Sonntag, 1. November 2020

Bericht vom 6. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)

Was bisher geschah... Hier zum ersten Teil meines Berichts zum Terza Visione 2019

 Samstag 27. Juli 2019


14.00 Uhr


IL PIACERE ("Die Lust")

Regie: Joe D'Amato

Italien 1985

85 Minuten

Deutsche Kinopremiere

Venedig in den 1930er Jahren: Gérard (Gabriele Tinti) trauert seiner verstorbenen Geliebten Leonora (Andrea Guzon) nach. Leonoras Kinder aus einer früheren Beziehung reisen zur Beerdigung an: Während Edmund (Marco Mattioli) – trotz seiner Vorliebe, sich in Stresssituationen die Brust geben zu lassen (notfalls von seiner Schwester) – eine ziemliche Spaßbremse ist, zehrt sich Ursula (auch Andrea Guzon) danach, ihre Unschuld an Gérard zu verlieren und an seiner Seite den Platz ihrer Mutter einzunehmen.


Gérard schwelgt in erotischen Erinnerungen

Ich bin mir noch etwas unschlüssig, ob übermüdet der falsche oder eben gerade der richtige Zustand ist, um IL PIACERE zu sehen. Mehr als dass ich den Film bewußt geschaut habe, scheint sich der Film eher über meine durch einen zu kurzen Schlaf schon gedämpften Sinne gelegt zu haben. Er ist vorbei gerauscht wie ein Traum, mit Bruchstücken, die sehr klar erscheinen – und vielem, was sich in die Vergessenheit verirrt hat. Gabriele Tinti, der schwer melancholisch vor dem Phonographen sitzt und selbstvergessen der Stimme seiner ehemaligen Geliebten zuhört. Flüchtiger Sex in einer Nebengasse während des venezianischen Karnevals. Opiumvernebelter Sex in einem Bordell unter den wachsamen Augen Laura Gemsers. Der Handjob im Kino. Und natürlich der Spazierausritt mit Gérard und Ursula: sie gibt ihrem Pferd ganz sanft die Sporen, dieses trabt etwas schneller – "Galopp" wäre für das Tempo, das Ursulas Pferd jetzt hat, eine völlig lächerliche Übertreibung. Gérard eilt ihr nach und ermahnt sie, dass sie nicht so schnell galoppieren solle, das könne schließlich gefährlich werden... Eine absolut treffende Zusammenfassung für die ästhetische Haltung von IL PIACERE, wahrscheinlich (?) insgesamt für Joe D'Amatos Regiearbeiten, die eher dem kontemplativen als dem Aktionskino zuzuordnen sind.

Arthur Pokorny, (einer) der größte(n) D'Amato-Spezialist(en)? im D-A-CH-Raum, der die italienische Kopie aus seinem Privatarchiv mitgebracht hatte, stimmte das Publikum mit einer der schönsten Einführungen des Terza 2019 auf den Film ein. Am Sonntagabend, nach dem letzten Festivalfilm, erzählte er in lockerer Runde noch etwas weiter von D'Amatos Arbeitsstil und dem Umgang mit seiner Crew, der offenbar genau so tiefenentspannt war wie seine Filme: trotz des hohen Drucks, der auf Filmdrehs mit niedrigen Budgets lastet, war die Atmosphäre an seinen Sets wohl stets freundlich und entspannt, er selbst wohl ein gutgelaunter Mann, der immer einen lustigen Spruch parat hatte. Vielleicht gerade deswegen und weil er – von Haus aus Kameramann – stets seine Filme selbst fotografierte, konnten sie in einem irren Tempo abgedreht werden und dabei (zumindest trifft das auf IL PIACERE zu) wesentlich teurer und edler aussehen als das, was sie gekostet haben.

Kamil Moll, der auch beim Terza war, hat hier im Weird-Magazin über IL PIACERE geschrieben.




16.00 Uhr


I FIDANZATI DELLA MORTE ("Die Verlobten des Todes")

Regie: Romolo Marcellini

Italien 1957

93 Minuten

Der waghalsige Motorradrennfahrer Carlo (Rik Battaglia) trennt sich von seinem bisherigen Hersteller und versucht sein Glück stattdessen beim kleineren Rennstall seines Schwiegervaters Lorenzo (Hans Albers) – und geht dann auch noch fremd, als er – ein verheirateter Mann – eine Affäre mit der schönen Lucia (Sylva Koscina) beginnt. Das macht die Vorbereitung auf das große Rennen schwieriger, besonders als der technische Direktor seines ehemaligen Rennstalls auch mitmischt und mit Lucia anbandeln möchte.


In der Werkstatt des Tüftlers Lorzeno

Motorradrennen und melodramatische Intrigen... was wie eine vielversprechende Mischung klingt, hat mich persönlich eher gelangweilt und wenig bei der Stange gehalten (immer noch diese Müdigkeit!). Es gibt keinen Zweifel daran, dass I FIDANZATI DELLA MORTE toll aussieht und wunderschön fotografiert ist. Mein größtes Problem war wohl der Protagonist, der als kerniger Anpacker, als Individualist mit starkem Willen erscheinen sollte, für mich aber vor allem – mit Verlaub – als selbstgefällige Macho-Arschgeige rüberkam, als Egoist, der sämtliche Frauen um sich (in erster Linie seine Ehefrau und seine Geliebte) verächtlich behandelt und zudem auch noch auf der Rennstrecke im Dienst seines Egoismus andere Leute in Gefahr bringt. Es half nicht, dass Rik Battaglia nur mäßig charismatisch wirkte, während sein Gegenspieler durchaus als italienische Version von Marlon Brando durchgehen könnte.

Die großen "kleinen" Höhepunkte von I FIDANZATI DELLA MORTE waren allerdings die Auftritte Hans Albers', der hier wirklich allem und allen die Show stiehlt und sich mit seinem ganzen Charisma in die Lorenzo-Rolle hineinwirft: ein alter Haudegen, der mit der Begeisterung von gefühlt dreitausend Teenagern an Motoroptimierungen tüftelt – nicht, um das große Geld zu machen (er lässt seine Erfindungen auch nicht patentieren) sondern einfach nur der Schönheit der Sache wegen. Ein echter Idealist... I FIDANZATI DELLA MORTE war nicht mein Film, aber wie gerne hätte ich den passenden abendfüllenden Film zu Albers' Lorenzo gesehen.




Heute war der inoffizielle Doppelgänger-Tag des Terza 2019...


20.00 Uhr


MANIA

Regie: Renato Polselli

Italien 1974

85 Minuten

Deutschlandpremiere

Lisa (Eva Spadaro) war einst mit dem "mad scientist" Brecht (Brad Euston) verheiratet, hatte jedoch auch eine Affäre mit dessen Zwillingsbruder Germano (ebenso Brad Euston). Als die Affäre aufflog, flogen bei einem Unfall auch gleich die halbe Villa und Brecht mit in die Luft. Jahre später kehrt Lisa, von grausigen Visionen und Halluzinationen geplagt, mit ihrem neuesten Liebhaber, dem ehemaligen Assistenten Brechts, in die Villa zurück. Dort erwarten sie nicht nur ein rollstuhlfahrender, im Gesicht verstümmelter und sich sehr erratisch verhaltender Germano sowie die mittlerweile stumme, weil völlig traumatisierte Haushälterin Brechts, sondern offenbar auch Brechts Geist, der beunruhigende Zwischenfälle auslöst...


Lisa und Germano in der "haunted villa"

Nach LA MORTE SCENDE LEGGERA war MANIA beim Terza 2019 ein weiterer toller Beitrag aus der "poverty row" der italienischen Filmindustrie: ein recht unbeschreiblicher Hybrid aus Haunted-House-Gothic-Horror und hysterisch-psychotischem Melodrama. 

Der Titel, MANIA, ist Programm: permanent am Rande des völligen Nervenzusammenbruchs. Es ist ein Film über Personen am Rande des Wahnsinns, die wahnsinnige Dinge machen und ist konsequent in einem wahnsinnigen Stil inszeniert. MANIA ist ein wilder, anarchischer Film, der die Logik der "normalen" Vernunft hinter sich lässt und nur der Logik des Wahnsinns folgt. Er hat die Form eines Gothic-Horror-Films, der seine Hochzeit eher in den 1950er und 1960er Jahren hatte, wirkt aber zugleich sehr viel moderner, fast schon postmodern. Lisa landet an einer Stelle des Films plötzlich aus dem Nichts in ein Netz und wird von Aalen, die scheinbar auch aus dem Nichts kommen, angegriffen. Das schien mir den berüchtigten Spinnenangriff aus L'ALDILÀ vorwegzunehmen: es gibt keine Erklärung für das Grauen, sondern nur das Grauen (also zumindest in dem Moment selbst: wie auch in LA MORTE SCENDE LEGGERA entpuppt sich in MANIA alles als geschickte Inszenierung, während in L'ALDILÀ alles Zeichen einer wahrhaftigen höllischen Apokalypse war).

MANIA ist einerseits merkwürdig somnambul, wirkt tatsächlich oft wie ein sehr, sehr langsamer Alptraum, manchmal scheint es, als würde sich das ganze Treiben in dem besessenen Haus unter Wasser sich abspielen, leicht verlangsamt und wie durch einen Schleier beobachtet... Andererseits hat der Film aber auch ein geradezu irrsinniges Tempo, weil fast jede neue Szene eine völlige Überraschung ist: man weiß nie, was als nächstes passieren wird. MANIA löst auf sehr grundlegende Art eines der großen Versprechen des Kinos ein: alles ist möglich, alles ist machbar!

MANIA ist billig, schäbig, holprig – und trotzdem von A bis Z völlig konzise. Er verlangt vom Zuschauer wahrhaftig sehr viel "suspension of disbelief", weil er sich kaum für konzise Spezialeffekte interessiert. Mehr als wie ein "fertiger" Film wirkt MANIA über weite Strecken eher wie eine grobe, unfertige Skizze. Ein bisschen ist es wie in der bildenden Kunst: eine grobe Skizze enthält nicht die feinen Qualitäten eines fertigen, filigranen Gemäldes – ist dafür aber oft viel unmittelbarer, direkter, zugespitzter, mit einer roheren Energie aufgeladen. Jede Geste, jeder Ausdruck extrem stilisiert: ist Polselli ein "primitiver Expressionist"? Primitiv im analytischen Sinne gemeint: MANIA ist dem ursprünglichen, "rohen" Expressionismus wahrscheinlich viel näher als teurere Horror-Gothic-Produktionen der Zeit, die der Popart näher stehen. Der indirekte Vergleich zur Stummfilmära bedeutet nicht, dass der Film stumm wäre: es wird sehr viel, sehr laut und sehr exaltiert geschrieen, gekreischt und geheult.

