biss. Er ist eine moralische Erzählung, eine schaumgebremste Version der Geschichte.

Éva lebt also (als angehende Tänzerin) in Sevilla, zusammen mit ihrem Vater Stanislas und dessen neuer Partnerin, der egozentrischen und etwas vulgären Spanierin Manuela. Stanislas war einst in Frankreich ein bekannter Schriftsteller, doch aus Gründen, die zunächst obskur bleiben, ist er in der Heimat nicht mehr wohlgelitten und weitgehend vergessen, und deshalb im spanischen Exil. Éva hat einen Verehrer, den eloquenten, aber letztlich etwas biederen Fremdenführer Albert, ebenfalls ein Franzose. Es ist ziemlich klar, dass Évas Freundschaft mit ihm platonisch bleibt, und nachdem sie einen Heiratsantrag von ihm ablehnt, verschwindet er (nach einer guten Stunde im Film) nach Paris, und damit aus der Handlung. Schon ganz am Anfang hat Éva bei einem Fest in den Straßen von Sevilla Matteo kennengelernt und mit ihm kokettiert, und er sucht sie in ihrer Wohnung auf, wo er zwar von Stanislas' und Manuelas aufdringlichem Verhalten in die Flucht geschlagen wird, aber später Éva und ihren Vater zu sich einlädt. Auch Matteo ist ein reicher Aristokrat in einem maurischen Palast, und obendrein züchtet er Kampfstiere und setzt sich gelegentlich selbst aufs Pferd, um in der Arena Stiere anzustechen. Éva weiß von Anfang an über seine Geliebten und nach der Einladung auch über Maria Teresa Bescheid, und sie ist gleichzeitig angezogen und abgestoßen von ihm. Auch sie spielt jetzt etwas Katz und Maus, aber aus etwas anderen Gründen als Conchita - solange sich Matteo benimmt wie jetzt, kann sie keine Beziehung mit ihm eingehen.

Cádiz
Éva hat erst kürzlich ihre Ausbildung als Tänzerin beendet, und nun nimmt sie ein erstes Engagement an, und zwar bei dem schmierigen Wirt Arabadjian (in Wikipedia und Lexikon des Internationalen Films findet man gleich drei andere Schreibweisen des Namens, aber er heißt wirklich Arabadjian), gegen den ausdrücklichen Rat ihres seriösen alten Tanzlehrers. (Kleine Randnotiz: Arabadjians Darsteller Dario Moreno war auch Sänger, und er veröffentlichte 1961 eine recht erfolgreiche Single über Brigitte Bardot.) Während im Hof des Lokals Flamenco-artige Tänze aufgeführt werden, absolviert Éva im Obergeschoß eine "zweite Schicht", indem sie sich vor zahlungskräftigen Touristen entblättert. Matteo "überrascht" sie dort und macht eine Szene, doch er wurde von Éva selbst durch eine gezielte Indiskretion hingelockt, um ihm eine Lektion zu erteilen. Ähnlich wie bei Baroncelli in der Szene in Cádiz wickelt sie ihn um den Finger, und er verspricht ihr nun ein Haus und Reichtümer. Doch dann nimmt sie einen von ihm ad hoc ausgestellten Scheck über 100.000 Peseten und zerreißt ihn demonstrativ in kleine Fetzen. Conchita hat zwar ihren Stolz, aber letztlich ist sie käuflich (auch wenn sie selbst dann nicht liefert), Éva nicht. Wie gesagt, eine Moralistin. Kurz darauf geht sie mit Arabadjian und seiner ganzen Tanz- und Musiktruppe in einem klapprigen Bus auf Tournee durch Andalusien, und der nun schon nervlich angeschlagene und äußerlich etwas derangierte Matteo fährt einfach mit.

Nackttanz
Zuvor gab es aber noch eine Enthüllung: Stanislas ist deshalb aus Frankreich verduftet, weil er ein Anhänger des Vichy-Regimes (wenn nicht gleich der Nazis) war und mindestens einen Mann denunziert hat, der dann in Auschwitz ermordet wurde. Diese Episode ist ein ziemlicher Fremdkörper im Film, und ich fragte mich, was das eigentlich soll. Vielleicht sollte es nur rechtfertigen, dass Éva ihren bisher geschätzten Vater nun verlässt, um sich dem öligen und moralisch durchaus fragwürdigen Arabadjian anzuschließen. Aber genausogut hätte man Stanislas (und Manuela gleich dazu) auch ganz aus dem Film weglassen können. Und letztlich dient ohnehin alles, was man an Évas Verhalten fragwürdig finden könnte, nur Matteos "Läuterung" und ist damit im nachhinein gerechtfertigt - so soll man es zumindest sehen.

