Dienstag, 18. September 2012

Bizarr, bizarr! Ein sonderbarer Fall!

EIN SONDERBARER FALL (DRÔLE DE DRAME)
Frankreich 1937
Regie: Marcel Carné
Darsteller: Michel Simon (Irwin Molyneux), Louis Jouvet (Archibald Soper), Françoise Rosay (Margaret Molyneux), Jean-Louis Barrault (William Kramps), Jean-Pierre Aumont (Billy), Nadine Vogel (Eva), Pierre Alcover (Chief Inspector Bray), Jeanne Lory (Tante McPhearson)

Ein scheinheiliger Bischof
London um 1900. Eine schlimme Unsitte hat sich zur Wende vom viktorianischen zum edwardianischen Zeitalter breitgemacht: Der Kriminalroman! Zu denen, die gegen diese verwerfliche Schundliteratur ankämpfen, gehört Archibald Soper, der anglikanische Bischof von Bedford. In einer allerdings nur spärlich besetzten Versammlungshalle hält er eine Rede, in der er vor allem Felix Chapel anprangert, den erfolgreichsten und geheimnisumwitterten Autor von Mördergeschichten, den noch niemand, nicht einmal sein Verleger, zu Gesicht bekommen hat. Neben alten Jungfern zollt ihm auch ein junger Mann mit Fahrrad Beifall. Es handelt sich um William Kramps, einen gesuchten Massenmörder, der mit Vorliebe Metzgern den Bauch aufschlitzt und sie ausweidet, so wie sie es mit geschlachteten Tieren tun. Seiner Meinung nach ist er erst durch die Lektüre von Chapels Roman "Das perfekte Verbrechen" auf die schiefe Bahn geraten, und dafür will er sich nun rächen, indem er auch Chapel den Magen aufschlitzt. Ebenfalls anwesend ist Sopers Cousin Irwin Molyneux, ein biederer gutsituierter Botaniker, der sich scheinbar nur für seine fleischfressenden Mimosen interessiert. Wie sich jedoch schnell erweist, ist Molyneux niemand anderer als der Autor, der unter dem Pseudonym Chapel jene Romane verfasst. Das Einkommen daraus sichert ihm und seiner eingeweihten Frau ihren großbürgerlichen Lebensstil, denn seine halbsenile Erbtante hat offenbar vor, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Allerdings stellt sich noch später heraus, dass das mit der Autorschaft nicht ganz stimmt. Der sympathische junge Milchmann Billy stellt sich auffallend oft im Haus von Molyneux ein, weil er dessen hübscher Assistentin Eva schöne Augen macht. Bei der Gelegenheit unterhält er die Hausangestellten immer mit selbst erfundenen erschröcklichen Schauergeschichten, die über den Umweg Eva den eigentlich fantasielosen Molyneux inspirieren.

Ein Botaniker, ein Mörder und ein als Matrone verkleideter Polizist unter den Zuhörern
Soper nutzt die Begegnung mit Molyneux, um sich bei diesem selbst zum Essen einzuladen. Das kommt zum denkbar schlechtesten Moment, denn die Köchin und der Butler haben gerade im Streit den Haushalt verlassen. Um gegenüber dem öligen und blasierten Soper die Fassade aufrechtzuerhalten, kocht Molyneux' Frau Margaret heimlich selbst, und Irwin erzählt eine Räuberpistole von einem Besuch seiner Frau bei masernkranken Freunden. Dabei verwickelt er sich schnell in Ungereimtheiten, Soper wird misstrauisch und quittiert Molyneux' fadenscheinige Erklärungen mit einem mehrmals geäußerten "bizarre, bizarre". Die Szene ist so grandios gespielt, dass der englische Titel des Films BIZARRE, BIZARRE lautet. Als sich der überforderte Molyneux nächtens zu einem Treffen mit Margaret davonschleicht und von Soper dabei beobachtet wird, zieht der Bischof falsche Schlüsse: Er ist überzeugt, dass sein Cousin seine Frau vergiftet hat und nun die Flucht ergreift, und er informiert Scotland Yard. Der herbeigeeilte Chief Inspector Bray hat leider überhaupt keinen Durchblick. In Ermangelung des abwesenden Molyneux verhaftet er den zufällig vorbeigekommenen Billy - denn man weiß ja, dass Milch ein Gegenmittel für verschiedene Gifte ist, und wer soviel Milch vorbeibringt, muss ein Komplize des sinistren Molyneux sein! Unterdessen bemerkt Archibald Soper ein Missgeschick: Bei seinen detektivischen Bemühungen ist ihm ein Programmheft eines Varietés mit dem Bild einer leicht bekleideten Tänzerin abhanden gekommen, das eine persönliche Widmung dieser Dame für "ihren" Soper enthält. Wenn das Programm in die falschen Hände geriete, wäre der Bischof als scheinheiliger Patron entlarvt.

Billy erzählt Schauergeschichten
Molyneux und seine Frau sind inzwischen in Londons Chinatown untergetaucht, aber hier treibt sich auch William Kramps herum. Molyneux erhält in seiner Inkarnation als Chapel von seinem Verleger den telefonischen Auftrag, einen Artikel über den "Mordfall Molyneux" zu schreiben und dafür am Tatort zu recherchieren. Mit einem angeklebten falschen Bart getarnt macht er sich auf zu seinem eigenen Haus, mehr wegen seiner Mimosen als wegen des Artikels. Der "Fall" ist mittlerweile allgemeiner Gesprächsstoff. Schaulustige belagern das Haus, eine Bänkelsängerin trägt schon eine Moritat über Molyneux' bevorstehende Hinrichtung vor, und Eltern drohen ihren Kindern, dass sie von Molyneux geholt werden, wenn sie ihre Suppe nicht aufessen. Im Haus wimmelt es von Journalisten und Polizisten, aber der vertrottelte Chief Inspector merkt immer noch nichts. Er erzählt "Felix Chapel" noch, die Theorie, dass Mörder immer an den Ort der Tat zurückkehren, sei nichts als Unsinn, und zieht dann mit seinen Mannen ab. Unterdessen trifft Kramps auf die allein zurückgebliebene Margaret Molyneux. Der etwas übergeschnappte, aber eigentlich recht liebenswürdige Bauchaufschlitzer verliebt sich in sie, ohne zu ahnen, dass es sich einerseits um das vermeintliche Mordopfer und andererseits um die Frau des von ihm noch immer gesuchten "Felix Chapel" handelt. Doch dann liest er in der Zeitung eine Notiz, dass sich Chapel zu Ermittlungen im Haus Molyneux aufhält, und er macht sich dorthin auf, um ihn hinzumeucheln. Und noch jemand bricht zu Molyneux' Haus auf: Bischof Soper hat seiner sittenstrengen Frau Gemahlin den Verlust des kompromittierenden Programmhefts gebeichtet und wird nun von ihr abkommandiert, es unter allen Umständen wiederzubeschaffen, damit die Familienehre nicht befleckt werde. In einer absurden Verkleidung mit Sonnenbrille und schottischer Uniform schleicht er ins Haus, doch damit bringt er sich erst richtig in die Bredouille. Die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende versucht ein wütender Mob, das Haus zu stürmen und abwechselnd mal diesen und mal jenen der Anwesenden für seine Untaten zu lynchen ...

