Samstag, 24. Dezember 2022

Zärtlich, lustvoll und wüst in der Messestadt

Bericht vom außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos im Luru-Kino, Leipzig, 9.-12. Juni 2022


Editorische Notiz:

Zwischen dem Leipziger Hofbauer-Kongress und der Veröffentlichung dieses Textes ist viel Zeit vergangen. Teile des Berichts wurden am Montag und Dienstag, dem 13. und 14. Juni 2022, entworfen. Andere Teile kamen später, als die Erinnerung an die entsprechenden Filme bereits etwas verblasst war. Starke Qualitätsschwankungen im Text kommen (unter anderem) daher.



Nach über zwei Jahren pandemiebedingter Pause lud das Hofbauer-Kommando im frühen Sommer 2022 recht kurzfristig zu einem neuen Kongress unter dem Motto "Zärtlich, lustvoll, wüst" ein – und gönnte sich dabei ein Auswärtsspiel im Leipziger Luru-Kino. Zu entdecken gab es ein schönes, kleines, atmosphärisches Kino auf einem ehemaligen Industriegelände im Westen Leipzigs. Ein wunderbares Feature: auf dem kleinen Platz vor dem Kinoeingang konnten Filme spätabends in Open-Air-Vorstellungen gezeigt werden. 



Der leicht versteckte Eingangsbereich des Luru-Kino


Donnerstag, 9. Juni 2022


20.00 Uhr


CLAUDE ET GRETA ("Greta – Die Fremde kam nackt")

Regie: Max Pécas

Frankreich 1970

91 Minuten, 35mm, DF

Die naive schwedische Studentin Greta kommt nach Paris, wo sie unter die Protektion der reichen Lesbierin Claude gerät. Die ohnehin angespannte Beziehung zwischen den beiden Frauen wird herausgefordert, als Greta sich in Jean verliebt – der wiederum in einer angespannten Beziehung mit dem schwulen Künstler Mathias lebt.

Eine Sexploitation-Geschichte für das Bahnhofskino, erzählt in den erlesenen, slicken Bildern des hochpreisigen "Qualitäts"-Kino: visuell ist CLAUDE ET GRETA – auch trotz des leichten Rotstichs bei der gezeigten Kopie – absolut makellos, ja vielleicht sogar etwas zu makel- und kantenlos. Die Sexszenen sind durch Schleier fotografiert und wirken dadurch gleichzeitig sehr geschmackvoll, aber eben auch ein bisschen körperlos...

Da ich mir zu diesem Film keine Notizen gemacht hatte, fällt es mir viele Monate später sehr schwer, mich an Einzelheiten zu erinnern. Nur ein wohliges Gefühl schöner Bilder bleibt. Und ein sehr unwohliges Gefühl bezüglich seiner moralisierend-reaktionärer Heteronormativität, die weniger unterschwellig als sehr prononciert ist: der Film legt es schon drauf an, die beiden homosexuellen Figuren als wahlweise intrigant-manipulativ oder lächerlich darzustellen (wenn er dabei scheitert, Claude und Mathias also offensichtlich entgegen den Absichten des Films ein Eigenleben als würdige Charaktere entfalten, ist der Film am interessantesten – während Greta und Jean schon eher fade Trüblinge bleiben).



Vorbereitetes Open-Air am Luru-Kino



22.00 Uhr

Open Air


DAS STACHELTIER: DAS GROSSE ABENTEUER

Regie: Richard Groschopp

DDR 1953

10 Minuten, 35mm

Ein Bayer fährt zu einer Messe nach Leipzig, voller Angst, von der Stasi verhaftet und nach Sibirien deportiert zu werden.

Ein interessanter Film darüber, wie sich Ostdeutsche in der Hochphase des Kalten Kriegs (und noch im Stalinismus) den Ottonormal-Bayern vorgestellt haben: mit Lederhose und einem großen Proviant an Bier im Reisegepäck ausgestattet, etwas trottelig, aber eigentlich auch herzensgut. Die "Stasi-Leute", die ihn "verhaften" kommen, entpuppen sich als Mitbewohner für das Zimmer im messebedingt ausgebuchten Hotel – beruhigt kann da das Reiseproviant an Bier und Weißwürsten gemeinsam vernichtet werden! Wäre der Handelsreisende bloß in Leipzig geblieben – denn zurück in Bayern gerät er richtig in Schlamassel!