Conchita in ihrem neuen Palast
Éva führt Matteo weiter an der Nase herum, es gibt nun auch hier einen Morenito (einer aus der Tanztruppe), es ist aber von vornherein klar, dass das nur ein von Éva aufgestellter Köder ist, um Matteo noch mehr eifersüchtig und zum Hanswurst zu machen. Und das gelingt. Am Ende will er Éva in einem proppenvollen Lokal in rasender Eifersucht verprügeln, wird aber selbst vermöbelt, und er verbringt eine Nacht in einer Zelle im Polizeirevier. Doch als er am nächsten Morgen als gedemütigtes Häufchen Elend davonschleichen will, wartet schon Éva auf ihn. Jetzt ist er da, wo sie ihn schon immer haben wollte - zurechtgestutzt auf Normalgröße, auf menschliches Maß. Jetzt können die beiden ein Paar werden, und sie werden auch eines. Happy End. Und einen Epilog gibt es hier nicht. Oder etwa doch? In der Wikipedia steht nämlich Folgendes:
Als Matéo am nächsten Morgen entlassen wird, wirkt er wie ein anderer Mensch; seine Kleidung ist zerrissen, sein Gesicht von Wunden entstellt. Auf so etwas scheint Eva nur gewartet zu haben. Sie begegnet ihm jetzt mit überströmender Zärtlichkeit und versichert ihm ihre Liebe.

„… und seit einem Jahr ist sie meine Frau“, erzählt Matéo in einem Pariser Restaurant seinem Zuhörer Albert, dem früheren Fremdenführer, der in die französische Hauptstadt gekommen ist, um Eva wiederzusehen. Diese hat gerade ihren Tanz beendet und wendet sich nun einem athletischen jungen Mann zu. „Mit Morenito hat es angefangen. Jetzt ist es der dort, bis sie auch ihm wieder überdrüssig wird. Trotzdem bleibe ich bei ihr, weil ich sie liebe.“ Mit diesen Worten beendet Matéo seine Erzählung.
Ob hier nur ein Wikipedia-Autor seiner Fantasie freien Lauf ließ, oder ob es dieses alternative Ende tatsächlich gibt, weiß ich nicht, aber ich glaube eher Ersteres. Abgesehen von diesem Wikipedia-Artikel habe ich jedenfalls keinerlei Hinweise darauf gefunden.

Draußen vor der Tür
Es überrascht wohl nicht mehr, dass mir Baroncellis Film besser gefällt als der von Duvivier. Letzterer erfreut das Auge mit Breitbild (das verwendete Verfahren heißt DyaliScope), üppigen Farben und wunderbaren Schauplätzen, und es gibt ganze Breitseiten an andalusischer Folklore (oder was man dafür halten soll). Kameramann Roger Hubert macht seine Sache gut, etwa in dem erwähnten Massentumult im Lokal, wo die Kamera sozusagen mit der Menge mitwogt. Einen großen Anteil an den Schauwerten hat Set-Designer Georges Wakhévitch, ein Meister seines Fachs in der Tradition eines Lazare Meerson und eines Alexandre Trauner, mit denen er in seiner Karriere auch zusammengearbeitet hatte (aber auch Baroncellis Fassung hat eine sehr gediegene Ausstattung). Und natürlich hat auch Brigitte Bardot ihre Reize - sie zeigt viel Bein, Dekolleté und auch mal ihren nackten Hintern.

Don Matteo mit seinen beiden aktuellen Geliebten, mit Éva und mit Maria Teresa
Und doch ist die Version von 1929 die visuell einfallsreichere. Das beginnt schon beim Einstieg: Von Goyas Gemälde El Pelele wird auf eine Live-Darstellung der Szene überblendet - vier Frauen werfen eine männliche Strohpuppe durch die Luft, und weisen damit auf das voraus, was kommt (pelele bedeutet nicht nur "Strohpuppe", sondern auch "Hampelmann" und "Trottel"). Auch Conchitas Nackttanz ist einfallsreicher in Szene gesetzt als der von Éva. Und Baroncelli und sein Kameramann Louis Chaix liefern noch mehr solche Proben ihres Könnens. Übrigens drehten auch sie ihren Film in Farbe, in dem eher ephemeren Keller-Dorian-Verfahren, doch anscheined wurde er nach enttäuschenden Testprojektionen nie in Farbe aufgeführt. Auch auf der Blu-ray (siehe unten) liegt er in Schwarzweiß vor. Conchita Montenegro war erst 16 oder 17, als sie den Film drehte, und sie erwies sich als schauspielerisches Naturtalent.