Ein Teil des Publikums im krachend vollen Saal (die vollste Vorstellung des ganzen Terza 2019, soweit ich mich erinnere) machte sich leider lustig über das exaltiert-manische Spiel der Darsteller, über das schäbig-expressionistische Dekor, über defizitäre Spezialeffekte, über die totale Hingabe an die Logik oder besser gesagt die Anarchie des Alptraums. Schade, denn für mich gehörte MANIA zu den Höhepunkten des Terza Visione 2019 und war bei weitem der beste Film am Samstag.




22.30 Uhr


JOCKS

Regie: Riccardo Sesani

Italien 1984

104 Minuten

Deutschlandpremiere

Ein trampender amerikanischer DJ und ein italienischer Truckfahrer tun sich (nach einem ordentlichen Faustkampf) zusammen, um in einer kleinen Provinzstadt die größte Disco-Party aller Zeiten zu organisieren. Zwischendurch gibt es weitere Faustkämpfe, ein Techtelmechtel mit der jungen Verwandten einer Geldgeberin – und am Schluss kommt eine futuristische Variante von Verdis "Aida" heraus.

Liebevolle Buddies im zum Liebesnest umgebauten Truck

Nachdem beim Terza Visione 2018 DANCE MUSIC den Freitagabend in eine ausgelassene Party verwandelt hatte, erwartete ich (und vielleicht so manch ein anderer Besucher) wohl etwas ähnliches von JOCKS, dem diesjährigen programmierten Tanzfilm. Für mich entwickelte sich der Film nach einem tollen ersten Drittel leider zu einer Enttäuschung. Als Tanzfilm, also als Film mit choreografierten Nummern, hatte JOCKS (von den letzten 20 Minuten abgesehen – dazu gleich mehr) nur wenig zu bieten. Vielmehr wirkte er im ersten Drittel eher wie eine Buddy-Komödie, bei der die Interaktion zwischen den beiden Helden etwa zur Hälfte aus Prügeleien bestand – also heißt: dass sie sich gegenseitig prügelten. Eine toxische Liebesbeziehung, wenn man so will, denn die homoerotischen Funken zwischen den beiden war fast mehr als unterschwellig. Die extrem exaltierten Umgangsformen des DJ rundeten den Eindruck ab: sein Verhalten würde in vielen anderen Filmen dieser Zeit (pessimistisch könnte man sagen: bis in die Mitte der 2000er Jahre) als homosexuelle "Codierung" durchgehen und zugleich auch der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Das Großartige ist, dass zumindest letzteres in JOCKS nicht passiert: der DJ ist ohne Wenn und Aber der Sympathieträger. "Lieber Zuschauer, hier ist unser Held, er ist ein bisschen exzentrisch und schrill, aber liebe ihn bitte so, wie er ist." – scheint der Film zu sagen. Ohne "Agenda" (eigentlich ein furchtbares Wort), sondern aus einer fröhlichen "Naivität" heraus.

Ich kann mich nicht wirklich gut an das zweite Drittel erinnern... nur, dass es für mich langweiliger wurde: eine große Anzahl an sehr zähen Expositionsdialogen, wenn ich mich recht erinnere? Und der Versuch, die Eintracht der beiden Helden durch die Einführung eines weiblichen "love interest" zu durchbrechen, weil es sich ja nun irgendwie doch gehört, dass es da einen weiblichen "love interest" geben muss...

Und schließlich das letzte Drittel, als dann die große Show, auf die die beiden unermüdlich hingearbeitet haben (nämlich die größte Discoparty aller Zeiten zu schmeißen), endlich gezeigt wird: statt Disco ein bizarr-futuristisches Glitzer-Happening mit einem Raumschiff, das sich langsam vom Bühnenboden erhebt, vielen merkwürdigen Alien-Kostümen, das ganze teilweise in Ruckel-Zeitlupe gefilmt, unterlegt von einer verfremdeten Elektro-Interpretation von Verdis "Aida". Wenn ich das gerade selbst lese, klingt das absolut super, aber ich erinnere mich, wie ich mich damals im Kinosessel gequält habe und irgendwann nur noch etwas entnervt das Ende des Films herbeigesehnt habe. Andere Zuschauer waren gerade von dem "Showdown" von JOCKS schwer begeistert und verteidigten ihn leidenschaftlich. Irgendwann werde ich den Film wohl noch mal gucken müssen.




Sonntag 28. Juli 2019


13.00 Uhr


QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE ("Vier Mal heute Nacht")

Regie: Mario Bava

Italien/BRD 1971

83 Minuten

Deutschlandpremiere

Der Playboy Gianni (Brett Halsey) spricht im Park Tina (Daniela Giordano) an und verabredet sich mit ihr zu einem Date. Nach einem Diskothekenbesuch gehen die beiden zu ihm nach Hause... und ab da verschwimmen die Ereignisse: hat er sie belästigt und zu vergewaltigen versucht (so Tinas Version der Geschichte)? Ist Tina eine Nymphomanin, die ihn mit ihrem sexuellen Appetit völlig ausgelaugt hat (so in Giannis Erinnerungen)? Ist Gianni eigentlich ein Homosexueller, der mit einem Nachbarn Sex hatte, während Tina von der lesbischen Kumpeline des Nachbarn vergewaltigt wurde – und alle hatten sich vorher in einem Schwulenclub getroffen, wo junge Mädchen sich nackt fotografieren lassen (so das Zeugenaussage der schmierigen, sexbesessenen und voyeuristisch veranlagten Hausmeisters des Wohnkomplexes, der Giannis Wohnung mit einem Fernglas beobachtet hat)? Oder war das ein ganz harmloser und keuscher Abend, bei dem aus Versehen Kleider zerrissen und Kopfverletzungen zugefügt wurden, weil man aufgrund eines vergessenen Schlüssels über das Einfahrtstor klettern musste (so erläutert von einem "allwissenden" Wissenschaftler, der in seinem weißen Kittel so aussieht, als könnte er mit Zahnbürsten Tomaten malträtieren)?


Eine Schaukel mitten in Giannis Wohnung – ein wenig exzentrisch, aber die Flasche J & B sorgt für die nötige Bodenständigkeit

Mario Bava wird in der Regel mit dem Giallo, dem Horrorfilm, dem Fantasyfilm in Verbindung gebracht. Welch eine Überraschung, dass er auch eine "commedia sexy", eine erotische Komödie gedreht hat (ein Fakt, der mir bis zu diesem Terza völlig unbekannt war). Gemäß der tollen Einführung von Katrin Doerksen verstand Bava diesen Film als reine Auftragsarbeit, um Geld für wirkliche Herzensprojekte zu gewinnen – und als eine Ehrenpflicht (seiner Meinung hätte man sich schnell den Ruf eingefangen, homosexuell zu sein, wenn man erotische Filmstoffe ablehnte). QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE wurde 1968 gedreht, aber kam erst 1971 in die Kinos (in Italien sogar nach ECOLOGIA DEL DELITTO aka REAZIONE A CATENA).

Bavas Film wird gemeinhin als die italienische Erotikkomödien-Fassung von Kurosawas RASHOMON angesehen, weil der Film die gleiche Geschichte aus vier unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Doch innerhalb von Bavas Werk könnte man ihn vielleicht als seinen ersten "Versuchsanordnungsfilm" bezeichnen, als erster Teil einer Trilogie, der dann die beiden "Abzähl-Mord-Filme" 5 BAMBOLE PER LA LUNA D'AGOSTO und ECOLOGIA DEL DELITTO aka REAZIONE A CATENA folgten.

Wie viele Bava-Filme ist QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE in erster Linie ein Atmosphärenfilm voller satter, teils psychedelischer Farben. Jede der vier Geschichten hat auch eine eigene Atmosphäre. Tinas Erzählung von ihrer versuchten Vergewaltigung kommt einem fast klassischen Thriller in ihrer latenten, zunehmenden und schließlich eskalierenden Bedrohlichkeit recht nahe. Giannis Version der Geschichte ist lüstern, anzüglich, geil und sexy und kommt dem puristischen Sexfilm (auch wenn QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE insgesamt visuell doch sehr züchtig bleibt) am nächsten. Die völlig ausschweifenden und wahnwitzigen Erinnerungen bzw. Fantasien und Obsessionen des Hausmeisters schließlich lassen QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE in ein groteskes, fast surreales Delirium kippen – und mehr als die konkurrierenden Erzählungen Giannis und Tinas wirkt die Episode wie eine Art losgekoppelter, der Kontrolle entglittener Nebenplot. Die letzte Episode schließlich erdet nach dem ganzen Delirium die ganze Geschichte wieder in etwas, was wie eine vorweggenommene Parodie eines Dr.-Best-Werbespots wirkt... und dann fahren Gianni und Tina glücklich im Morgengrauen in einem schnittigem Cabriolet in Richtung Sonnenaufgang...

Zusammengehalten wird das ganze von einem fantastischen Set-Design, wie man es von Mario Bavas Filmen gewohnt ist. Die Wohnung Giannis, der Schauplatz eines großen Teils des Films, ist ein echtes Pop-Art-Diorama aus quietschbunten Möbeln und bizarren Dekoobjekten. Im Schwulenclub während der Erzählung des Hausmeisters übertrifft sich Bava dann wieder einmal mit einem völlig jenseitigen, futuristischen Dekor und psychedelischen Lichteffekten. Wer wirklich ganz genau hinschaut, wird das leicht Artifizielle eines arrangierten Studios erkennen, aber angesichts des geringen Budgets, mit dem Bava arbeiten musste, ist ihm hier wieder einmal eine Augenweide gelungen.




16.30 Uhr


LA VIOLENZA: QUINTO POTERE ("Gewalt: Die fünfte Macht im Staat")

Regie: Florestano Vancini

Italien 1972

90 Minuten (deutsche Fassung) + 12 Minuten fehlender Epilog der italienischen Originalfassung (digital nachgereicht)

Bei einem Mordprozess sitzen über ein Dutzend Mitglieder zweier verfeindeter Mafia-Clans auf den Anklagebänken. In langen Rückblenden werden die Verbrechen der Gangster und ihre informelle, aber doch starke Macht über die örtliche bäuerliche und kleinstädtische Bevölkerung geschildert. 

LA VIOLENZA: QUINTO POTERE ist weniger ein klassischer "poliziesco" als vielmehr ein Gerichtsfilm mit Politthriller-Grundierung. Er erzählt sehr packend, mit einem manchmal semidokumentarisch wirkenden Stil über die Verflechtung von Mafia, Politik und Gesellschaft in Süditalien. Beide Fallstricke, die ihm potentiell im Weg liegen (als Gerichtsfilm, der zudem die Adaption eines Theaterstücks ist, zu statisch und unfilmisch zu sein – und als engagierter Antimafia-Film zugleich zum einfachen Thesenstück zu erstarren) umschifft der Film mit seiner eleganten Inszenierung und seinem nüchternen, unaufgeregten Ton. Wenn man über das komplett unterschiedliche Setting hinwegsieht erinnert LA VIOLENZA: QUINTO POTERE stilistisch an die späteren Korruptions-Thriller Sidney Lumets.