HUT AB, WENN DU KÜSST!

Regie: Rolf Losansky

DDR 1971

86 Minuten, 35mm

Die Automechanikerin Petra (Angelika Waller) wird von ihrem Verlobten, dem Ingenieur Fred (Alexander Lang) regelmäßig gerügt, weil sie sich zu männlich benehme. Ihres trüben Fiancés überdrüssig lässt sich Petra nur allzu gerne den Hof machen von Juan (Rolf Römer), dem Neffen eines spanischen Konsuls, der zu Besuch bei der Leipziger Messe weilt.

HUT AB, WENN DU KÜSST! stellte eine Premiere beim Hofbauer-Kongress dar: der erste abendfüllende Film aus der DDR, der bei dieser Veranstaltung lief. Nun, Sexfilme gab es in der DDR offiziell natürlich nicht... doch Lust, Begehren und Erotik konnten sich natürlich doch in der einen oder anderen Form in eine Komödie oder in ein Melodrama einschleichen (siehe dazu einige meiner Ausführungen zu DIE SCHÖNSTE, DU UND ICH UND KLEIN-PARIS, REIFE KIRSCHEN und DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR, die beim 1. Jenaer Paradies-Filmfestival liefen). Der Leipziger Kongress griff nun also zu dieser Leipziger RomCom, um das sleazologische Terrain der DEFA zu erkunden. Die Aussicht war schön, wenn auch nicht sonderlich spektakulär: zu sehen gab es eine Neo-Screwball-Komödie, die dank eines hohen Tempos und vieler witziger Ideen ein sehr kurzweiliges Vergnügen bereitete (auch wenn der Film ein verblüffend reaktionäres Bild von Geschlechterbeziehungen und Ehe hat: hier gut vergleichbar mit REIFE KIRSCHEN – und möglicherweise Ausdruck einer konservativen Familienpolitik in der DDR der 1970er?). Szenen, die in Schwarzweiß mit schneller Klaviermusik zu kleinen Slapstick-Nummern stilisiert werden; einige witzig-amouröse Verfolgungsjagden durch ein internationales Messe-Hotel; ein sehr denkwürdiges gemeinsames Duschen des enttäuschten und traurigen Fred mit einem Arbeitskollegen in der Werksdusche, bei der das tröstende Gespräch mit der Vernichtung rauher Mengen an Radeberger-Pils einhergeht; dazu immer wieder Verwechslungssituationen, wenn Petra wahlweise in "männlichem" Mechanikeroverall oder "weiblicher" Abendgarderobe von Leuten nicht erkannt wird. Und der große Höhepunkt: Petras lange, singende und sehr befreiende Radtour durch die Leipziger Innenstadt, gefilmt in einer einzigen langen und ausgelassenen Plansequenz on location.




Freitag, 10. Juni 2022


14.00 Uhr


SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT – "KARTOFFELSUPP, KARTOFFELSUPP"

Regie: Erich Schönfelder

Deutschland 1931

77 Minuten, 35mm

Im Internat der Baronin Wittenau sind zwar Lola, Fritzi, Vera und Elsa untergebracht – aber ein Mann, das fehlt! Das ändert sich, als eine Armeeeinheit mit vielen feschen, jungen Soldaten für ein nahegelegenes Manöver einquartiert wird.

Die sleazologischen Expeditionen des Hofbauer-Kommandos im deutschen Kino haben bei diesem Kongress zum ersten mal in die DDR geführt – das Vorkriegskino wird schon länger ausgelotet. Dass das Weimarer Kino mehr ist als Expressionismus und Fritz Lang, hat diese schöne Ausgrabung wieder einmal deutlich gemacht: eine frische, spritzige, vergnügliche, teils verblüffend moderne und teils erstaunlich pikante Komödie. Atmosphärisch und inhaltlich wird einiges abgedeckt: es gibt Gesangseinlagen, Slapstick, Romantik, leises Begehren und derbe Erotik, subtile Gags und schenkelkopfenden Klamauk – und an jeder Ecke lauert eine Verwechslung.