Showdown zwischen Kramps und "Chapel"
Marcel Carné war bekanntlich ein Hauptvertreter des "Poetischen Realismus", der den französischen Film der 30er Jahre dominierte. Neben dem fast schon mythischen Über-Film LES ENFANTS DU PARADIS (KINDER DES OLYMP) war es vor allem eine Serie von drei düster-fatalistischen Dramen, bei denen jeweils mindestens einer der Protagonisten am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt, die ihn in die Filmgeschichte eingehen ließen: LE QUAI DES BRUMES, HÔTEL DU NORD und LE JOUR SE LÈVE, die alle 1938/39 herauskamen. Da mag es erstaunen, dass es sich bei seinem 1937 erschienenen zweiten Spielfilm um eine ausgelassene, um nicht zu sagen durchgeknallte Farce handelt. Wie bei den obengenannten Filmen, abgesehen von HÔTEL DU NORD, und bei einigen Filmen Carnés nach dem zweiten Weltkrieg, stammt auch bei DRÔLE DE DRAME das Drehbuch von Jacques Prévert. Als Vorlage diente der Roman "His First Offense" des britischen Schriftstellers und Historikers J. Storer Clouston. DRÔLE DE DRAME vereint Elemente des Schwanks mit satirischer Schärfe, sprühendem Witz und etwas Frivolität (in einer Szene ist kurz Jean-Louis Barraults nackter Hintern zu sehen - in einem deutschen oder amerikanischen Film jener Zeit völlig undenkbar) zu einer schwarzhumorigen Groteske von hohem Tempo. Vor allem aber lebt der Film von seinen grandiosen Darstellern. Mit Michel Simon, Louis Jouvet und Jean-Louis Barrault kommt es zu einem Gipfeltreffen von gleich drei Legenden der französischen Theater- und Filmlandschaft, die nicht nur in dramatischen Rollen glänzen konnten, sondern die auch begnadete Komödianten waren, und auch die weiteren Rollen sind ausgezeichnet besetzt. Wer Filmen wie beispielsweise ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN etwas abgewinnen kann, wird auch diesen SONDERBAREN FALL genießen können.


DRÔLE DE DRAME ist in den USA, England und Frankreich auf DVD erschienen, jeweils mit engl. Untertiteln (auch in den ersteren beiden Fällen unter dem Originaltitel und nicht als BIZARRE, BIZARRE).

Archibald Soper als Schotte verkleidet

Donnerstag, 13. September 2012

Kleine Erklärung, die bestimmt zum Epos ausarten wird

Liebe Leserin, lieber Leser! Werte Freunde (so es euch gibt)!


Ihr werdet das kurze Schweigen von Whoknows/Zodiac bestimmt nicht vermisst haben, gibt es doch viele und wesentlich klügere Stimmen zum Thema „Film“ im virtuellen Raum. Speziell für meine Freunde (insbesondere für den, der sich via PN nach meinem Verbleib erkundigte) möchte ich aber doch den Grund für meine Abwesenheit erläutern:

Stellt euch vor, ihr leidet seit Wochen unter einer Lethargie, die sich später als unerklärlicher Abfall des Hämoglobins erweist! Ihr fragt euch, weshalb ihr euch einfach nicht an die Besprechung  eines versprochenen Buñuel machen könnt, obwohl ihr genau wisst, was ihr schreiben wollt – und kompensiert eure Müdigkeit mit dummen Sprüchen (@The Critic: Weisst du noch, wie du dich über meine Bemerkung, der Arzt habe mich mit einem „Hallo Leiche!“ begrüsst, geärgert hast?), die man im Nachhinein als Vorahnung interpretieren könnte.

Dann setzt an einem Sonntag die leichte Temperatur ein, begleitet von Gliederschmerzen und einem unangenehmen Husten. Ein Grund, zum Doktor zu gehen? Besonders jetzt, wo ihr eure Mutter am Mittwoch zum Friseur begleiten sollt (das alte Mädchen behauptet nämlich, es sei nicht in der Lage, den Bahnhofplatz allein zu überqueren). - Am Mittwoch steht ihr mit einem starken Schwindelgefühl auf. Nach dem dritten Versuch kommt ein heiseres „Du musst den Termin verschieben!“ raus. Splatti  ruft den Hausarzt an, und der will augenblicklich eine Ambulanz.

Noch im Ambulanzwagen stöhnt ihr, es wäre auch mit Taxi gegangen, und ihr jammert, jetzt gehe Mutti bestimmt nicht zum Friseur. Der Sanitäter beruhigt. – Auf der Notfallstation meint nach Stunden die Oberärztin, sie hätten im Blut Anzeichen einer kleinen Infektion entdeckt; und sie fragt: Was machen wir nun mit Ihnen, Herr Vögelin? Schicken wir Sie nach Hause, und Sie werden in zwei Tagen erneut eingeliefert? Oder behalten wir Sie für zwei Nächte hier? – Da Splatti mir mittlerweile am Handy mitgeteilt hat, sie habe den Sprung über den Bahnhofplatz doch gewagt und befinde sich mit neuem Haarschnitt bereits auf dem Heimweg, ist mir jetzt wurscht, was sie mit mir machen.

Ich werde in den 6. Stock verfrachtet, wo ich erst noch unter den  Fittichen des HIV-Spezialisten gesunden soll. Der denkt sich – wie er mir später erzählt - nach der Untersuchung, ich sei ein Fall für zwei Nächte. Dass ich ihm den Schock seines jungen Lebens verpassen werde, ahnt er noch nicht. - In meinem Zimmer befindet sich ein Herr aus dem Waldenburgertal, dessen öde Sprüche ich mit höflichem Lächeln über mich ergehen lasse. Ich höre mir an, wie viele Mieter er und seine Frau schon aus dem Haus vertrieben haben, in dem sie eine Eigentumswohnung (mit verglastem Balkon!) besitzen, nehme zur Kenntnis, dass der Spitalkoch keine Ahnung habe, wie  man für unter Zölliakie Leidende koche – und schwebe mit meinen Gedanken davon. Nach dem Essen kann ich mich wenigstens auf die Seite drehen und schlafe ein.

Mitten in der Nacht muss ich zur Toilette gehen.  Ich will aufstehen, huste zugleich – und falle aus dem Bett. Trotz aller Versuche gelingt es mir nicht, mich wieder halbwegs aufzurichten, und ich muss förmlich auf dem Arsch zur Türe hopsen, damit ich mich in den Korridor legen und auf eine Schwester hoffen kann. Irgendwann kommt tatsächlich eine vorbei und ruft: „Was ist denn mit Ihnen los, Herr Vögelin?“ Ich murmle etwas von Husten; aber sie fasst mir an die Stirn und meint, es sei das hohe Fieber. – Wer nicht nach einer Schwester läutete, sondern meine Versuche genussvoll beobachtete, war der Herr aus dem Waldenburgertal. Er wird dafür umgehend ein eigenes Zimmer verlangen, weil er es mit einem Schwerstkranken wie mir nicht aushält. Dafür bin ihm dankbar. Mit seinen öden Sprüchen im Hintergrund wäre ich nicht in der Lage gewesen, zu meiner Gesundung beizutragen. (Man steckte ihn in ein Viererzimmer.)

Ich weiss vieles von  dem, was folgte, nicht, oder habe nur bruchstückhafte  Erinnerungen. Man soll mich auf die onkologische Untersuchungsstation gebracht haben, ich konnte nur noch unter stärksten Schmerzen schlucken, und die Hälfte des Geschluckten kam wieder hoch. Der HIV-Spezialist (es gab später ein paar „intimere“ Gespräche, und ich lernte einen unglaublich lieben Menschen kennen, für den der Beruf Arzt nicht Titel und Karriere bedeutet) wollte Krebs bei meiner Vorgeschichte unbedingt ausschliessen. Ich wurde im Rollstuhl in die HNO-Abteilung gefahren (dies trotz meines Protests, dazu sei ich nicht in der Lage) und dachte auf dem holprigen Weg: „Jetzt fahren sie mich sogar im Rollstuhl zum Krematorium!“). Man verlieh mir eine Tapferkeitsmedaille bei der Knochenmarkentnahme, obwohl ich – naiv – dachte, die andere Seite würde ich nicht mehr aushalten. Die Schwester war entsetzt, weil ich nur die Hälfte des Kontrastmittels für die CT zu trinken vermochte, was aber dort unten cool zur Kenntnis genommen wurde – Zusätzlich verdonnerte man mich, als das Fieber langsam auf 39° Grad runterging, zum Inhalieren mit einer Wasserpfeife und Cortison. Mein HIV-Spezialist schaute vorbei und sagte, er wolle nun noch eine Lungenspiegelung machen, um jede Form von Krebs ausschliessen zu können. Dann würde ich nämlich unter etwas leiden, was sich bei einem nicht immungeschwächten Menschen als schwere bakterielle Bronchitis äussere, bei mir – vermutlich ohne es zu wollen – tödlich hätte  verlaufen können. Ich fragte nach dem Namen des Bakteriums, weil ich wenigstens via Internet mit ihm abrechnen wollte. Er meinte, wir würden seinen Namen wohl nie erfahren, weil ich es schon  vor Wochen eingeatmet hätte und es nach getaner Arbeit wieder entschwunden sei. Zurückgeblieben war ein Körper,  bereit für die schwere Entzündung.