Der Grundton ist pessimistisch und dabei doch stark geerdet, es entspinnt sich eine Art Mini-Panorama über die Verflechtung von Mafia-Strukturen, wirtschaftlicher Armut und unterentwickelten Staatsstrukturen. Strukturen und Verflechtungen... LA VIOLENZA: QUINTO POTERE handelt in erster Linie tatsächlich davon, und so rückt keine der Figuren wirklich zum Protagonisten heran (zu sehen sind neben Mario Adorf als Gangster-Boss auch Enrico Maria Salerno als Staatsanwalt, Riccardo Cucciolla als gegen die Mafia engagierter Professor, Gastone Moschin als Mafia-Anwalt, Julien Giomar als Polizist und weitere). Ein echter Ensemblefilm ohne dramaturgische Hauptfigur – aber das heißt nicht, dass die Charaktere unwichtig seien, im Gegenteil. Der Film vergisst nie, dass es um Menschen geht: die ermordet, erpresst, ausgeraubt werden, oder dazu gezwungen werden, in diesem System mitzumachen. Ein emotionaler Höhepunkt ist sicherlich der Auftritt des Komikers Ciccio Ingrassia als kinderreicher, armer Mafiahelfer zwischen allen Stühlen: für die Mafiosi eine Spielfigur, deren man sich nach Nutzung entledigen kann, für die Staatsgewalt ein Mafia-Kollaborateur, den man im Gegensatz zu den "großen Fischen" relativ leicht inhaftieren kann. Ingrassia, der im Komiker-Duo Franco & Ciccio immer der weniger exaltierte Part war, bringt eine  wahrhaftige, erhabene und tragische Würde in seine Rolle. Am Ende muss er den Film (off-screen) mit einem Suizid verlassen, dem ihm die Mafia mithilfe einer ins Gefängnis geschmuggelten Klinge "schenkt" bzw. aufdrängt...




20.00 Uhr


SPELL (DOLCE MATTATOIO) ("Spell: Süßes Schlachthaus")

Regie: Alberto Cavallone

Italien 1977

104 Minuten

Deutschlandpremiere

In einem kleinen Dorf in der Nähe Roms, während die Vorbereitungen zu einem großen Fest mit religiöser Prozession anlaufen... ein kommunistischer Künstler in einer Schaffenskrise hat zunehmend Mühe, den Aggressionen und Autoaggressionen seiner psychisch kranken Frau (Jane Avril) Einhalt zu gebieten; der Metzgermeister des Dorfs träumt von sexuellen Abenteuern mit diversen Dorfeinwohnerinnen und befriedigt sich mit aufgespießten Kuhhälften in der Kühlkammer; ein junges Mädchen ist von ihrem eigenen Vater geschwängert worden; eine Frau, die von ihrem Ehemann voller Verachtung behandelt wird, flüchtet in zunehmend delirierende Sexträume; ein junger Fremder kommt in das Dorf und entflammt die Begierden der Bewohnerinnen.


Oben: Jane Avril (bürgerlich Maria Pia Luzi – Stammschauspielerin und Ehefrau Alberto Cavallones) als verrückte Rosanna und Martial Boschero (bei späteren Filmen Cavallones Produzent) als kommunistischer Künstler
Unten: die frustrierte Bäuerin und der schöne, geheimnisvolle Fremde / die Musterfamilie mit Inzestproblemen 

Alberto Cavallone macht dort weiter, wo Giulio Questi aufgehört hat! Wie ARCANA beim Terza 2017 war SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim Terza 2019 der außergewöhnlichste, bizarrste, halluzinatorischste Film des Programms, der Film, der die thematische Rahmung des Festival – italienisches Genrekino – am meisten herausforderte.

Der Prolog setzt den Ton des Films, man könnte sagen, die beiden Pole, zwischen denen er immer wieder schwanken wird. Wir befinden uns auf einem Friedhof, ein Besucher steht vor einem Grab, ein Stückchen betten zwei Arbeiter Gebeine eines geöffneten Grabs um. Dann machen die beiden Arbeiter Mittagspause, pellen sich jeweils ein gekochtes Ei und essen es – das eher weiche Gesicht des jungen und das kantige Gesicht des älteren Arbeiters in einer quasidokumentarischen Nahaufnahme. Dann geht es wieder zum Besucher zurück, der ein Grab betrachtet – sein eigenes Grab, mit einem Medaillon-Portrait seines Gesichts, wie wir nach einem Schnitt sehen. Eine "triviale" Alltagsszene mit einem alptraumartigen Einschub versehen. Neorealismus meets Surrealismus. SPELL (DOLCE MATTATOIO) ist für seine sexuellen, antiklerikalen, skatologischen und antibürgerlichen Provokationen berüchtigt, aber er bettet diese in eine Art semidokumentarisches, quasi-anthropologisches Dorfleben-Portrait mit (neo-)neorealistischen Zügen ein. Neorealismus durch einen surrealen, grotesken, derb-erotischen Fleischwolf gedreht. Christoph, einer der beiden Festivalleiter, schlug in seiner Einführung den Begriff "Anti-Heimatfilm" vor. Neben einer Kalbsgeburt auf einem Bauernhof gibt es auch immer wieder längere Impressionen von Straßenumzügen, Open-Air-Konzerten, Tänzen auf dem Marktplatz, Rummelvergnügungen wie das Klettern an einem eingeseiften Baumstamm und Menschenversammlungen, die erfreut Feuerwerke beobachten. Am Rande dieser Bilder entfesselt Cavallone dann den Wahnsinn, die Exzesse, die Provokationen.

Bei der ersten Sichtung, zumal im Kino, auf einer großen Leinwand, sind es letztere, die vor allem hervorstechen: der sexuell frustrierte Metzgermeister, der mit seiner eigenen Ware Sex hat (und später wurminfizierte Schnitzel zurechtschneidet); die frustrierte Bäuerin, die davon träumt, unter der erhängten Leiche ihres Ehemanns mit dem Dorfpriester Sex zu haben; die nahtlose Montage einer weiblichen Masturbation mit dem Erwürgen eines Hahns; das große Finale mit Exkrementen und Kastration. Machistische Männlichkeitsvorstellungen, die an der Oberfläche anständige Familie, die  heilige katholische Kirche und ihre Vertreter, bürgerliche Moralvorstellungen und nicht zuletzt auch die kommunistische Partei: in SPELL (DOLCE MATTATOIO) jagt Cavallone sie allesamt zum Teufel und haut dabei richtig ordentlich auf die Kacke (das sogar wortwörtlich!). 

Doch gerade bei der zweiten Sichtung (bei mir über ein Jahr nach der Sichtung im Frankfurter Filmmuseum zuhause auf DVD) wirkt sein Film auch gerade in seinen leiseren Tönen noch beeindruckender. Die Erdung in ein semidokumentarisches, quasi-neorealistisches Setting macht die Exzesse an sich noch wilder, aber verhindert eben auch, dass der Film zur maßlosem Freakshow wird. Das kommt auch davon, dass seine Figuren stets Menschen bleiben: der sexuell frustrierte Metzger genauso wie der mürrische, abends stets besoffene Bauer (um jetzt zwei Figuren zu nennen, die oberflächlich alles andere als gut wegkommen). Vielleicht wirkte nur der Priester durchgehend shady, der die Kinder des Dorfes Lotterielose verkaufen lässt und die Topverkäufer mit Heiligenbildchen belohnt (das Bild eines Priesters, der ständig um Kinder herumhängt, war 1977 vielleicht "unschuldiger" als heute?).

Impressionen von den Dorffestlichkeiten

Neorealismus und Surrealismus sind in SPELL (DOLCE MATTATOIO) keine klar getrennten Sphären, und auch Zeit und Raum lässt der Film unterschwellig verwischen: nachdem ich den Film bei der Erstsichtung im Kino als chronologisch erzählt wahrgenommen hatte, schien mir das bei der Zweitsichtung viel ungewisser. Ist das alles ein einziger Tag, der achronologisch in kleinen Impressionen erzählt wird? Oder spielt der Film gar über mehrere Tage, gar Wochen? Wo hört die Realität auf und beginnt die Fantasie?

Die auffälligste Schnittstelle zwischen beiden dürfte der namenlose, fremde junge Mann sein (die Figur erinnert entfernt an den Fremden in Pasolinis TEOREMA), der eines Tages wie aus dem Nichts im Dorf erscheint bzw. konkreter auf dem Friedhof zum ersten Mal zu sehen ist und dann ins Dorfzentrum geht. Während draußen ein Feuerwerk zu sehen ist und ihr Ehemann gerade an einer Collage arbeitet, spielt Rosanna, die verrückte Frau (die auf der Toilette Mittag isst – Buñuel lässt grüßen –, aus der Kloschüssel trinkt, die Haushälterin auch mal K.O. schlägt in der Absicht, deren Brustwarzen mit einer Küchenschere abzuschneiden, sich selbst blutende Stichwunden am Vorderarm zufügt) mit einem kleinen Puppentheater: sie lüftet den Vorhang (rot, mit Hammer und Sichel bedruckt! offenbar ein Fabrikat ihres Ehemanns) und hebt eine kleine Plastikfigur von der Bühne. In diesem Moment werden Bilder des jungen Mannes gezeigt, der durch den Dorfrummel läuft, vor Schießbuden mit ausgehängten Gewinnerpreis-Puppen – so wirkt es, als habe er seinen Auftritt in Rosannas Puppentheater, als hätte sie ihm durch das Lüften des Vorhangs Leben eingehaucht (am Ende nimmt sie es ihm auf besonders drastische Weise wieder weg). Vielleicht einer der großartigsten Momente im Film, geradezu frenetisch montiert mit crashzoom-pulsierenden Bildern, unterlegt von Claudio Tallinos spannungsaufbauendem (und nicht auflösendem) Jazz-Rock-Score.

Die Musik von Claudio Tallino (ein mir bis dahin unbekannter Name, Stammkomponist des mir bislang ebenfalls unbekannten Regisseurs Piero Livi) ist toll und lässt sich mit Jazz-Rock vielleicht notdürftig beschreiben (ein Synthesizer und ein E-Piano, begleitet von Bass und Schlagzeug, wechseln sich als Melodieiinstrument ab). Nachdem Griegs "In der Halle des Bergkönigs" zwei mal in einer originalen Orchesterfassung zum Einsatz kommt, wird der "Showdown" des Films von einer hart schlagzeuglastigen Jazz-Rock-Improvisation des Klassikers unterlegt.