Es beginnt damit, dass Ida Wüst breitbreinig in einem androgynen Reiterkostüm eine Reitgerte lustvoll verbiegt und mehrmals sehr bestimmt "Wir brauchen Männer!" sagt. Ida Wüst wird dann auch ein wenig der schauspielerische Fixstern des Films bleiben: das fetischistische Kostüm wird sie dann gegen klassische Hausherrin- und eleganter Abendgarderobe tauschen, aber ihre charismatische Präsenz wird die gleiche bleiben. Als ich meinte, der Film sehe sehr modern aus, meinte ich besonders die Stellen, in denen Wüst scheinbar aus der Rolle fällt, vor unkontrollierbaren Lachkrämpfen durchgeschüttelt wird: Szenen, die normalerweise einen Retake bräuchten, hier aber im Film geblieben sind (und diese Momente sehen viel frischer als ein "sauberer" Take aus).

Der andere schauspielerische Fixstern des Films ist Oscar Sabo (?) als Feldwebel, der seine Soldaten gerne bestialisch beschimpft (so heftig, dass ihn sein Vorgesetzter ermahnt, weniger Tierbegriffe zu benutzen) und überhaupt als Soldat ein ziemliches Arschloch ist, aber in zwei Bereichen einen unstillbaren Hunger hat: Essen und junge Frauen. Die Köchin der Baronin entpuppt sich als eine frühere Liebschaft und ein ganzer Nebenplot des Films dreht sich dann darum, wie der Feldwebel den Avancen seiner früheren (und – wie er selbst natürlich – nicht mehr blutjungen) Geliebten zu entkommen versucht, um den jüngeren Bewohnerinnen des Internats nachzustellen – UND gleichzeitig aber auch versucht, in den Genuss der kulinarischen Köstlichkeiten zu kommen, die ihm besagte Ex-Geliebte zubereitet, weil Liebe ja durch den Magen geht. Die Köchin, die ja nicht auf den Kopf gefallen ist, merkt das und versucht ihn dann (durchaus erfolgreich) mit Dirty-Talk heiß zu machen: "Erinnere dich an meine Kartoffelpuffer... und an den Schweinebauch!". Als Worte nicht mehr reichen, um ihn in der Küche festzuhalten, bereitet sie ihm dann auch was zu: "Kalbsbraten... Kalbsbraten... Kalbsbraten" – ihm den Teller mit besagter Köstlichkeit unter die Nase haltend lockt sie ihn auch erfolgreich an den Küchentisch. Schweinebauch, Kalbsbraten, Kartoffelpuffer und natürlich die titelgebende Kartoffelsuppe (die allerdings sowohl die vier Internatsschülerinnen wie auch die Soldaten praktisch jeden Tag essen müssen und deshalb verschmähen) wurden unter den Kongressniki zu den gastronomischen Bonmots dieses Kongresses (wie "Kakao" beim 18. Kongress).

SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT kam 1931 heraus und wurde Opfer einer Schmutzkampagne aus nationalkonservativen und rechtsradikalen Kreisen: mit einem antisemitischen Grundton (der Regisseur, der Drehbuchautor und der Produzent des Films waren jüdischer Herkunft) wurde dem Film eine Verunglimpfung der Armee vorgeworfen. Trotz der antiautoritären Frische, die durch den Film weht, ist dieser Vorwurf aus heutiger Sicht wenig haltbar. Die Soldaten und Offiziere sind eher als überzogene Genretypen (wie die Keystone-Kops) und weniger als wirkliche Vertreter einer realen Institution gezeichnet. Zumindest in den USA schien der Film ein Kritikererfolg zu sein. Wie er dies- und jenseits des Atlantiks beim Publikum ankam, ist mir unbekannt. Die gezeigte 35mm-Kopie war gut in Schuss – aber er ist offenbar doch ein weiterer Film, der von offiziösen Filmrestaurationsbemühungen ignoriert wird, weil METROPOLIS nach der 22. Restauration nun auch die 23. braucht.