Nach der Lungenspiegelung (völlig abwesend) fragte mich die Schwester, die am Morgen meinen Blutdruck (75/35) zu überwachen hatte, ob ich hungrig sei. Erstaunlicherweise  war ich es, musste aber vorher ein Stündchen ruhen. Dann kam sie mit dem Tablett herein und meinte entschuldigend, es sei eben das Eintrittsmenu. Ich sah Kalbsgeschnetzeltes und schmale Nudeln, zwei gedämpfte Tomatenhälften und Karotten in Ringen. Zum Dessert ein Schoko-Flan. – Und ich frass und frass, soff literweise Wasser (obwohl ich wegen meiner Austrocknung doch intravenös mit  genügend Flüssigkeit versorgt wurde). Die Schwester soll (kleine  Indiskretion einer Kollegin!) beinahe hysterisch in der  Gegend herumgerannt sein und gerufen haben: „Er hat alles aufgegessen! Er hat alles aufgegessen!“ – Ich begann unsere Spitalküche zu würdigen und bekam am Sonntag Hirschragout mit Spätzli und Rosenkohl in einer Qualität vorgesetzt, für  die man sonst in eine Nobel-Spelunke gehen müsste.

Dass ich langsam lernen musste, wie das Gehirn die richtigen Befehle an die Beine weiterleitet, versteht sich. Am Anfang lief ich rum wie ein besoffener Donald Duck; als ich gestern nach meiner Entlassung unbedingt die verordneten Medikamente im Städtchen Liestal holen wollte, schaffte ich schon John Wayne in „Rio Bravo“. Und jetzt sitze ich vor meinem Laptop und schreibe den Bericht, den ich im Blog  und bei filmforen.de (dort im Off-Topic) veröffentlichen möchte.

Ihr werdet verstehen, dass ich mit noch immer bescheidenen Hämoglobin-Werten, aber hoffentlich rasch ansteigenden CD4-Helferlein noch nicht in der Lage bin, über Filme zu schreiben, sondern mich zuerst mal ein wenig erholen muss. Erholen heisst jetzt insbesondere: Ich werde mir abends gemütlich einen Film reinziehen. Unter anderem wurde extra für Mutti „Ferris Bueller’s Day Off“ bestellt, weil mich der junge Matthew Broderick an meinen HIV-Spezialisten erinnert, der sich grün und blau ärgerte, wenn ich ihn neckisch als „Koryphäe“ bezeichnete. --- Ich verspreche aber (dies @Bastro/mono.micha): Der erste Film, den ich hier wieder bespreche, wird „Los olvidados“ sein. Gelobte ich sogar in der Spitalkapelle, die ich – wie bei mir in religiösen Dingen üblich – am Montag mit einem Tag Verspätung besuchte.  Und sollte Gott zufällig gerade anwesend gewesen sein, dürfte ihn  mein „Danke!“-Flennen definitiv vertrieben haben.

Euer
Whoknows, Zodiac, Bruno Vögelin

13.9.2012

Sonntag, 9. September 2012

Die Schuld(en) der Vergangenheit

ÉLISA
Frankreich 1995
Regie: Jean Becker
Darsteller: Vanessa Paradis (Marie), Clotilde Courau (Solange), Sekkou Sall (Ahmed), Gérard Depardieu (Jacques Desmoulin / Jacques Lébovitch / „Lébo“), Philippe Léotard (fumeur de Gitanes), Florence Thomassin (Élisa)

Es beginnt mit der Ermordung eines kleinen Mädchens und einem anschließenden Selbstmord. Eine Wohnung geht in Flammen auf. Zur Weihnachtszeit. Der allein erziehenden Mutter gelingt der Selbstmord, ihre Tochter hat sie jedoch nur in eine Ohnmacht erstickt. Die kleine Marie kommt in ein Waisenheim. Von da an folgt die schiefe Bahn.

Zusammen mit ihrer besten Freundin Solange und dem Straßenjungen Ahmed macht Marie Paris unsicher. Dabei geht es ihr nicht nur darum, sich mit kleinen Diebstählen und Betrügereien über Wasser zu halten. Vielmehr will Marie sich an ihrer Umwelt für ihr Schicksal rächen und ihr die Maske heiler Glückseligkeit entreissen, damit nicht nur „immer dieselben glücklich sind“. Am deutlichsten wird dies, als sie mit ihren Kumpanen eine Hochzeit stört. In einem geklauten Ballkleid getarnt schnappt sie bei kleinen Tratsch-Grüppchen ein bisschen Gossip auf: das Kleid der Braut sei angesichts der ihrer kleinen Brüste unpassend, der Onkel der Braut vögelt gerne mit der Bediensteten fremd u.ä. Lächelnd greift Marie zum Bühnenmikro und gibt die Zitate mit entsprechender Zuordnung der Urheber vom besten.

Wissen! Wissen über ihre Mitmenschen und ihre Angewohnheiten und ihre Gelüste macht Marie scheinbar stark. Die reichen, beleibten und notgeilen Geschäftsmänner, die sie verführt, breiten ihren Beruf, ihre Familie, ihr Leben vor ihr aus. Marie weiß, wie sie ticken. Sie erpresst und demütigt die Eklinge dann, nachdem sie sich als minderjährig outet. Doch gerade über sich selbst, über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit, weiss das vor allem äußerlich harte Mädchen kaum etwas. So begibt sie sich zwischen Kleindiebstählen und Erpressung auf Erinnerungssuche.

Ihr Vater, Jacques Desmoulin, war scheinbar nicht nur Barpianist. Er war auch wegen diverser Delikte, darunter Zuhälterei, vorbestraft. Seine Ehefrau Élisa hat er — unfähig, einen Lebensunterhalt zu verdienen — wohl zur Prostitution gezwungen und sie und die Tochter im kritischen Moment sitzen lassen. Für Marie scheint die Schuld des Vaters an der verzweifelten Lage ihrer Mutter, und letztlich an ihrem Selbstmord, erwiesen. Eine Postkarte mit einem Hafendorf-Motiv und eine darauf notierte Klaviermelodie — die letzte Lebensspur des Jacques Desmoulin — verraten den wahrscheinlichen Aufenthaltsort ihres Erzeugers. Mit einer Pistole ausgerüstet sucht die junge Frau ihn auf, wild entschlossen, sich an ihm zu rächen.

„Élisa“ von Jean Becker — der sich im Schatten seines Vaters Jacques selbst einen Vornamen erarbeiten musste — ist bei genauer Betrachtung eigentlich kein besonders guter Film. Denn eigentlich ist das Drehbuch trotz Realismus-Anspruch hanebüchen, voller Logiklöcher und an den Haaren herbeigezogen. Der aufmerksame Zuschauer merkt auch, dass sich eigentlich ziemlich viele Klischees in den Film eingeschlichen haben. Trotz einiger lustiger Momente gefällt sich „Élisa“ eigentlich zu oft in überemotionalen, melodramatisch-pathetischen Szenen. Bei der mittlerweile fünften oder sechsten Sichtung kann man auch schnell den Überblick darüber verlieren, was an welcher Stelle eigentlich vorhersehbar war. Die Figurenzeichnung gibt sich eigentlich tiefer, als sie tatsächlich ist: Maries individuelle Vergangenheitsbewältigung ist eigentlich nichts anderes als ein dünn aufgetragener, zerstörerischer Vaterkomplex. Und das ganze auch noch auf 110 Minuten ausgedehnt?