Ein Film voller grotesker, surrealer und derb-erotischer Bilder
Unten: Rosanna öffnet den Vorhang für den geheimnisvollen Fremden

SPELL (DOLCE MATTATOIO) war neben L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH der kontroverseste Film des Festivals, der die Zuschauerschaft am meisten spaltete. Viele "der schlechteste Film dieses Jahr" standen einigen "der beste Film des Festivals" (zu letzteren ich auch gehörte) gegenüber. Letztere schienen eine große Schnittmenge mit den Anhängern von Questis ARCANA vom Terza 2017 zu haben. Es gibt atmosphärische Schnittmengen zwischen beiden Filmen, auch bei vielen Unterschieden, wobei SPELL (DOLCE MATTATOIO) deutlich grotesker und provokanter angelegt ist und zugleich auch (durch die semidokumentarischen Dorfimpressionen) geerdeter wirkt.

Wie Giulio Questi war auch Cavallone eine Art cinéaste maudit des italienischen Kinos, ein Grenzgänger, der vielleicht sogar noch weiter außerhalb des Mainstreams arbeitete. Cavallone begann als Dokumentarfilmer mit dem heute verschollenen Film LA SPORCA GUERRA ("Der dreckige Krieg") über den algerischen Unabhängigkeitskrieg, gedreht vor Ort. LE SALAMANDRE, ein Erotikfilm über eine Dreierbeziehung zwischen einer schwedischen Fotografin, einem schwarzen Model und einem Psychologen, blieb 1969 Cavallones größter kommerzieller Erfolg, trotzdem er hier bereits sein Publikum mit extremen Bildern konfrontierte (u. a. einmontierte Aufnahmen realer Erschießungen)  und einen stark politisierten, antikolonialistischen Subtext hatte. DAL NOSTRO INVIATO A COPENHAGEN handelte 1970 von zwei Vietnamkriegveteranen, von denen einer in das Porno-Business, der andere in die Fänge eines skrupellosen Arztes gelangt. In AFRIKA erzählte Cavallone 1973 von einer schwierigen homosexuellen Liebesgeschichte zweier exilierter Europäer in Äthiopien. MALDOROR, eine Adaption von Lautréamonts Prosadichtung "Les Chants de Maldoror" (ein maßgeblicher Einfluss auf die Surrealisten), stellte Cavallone 1975 fertig: für die wenigen, die ihn sahen, war dies Cavallones großes Meisterwerk. Der fertige Film fand allerdings keinen Verleih (die heftige Gewalt und die extrem antiklerikale Stoßrichtung des Films werden als Hauptgründe dafür genannt – in einer Szene soll wohl ein Priester bei einer Kommunion kleinen Jungen die Zunge herausgeschnitten und ihnen Coca-Cola statt Wein gegeben haben) und und gilt heute als verschollen (abgesehen von Standbildern und Drehbuchauszügen). Nach SPELL (DOLCE MATTATOIO) drehte Cavallone noch BLUE MOVIE um einen sadistischen Fotografen, der Fotomodels kidnappt, foltert und erniedrigt: Roberto Curti nannte diesen Film Cavallones kommerziellen Selbstmord, der Film, der ihn definitiv vom Außenseiter zum Paria machte. Danach inszenierte Cavallone noch einige Hardcore-Filme, deren groteske Elemente sie außerhalb des Porno-Mainstreams stellten, drehte Werbefilme und arbeitete als Assistent für Drehbuch-Revisionen. Kurz vor seinem frühen Tod 1997 wurde er von der italienischen Filmzeitschrift Nocturno, die sich die Erforschung des italienische Genrekinos auf die Fahne geschrieben hat, wieder entdeckt.

Zu den Autoren von Nocturno gehörte auch der Filmhistoriker Roberto Curti, der beim Terza 2018 Riccardo Fredas eigensinnigen ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA und Domenico Modugnos noch eigensinnigeren TUTTO È MUSICA einführte. Curti hat auch viel über Cavallone geschrieben, unter anderem in einem Buch über acht Einzelgänger des italienischen Kinos (zu denen er auch die Terza-Bekannten Giulio Questi und Brunello Rondi rechnete) und in einem Buch über extremes Kino. Hier ist einmal ein etwas längerer und hier ein etwas kürzerer Text Curtis über Cavallone.

Kamil Moll hat im Weird-Magazin über seine Eindrücke von SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim Terza geschrieben, bei Frank Castenholz' Text in der gleichen Reihe gibt es auch eine kurze Einschätzung.




QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO, gewiss nicht Fulcis ruppigster Film, aber keineswegs ein besonders "weicher" Film, wirkte nach SPELL (DOLCE MATTATOIO) wie ein fast "sanfter" Ausklang des Festivals.


22.30 Uhr


QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO ("Das Haus an der Friedhofsmauer")

Regie: Lucio Fulci

Italien 1981

86 Minuten

Norman und Lucy Boyle (Paolo Malco & Catriona MacColl) ziehen mit ihrem Sohn Bob (Giovanni Frezza) in eine neuenglische Villa. Deren Vormieter beging Selbstmord, nachdem er über den ursprünglichen Besitzer der Villa, Dr. Freudstein, geforscht hatte. Mysteriöse Ereignisse und beunruhigende Geräusche aus dem Keller bringen die Familie Boyle zunehmend in Bedrängnis.


Eingesperrt mit dem Monster im Spukkeller – während sein Vater versucht, die Tür mit der Axt aufzubrechen, drückt das Monster Bobs Gesicht gegen ebenjene Tür (THE SHINING grüßt böse): einer der beeindruckenden "Mini-Crashzooms"

Der "konventionellste" Film in Lucio Fulcis sogenannter Höllenpforten-Trilogie hatte mich bei der ersten Sichtung Ende 2017 ganz gut gefallen, wenngleich nicht wirklich überschwänglich begeistert. Jetzt bildete er allerdings einen mehr als würdigen Abschluss des Terza 2019. Auf einer viele Meter breiten Leinwand entfesselte QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO auf 35mm und in seiner vollen Cinemascope-Pracht seine ganze Wucht und Kraft. Gleichwohl er in seinen letzten Jahren teilweise für das Fernsehen drehte: Fulci ist voll ein ganz ein Kino-Regisseur, seine Filme wurden für das Kino gemacht. Man siehe nur die kleinen "Mini-Crashzooms", die er in Terror-Momenten einsetzt, dieses ruckartige, knappe Einzoomen. Auf dem heimischen Bildschirm wirkt das etwas merkwürdig (für manche vielleicht sogar wie ein Patzer). Auf der großen Leinwand hat das die Wucht eines Schlags ins Gesicht.

Die gezeigte Kopie war leider leicht gekürzt (Dagmar Lassanders Todesqualen etwas reduzierend) und hatte einen leichten Farbstich. Statt eines unangenehmen Magentastichs tendierten die Farben eher in Richtung Rostbraun bzw. Sepia, was der Wucht und der herbstlich-kühl-nebeligen Atmosphäre des Films dann doch nicht im Weg stand (ebenso wenig wie der doch mechanische Verschleiß).

Dienstag, 6. Oktober 2020

LAST AND FIRST MEN - Brutalismus und das Ende der achtzehnten und letzten Menschheit

LAST AND FIRST MEN
Island 2017/2020
Regie: Jóhann Jóhannsson
Erzählerin: Tilda Swinton