16.00 Uhr


RANDY

Regie: Phillip Schuman, Zachary Strong

USA 1980

72 Minuten, 35mm, OV

Randy, eine junge Frau, die Schwierigkeiten hat, zum Orgasmus zu kommen, bietet sich an, bei einem Forschungsinstitut als Versuchsperson teilzunehmen. Dort findet man heraus, dass sie beim Kommen eine sehr potente Substanz namens "Orgasmin" produziert, was lustvolle Leute und Verrückte mit Weltherrschaftsfantasien auf den Plan bringt.

Auch hier (leider) eine große Gedächtnislücke: ein sehr schick fotografierter Film mit schönen Bildern, schönen Menschen bei lustvollen (Softcore-)Akrobatiken, fetziger Musik, einigen durchaus recht gelungenen humoristischen Einlagen und Dialogen und einer recht entspannten, vor sich hinfließenden Atmosphäre – auch wenn ich mich an Details kaum noch zu erinnern vermag. Das größte Rätsel beim Abendessen danach war, ob es eine Hardcore-Version gibt, aber dagegen spricht, dass viele Szenen sehr offensichtlich mit Softcore-Kamerawinkeln fotografiert waren.




20.00 Uhr


GEFÄHRDETE MÄDCHEN

Regie: Wolfgang Glück

BRD 1958

94 Minuten, 35mm, französische Fassung mit englischen Untertiteln

Wiener Mädeln verlassen ihre schöne Operetten-Stadt, um in harten Hanseatischen Gefilden, genauer gesagt in Hamburg, St. Pauli, ihr Glück als Animiermädchen zu versuchen – und verschwinden spurlos, zumindest, bis eine ermordet wieder aufgefunden wird. Eine Wiener Polizistin ermittelt incognito im Milieu...

Möglicherweise der schwächste Film des Kongresses dieses Jahr. Auch hier sind mir Details (und eigentlich auch große Teile des Films) weitestgehend entglitten, wobei sich das hier eher nach Erdulden als nach gemütlichem Dahinfließen fühlte. Dafür folgte nach einer Pause der Höhepunkt des Kongresses und einer der besten Filme, die ich dieses Jahr sehen durfte.




22.00 Uhr

Open Air


BEVOR DER STRIP STIRBT

Regie: Günter Weiss-Thiele

BRD 1966

14 Minuten, 35mm

Was ist denn dieses Strip-Tease? Kurze Umfragen unter Passanten und dokumentarische Impressionen aus Lokalen sorgen für Klärung.



ROULETTE D'AMOUR ("Baron Pornos nächtliche Freuden")

Regie: Frits Fronz

Österreich/BRD 1969

73 Minuten, 35mm

Ein alter, obdachloser Mann läuft durch Wien, und erinnert sich an die Zeit, als er noch Alexander von Wartenberg war, der beliebteste Playboy der Wiener Nachtlokale – und daran, wie ihn die Liebe zu einer Tänzerin in den Ruin trieb. Oder spinnt sich das der obdachlose Mann beim Anblick der schicken, teuren, unerreichbaren Luxusgegenstände in den Boutiquenschaufenstern einfach nur zusammen?

Edgar Ulmers DETOUR meets Arthur Schnitzlers bzw. Max Ophüls' LA RONDE? Der obdachlose und unzuverlässige Erzähler, die Rückblendenstruktur, die Mischung aus galligem Humor und Fatalismus, der sehr selbstbewußt an die Zuschauer gerichtete Off-Kommentar, die (budgetbedingt) ultrastilisierten Dekore, eine wiederkehrende Melodie als Leitmotiv, die Erzählung vom Fall in die Gosse und die Nutzung von Matching-Cuts zur Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit haben mich zumindest strukturell stark an Ulmers B-Movie-Meisterwerk erinnert. Das Wienerische Setting und die Kettenstruktur der Geschichte (mit Objekten statt mit Personen) lassen hingegen den "Reigen" grüßen.