On s‘en fout! „Élisa“ ist trotz all dem ein wunderbarer Film, was nicht zuletzt am Charisma der Hauptdarsteller Vanessa Paradis und Gérard Depardieu liegt. Von „Darstellung“ kann hier kaum die Rede sein, da beide — besonders aber Depardieu — jenseits einer solch banalen Kategorie wirken. Vanessa Paradis, in ihrem bürgerlichen Leben vor allem als Sängerin zweitklassiger und charts-stürmender Pop-Ballädchen bekannt, verkörpert auf wunderbare, überzeugende und glaubhafte Weise diese eigenartige Mischung aus abgebrühtem Nihilismus, Verletzlichkeit und street smarts der Marie. Da wir fast den kompletten Film aus ihrer Perspektive der Dinge folgen, stellt sich schnell eine große Empathie für sie ein, auch wenn man die Figur wohl im wahren Leben selbst nicht unbedingt kennen lernen möchte.
Im zweiten Teil kommt Depardieus großer Auftritt als Desmoulin, geborener Jacques Lébovitch: Holocaust-Überlebender, Pianist, Komponist, genialer Künstler, der durch seine absolute Weltentfremdung seine geliebte Frau Élisa — wohlgemerkt unfreiwillig! — ins Verderben gebracht hat. Im Film sehen wir ihn als das, was von ihm an Fragmenten übrig geblieben ist: ein am Boden zerstörter Mann, ein menschliches Wrack, ein cholerischer Alkoholiker, der sich in einem verlassenen Dorf als Fischer verdingt. Seine pianistischen Fähigkeiten verschwendet „Lébo“ bei der Wochenend-Dorfdisco als Begleiter für eine drittklassige Retro-Band, wenn er nicht gerade in der Dorfkneipe eine Schlägerei anzettelt und sich später auf der Straße übergibt. Mit anderen Worten: eine wahrlich ungnädige Rolle, die Depardieu dank seinen 150 Kilo Charisma mit tiefster Menschlichkeit auszufüllen vermag. Wenige Minuten nach seinem ersten Auftritt, den Marie voller Ekel mit beobachtet, beginnt „Lébo“ einen jugendlichen Kneipengänger anzupöbeln. Unter anderem sagt er ihm: „Pour jouer les déséspérés, il faut du talent.“ Eine überaus treffende Meta-Aussage über die Rolle Depardieus im Film.
Élisa, das berühmte Lied Serge Gainsbourgs, wird zwischendurch in impressionistischen Variationen gespielt, bildet jedoch als Original am Anfang und am Schluss einen drastischen, fast schockierenden Kontrapunkt zu den Bildern des Films. Der Widmungsträger selbst, dessen Lebensgeschichte zum Teil inspirierend auf die Figur des „Lébo“ gewirkt hat, hat als Gitanes-rauchender Pianist in der Verkörperung Philippe Léotards einen „Cameo-Auftritt“.

In Deutschland ist „Élisa“ nicht auf DVD erhältlich. Ab und zu wird der Film auf „TV5 Monde“ ausgestrahlt. Wer nicht warten will, kann je nach Grad der Französisch-Kenntnisse auf die französische Fassung (ohne Untertitel) oder auf die britische Fassung (mit englischen Untertiteln) zurückgreifen.

Montag, 3. September 2012

Bene, bene! - oder: Unsere liebe Frau Salome

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN (NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI)
Italien 1968
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene (der Mann), Lydia Mancinelli (Margherita), Salvatore Siniscalchi (Verleger), Ornella Ferrari u.a.

SALOMÉ (man findet auch die Schreibweise SALOMÈ, was der italienischen Form des Namens entspricht, aber in den Credits steht der Titel mit É)
Italien 1972
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene (Herodes Antipas/Honorius), Donyale Luna (Salome), Lydia Mancinelli (Herodias), Alfiero Vincenti (Herodias), Veruschka (Myrrhina), Piero Vida (Narraboth), Giovanni Davoli (Jochanaan), Franco Leo (Jesus/Vampir) u.a.