LAST AND FIRST MEN ist in gewissem Sinn das Vermächtnis des 2018 mit 48 Jahren verstorbenen isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, auch wenn es nicht als solches gedacht war: Die Musik ist seine letzte Komposition, und der Film seine erste und einzige Regiearbeit, wenn man davon absieht, dass er zuvor schon in antarktischen Gegenden einen kurzen Dokumentarfilm auf Super 8 gedreht hatte - in statischen Tableaus, wie es in der IMDb heißt, und damit anscheinend schon in einem ähnlichen visuellen Stil wie LAST AND FIRST MEN. Als Filmkomponist bekannt geworden ist Jóhann (das "Jóhannsson" bedeutet "Sohn von Jóhann", ist also, wie in Island üblich, kein Familienname) vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Denis Villeneuve, aber er schrieb auch Musik für andere Regisseure, für Theaterprojekte und für Soloalben. Sein plötzlicher und zunächst rätselhafter Tod in Berlin, wo er gelebt hatte, wurde durch eine Überdosis Kokain im Zusammenspiel mit Erkältungsmedikamenten verursacht. Eine vorläufige Fassung von LAST AND FIRST MEN lief bereits 2017 mit Live-Orchesterbegleitung bei einem Festival in Manchester, aber Jóhann arbeitete weiter an der Musik dazu und konnte sie nicht mehr fertigstellen. Sein musikalischer Mitstreiter bei diesem Projekt, der in Israel geborene und in Berlin lebende Yair Elazar Glotman, komplettierte die Komposition und leitete die Aufnahme. Auch der endgültige Schnitt von LAST AND FIRST MEN wurde erst posthum erledigt. Seine Premiere erlebte der fertige Film heuer auf der Berlinale. Er lief auch auf weiteren Festivals, z.B. neulich in Vancouver.
LAST AND FIRST MEN besteht aus drei nur lose verknüpften Ebenen - der visuellen und zwei akustischen. Für die Filmaufnahmen (auf körnigem 16mm) reiste Jóhann mit seinem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen kreuz und quer durch die Staaten des früheren Jugoslawien und filmte die dort so genannten Spomeniks. Das sind von den 60er bis in die 80er Jahre im Stil des Brutalismus errichtete Monumente aus Stein, Beton und Metall, die im ganzen Land an die Opfer von Krieg und Faschismus erinnern sollten. Die Spomeniks wurden von politischen Entscheidungsträgern von Marschall Tito bis hinab zu Kleinstadtbürgermeistern in Auftrag gegeben und sollten noch einen weiteren Zweck erfüllen, nämlich in dem ethnisch und religiös inhomogenen Land die nationale Einheit zu befördern. Wie wir heute wissen, ohne langfristigen Erfolg.
Etliche der prominentesten und visuell spektakulärsten Spomeniks, wie etwa das Denkmal für die Revolution der Einwohner von Moslavina oder die Nekropole für die Opfer des Faschismus bei Novi Travnik (die David Bordwell an die Kunst australischer Aborigines erinnert, während ich eher an Skulpturen europäischer neolithischer oder bronzezeitlicher Kulturen und wieder andere Leute an die Etrusker dachten), bilden also die visuelle Ebene von LAST AND FIRST MEN. Die Kamera fährt dafür mit sehr langsamen und langen Bewegungen, Drehungen und Zooms an den rohen Monumenten entlang, oft in Blickrichtung von unten nach schräg oben, so dass regelmäßig auch der Himmel im Blick ist. Menschen sind dagegen nie zu sehen. Die Idee dazu wurde Jóhann 2010 durch den Bildband eines holländischen Fotografen über Spomeniks eingegeben. Schon vorher hatte er den unbestimmten Drang, einmal einen größeren Film zu drehen, aber es fehlte die zündende Idee dafür.
Die eine der beiden akustischen Ebenen bildet die von Jóhann und Yair Elazar Glotman komponierte Musik. Während 2017 in Manchester offenbar noch ein großes Orchester im Vordergrund stand, verschob sich im weiteren Verlauf der Arbeit am Score der Fokus in Richtung Kammermusik, auch wenn noch ein Orchester (das Budapest Art Orchestra) in den Credits genannt wird. Klassische Instrumente, wie das von Jóhanns häufiger Mitstreiterin Hildur Guðnadóttir gespielte Cello, Percussion, elektronische Klänge (neben moderner Gerätschaft kam auch das mittlerweile auch schon historische Ondes Martenot zum Einsatz) und ätherisch-abgehobene Vokalisen bilden einen getragen dahinfließenden Score mit dunkler Grundstimmung. Es wirkt wie ein Requiem - und genau das ist es ja auch, siehe übernächster Absatz.
Die andere akustische Ebene besteht aus einem von Tilda Swinton gesprochenen Text, der auf Olaf Stapledons Debütroman Last and First Men beruht. Ich habe den Roman nicht gelesen, dafür aber Star Maker, ein anderes Hauptwerk des englischen Autors. Dieser Roman zeugt von schier grenzenloser Fantasie und schwingt sich zu erstaunlichen metaphysischen Höhen auf, bleibt dabei aber spannend und unterhaltsam. Selbiges gilt offenbar auch für Last and First Men. Es geht darin um die ganze zukünftige Geschichte der Menschheit - genauer gesagt, der Menschheiten - in den nächsten zwei Milliarden (!) Jahren. Immer wieder kommt es zu apokalyptischen Katastrophen, aus denen eine neue Menschheit hervorgeht, und jede dieser menschlichen Spezies unterscheidet sich mehr oder weniger deutlich von den Vorgängern - eine Zusammenfassung findet man im oben verlinkten Wikipedia-Artikel. Wir, von der Steinzeit bis noch ein paar hunderttausend Jahre in der Zukunft, sind die erste dieser Spezies, die First Men. Die letzte und achtzehnte Spezies, die Last Men, lebt in zwei Mrd. Jahren auf dem Neptun.
Diese letzten Menschen verfügen über telepathische Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie sich zu einem kollektiven Super-Bewusstsein zusammenschließen und damit auch die gemeinsame Vergangenheit erforschen können. Doch die Tage der letzten Menschheit sind gezählt. Eine Art Supernova in galaktischer Nachbarschaft hat katastrophale Auswirkungen auf die Sonne, die nun unaufhörlich immer heißer wird und sich ausdehnt - in heutiger Terminologie würde man sagen, sie wird zu einem Roten Riesen - und die Lebensbedingungen im gesamten Sonnensystem zerstört. Das wird zwar noch Jahrtausende dauern, ist aber unabwendbar. So bleibt der 18. Menschheit nur, in Würde das Ende abzuwarten. Zwei wichtige Dinge sind aber noch zu erledigen. Erstens, mit zahlreichen Sonden Lebenskeime in alle erdenklichen galaktischen Winkel zu senden, in der vagen Hoffnung, dass einige davon auf günstige Bedingungen treffen und eine neue Evolution hervorbringen. Die Erfolgsaussichten dieser Mission sind aber höchst ungewiss, und die letzte Menschheit wird nichts mehr über den Erfolg oder Misserfolg erfahren. Und zweitens, telepathisch Kontakt mit den First Men (also mit uns) aufzunehmen. Genau das ist der ganze Roman, und der von Tilda Swinton vorgetragene Text: Der aus ferner Zukunft telepathisch übertragene kollektive Bericht der achtzehnten an die erste Menschheit über das, was alles in der Zukunft geschehen wird (aus unserer Sicht) bzw. in der Vergangenheit geschehen ist (aus Sicht der Last Men auf dem Neptun), wobei sich der Film auf die letzte Phase der 18. Spezies beschränkt. Stapledons Roman wurde von Jóhann und einem José Enrique Macian adaptiert. Ob das bedeutet, dass sie nur die passenden Textstellen auswählten, oder ob sie frei nach dem Roman einen eigenen Text schrieben, geht aus den mir bekannten Informationen nicht hervor. Tilda Swinton trägt den Text nüchtern vor, fast unterkühlt, auch wenn man eine gewisse Melancholie herauslesen mag. Das war von der ersten Idee an so geplant, und Swinton war Jóhanns Idealbesetzung, wie er 2017 in einem Interview anlässlich der Vorführung in Manchester sagte.
Die Musik und der Text kommen sich gegenseitig nicht in die Quere, es gibt aber auch keine klar erkennbaren Verbindungen, und das gilt auch für die Bilder der Spomeniks. Man mag dabei an verfallende Technik oder auch Kultstätten irgendeiner der vergangenen Menschheiten denken, aber klare Hinweise gibt der Film nicht. In LAST AND FIRST MEN ihres geografischen, historischen und politischen Kontexts entkleidet, wirken fast alle Spomeniks im Film ziemlich abstrakt. So bleibt viel Raum für freies Assoziieren. Und bei mehrfacher Sichtung des Films kann man sich mal auf die eine und mal auf die andere seiner Ebenen konzentrieren und ihn dabei ganz unterschiedlich wahrnehmen. Wer aber eine geschlossene Einheit von Bild und Ton erwartet, der wird mit LAST AND FIRST MEN nicht recht glücklich werden. Unter den Filmen der letzten Jahre ist LAST AND FIRST MEN sicher einer der ungewöhnlichsten. Wirklich singulär ist er aber nicht, steht er doch in der Tradition so extravaganter Werke wie Christopher Youngs OBJECT LESSON (1941) oder José Val del Omars erstaunliches TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA. Ob solche Traditionslinien Jóhann bewusst waren, steht aber auf einem anderen Blatt.
LAST AND FIRST MEN ist bei der Deutschen Grammophon in zwei Editionen erschienen, die den Film auf Blu-ray und zusätzlich die Musik auf CD bzw. Schallplatte enthalten. Booklet und Menü sind englischsprachig, und für den gesprochenen Text gibt es optionale engl. Untertitel, aber Swintons Aussprache ist ohnehin tadellos und sehr gut verständlich. - Wer mehr über Spomeniks wissen will, findet in der Spomenik Database eine gute Anlaufstelle. Und in der Ausgabe 09/2020 der Zeitschrift GEO findet sich ein schön bebilderter Artikel über den Brutalismus, in dem außer Spomeniks auch die Sowjetunion und andere frühere Ostblockstaaten zu ihrem Recht kommen.

Sonntag, 16. August 2020

SPRING NIGHT SUMMER NIGHT: Neorealismus und Sexploitation in den Appalachen

SPRING NIGHT SUMMER NIGHT (fälschlich auch SPRING NIGHT, SUMMER NIGHT; Sexploitation-Version MISS JESSICA IS PREGNANT)
USA 1967
Regie: Joseph L. Anderson
Darsteller: Larue Hall (Jessie), Ted Heimerdinger (Carl), John Crawford (Virgil), Marj Johnson (Mae), Mary Cass (Rose), Betty Ann Parady (Donna), Ronald B. Parady (Tom), David Ayres (Lou), Jon Webb (Frank), Bob Jones (Jacob), Tracy Smith (Chris), Isabel Stott (Großmutter)


We gotta get out of this place
If it's the last thing we ever do
We gotta get out of this place
'Cause girl, there's a better life for me and you


(Eric Burdon und die Animals im Sommer 1965, als SPRING NIGHT SUMMER NIGHT gedreht wurde)
Diesmal geht es um einen Film, der vielleicht ein Klassiker des amerikanischen Independent-Kinos hätte werden können - doch in Wirklichkeit ist er kläglich gescheitert und verschwand für Jahrzehnte komplett in der Versenkung, bis er in einem langwierigen Prozess, der sich rund 15 Jahre hinzog, wieder hervorgeholt und restauriert wurde und seine verdiente Würdigung erfuhr.

Jessie und Carl, Mae und Virgil
Regisseur Joseph L. Anderson (in den Credits als J. L. Anderson) war und ist in Theorie und Praxis des Films gleichermaßen bewandert. Nachdem er in jungen Jahren beim militärischen Geheimdienst CIC war, war er in den 50er Jahren an Filmproduktionen in Japan beteiligt, z.B. Daniel Manns THE TEAHOUSE OF THE AUGUST MOON mit Marlon Brando, Glenn Ford und Machiko Kyō, und er hatte auch mit Kurosawa zu tun. 1959 veröffentlichte er zusammen mit Donald Richie, dem 2013 verstorbenen Altmeister der amerikanischen Japan-Rezeption, The Japanese Film: Art and Industry, das erste ernstzunehmende Buch über den japanischen Film in englischer Sprache, er beteiligte sich führend an einem Kongress des New American Cinema in Yellow Springs (Ohio), bei dem u.a. auch Albert und David Maysles und Shirley Clarke zugegen waren, und er schrieb eine große Zahl an Artikeln über Filmthemen in diversen Zeitschriften. In den 60er Jahren lehrte er Film an der Ohio University in der beschaulichen Kleinstadt Athens im Südosten des Bundesstaats, die gut 20.000 Einwohner aufweist (nicht zu verwechseln mit der Ohio State University in der Hauptstadt Columbus, an der Anderson zuvor auch tätig war). Anfang der 60er Jahre drehte er einige Kurzfilme, und als Teil der Ausbildung der Studenten machten diese auch welche, doch dann reifte die Idee, dass man auch mal zusammen einen Spielfilm herstellen sollte, um den Nachwuchs an größere Aufgaben heranzuführen. Mit einem seiner fortgeschrittenen Studenten (graduate student), Franklin Miller, und einem weiteren Partner, Doug Rapp, nahm er das Projekt in Angriff. Die drei kannten sich schon länger und waren befreundet, Miller hatte auch schon an Andersons Kurzfilmen als Musiker, Cutter und teilweise an der Kamera mitgearbeitet. Als Dreh- und Handlungsort des Films waren die Ausläufer der Appalachen im südöstlichen Ohio vorgesehen, also im erweiterten Umkreis von Athens. Ursprünglich war geplant, ein Bühnenstück aus den 30er Jahren als Vorlage zu nehmen. Aber das lief gerade am Broadway, was komplizierte Verhandlungen und erhöhte Kosten wegen der Rechte bedeutet hätte, und so ließ man die Idee fallen und verlegte sich auf einen eigenen Stoff.