"Es war ein zärtlicher..." – Mund, Kuss etc. – so beginnt der Off-Kommentar jedes neue Kapitel in der Gegenwartshandlung, jeder Satz wie eine schwermütige, melancholische Gedichtrezitation vorgetragen. Den Weg in die Vergangenheit (oder in die Fieberfantasie) und wieder zurück ebnet immer wieder ein Matching-Cut mit einem bestimmten Gegenstand: ein silbern glitzernder Damenschuh, eine Packung Zigaretten, rote Rosen, ein Kofferradio. Die Erinnerungen / Fantasien breiten sich dann immer wie statische Tableaus aus – statisch nicht nur in den Momenten mit ruhiger Kamera, sondern auch in den wilden Montagen, weil der Film das Gefühl eines Fiebertraums mit sich bringt, eines Alptraums, in dem man auch beim Rennen trotzdem an Ort und Stelle stehen bleibt. Traum ist hier das zentrale Stichwort: ROULETTE D'AMOUR ist ein schwermütig-traumartiger, tranceähnlicher Film, der seine (eigentlich sehr banale und generische) Geschichte weniger linear und klassisch mit einer klaren Dramaturgie erzählt, sondern eher in losen Traumfragmenten (daher finde ich meine Interpretation, dass wir hier eine Fieberfantasie und keine reale Vergangenheit sehen, zunehmend schlüssig).

Dabei sind die unterschiedlichen Tempi beeindruckend: frenetische Montagen von Impressionen beim Prater, experimental anmutende Momente, in denen sogar mehrere Bilder übereinander gelegt werden auf der einen Seite, dann wieder die völlig entschleunigten, einlullenden Tableaus mit dem "Baron" an seinem Stammtisch, mit seinen ihn (solange er Getränke bezahlt) feiernden Groupies, dann die Bilder des mühsamen Schlurfens durch das nächtliche Wien. Der Traum-Modus hat viele Varianten, bleibt aber im Kern sehr konsistent.

Passen dazu zwei sich wiederholende Musikstücke: ein melancholisches Chanson (teils gesungen bzw. gesummt vom "Baron" selbst) und ein schnelles Tanzstück mit knüppelhartem Beat. Es gibt eine besonders denkwürdige Abwechslung zu diesen zwei Melodien: eine Orgel-Performance, bei der der Organist in kaleidoskopartig überlagerten Bildern zunehmend intensiver in die Tasten haut, sich geradezu in Trance spielt (für viele im Publikum ein großer Höhepunkt des Films). Ansonsten trägt gerade die Wiederholung der beiden Hauptmelodien noch weiter zum tranceartigen Gefühl von ROULETTE D'AMOUR bei.

Jeder Traum muss enden. Die Sonne erhebt sich über Wien. Der Baron geht ans Ufer der Donau. Vielleicht könnte er sich reinstürzen, doch stattdessen nähert sich ihm ein anderer nächtlicher Streuner. Und so schreiten der Baron und der Straßenköter am Ende nach einer langen Nacht zusammen dem Sonnenaufgang entgegen.


Die folgenden Screenshots sind aus Manfreds Text über Frits Fronz ausgeliehen:


Der Obdachlose erinnert sich – oder fantasiert im nächtlichen Wien

Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Frits Fronz als Alexander von Wartenberg




Samstag, 11. Juni 2022


14.00 Uhr


ICH SUCHE EINEN MANN

Regie: Alfred Weidenmann

BRD 1966

87 Minuten, 35mm

Barbara ist von den Männern enttäuscht und wendet sich an ein professionelles Institut, das mit solch modernen Techniken wie einer Lochkartendatenbank garantiert die richtige Person findet... oder – wie Barbara bei ihren vielen Match-Dates herausfindet – vielleicht auch nicht?

Tinder-Date gone wrong im Dutzend könnte man im heutigen Neudeutsch wohl sagen. ICH SUCHE EINEN MANN ist tatsächlich über weite Strecken eine Aneinanderreihung loser kleiner Vignetten von Barbaras "Treffern".