Carmelo Bene in HERMITAGE (1968)
Carmelo Pompilio Realino Antonio Bene. Wer so heißt - und er hieß wirklich so -, aus dem muss ja etwas Besonderes werden. Carmelo Bene (1937-2002) war ein italienischer Theaterregisseur und -schauspieler, der in einem begrenzten Zeitraum - von 1967 bis 1973 - einige sehr eigenwillige avantgardistische Filme drehte, als Autor, Regisseur, unabhängiger Produzent und Hauptdarsteller in Personalunion. Nur gelegentlich hatte er als Schauspieler Gastauftritte in Filmen anderer Regisseure; am bekanntesten davon ist Pasolinis EDIPO RE, in dem er Kreon spielte. In seiner ersten Schaffensperiode am Theater von 1959 bis 1967 trat Bene, von Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" beeinflusst, mit grellen, provokanten und teilweise skandalumwitterten Inszenierungen hervor (im 1963 in einem Kellertheater in Rom aufgeführten Stück "Christus 63" pinkelte der Apostel Johannes auf offener Bühne, was ein juristisches Nachspiel hatte und zur Schließung des Theaters führte).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - ein bandagierter und lädierter Protagonist
Viele Künstlerkollegen und Intellektuelle waren von Bene und seiner Truppe begeistert, aber das breite Publikum blieb fern, und die professionellen Kritiker verrissen die Aufführungen regelmäßig, sofern sie überhaupt Notiz davon nahmen. Benes vorübergehender Umstieg zum Film war nicht zuletzt der erfolgreiche Versuch, diese Situation der Isolation und Mißachtung zu überwinden. Nach seiner Rückkehr zum Theater 1973 gab es keine Kinofilme mehr, aber immerhin einige Fernsehfassungen seiner Bühneninszenierungen. Benes Theater- und Filmarbeit war eng miteinander verquickt. Die Stoffe, die den Filmen zugrunde lagen, brachte er vorher oder nachher auch auf die Bühne, manche mehrfach, und zu UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN gibt es auch einen gleichnamigen Roman von Bene.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - der Protagonist und seine Heilige
Im Filmgeschäft war Bene Autodidakt; technische Anleitung und Unterstützung boten der Kameramann Mario Masini und der Cutter Mauro Contini, die regelmäßig, auch bei den beiden hier besprochenen Filmen, für ihn arbeiteten. Nach drei Kurzfilmen von 1967/68 war UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN der erste Langfilm (der Begriff "Spielfilm" passt nicht so recht). Ausgangs- und Angelpunkt ist ein halb historisches, halb mythisches Ereignis vor 500 Jahren: 1480 eroberten die Osmanen die Hafenstadt Otranto in Apulien (die nicht weit von Benes Geburtsort, einer Kleinstadt in der Provinz Lecce, entfernt ist). Nur wenige Monate später wurden die Türken von einem christlichen Heer wieder hinausgeworfen. Soweit die Tatsachen. Eine Überlieferung besagt nun, dass 1480 die 800 überlebenden männlichen Verteidiger von Otranto vor die Wahl gestellt wurden, zum Islam überzulaufen oder zu sterben, dass sie sich alle verweigert hätten und deshalb geköpft wurden. Im Dom von Otranto gibt es in einem Seitenschiff eine Kapelle, in der in marmornen Schreinen die Gebeine von 270 dieser echten oder angeblichen Märtyrer aufbewahrt werden (die anderen wurden nach Neapel und an andere Orte gebracht). Die Mehrheit der Historiker verweist diese Geschichte ins Reich der Legende, die Männer seien vielmehr im Kampf gefallen (worauf Kampfspuren an den Knochen hinweisen).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - im Dom von Otranto
Bene spielt nun einen jener 800 Märtyrer (die im Film tatsächlich welche waren), der auf wundersame Weise der Hinrichtung entging, der auf ebenso wunderbare Weise die Zeiten überdauert hat (bei beidem spielt die übergroße Liebe des Mannes zu einer Frau eine Rolle), und in der Gegenwart angelangt ist. Oder Bene spielt einen Mann, der sich das alles einbildet - so klar ist das nicht. Nach einer Exposition, die die Vorgeschichte auf poetische Weise umreißt, tritt der Protagonist mitten unter den Knochen im Beinhaus hervor und eröffnet auf ziemlich wüste Weise die Handlung. Die unermessliche Liebe zur besagten Frau hat sich durch die Jahrhunderte erhalten; als aktuelle Projektionsfläche dafür dient dem Mann Margherita, eine Heilige mit dem Erscheinungsbild einer Madonna. Auch der Drang, sich zu opfern, zu einem Märtyrer zu werden, ist noch vorhanden. So stürzt sich der Mann in einige selbstzerstörerische Aktionen, und immer wieder tritt Bene bandagiert in Erscheinung oder macht einen sonstwie lädierten Eindruck, gelegentlich ist er auch verschnürt wie in einer Zwangsjacke. Am Ende hat die heilige Margherita (die auch über einige sehr weltliche Eigenschaften verfügt) genug von seinen Attitüden und weist ihn brüsk zurück, woraufhin er an ihrem Altar im Dom von Otranto (wohin der Film mehrfach zurückkehrt) sein Leben aushaucht.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN
Das alles spielt sich in diversen längeren Episoden ab, die in und um Otranto angesiedelt sind, die aber sonst kaum irgendeine äußere Gemeinsamkeit aufweisen. Zusammengehalten werden sie vom "Geist" des Films, aber gemeinsame Handlungsfäden sind kaum vorhanden, und auch die Erscheinung des Protagonisten ist größeren Veränderungen unterworfen. Die einzelnen Sequenzen für sich sind jeweils mehr oder weniger surreale, stark symbolbeladene und assoziationsreiche Mini-Handlungen von großem visuellem Einfallsreichtum. Die Szenen atmen teilweise einen tragischen bis melodramatischen Geist, teilweise kippen sie auch ins grotesk-komische und schrecken vor Slapstick nicht zurück (an einigen Stellen hat mich Bene doch tatsächlich an Mr. Bean erinnert). Der Film ist auch deshalb schon sehr schön anzuschauen, weil er über ausgesprochen leuchtkräftige und kontrastreiche Farben verfügt, was durch die Verwendung von Farbumkehrfilm (Kodak Ektachrome) erzielt wurde. Obwohl der Film aus Kostengründen nur auf 16mm gedreht und nachträglich auf 35mm aufgeblasen wurde, sieht das schon auf DVD sehr gut aus (und im Kino mit einer guten Kopie vermutlich noch viel besser).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - Bene als bärtiger Mönch und in weiteren Inkarnationen
Der unkonventionelle (weil oft asynchrone) Soundtrack besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Arien von Opern des 19. Jahrhunderts, aber auch ein Zitat der Filmmusik von LAWRENCE VON ARABIEN, das "Harry Lime Theme" aus DER DRITTE MANN und weitere Einlagen kommen vor, und Jacques Brel singt "Bruxelles". Es gibt auch immer wieder ein von Bene selbst gesprochenes Voice-over, das sich meist in der dritten Person über den Protagonisten äußert. Alle Szenen kreisen eng um ihn und damit um Bene, der einen expressiven, aktionistischen und körperbetonten Schauspielstil pflegt. In gewissem Sinn ist UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN auch ein Film über den Schauspieler Bene, aber weniger über die Person, sondern vielmehr über den Körper des Schauspielers. Dennoch, Lydia Mancinelli, die nicht nur die weibliche Hauptrolle spielt, sondern auch ca. 20 Jahre lang Benes Lebenspartnerin war, bestätigt in einem Interview, das im Booklet der DVD abgedruckt ist, auch das Vorhandensein gewisser autobiographischer Bezüge. Wie auch schon im Kurzfilm HERMITAGE von 1968, der etwas wie eine Vorübung zu UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN wirkt, hinterlässt Bene einen ziemlich narzisstischen Eindruck.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN
Ich schrieb oben, dass die einzelnen Episoden durch den "Geist" des Films zusammengehalten werden, aber worin besteht dieser Geist eigentlich? Ich hatte und habe erhebliche Schwierigkeiten, das zu erkennen. Bene war philosophisch und kunsthistorisch sehr bewandert und interessiert. Auf der DVD befindet sich als Bonus ein Fernsehinterview, das eigentlich ein 50-minütiger Monolog ist, in dem Bene über sein Werk und seine Vorstellungen im allgemeinen und UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN im besonderen doziert. Dabei springt er fast erratisch von einem Künstler oder Denker als Referenzpunkt zum nächsten (mehrfach werden beispielsweise die Namen Schopenhauer, Nietzsche und Deleuze genannt - mit Gilles Deleuze war Bene auch befreundet), und am Ende konnte ich diesem Redeschwall recht wenig sinnvolle Information entnehmen. Und ähnlich erging es mir mit UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN selbst - was will mir Bene damit eigentlich sagen? Einige Anhaltspunkte gab er selbst doch. Im oben erwähnten Monolog sagt er, der Film sei gegen die 68er gerichtet - davon ist mir beim Ansehen nichts aufgefallen, und auch im Nachhinein weiß ich nicht, worin sich das äußern sollte. Im Booklet gibt es weitere Hinweise, die zugleich zeigen, dass ich nicht der einzige bin, der gewisse Verständnisschwierigkeiten hat. In der engl. Übersetzung heißt es da: "I have always been clumsily misunderstood. [...] OUR LADY OF THE TURKS was not understood. Neither the fact that it was a great epic poem on the "saints of the southern-most point of the South of Italy" nor its cinematographic language were grasped and, indeed, like my novel of the same name, nothing was understood of the fact that it was a parody of the interior life."

SALOMÉ - die Titelfigur
Dass sich süditalienische Eigenheiten wie übertriebener Heiligen- und Wunderglaube durch den Film ziehen, ist offensichtlich, aber das scheint mir ein eher oberflächlicher Aspekt zu sein. Der letzte Punkt ist wohl ergiebiger. Das Voice-over lässt sich zumindest phasenweise auch als innerer Monolog verstehen, um nicht zu sagen als stream of consciousness (James Joyce wird im 50-minütigen Monolog auch erwähnt), und die Bedeutung der Bilder kann man sich wohl entsprechend zurechtinterpretieren. Trotzdem, so ganz hat mich auch das nicht überzeugt. Aber vielleicht sollte man sich am besten der wilden Schönheit der einzelnen Szenen hingeben, ohne zu versuchen, daraus irgendeinen tieferen Sinn zu extrahieren. Das Problem dabei ist jedoch, dass mir der Film mit 124 Minuten für diesen Sichtungsmodus zu lang ist. So ganz ohne roten Faden wird es nach spätestens eineinhalb Stunden für mich doch etwas ermüdend. Ohnehin sind mir einzelne Szenen für sich genommen schon etwas zu lang geraten, vor allem eine, in der Bene gleich zwei Rollen übernimmt, einen bärtigen Mönch und seinen Adepten. Eine faszinierend wüste Performance, aber mit fast 20 Minuten dann doch etwas des Guten zuviel. So bleibt ein nicht ganz ungetrübtes Fazit. Wer auf narrative Stringenz Wert legt, ist bei Bene völlig fehl am Platze, aber wer auch experimentelle Filme goutiert, findet hier ein faszinierendes Werk mit gewissen Längen. UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN gewann 1968 bei den Filmfestspielen in Venedig den Spezialpreis der Jury (geteilt mit einem Film von Robert Lapoujade). Lydia Mancinelli behauptet im erwähnten Interview sogar, dass sich die Jury einstimmig darauf geeinigt habe, Bene den Goldenen Löwen zuzuerkennen. Die Jury sei aber gezwungen worden, den Preis stattdessen Alexander Kluge für DIE ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS zu verleihen. Wie glaubwürdig diese Behauptung ist, kann ich nicht beurteilen.