Familie mit Kindern und Großmutter
Anderson, Miller und Rapp begannen 1963 ernsthaft mit ihren Recherchen für die Handlung und Location-Suche im ruralen Hügelland und schrieben dann also ein Original-Drehbuch für den Film. Doug Rapp war auch für die Hauptrolle vorgesehen, aber dann starb er noch vor den Dreharbeiten bei einem Motorradunfall. Anderson und Miller ließen sich davon nicht entmutigen, sondern trieben nun zu zweit das Projekt voran. Während Anderson allein die Regie übernahm, waren er und Miller gemeinsam die Produzenten und erledigten auch zusammen den Schnitt. Aber bei der familiären Atmosphäre beim Dreh gab es ohnehin keine strenge Arbeitsteilung - fast jeder übernahm mehrere Aufgaben, für die gerade jemand gebraucht wurde. Franklin Miller, immerhin einer der beiden Produzenten, war sich etwa nicht zu schade, eigenhändig den Dolly anzuschieben, und er fuhr auch mal einen Traktor eine Meile zum Drehort. Seine Frau Judy, die eigentlich nichts mit Film zu tun hatte, war continuity girl, ansonsten bestand die Crew aus Filmstudenten, was ja der ursprüngliche Zweck des ganzen Projekts war. Vor allem kamen gleich drei angehende Kameramänner zum Einsatz. Was nach einer potentiellen Problemquelle klingt, erwies sich als Glücksgriff, denn die Kameraarbeit ist eine der großen Stärken von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT. Nicht wenige Szenen wurden mit zwei Kameras gleichzeitig gefilmt, und dann meist zwei Handkameras, was einige äußerst dynamische Schnittfolgen ermöglichte.

Die Farm
Die Dreharbeiten fanden schließlich in zwei Monaten im Frühsommer 1965 im Perry County statt, das direkt ans Athens County angrenzt, und dort vor allem in und bei der Siedlung Shawnee, sowie im etwas weiter südlich gelegenen Meigs County, wo die Farm stand. Nur einige Szenen in einer Bar, auf die ich noch zurückkomme, wurden in Athens gedreht (aber es gibt in SPRING NIGHT SUMMER NIGHT überhaupt keine Studioaufnahmen), und ein oder zwei Szenen mussten etwas später gedreht werden, weil die alle 17 Jahre massenweise auftretenden Zikaden die Straßen verunstalteten. Obwohl es sich also in einem gewissen Sinn um einen Studentenfilm handelt, wurde von allen auf professionelle Arbeitsweise geachtet - die Studenten sollten ja lernen, wie es im "richtigen" Filmgeschäft zugeht. Deshalb wurde auch mit zwar etwas alten, aber industrietauglichen 35-mm-Kameras gedreht, und nicht, wie bei solchen Projekten eher üblich, auf 16 mm. Die Nachvertonung übernahm ein professioneller Tontechniker, der sich modernes Equipment aus New York besorgt hatte und damit, neben anderen Arbeiten, viele weitere Studentenfilme aus Athens veredelte. Gekostet hat das alles am Ende 25.000 bis 30.000 Dollar, also auch für damalige Verhältnisse fast ein Nichts für einen Spielfilm.


Worum geht es nun? Die Handlung dreht sich um eine Familie, die ein Farmhaus etwas außerhalb der Siedlung bewohnt. Es ist eine ärmliche, vergleichsweise rückständige Gegend. Zwar kann sich auch hier fast jeder irgendeinen fahrbaren Untersatz leisten, aber das "stille Örtchen" der Farm ist ein abseits vom Haus stehendes Plumpsklo. Der Film beschäftigt sich nicht weiter damit, wie die Farm bewirtschaftet wird - SPRING NIGHT SUMMER NIGHT ist ein Drama, aber keine Pseudodokumentation über das Landleben. Trotzdem vermittelt er über seine präzisen Bilder eine Ahnung der Lebensumstände dort. Die Familie (den Familiennamen Roy erfährt man erst spät und nebenbei) besteht aus dem Vater Virgil, der Mutter Mae, dem erwachsenen Sohn Carl, seiner nur wenig jüngeren Schwester Jessie, sowie vier jüngeren Geschwistern (und eine Oma gibt es auch noch, aber sie spielt in der Handlung keine Rolle). Carl ist der Sohn von Virgils erster Frau, die bei seiner Geburt gestorben ist, die anderen Kinder sind von Mae. Während die vier jüngeren Kinder noch unbeschwert sind, sind Virgil, Mae, Carl und Jessie unzufrieden mit ihrem Dasein, was dazu führt, dass man sich gegenseitig auf die Nerven geht. Früher gab es am Ort, wie vielerorts in den Appalachen, ein Kohlebergwerk, das für Prosperität sorgte. Mae trauert diesen Zeiten hinterher, denn irgendwann war das Bergwerk unrentabel geworden und wurde geschlossen, und seitdem ging es mit der Gegend bergab. Mae, die auch das Leben in der Großstadt und in Kalifornien kennengelernt hat, sieht sich nun hier in der Abgeschiedenheit versauern und kompensiert das mit häufigen (zu häufigen für Virgils Geschmack) Besuchen in der Bar, wo sie sich mit Bekannten trifft. Virgil sieht durch Carls Aufsässigkeit seine Autorität schwinden, und auch er trauert alten Zeiten hinterher. Wenn ihm Mae auf die Nerven geht, erinnert er an seine erste Frau, die den traditionellen Vorstellungen von einer Ehefrau wohl mehr entsprochen hat als die eigensinnige Mae. Und in einer langen Sequenz, als er in der Bar sitzt und zu tief ins Glas geschaut hat, erzählt er seinem Gegenüber (der nie antwortet, so dass es sich eigentlich um einen Monolog handelt) von den besseren Zeiten, als er bei der Armee in Europa stationiert war. Damals hatte er genug Geld, keine Sorgen, und für ein paar Schachtel Zigaretten konnte man jede Frau bekommen. Dann geht er ins Grundsätzliche: Man versucht, sein Leben richtig zu führen, aber irgendwie klappt das nie richtig. Und er meint, er hätte besser nie hierher zurückkehren sollen.


Carl wiederum möchte sich von Virgil und Mae nichts mehr sagen lassen, und er sieht am Ort absolut keine Perspektiven für sich. Deshalb will er weg, und er versucht, Jessie zu überreden, mit ihm zu kommen. Doch die ist zögerlich. Zwar ist sie auch nicht wirklich glücklich hier, aber sie glaubt nicht, dass es woanders besser ist. Carls Drängen hat einen Grund, der lange nicht ausgesprochen wird, der sich aber in Gesten und Blicken langsam offenbart: Er ist heimlich in Jessie verliebt. Das wird offensichtlich in einer Szene in der oben erwähnten Bar, die proppenvoll ist, weil eine Bluegrass-Band zum Tanz aufspielt. Carl, der angetrunken ist, wird handgreiflich und macht Jessie eine Szene, weil die mit anderen jungen Männern tanzt. Diese Sequenz ist ein früher Höhepunkt im Film. Anderson und Miller griffen dafür zu einem Trick: In Absprache mit dem Besitzer annoncierten sie, dass am fraglichen Termin eine Art Spielgeld ausgegeben wird, das man in der Bar (und nur dort) gegen echte Getränke eintauschen konnte, und zwar in rauen Mengen. Wenn sich die beiden Filmemacher Jahrzehnte später korrekt an die Zahlen erinnerten, dann reichte es für 20 Flaschen Bier pro Kopf. Diese mit Alkohol bezahlten Komparsen sollten sich ansonsten benehmen wie immer und sich nicht um das Filmteam kümmern. Der Plan ging auf. Die Schauspieler, die dem Drehbuch folgten, die Bluegrass-Band und die angeheiterten Komparsen, die tranken, tanzten und sich unterhielten, bilden eine untrennbare Einheit und sorgen für eine sehr dicht und dynamisch gefilmte Szene.


Nach dem Streit in der Bar folgt die Schlüsselszene des Films. Carl hat Jessie regelrecht in sein altes Auto gezerrt und fährt in der Dunkelheit heimwärts. Durch die Windschutzscheibe sieht man, dass sie sich in angespannter Atmosphäre unterhalten, aber man hört nichts davon. Nach einem Schnitt sieht man eine Großaufnahme von Jessie in der Morgendämmerung. Sie sieht etwas betreten und ängstlich aus, dann geht sie schweigend davon. Carl zieht sich die Hose hoch über den nackten Hintern. Huch! War das wirklich das, wonach es aussieht? Der Film lässt einen hier bewusst einige Zeit im Unklaren, aber, um es vorwegzunehmen, die beiden haben nächtens in irgendeiner Wiese miteinander geschlafen. Und damit ist die Spring Night vorbei.

Remmidemmi in der Bar
Harter Schnitt. Carl steigt am hellichten Tag aus einem Auto, das ihn mitgenommen hat, und geht die letzten paar hundert Meter zur Farm. Man könnte zunächst meinen, dass es der Tag nach dem Tabubruch ist, doch wie man in den folgenden Minuten erfährt, war Carl direkt danach in die Großstadt Columbus entschwunden, ohne vorher Bescheid zu sagen, und ohne von dort zu schreiben oder anzurufen, so dass keiner wusste, wo er war. Und nun, Monate später, wir sind jetzt im Sommer, ist er wieder da. (Es wurden auch Szenen mit Carl in Columbus gedreht, aber die haben es dann nicht in den Film geschafft.) Seinen Aussagen nach wollte er Geld verdienen, aber schlechtes Gewissen oder Unsicherheit nach dem Fehltritt war wohl der eigentliche Grund (und er hat auch nicht viel verdient und musste sogar sein Auto verkaufen). Bei seiner Rückkehr ist Jessie gerade die einzige im Haus - und man sieht, dass sie schwanger ist. Damit wird ohne Worte bestätigt, was man schon ahnte. Aber Jessie hat niemandem verraten, wer der Vater des Kindes ist, und sie macht sehr deutlich, dass es dabei bleiben wird. Carl ist also vorerst nicht in Gefahr. Doch die Situation nagt an Virgil, der meint, dass er dadurch zum Gespött im Ort wird, und er bedrängt Jessie pausenlos, mit dem Namen des "Täters" herauszurücken. Aber eigentlich interessiert sich außer Virgil selbst und Jessies Freundin Donna niemand sonderlich dafür, nicht einmal Mae.

Jessie tanzt mit Tom, was Carl nicht gefällt; Streit zwischen Virgil, Mae und Rose
Bei Carls Rückkehr sind Virgil und Mae wieder einmal in der fraglichen Bar und geraten in Streit. In den wird auch Maes etwas angetrunkene Freundin Rose verwickelt. Um sich wichtig zu machen, oder um Virgil eins auszuwischen, macht sie ihm weis, dass Tom Morgan der Vater sei, ein früherer Schulkamerad von Jessie. In Wirklichkeit hat Rose keine Ahnung, aber Virgil fällt darauf herein. An der Tankstelle im Dorf stellt er Tom zur Rede und will ihn zum "Geständnis" zwingen. Nur mit Mühe kann er von Tom und dem Tankstellenbesitzer Lou beschwichtigt werden. Unterdessen hatten Carl und Jessie viel Zeit, um ihre Situation zu besprechen. Einerseits stehen da noch Vorwürfe im Raum, aber andererseits kommt man sich auch entgegen. Carl sei betrunken gewesen, meint Jessie entschuldigend, doch der erwidert, nicht so betrunken, dass er nicht mehr gewusst hätte, was er tat. Und Jessie sagt, sie hätte das Geschehen auch stoppen können, wenn sie gewollt hätte. So wird klar, dass das in jener Nacht keine Vergewaltigung war. Und Carl rückt nun damit heraus, dass er Jessie liebt, dass er deshalb zurückgekehrt sei, und dass er eine gemeinsame Zukunft mit ihr will. Aber Jessie hält das aus offensichtlichen Gründen für unmöglich und absurd. Carl hat aber einen vagen Hoffnungsschimmer, an den er sich klammert. Wie der Dorftratsch weiß, führte Mae damals, als sie Virgil heiratete, ein lockeres Leben mit vielen Männerbekanntschaften. Vielleicht ist also Virgil gar nicht Jessies Vater? Dann wären die vermeintlichen Halbgeschwister gar nicht biologisch verwandt, und die Situation wäre viel entspannter.