Da ist der feine Adelige, der sich nach einem gepflegten Restaurant-Dinner als potentieller Date-Rapist entpuppt. Ein bayerischer Landwirt und Hotelier, der sich für Barbaras Körper, ihre Person und ihre Gesundheit vor allem aus der Perspektive interessiert, seine Wirtschaft am Laufen zu halten. Der Lehrer, der Kniebeugen liebt und um den "gesunden Volkskörper" besorgt ist (und im übrigen in der Öffentlichkeit von seinen spöttischen Schülern verfolgt wird). Der Student, der sich nur für Tandemradfahren und Bowling interessiert. Und nicht zu vergessen: der trauernde Witwer, der Barbara gerne als hintere Zebrahälfte (gemeint ist eine Zirkusnummer mit einem Zebrakostüm) hätte, weil die "Nummer muss ja weiter gehen". Und außerhalb der Treffer natürlich der Angestellte des Eheinstituts, der sich um Barbaras Fall kümmert: ein Traum an Professionalität, hinter dem sich ein schüchterner, gar zu schüchterner Verehrer verbirgt (bzw. der wunderbare Harald Leipnitz).

Das klingt nach nicht viel, wird aber mit einem ordentlichen Tempo inszeniert und mit gut gewürzten Dialogen abgeschmeckt, dass es die hellste Freude ist: ein fluffiges Wölkchen von einer Komödie und sicherlich der perfekte Einstieg in den programmatisch schönsten Tag des diesjährigen Kongresses.

Die zentrale und wichtigste Zutat dieses wohlschmeckenden, spritzigen Cocktails war am Ende die bezaubernde Ghita Nørby. Ihre Figur ist natürlich erst mal ganz gut geschrieben, aber sie macht aus Barbara mit ihrem Charisma tatsächlich einen überlebensgroßen Charakter zum Mitlachen, Mitfühlen und Mitlieben.




16.00 Uhr


VERBOTENE SPIELE AUF DER SCHULBANK (Softcore-Fassung)

Regie: Jürgen Enz

BRD 1980

72 Minuten, 35mm

In die Abiturklasse kommt eine Neue – und verdreht prompt ihren Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrern den Kopf.

VERBOTENE SPIELE AUF DER SCHULBANK wurde beim Hofbauer-Kongress nun zum "anderthalbten" Mal gezeigt: beim 16. Kongress im Jahr 2017 lief der Film in der Hardcore-Fassung, die für Angst und Schrecken und Entsetzen sorgte. "Enz war kein Typ für harten Sex", so Hofbauer-Kommandant und Enzologe Christoph bei seiner wunderbaren und liebevollen Einführung über einen der wichtigsten HK-Säulenheiligen. Die "Director's Cuts" von Jürgen Enz waren stets die Softcore-Fassungen: Hardcore-Inserts wurden von Assistenten inszeniert oder komplett nachgedreht und nach dem Ziehen der Softcore-Kinokopien in das Negativ reingeschnitten.

Die Vorführung war auch eine Hommage an den Ende 2020 verstorbenen Regisseur. In einer Vorführung dieses Films konzentriert sich eine Essenz der Hofbauer-Kongresse. Man sitzt dort, sieht, staunt, und merkt, dass hier ein vollkommen zu Unrecht vergessenes Schlüsselwerk der deutschen Kinogeschichte gezeigt wird, das Meisterwerk eines Filmemachers mit einer extrem persönlichen Handschrift: die geradezu aufreizende Langsamkeit, tranceartig vorgetragene Dialoge, eine Inszenierung mit einem manchmal geradezu obsessiv-manischen Gestaltungswillen, die viele Szenen fast wie belebte Installationskunst aussehen lassen, die fast dystopisch anmutenden Abscheulichkeiten bundesdeutscher Spießbürgerwohnzimmer mit kackbraun-olivfarbenen Couch-Garnituren und kitschigen Deko-Elementen, die repetitive, einlullende, hypnotisierende Musik (die sich ein wenig so anhört, als hätte John Carpenter seine düsteren elektronischen Scores in heiteren Bierzelt-Versionen eingespielt) und nicht zuletzt die fast grenzenlose, naive Zärtlichkeit für alle Figuren, die in dieser tristen Umwelt immer wieder von ihren sexuellen Trieben überwältigt werden und nicht anders können, als auf den erwähnten scheusslichen Couch-Garnituren wie Tiere zu kopulieren.