SALOMÉ - Herodes Antipas
SALOMÉ ist leichter verdaulich als UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN. Er ist noch delirierender und visuell berauschender, aber mit 73 Minuten (auf DVD) deutlich kürzer, und er folgt einem bekannten Handlungsgerüst: Es handelt sich um eine freie Interpretation von Oscar Wildes gleichnamigem kurzem Drama, das wiederum auf einem biblischen Stoff aus dem Matthäus- und dem Markus-Evangelium beruht, der mehrere literarische Bearbeitungen erfuhr. Für die nicht ganz bibelfesten (und Wilde-festen) Leser sei der Stoff kurz rekapituliert. Johannes der Täufer (bei Wilde heißt er Jochanaan) sitzt im Kerker, weil er das Herrscherpaar Herodes Antipas und Herodias wegen ihrer Ehe öffentlich scharf kritisiert hat: Die beiden waren nah miteinander verwandt, sie sind bereits verheiratet gewesen und haben sich vom jeweiligen ersten Partner scheiden lassen, und durch diese ersten Ehen waren sie auch bereits Schwager und Schwägerin, was zusammengenommen doch etwas skandalös war. Herodias will den aufmüpfigen Propheten am liebsten sofort tot sehen, aber Herodes zögert, weil er den Zorn des Volkes fürchtet, und weil der Inhaftierte ja vielleicht wirklich ein heiliger Mann sein könnte.

SALOMÉ - Ausschweifungen
Da betritt Herodias' Tochter aus ihrer ersten Ehe die Szene (in der Bibel ist sie noch namenlos, den Namen Salome bekam sie von der Überlieferung erst Jahrhunderte später zugewiesen). Herodes hat ein Auge auf seine schöne junge Stieftochter geworfen, und er bittet sie, den "Tanz der sieben Schleier" (so etwas wie ein Striptease, aber nur bei Wilde - in den Evangelien geht es züchtiger zu) für ihn zu tanzen. Salome stimmt erst zu, als ihr Herodes die Erfüllung einer beliebigen Bitte gewährt. Nach Absolvierung ihres Schleiertanzes fordert sie den Kopf von Johannes/Jochanaan (in der Bibel auf Herodias' Einflüsterung hin, bei Wilde mehr aus eigenem, erotisch-morbidem Antrieb, weil Jochanaan zuvor ihre Avancen schroff zurückgewiesen hat). Herodes ist schockiert und will sie umstimmen, aber Salome bleibt standhaft. So wird der Prophet also enthauptet und sein Kopf auf einem silbernen Tablett präsentiert. Der Rest steht nicht mehr in der Bibel, nur bei Wilde: Salome küsst den Toten auf den Mund, was der Lebende zuvor verweigert hatte. Herodes ist so angewidert von seiner Stieftochter, dass er sie von den Palastwachen töten lässt. Über dem ganzen Geschehen stand von Anfang an der nächtliche Mond als Symbol des Unheils.

SALOMÉ - die verdoppelte Herodias (l.o.) und Jochanaan im Dress eines
italienischen Fußballers; bei Bene geht ein Kamel locker durch ein Nadelöhr

Zwar sind die Bilder des Films nicht immer ohne weiteres mit der oben skizzierten Handlung in Einklang zu bringen, und es gibt sogar Einschübe, die eigentlich nichts damit zu tun haben, wie das letzte Abendmahl und ein Jesus mit Vampirzähnen, sowie einen kurzen Abstecher zu Wildes unvollendetem Dramenfragment "La Sainte Courtisane", zu dem die Charaktere Honorius und Myrrhina gehören, aber zumindest im gesprochenen Text - meist mehr Monolog als Dialog, dafür aber oft mehrfach überlagert und sich überlappend - hält sich der Film weitgehend an den Kern der Handlung, wie er von Wildes Stück vorgegeben ist. So gibt es genug Anhaltspunkte für eine wenigstens grobe Einordnung der Szenen und eine Interpretation der Bilder. Aber auch wenn man der Handlung nicht folgen kann oder will, ist das kein großer Schaden - diesen Film kann man auch bedenkenlos genießen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was da eigentlich abläuft. Denn der geradezu abenteuerliche Rausch an Bildern, Farben und Tönen ist einfach unfassbar und lässt sich nicht in Worte kleiden. Es ist eine atemlose tour de force, eine nicht endende Kette an Extravaganzen, an schwülen und schwülstigen Ausschweifungen. Es beginnt mit der Verdoppelung von Herodias in einen männlichen und einen weiblichen Part (ersterer mit eindrucksvollem Turban und Schnauzbart) und hört mit einem Mann, der sich selbst ans Kreuz nageln will, beim zweiten Arm aber passen muss, noch lange nicht auf. Die Farben sind teilweise unglaublich kräftig (ich vermute, dass wieder Farbumkehrfilm verwendet wurde, weiß es aber nicht sicher), der Soundtrack wüst und erhaben. Man muss das einfach gesehen und gehört haben. Ein unglaublicher Film!

SALOMÉ - das letzte Abendmahl und ein Vampir-Jesus
Bene spielt seine Rolle wiederum äußerst exaltiert. Neben Lydia Mancinelli und weiteren Darstellern aus Benes Dunstkreis sind mit Donyale Luna und Veruschka diesmal auch zwei "externe Kräfte" dabei. Veruschka (vollständiger Veruschka von Lehndorff, noch vollständiger Vera Gottliebe Anna Gräfin von Lehndorff) war eines der Supermodels der 60er und frühen 70er Jahre. Von ihren gelegentlichen Filmauftritten ist sicher der in Antonionis BLOWUP am bekanntesten. In SALOMÉ hat sie nur einen kurzen, wenn auch spektakulären Auftritt - wegen ihr muss man den Film jedenfalls nicht ansehen. Die Amerikanerin Donyale Luna (geboren als Peggy Ann Freeman) dagegen ist eine echte Attraktion. Auch sie war ein angesagtes Model, als eine der ersten Farbigen, die in diesem Beruf an die Spitze kamen, und sie hatte Auftritte in Filmen von Regisseuren wie Andy Warhol, Otto Preminger und in Fellinis SATYRICON. 1979 starb sie an einer Überdosis Drogen. Mit ihrem glattrasierten Kopf, den Mandelaugen und ihrem mageren Körper ist sie eine ätherische Erscheinung. Meist wirkt sie fast wie eine unschuldige Kindfrau, aber in einer grandiosen Sequenz am Schluss des Films erscheint sie wie eine Spinne, die Herodes bei lebendigem Leib die Haut abzieht. - Man hat Carmelo Bene mit manch anderem Regisseur verglichen, von Kenneth Anger bis Derek Jarman und Peter Greenaway, und man könnte weitere Referenzen hinzufügen. Aber mit solchen Vergleichen bekommt man ihn höchstens am Rande zu fassen. Auf seine Art war Bene wohl einzigartig.

SALOMÉ - Veruschka
UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN ist in Italien auf einem 2-DVD-Set erschienen, mit engl. Untertiteln. Ein Teil des Bonus-Materials, darunter der erwähnte 50-minütige Monolog von Bene, ist ebenfalls untertitelt, und das informative Booklet ist zweisprachig (ca. 25 engl. Seiten). SALOMÉ ist ebenfalls in Italien auf DVD erschienen, ohne fremdsprachige Untertitel und ohne Bonusmaterial (es gibt aber engl. Untertitel auf einschlägigen Internetseiten zum Download). Der Film soll eine Kino-Laufzeit von 80 Minuten haben. Wenn das stimmt, fehlen auf der DVD ca. 3 Minuten.

PS: Benes Tochter heißt übrigens Salomè.

SALOMÉ

Samstag, 25. August 2012

Machte sich Kleist über Goebbels lustig?