Nach der ominösen Nacht schleicht Jessie betreten davon
Anfangs möchte Jessie nichts von dieser Idee hören, doch Carl beschwatzt sie so lange, bis sie es zumindest nicht mehr ausschließt. So machen sich die beiden schließlich auf in die inzwischen wieder gut gefüllte Bar, um Mae zu befragen. Doch das wird zu einer herben Enttäuschung. Mae ist erst einmal erstaunt über die indiskrete Frage, ob Virgil wirklich Jessies Vater ist. Doch sie ist nicht doof und erkennt schnell, was dahinter steckt. Damit ist also Carl zunächst mal für Mae als der Kindsvater enttarnt. Und zu allem Überfluss kann sie die Frage nicht beantworten - wie sie glaubhaft versichert, weiß sie selbst nicht, wer Jessies Vater ist. Als Jessie und Carl danach in der Dunkelheit (wir sind jetzt in der Summer Night) frustriert und ratlos nach Hause gehen, begegnet ihnen zufällig Virgil. Er fängt Streit an wegen Carls langer unentschuldigter Abwesenheit, in der er auf dem Hof benötigt worden wäre. Carl platzt jetzt regelrecht heraus damit, dass er der gesuchte Übeltäter ist. Es kommt zum Handgemenge, Virgil zückt sogar sein Gewehr, aber Carl nimmt es ihm weg und schlägt ihn nieder. Als sich Virgil wieder aufrappelt, ist er nur noch ein Häufchen Elend. Am nächsten Morgen steigen Carl und Jessie in den Bus und fahren weg - irgendwohin. Schweigend sitzen sie nebeneinander und blicken ins Leere. Ende offen.

Carls Freund Frank fährt eine BMW, Jacob ein langsameres Gefährt, und die Autos auf der Farm sind nicht mehr ganz neuwertig
Jugendliche Tristesse und Perspektivlosigkeit in einer Kleinstadt im Nirgendwo - das erinnert thematisch an Peter Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW (1971), und auch Barbara Lodens WANDA von 1970 wird in diesem Zusammenhang gern genannt, mit einer etwas älteren Protagonistin, aber im Rust Belt und damit näher an den Appalachen angesiedelt als das Texas von Bogdanovich. - Joseph Anderson brachte seinen Studenten nicht nur die praktischen Dinge des Filmemachens bei, sondern machte sie auch mit aktueller und älterer europäischer Filmkunst vertraut, neben den damals aktuellen "neuen Wellen" auch mit dem Neorealismus, und dabei nicht nur den Klassikern, sondern auch Nachzüglern wie den Frühwerken von Ermanno Olmi. Und der Neorealismus sollte auch als Vorlage für die Produktionsweise von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT dienen: Drehen vor Ort an Originalschauplätzen mit wenig oder gar keiner Studiozeit, Einsatz von Laiendarstellern neben professionellen Schauspielern, und aus dem Leben einfacher Leute gegriffene Themen. Im Cast von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT finden sich keine bekannten Namen, aber die vier Hauptrollen wurden nicht von Amateuren, sondern mindestens semiprofessionellen Bühnendarstellern gespielt. Es gab keine Castings, sondern Anderson hatte alle Kandidaten schon irgendwann auf der Bühne gesehen und für gut befunden und sprach sie an, ob sie nicht in einem Film mitspielen wollten.

Mae lässt sich von ihren Freunden in die Bar abholen
Ted Heimerdinger aus Youngstown, einem ehemaligen Zentrum der Stahlindustrie, hatte am Kenyon College in einer Kleinstadt in Ohio (wo auch Franklin Miller geboren wurde) irgendwann die jährlich verliehene Paul Newman Trophy für Dance & Drama als bester männlicher Schauspieler erhalten (Paul Newman, der selbst aus Ohio stammte, hatte in Kenyon studiert), und Marj (vollständig Marjorie) Johnson stand in Kenyon oft gemeinsam mit Heimerdinger auf der Bühne (während sie in SPRING NIGHT SUMMER NIGHT seine Stiefmutter ist, war sie in Ibsens "Rosmersholm" seine Frau). Angeblich war es Marj Johnson, die Paul Newman aufgrund seines Talents riet, eine Schauspielkarriere anzustreben. Auf jeden Fall lebte sie damals in Mount Vernon in unmittelbarer Nähe des Kenyon College. Larue Hall hatte einen Abschluss an der Ohio University gemacht, und sie war schon als Schauspielerin aktiv, als sie das Angebot für ihre Rolle erhielt. Sie drehte auch Filme in Europa, darunter in Island, aber darüber konnte ich nichts herausfinden. Mary Cass, die meist angesäuselte Rose im Film, war auch schon in Columbus und in New York auf der Bühne gestanden. Tom Morgan und Donna werden von Ron und Betty Ann Parady gespielt, und ich nehme an, dass die Paradys damals miteinander verheiratet waren, habe aber keine Bestätigung dafür gefunden. Falls das tatsächlich der Fall war, waren sie spätestens 1970 wieder geschieden. Beide verfolgten ab den 70er Jahren Karrieren als TV- und Theaterschauspieler. Ron, der auch einige Jahre einen Lehrauftrag für Theater an der Northwestern University in Illinois hatte, war beispielsweise in einigen Folgen der Krimiserie HILL STREET BLUES zu sehen. Noch erfolgreicher war Betty, die sich nun Hersha Parady nannte, denn sie ergatterte eine Serienrolle in Michael "Little Joe" Landons LITTLE HOUSE ON THE PRAIRIE (UNSERE KLEINE FARM), was ihr bis heute treue Fans bescherte. Die Rolle des Virgil wird in der IMDb und anderen Quellen dem Schauspieler John Crawford (1920-2010) angedichtet, aber das ist der Falsche. Der weniger bekannte richtige Crawford ist John W. Crawford (1931-2017). Er war u.a. Bühnenkomiker, der Grimassen wie Jerry Lewis schnitt, er spielte in Musicals wie "Oklahoma", er trat in Radio und Fernsehen auf, und als Produzent und Regisseur hat er sich auch betätigt. Hier findet man einen Nachruf, den er zum größten Teil selbst verfasst hat. Während also die Hauptrollen mit richtigen Schauspielern besetzt sind, werden Nebenrollen von lokalen Amateurdarstellern ausgefüllt, und einige der Filmschaffenden hinter der Kamera treten auch in Minirollen auf.

Das Plumpsklo
1967 war man mit der Postproduction fertig, und SPRING NIGHT SUMMER NIGHT wurde in diesem Jahr beim Filmfestival von Pesaro in Italien gezeigt, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Laut Anderson und Miller hatten die überwiegend linken italienischen Kritiker nicht verstanden oder akzeptiert, dass man in den USA ein Auto besitzen und trotzdem arm sein konnte, und waren deshalb gegen den Film eingestellt. Einige Schweizer und deutsche Kritiker sollen den Film in Pesaro gelobt haben, aber die waren wohl deutlich in der Unterzahl. Mehr Erfolg versprach man sich dann vom New York Film Festival 1968, wo SPRING NIGHT SUMMER NIGHT im Programm war - aber dann wurde er kurzfristig und ohne große Umstände wieder aus dem Programm geworfen, zugunsten von FACES von John Cassavetes. Und das war es dann schon fast mit SPRING NIGHT SUMMER NIGHT in seiner ursprünglichen Form. Es gab einzelne, halb private Vorstellungen hier und da in Ohio, aber der Film fand keinen Verleih für einen regulären Vertrieb, obwohl Willard Van Dyke, ein Pionier des amerikanischen Independentfilms und damals Filmkurator am Museum of Modern Art in New York, dafür die Werbetrommel rührte (Van Dyke, der 1966 eine Vorabversion gesehen hatte, war wohl auch dafür verantwortlich, dass der Film nach Pesaro geschickt wurde). Als die Lage schon sehr betrüblich war, kam ein Rettungsangebot mit Pferdefuß von Joseph Brenner Associates.

Bei Donna; rechts unten Rose
Joseph Brenner war ab den frühen 50er Jahren für dreieinhalb Jahrzehnte einer der führenden unabhängigen Distributoren von Genre- und (S)Exploitationfilmen in den USA. Er kaufte beispielsweise alte Horrorfilme auf, darunter Tod Brownings FREAKS, und verschaffte ihnen ein Re-release (oder auch mal ein Re-re-release). Immer warb er mit spektakulären und oft spekulativen Plakaten und Trailern. Beispielsweise bewarb er MAU-MAU (1955) von Elwood Price, eine Doku über die gleichnamige Freiheitsbewegung im Kenia der 50er Jahre, mit dem mehr als fragwürdigen Slogan "Weird, mysterious love rites, performed by sex-mad natives!". Oft versprach die aggressive Werbung viel mehr, als der jeweilige Film einhielt. Zu Brenners Strategie gehörte auch, ein und demselben Film gleichzeitig oder nacheinander mehrere Titel zu verpassen. Das selbst für damalige Verhältnisse zahme Nudisten-Drama ELYSIA (1934) von einem Carl Harbaugh hieß dann bei Brenner zunächst ELYSIA, VALLEY OF THE NUDES. Dort, wo ein Titel mit dem Wort NUDES auf Schwierigkeiten stieß, hieß der Film dann aber LAND OF THE SUN WORSHIPPERS, in besonders liberalen Gegenden wiederum NAKED AND UNASHAMED NUDISTS. Brenner importierte auch jede Menge geeignet erscheinender Filme aus Europa. Roger Fritz' MÄDCHEN MIT GEWALT hieß bei ihm nacheinander THE BRUTES, GIRL AND THE BRUTES und schließlich CRY RAPE. Zu Brenners Maßnahmenkatalog gehörte es auch, die Filme unter seinen Fittichen mit Schnitten und/oder nachgedrehten Sexszenen "nachzubessern". Dieses Schicksal ereilte sogar Fritz Umgelters Komödie MIT EVA FING DIE SÜNDE AN von 1958, der dann 1962 bei Brenner THE BELLBOY AND THE PLAYGIRLS hieß. Kein Geringerer als Francis Ford Coppola (unter Mitwirkung seines Studienfreunds Jack Hill, später eine Exploitation- und Blaxploitation-Größe und noch später ein Favorit von Tarantino), drehte unter Brenners Aufsicht die eingeschobenen Szenen. Ab den 70er Jahren importierte Brenner bevorzugt italienische Genre-Ware - Gialli, Poliziotteschi, Horror. Die manchmal länglichen Titel kürzte er dabei gerne auf ein Wort, so hieß Sergio Martinos I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE bei Brenner kurz und griffig TORSO. Brenners Manipulationen an bestehenden Filmen machten auch vor aktuellen einheimischen Werken, denen bislang der Erfolg versagt blieb, nicht halt (und damit kommen wir langsam wieder zum eigentlichen Thema). So gab es da einen offenbar begabten Nachwuchsregisseur namens Martin Scorsese, dessen erster Spielfilm I CALL FIRST aber keinen Verleih finden wollte. Brenner bot sich an, unter zwei Bedingungen: Es sollten Nacktszenen eingefügt werden, und der Titel sollte in WHO'S THAT KNOCKING AT MY DOOR geändert werden. Scorsese tat, wie ihm geheißen, und drehte die Sexszenen mit Harvey Keitel in einem Bordell in Amsterdam. - Joseph Brenner verabsäumte es, sich rechtzeitig auf die Video-Revolution einzustellen, die ihm schließlich in den 80er Jahren das Wasser abgrub. Seinen letzten Film, Michael Stanleys ATTACK OF THE BEAST CREATURES, brachte er 1985 in Umlauf. Dreizehn Jahre später starb Brenner.