Folklore und Flamenco
Das größere Problem bei Duviviers Film ist für mich, wie oben schon ausgeführt, die Charakterisierung der Figuren. Vielleicht hätte ich den Film mehr gemocht, wenn ich nicht direkt davor den von Baroncelli gesehen hätte. Aber das habe ich nun mal, und das spätere Werk wollte dann für mich einfach nicht funktionieren, und das blöde Happy End hat noch eins draufgesetzt. Trotzdem will ich niemanden davon abhalten, den Film anzusehen. Erstens muss natürlich niemand meine Einschätzung bezüglich "Moral" teilen. Ich finde Baroncellis amoralische Fabel erfrischend, aber man könnte sie schon auch etwas zynisch finden - dann ist man vielleicht bei Duvivier besser aufgehoben. Und wie erwähnt, sind die optischen Schauwerte durchaus prächtig. Das gilt übrigens auch für die Musik, oder zumindest die Hälfte davon. Denn es gibt einerseits jede Menge mitreißenden Flamenco und dergleichen, wie es zum Schauplatz passt, aber auch "normale" (und teilweise arg sentimentale) Filmmusik. Es sind zwei Komponisten angeführt, und ich nehme doch stark an, dass José Roca (laut Credits) bzw. Rocca (laut der üblichen Quellen), der ansonsten filmisch nicht weiter in Erscheinung getreten ist, für den "spanischen" Teil verantwortlich war, und der umso bekanntere Jean Wiener für den konventionellen.

Sevilla
Marie Joseph Henri Jacques de Baroncelli, 9e marquis de Baroncelli-Javon (und seit 1927 Ritter der Ehrenlegion), oder etwas handlicher Jacques de Baroncelli (1881-1951), kannte ich bisher nur durch seinen prächtigen L'AMI FRITZ von 1933, der den Wert von Freundschaft, Solidarität und Toleranz ebenso feiert wie den Wert von gutem und reichlichem Essen und Trinken (ohne dabei irgendwie dekadent zu sein). Baroncelli stammte aus provenzalischem Adel mit ursprünglich italienischen Wurzeln. Er drehte über 80 Filme, doch in den üblichen Quellen wird ihm bescheinigt, dass es überwiegend künstlerisch mittelmäßige Gebrauchsware gewesen sei. Doch LA FEMME ET LE PANTIN und L'AMI FRITZ sprechen eine andere Sprache, und vielleicht gibt es da ja noch mehr Schätze zu heben. Baroncellis Sohn, der Kritiker und Schriftsteller Jean de Baroncelli (er war dann auch der 10. Marquis), schrieb übrigens eine durchwachsene Besprechung von Duviviers Film in Le Monde, in der er die visuellen Meriten hervorhebt, aber die Handlung altmodisch nennt und Matteos Metamorphose als unglaubwürdig kritisiert. Das Thema "Frau treibt Mann in den Untergang" (egal ob mit oder ohne "Wiederauferstehung") konnte Duvivier tatsächlich besser, nicht nur in seinem vielleicht bekanntesten Film PÉPÉ LE MOKO, sondern etwa auch in seinem ersten Nachkriegsfilm PANIQUE, einer Verfilmung von Georges Simenons Die Verlobung des Monsieur Hire mit einem gewohnt souveränen Michel Simon in der Titelrolle. Aber natürlich hat Duvivier so viele interessante Filme hinterlassen, dass man ihm einen weniger gelungenen jederzeit nachsehen kann.

Beide Filme wurden in den letzten Jahren restauriert und sind in Frankreich bei Pathé jeweils in einer Blu-ray/DVD-Combo erschienen. Es gibt in beiden Fällen optionale englische Untertitel, aber nur für die Filme selbst, nicht für das Bonusmaterial. Für die Stummfilmfassung gab es laut Credits eine Originalmusik, aber die findet sich nicht auf der aktuellen Veröffentlichung - vielleicht ist die Partitur verschollen. Stattdessen gibt es eine sehr gute neue Musik von Günter A. Buchwald, die von dem Ensemble L'Octuor de France eingespielt wurde.
Arabadjian (oben links, rechts Évas Tanzlehrer)
Matteo reist nicht mehr ganz standesgemäß mit Arabadjians Truppe