Der zerbrochene Krug
(Der zerbrochene Krug, Deutschland 1937)

Regie: Gustav Ucicky
Darsteller: Emil Jannings, Friedrich Kayssler, Max Gülstorff, Lina Carstens, Angela Salloker, Bruno Hübner, Paul Dahlke, Elisabeth Flickenschildt u.a

Die deutsche Literatur vermag nicht mit vielen Lustspielen aufzuwarten, von denen man mit Fug und Recht behaupten darf, sie seien völlig auf ihrem eigenen Mist gewachsen. Im 17. Jahrhundert setzten Wanderbühnen und Autoren wie Andreas Gryphius auf Shakespeare-Grobianismus, während man anschliessend bis tief ins 18. Jahrhundert hinein - Molière folgend - die lustige Figur als Typus in den Vordergrund rückte. Spätestens der "Sturm und Drang" begann dann zu erkennen, dass die Tragödie dem Deutschen wohl angemessener sei als das Lustspiel. - Es bleiben, sieht man von Goethes weitgehend vergessenem "Die Mitschuldigen" einmal ab, deshalb bis ins 20. Jahrhundert hinein nur drei Lustspiele aus deutscher Feder, die es zu Ruhm über die Grenzen hinaus brachten und noch heute gespielt werden: G.E. Lessings "Minna von Barnhelm" (1767), Heinrich von Kleists "Der zerbrochene Krug" (1806) und Gerhart Hauptmanns "Der Biberpelz" (1893). Eine traurige Bilanz, wenn man an das Wiener Volkstheater denkt, das Lacher über Lacher hervorrief!

Es war abzusehen, dass sich der Film des Dritten Reiches dieser drei „genuin deutscher“ Stücke annehmen würde, wollte man doch dem Publikum nicht nur eher belanglose Komödien servieren, sondern ihm auch vorgaukeln, wie humorvoll die Seele der deutschen Dichter seit jeher war. So drehte der Vielfilmer Jürgen von Alten 1937 seine – recht unbedeutende - Version von Hauptmanns „Biberpelz“ mit Ida Wüst in der Rolle der Mutter Wolff, und 1940 erblühte Käthe Gold zum etwas langweiligen „Fräulein von Barnhelm“ unter der Regie von Hans Schweikart (man fragt sich, ob wohl auf den Originaltitel des Stücks verzichtet wurde, um nicht übermässig auf den Autor hinzuweisen, der in seinem „Nathan“ einen Juden zur vorbildlichen Figur gemacht hatte). – Mit Kleists Lustspiel tat man sich jedoch wesentlich schwerer: Einerseits wurde der Dichter, dessen Werke sich leicht ideologisch instrumentalisieren lassen, von den Nationalsozialisten regelrecht vereinnahmt. Das Käthchen von Heilbronn erhob sich augenblicklich zum nationalsozialistischen Weiblichkeitsideal, während die heute ungeniessbare „Hermannsschlacht“ mit ihrem Hohelied der Vernichtung bestens ins Kampfkonzept des Führers passte. Leni Riefenstahl zeigte sich ob einer Freilichtaufführung der „Penthesilea“ sogar derart begeistert, dass sie sich augenblicklich zu einem Film inspiriert fühlte, in dem sie selber als Amazonen-Königin ihren Geliebten zu Tode beissen und auffressen wollte (ein Projekt, das nie zustande kam). Bei so vielen Möglichkeiten, mit dem Werk des Dichters Missbrauch zu betreiben, blieb sogar dem Germanisten Joseph Goebbels nur noch der begeisterte Ausruf: „Was für ein Kerl ist doch dieser Kleist gewesen!“ – und eine Abituraufgabe im Jahre 1944 beschäftigte sich mit der Frage, ob Kleist auch Selbstmord begangen hätte, wenn er SS-Offizier gewesen wäre.


Andererseits hatte Heinrich von Kleist die Unverschämtheit besessen, die Hauptfigur des „Zerbrochenen Krugs“ mit einem Klumpfuss auszustatten. Diese Hauptfigur, Richter Adam, war zwar ein Schuft, aber, da er die Leute zum Schmunzeln brachte, ein wesentlich sympathischerer Schuft als der Propagandaminister mit Klumpfuss, der sich gelegentlich so aufführte, als hätte sich Kleist in seinem grossen Lustspiel – was zwar vom zeitlichen Ablauf her schwer nachzuvollziehen ist - über ihn lustig machen wollen. - Entsprechend pikiert reagierte Goebbels, als ausgerechnet Emil Jannings mit dem Wunsch an ihn herantrat, eine Filmversion des „Zerbrochenen Krugs“ mit sich selber in der Hauptrolle verwirklichen zu dürfen. Denn Jannings war nicht nur eine Diva, er war auch der einstige grosse Star des internationalen Films, der den ersten Oscar als Schauspieler gewonnen hatte und nach seiner Rückkehr in Deutschland wegen seiner Erfolge weitestgehend künstlerische Freiheiten genoss. Und es war schwer, dem Mann, der sich erst noch die Nähe nationalsozialistischer Machtinhaber gesichert hatte (er sollte 1941 die Verantwortung für den Propagandastreifen „Ohm Krüger“ übernehmen), die Bitte abzuschlagen, einen seiner grossen Bühnenerfolge auch dem Kinopublikum präsentieren zu dürfen, damit es sich über den Klumpfuss totlachen konnte. Der Propagandaminister schrieb denn auch nur in sein Tagebuch: „Jannings will ‚Zerbrochenen Krug‘ verfilmen. Mit Kleistscher Sprache. Ein sehr gewagtes Experiment.“ 

Sollte Goebbels, wie Gerüchte besagen, ernsthaft versucht haben, das Projekt des Stars, der ihn hinter seinem Rücken „Hinkefuss“ nannte, zu sabotieren, so befand er sich auf verlorenem Posten. Denn Jannings hatte bereits alles um sich versammelt, was Rang und Namen hatte – und zum Teil in der NS-Zeit noch von sich reden machen würde. Thea von Harbou, die ehemalige Lebensgefährtin von Fritz Lang, war als Drehbuchautorin dafür verantwortlich, dass die gefürchtete Kleist’sche Sprache auf ein für den Kinogänger erträgliches Mass gekürzt wurde, ohne ihren herrlichen Witz zu verlieren; der bereits in grossen expressionistischen Filmen ("Nosferatu", 1922) eingesetzte Kameramann Fritz Arno Wagner sollte Bilder erschaffen, die den Zuschauer vergessen liessen, dass er im Grunde genommen „nur“ einem Theaterstück beiwohnte – und als Regisseur wurde Gustav Ucicky, einer der führenden und gleichzeitig fragwürdigen Könner der Zeit engagiert, der mit gelegentlichen Literaturadaptionen (etwa auch „Der Postmeister“, 1940) ganz gern von seinen propagandistischen Machwerken ablenkte. – So blieb dem Propagandaminister nur noch die Hoffnung, das Publikum werde die boshafte Verfilmung eines Klassikers, der schon vor rund 130 Jahren sein kleines körperliches Gebrechen verspottet hatte, nicht goutieren, und er vertraute sich denn nach der Premiere auch hoffnungsvoll seinem Tagebuch an: „… der Film wird trotz anfänglicher grosser Bereitschaft des Publikums wie zu erwarten ausgesprochen flau aufgenommen. Er ist photographiertes Theater, aber kein Filmkunstwerk.“ Tatsächlich erwies sich „Der zerbrochene Krug“ als grosses Verlustgeschäft für die Tobis; man darf im Nachhinein jedoch an der Urteilsfähigkeit von „Hinkefuss“, was den Wert des Jannings-Films anbelangt, zweifeln.