Zeit zum Nachdenken über die Situation
1968 geriet nun auch SPRING NIGHT SUMMER NIGHT in die Fänge von Joseph Brenner, und wie der geneigte Leser schon ahnt, war das an Bedingungen gebunden: Der Film musste durch Schnitte "gestrafft" werden, es mussten nachgedrehte Sexszenen eingefügt werden, und der Titel musste zu MISS JESSICA IS PREGNANT geändert werden. Zum letzten Punkt sollte man wissen, dass "pregnant" (schwanger) eines der Worte war, die vom Production Code für Hollywoodfilme praktisch verboten waren. Zwar war der Production Code in den 60er Jahren erodiert und wurde 1967 formell abgeschafft, und für einen abseits von Hollywood agierenden Distributor wie Brenner hatte er ohnehin nie Gültigkeit. Trotzdem war MISS JESSICA IS PREGNANT damals noch ein spekulativer, wenn auch nicht wirklich reißerischer, Titel. Joseph Anderson war alles andere als begeistert, biss aber zähneknirschend in den sauren Apfel und willigte in die Bedingungen ein, damit sein Film überhaupt noch irgendwie unter die Leute kam. Die geforderten Sexszenen hat er selbst inszeniert. Noch weniger begeistert war allerdings Franklin Miller. Er beteiligte sich nicht an der "Nachbearbeitung", und seiner eigenen Aussage nach hat er MISS JESSICA IS PREGNANT nie angesehen. Geholfen hat die Brenner-Kur wenig. MISS JESSICA IS PREGNANT wurde im Februar 1970 auf seine Tour durch die Autokinos der USA geschickt. Nun ist der Februar kein besonders günstiger Monat für Autokinos, außerdem lief der Film immer in Double-Bills, also zusammen mit einem anderen Film, und füllte dabei die Rolle des B-Films aus. (Wobei der jeweilige "A-Film" eigentlich auch eher ein B-Film war - es ist halt alles relativ ...) Zwar lassen sich Vorführungen von MISS JESSICA IS PREGNANT noch bis 1974 nachweisen, aber er war trotzdem ein ziemlicher Flop. Statt also wenigstens zu einem Sexploitation-Klassiker zu werden, verschwand SPRING NIGHT SUMMER NIGHT bzw. MISS JESSICA IS PREGNANT komplett in der Obskurität. Dafür gab es noch ein kriminalistisches Nachspiel: Irgendjemand hatte MISS JESSICA IS PREGNANT bei den Behörden als "pornografisch" angezeigt, und so erschien eines Tages ein Trupp vom FBI aus Cincinnati bei Anderson, befragte ihn und durchsuchte sein Haus in Athens nach belastendem Filmmaterial. Man fand allerdings nur wissenschaftliche Lehrfilme, die Anderson für die eine oder andere Universität gedreht hatte, und anderes harmloses Material, und die Sache verlief dann wohl im Sand.

Virgil möchte von Jessie einen Namen hören
Die Wiederentdeckung begann vor 15 Jahren. Ein früherer Student von Franklin Miller programmierte eine kleine wandernde Filmschau mit dem Titel Rural Route Film Festival, die durch diverse Städte der USA tourte. Eher zufällig hatte er herausgefunden, dass auch Miller an einem passenden Film für die Tour beteiligt gewesen war, und er konnte ihn mit Mühe dazu überreden, SPRING NIGHT SUMMER NIGHT herauszurücken - der wollte eigentlich keine schmerzhaften alten Erinnerungen aufgewärmt sehen. Es handelte sich um die einzige verbliebene Vorführkopie der Originalfassung des Films. Miller hatte sie wohl früher öfters seinen Studenten in Iowa vorgeführt, jedenfalls war sie schon sehr ramponiert. Trotzdem begeisterte SPRING NIGHT SUMMER NIGHT den damaligen Mitbetreiber eines Arthouse-Kinos in Albuquerque, wo das Rural Route Film Festival 2005 halt machte. Zusammen mit einem Filmrestaurator machte er es sich zur Aufgabe, SPRING NIGHT SUMMER NIGHT vor dem endgültigen Verlust zu retten und soweit wie möglich zu restaurieren. Die Initiative dazu ging also nicht von Anderson oder Miller aus, aber nachdem die Sache erst einmal in Gang gekommen war, beteiligten sie sich mit ihrer Expertise daran. Freilich ging es anfangs nur schleppend voran, weil kaum Geld dafür da war. Doch vor einigen Jahren stieß Nicolas Winding Refn dazu, der Material für seine alternative Streaming-Plattform byNWR suchte, und mit einer größeren Geldspritze aushalf. Dabei konnte auf das erfreulich gut aussehende Negativ zurückgegriffen werden, und das ist gleich mehreren Glücksfällen zu verdanken. Erstens hatte Joseph Brenner das Negativ nach seiner "Umarbeitung" irgendwann an Anderson und Miller zurückgegeben, was alles andere als selbstverständlich war. Zweitens wäre das Negativ beinahe ein Raub der Fluten geworden. Es lagerte in einem Keller der University of Iowa in Iowa City, wo Franklin Miller Professor war. 2008 traten der Iowa River und weitere Flüsse im Mittleren Westen über die Ufer, und das Universitätsgelände wurde überflutet. Aber ein beherzter Student von Miller rettete die mit dessen Namen beschriftete Kiste mit dem Negativ im letzten Moment vor den anrückenden Wassern. Das Negativ war freilich nicht das von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, sondern das von MISS JESSICA IS PREGNANT. So glaubte man lange, dass man die darin fehlenden Teile des Originalfilms mit dem zerschlissenen Positiv würde ersetzen müssen, was eine stark schwankende Bildqualität bedeutet hätte. Doch dann fand sich, drittens, wundersamerweise irgendwo ein Kanister mit fast allen Schnittabfällen beider Versionen des Films. Zwar war das Material stark fragmentiert, wie das bei Schnittabfällen eben so ist, aber mit dem Positiv als Referenz bereitete es keine grundlegenden Schwierigkeiten, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen und digital zu scannen, und das Geld von Winding Refn erlaubte es, diese Arbeiten auf höchstem Niveau durchzuführen. So existiert jetzt also eine Fassung von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, die auf Blu-ray das Auge mit ihren klaren Schwarzweißbildern erfreut. Schon 2018, 50 Jahre nach dem gescheiterten ersten Anlauf, wurde der Film doch noch auf dem New York Film Festival gezeigt, und er lief auf weiteren Festivals. Er erschien auch wie geplant auf byNWR und kann dort nach wie vor kostenlos angesehen werden, in verschiedener Auflösung bis zu 1080p (also Blu-ray-Qualität) und wahlweise auch mit Untertiteln. Und heuer erschienen in den USA und in England zwei Blu-rays, die laut DVD Beaver bis auf Menue und Cover praktisch identisch sind, und die vorzügliches Bonusmaterial besitzen. Die US-Ausgabe von Flicker Alley hat zusätzlich auch eine DVD. Diese fehlt bei der englischen Edition von Indicator/Powerhouse, dafür ist diese zumindest bei den üblichen Quellen deutlich preiswerter. Beide Ausgaben sind regionalcodefrei.

Virgil monologisiert über frühere Zeiten
Franklin Miller übernahm nach seinem Studium einen Lehrauftrag für Film an der University of Iowa, wo er heute emeritierter Professor ist, und er verlegte sich auf experimentelle Filmtechniken, während er offenbar keinen weiteren Spielfilm mehr gemacht hat. Joseph Anderson dagegen inszenierte noch einen zweiten Spielfilm, mit dem heute unfreiwillig aktuellen Titel AMERICA FIRST (1972, gedreht im Sommer 1970). Neben David Prince, einem der drei Kameramänner von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, war dabei auch der heute arrivierte Ed Lachman an der Kamera, der auch einen Abschluss an der Ohio University in Athens erworben hatte und vielleicht von daher Anderson kannte. AMERICA FIRST lief laut IMDb 1972 auf mehreren Festivals, darunter in Deutschland auf der Veranstaltung, die heute Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg heißt, fand aber auch wieder keinen Verleih, und auch keinen zweiten Joseph Brenner. Peter Conheim, einer der beiden Restauratoren von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, schrieb über AMERICA FIRST: "It's a sort-of follow up to SNSN, though very different in tone. Filmed in color, in the same area, but more like ZABRISKIE POINT than SNSN!" Das gesamte Material von AMERICA FIRST befindet sich jetzt in den Händen von Conheim, und vorausgesetzt, das nötige Geld kann aufgetrieben werden, soll auch dieser Film restauriert und endlich veröffentlicht werden. Falls es wirklich dazu kommt, hat Ed Lachman seine Mitwirkung zugesagt. - Joseph Anderson hat später, neben anderen Tätigkeiten, auch Aufgaben im nichtkommerziellen Fernsehen der USA (Public Broadcasting Service) übernommen.


Es gibt die Geschichte, dass ausgerechnet Martin Scorsese von Joseph Brenner damit beauftragt wurde, die von diesem gewünschten Schnitte an SPRING NIGHT SUMMER NIGHT durchzuführen, und Scorsese soll (offenbar ohne Erfolg) erwidert haben "I think you should leave it like it is". Eine Bestätigung von Scorsese dafür scheint es aber nicht zu geben. Vielleicht ist das also nur eine schöne Legende.