Worum geht’s? – Just an dem Tag, an dem unerwartet der Gerichtsrat Walter aus Utrecht auf seiner Kontrollreise in einem kleinen niederländischen Dorf eintrifft, sieht sich der ohnehin lädierte Richter Adam des Orts mit einer Klage konfrontiert, die ihn selber betrifft. Gegenstand des Prozesses ist oberflächlich betrachtet der wertvolle Krug der Witwe Marthe Rull, der zu Bruche ging, als jemand in der Nacht das Zimmer ihrer Tochter Eve fluchtartig verliess. Marthe Rull verdächtigt als Täter den Bauernsohn Ruprecht, der Eve eigentlich heiraten wollte. Ruprecht aber streitet alles ab und bringt den Flickschuster Leberecht, der dem Mädchen schon längere Zeit schöne Augen machte, ins Spiel. Und so entwickelt sich die Verhandlung, der der Richter kahlköpfig vorstehen muss (eine Katze hat angeblich in seine Perücke gejungt)  zunehmend zum Prozess, bei dem es um die möglicherweise verlorene Ehre der schönen Eve geht, von der sich Ruprecht bereits abwenden will. Das Mädchen aber schweigt. – Und Adam, dessen Ausreden ihn zunehmend als den Mann entpuppen, der sich mit falschen Versprechen gierig Zugang zu Eves Schlafzimmer verschaffen wollte, ist  zuerst froh, nicht erkannt worden zu sein, sieht sich aber am Ende eines turbulenten Prozesses sogar mit einer Zeugin konfrontiert, die den Teufel höchstpersönlich kahlköpfig und mit Klumpfuss das Haus der Marthe Rull flüchtend verlassen sah…


„Der zerbrochene Krug“ findet in der Literatur über den Film der NS-Zeit eher selten Erwähnung. Geht man ausnahmsweise doch auf ihn ein, dann liegt der Schwerpunkt (angesichts der Entwicklung einiger der Teilnehmenden) auf der Frage, wie sehr man die angeblich werkgetreue (!) Umsetzung der Vorlage politisiert habe, ob sie regelrecht braun eingefärbt worden sei. – Dazu ist zu sagen, dass der Film in erster Linie ein Emil Jannings-Vehikel war (Jannings wird im Vorspann sogar nach dem Regisseur als der Mann erwähnt, der für die künstlerische Oberleitung zuständig zeichnete) und weder auf Werktreue noch auf Anpassung an die Ideologie der Zeit abzielte. Er wollte, was zu dieser Zeit noch möglich war (ich erinnere an „Amphitryon – Aus den Wolken kommt das Glück“, 1935), in erster Linie unterhalten und seinem Star jede Möglichkeit zur Selbstdarstellung bieten. Bereits der Beginn lässt erkennen, wie wenig Kleists ohnehin leicht in Bilder umsetzbare Sprache in den Mittelpunkt gestellt werden sollte: Der Zuschauer sieht rund sieben Minuten lang dem Richter zu, der von den Mägden mit einem Klaps auf den Hintern geweckt wurde und jetzt (sich gelegentlich einen Schnaps genehmigend) wortlos die Wunden versorgt, die er einer Türklinke verdankt, mit der Ruprecht im Dunklen den Eindringling verjagt hatte. Erst dann trifft der Schreiber Licht ein und muss sich anhören, Adam sei soeben aus dem Bett gefallen („Der erste Adamsfall, den Ihr aus einem Bett heraus getan“). Kleists gelegentlich nicht einmal zu Ende geführte Blankverse werden zum Bestandteil einer herrlichen Burleske, deren Tempo und Ideenreichtum die Zeit im Fluge vergehen lassen. Jannings' aus purer Bewegung bestehende „tour de force“ enthebt die Vorlage jeder möglichen moralisierenden Botschaft, die sich missbrauchen liesse; sogar das „Üb immer Treu und Redlichkeit!“-Motiv wird musikalisch verulkt. – Als die Kläger eintreffen, sitzt der Richter gerade auf dem Klo, und bevor er die unangenehme Sitzung („Die werden mich doch nicht bei mir verklagen?“) beginnt, schnäuzt er sich die Nase mit einem riesigen Taschentuch, um anschliessend die Eröffnungsglocke so laut zu läuten, dass sich der neben ihm sitzende Gerichtsrat Walter die Ohren zuhalten muss. Kleists Stück muss regelrecht den Beweis erbringen, dass es filmtauglich ist und zu unterhalten vermag.  - Und tatsächlich: Man kann sich während der Sichtung plötzlich vorstellen, wie unpassend die Aufteilung der "analytischen" Komödie in drei Akte gewirkt haben muss, die Goethe für die Uraufführung veranlasste. "Der zerbrochene Krug" braucht Schwung, strebt dem Ziel zu, wie dies der Jannings-Film vorführt.

Regisseur und „künstlerischer Oberleiter“ waren sich auch bewusst, dass Richter Adam erst zur Geltung zu kommen vermochte, wenn man dem Rest des Ensembles Gelegenheit zur Entfaltung bot. Jannings setzte denn auf zuverlässige Schauspieler, von denen jeder „seine Nummer abziehen“ durfte: Herrlich, wie Lina Carstens als Witwe Rull – den ganzen Text der Vorlage übernehmend – dem Gericht ausführlich erklärt, was auf den verschwundenen Scherben des Krugs zu sehen war! Paul Dahlke spielt den Ruprecht als Bauerntölpel, von dem man sich (auch hier nahe an Kleists Stück) fragt, ob er Eve überhaupt verdiene. Und Licht, der eigentlich von Anfang an ahnt, worauf die Sache hinausläuft und der an der Aufklärung interessiert ist, weil er zu Adams Nachfolger werden will, wird von Max Gülstorff als lustiger kleiner Kobold gestaltet, obwohl er eigentlich die negativste Figur der Geschichte ist. Gegen den Schluss hin darf Elisabeth Flickenschildt in einer ihrer ersten Filmrollen die Perücke in die Höhe halten, die Adam auf seiner Flucht verlor - und die ihn - noch immer auf den Teufel als Täter setzend - zur letzten verzweifelten Ausflucht veranlasst: „Wir wissen hierzuland nur unvollkommen, was in der Hölle Mod ist, Frau Brigitte!“ – Man wusste aber vor allem um die Bedeutung der Photographie, die virtuos des Propagandaministers Hoffnung, man habe es nur mit abgefilmtem Theater zu tun, widerlegen sollte. Tatsächlich vergisst der Zuschauer über weite Strecken, dass sich der grösste Teil der Geschichte  in einem einzigen Raum abspielt. Denn vor ihm entstehen Bilder, die sich in ihren stets wechselnden Figurenkonstellationen nicht die niederländische Malerei eines Vermeer, sondern die seines etwas in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen Jan Steen (um 1626 - 1679), dessen Genrebilder wesentlich mehr an Humor und Grobianismus interessiert waren, zum Vorbild nehmen. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, weniger einem Theaterstück als einer 80-minütigen an Malerei erinnernden Bilderflut beizuwohnen. Und die Darsteller, die sich am Ende in einem Kirchenspiel mit der Gerechtigkeit im Hintergrund vor dem Publikum verbeugen, scheinen neckisch daran zu erinnern, dass „Der zerbrochene Krug“ eigentlich doch ein Theaterstück ist, was der Film auf wunderbare Weise vergessen liess. – Man kommt um die Frage nicht herum, ob Goebbels, beleidigt, dass Kleist sich immer noch über ihn lustig zu machen vermochte, dafür sorgte, dass Jannings' Wunschprojekt nicht zum erwarteten Erfolg wurde.


„Der zerbrochene Krug“ wurde 1945 von den Alliierten vorübergehend verboten. Heute sollte das Jannings-Spektakel weniger als Produkt der Nazizeit denn als eine der wenigen Verfilmungen eines Bühnenstücks betrachtet werden, die regelrecht Lust auf einen Dichter machen, dessen Kettensätze einen nicht mit ihm vertrauten Gymnasiasten sonst rasch das Fürchten lehren könnten. Ich war als Kind vom Film derart begeistert, dass ich mich schon bald an Kleists grosse Erzählungen und später auch an die Dramen machte. Der Mann, der Goethe seine Penthesilea „auf den Knien seines Herzens“ darbrachte, wurde für längere Zeit mein Lieblingsdichter, was ich dem herrlichen Jannings-Film verdanke. Der Gedanke, dass sich Goebbels regelrecht über ihn ärgerte, lässt ihn mir noch wertvoller erscheinen.