Enz' große Zärtlichkeit zeigt sich wieder darin, wie er "unwichtigen" Figuren ganze Subplots schenkt. Das Pendant der beiden dauergeilen Schlossangestellten in WAIDMANNSHEIL IM SPITZENHÖSCHEN sind hier der Deutschlehrer und die Biologielehrerin, die ihren eigenen Score (eher upbeat und fröhlich) erhalten, wenn sie übereinander herfallen. Auch hier wieder Figuren, deren Äußeres nicht unbedingt 100%ig kompatibel ist mit den Ansprüchen eines kommerziellen Sexfilms und die vor allem auch die Funktion des Comic-Relief haben (sie sind leicht tollpatschig, was zu quasi-slapstickhaften Situationen führt) – und dennoch, wenn er sie im Wald während des Schulausflugs (dieser Schulausflug: Stoff für ganze filmwissenschaftliche Abhandlungen!) von hinten nimmt, sie sich an zwei jungen Bäumen dabei festhält und die Montage zwischendurch offenbart, wie die beiden Baumwipfel wackeln, dann ist das pure Kinomagie.


Oben: Die Biologielehrerin und der Deutschlehrer haben sich lieb
Unten: Lehrkörper und Schülerschaft in tristen Wohnlandschaften (mit Paprika als Deko-Elementen)


Oben: beim Schulausflug geht es zwischen Lehrkörper und Schülerschaft heiß her
Unten: Enz' Regie lässt viele Bilder immer wieder wie belebte Installationskunst aussehen



19.30 Uhr


LADY BEWARE ("Hautnah")

Regie: Karen Arthur

USA 1987

108 Minuten, 35mm, DF

Die Schaufensterdekorateurin Katya beginnt in einem Pittsburgher Kaufhaus eine neue Anstellung. Mit ihren unverhohlen erotischen Installationen zieht sie sehr effizient die Aufmerksamkeit der Passanten an – darunter auch eines Stalkers, der ihr nachspürt, ihre Post öffnet, sie mit obszönen Anrufen traktiert und schließlich sogar in ihre Wohnung einbricht. Nach einer kurzen Begegnung mit ihm beschließt Katya, zurückzuschlagen.

In den 1990er Jahren gab es auf dem französischen Sender TF1 am späten Samstagabend eine Sendereihe namens "Hollywood Night". Da liefen entgegen des Namens keine Hollywood-Klassiker (die liefen eher am späten Sonntagabend auf FR3): die Werbetrailer, die ich als Junge sah, versprachen Crime, Sex & Violence der Kategorie Direct-to-Video, und tatsächlich liefen US-amerikanische Actionfilme, Thriller und Erotikthriller der späten 1980er und frühen 1990er Jahre (darunter z. B. Filme aus dem Hause PM Entertainment). Ich glaube nicht, dass LADY BEWARE bei "Hollywood Night" mal gelaufen ist, aber Karen Arthurs Erotikthriller dürfte – jetzt im Erwachsenenalter – die ultimative Wunscherfüllung der damaligen Jungsfantasie gewesen sein, die in den Werbetrailern eine prickelnde Mischung aus Erotik, Seediness und süßem Verbotenem hineinprojizierte.

Ein urbaner US-Thriller der 1980er Jahre – das würde man wohl in New York oder in Los Angeles ansiedeln, aber LADY BEWARE spielt in Pittsburgh: kein überzeichnetes Großstadt-Moloch, sondern eine gutbürgerliche "kleine Großstadt", in der Innenstadt voller arbeitender Menschen aus den peripheren Wohngebieten: Katya etwa pendelt jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit, und fährt dabei über eine der zahlreichen ikonischen Brücken der Brückenstadt; der Stalker wohnt in einem Viertel, in dem man sich tatsächlich Ärzte ohne Ansprüche auf repräsentativen Luxus vorstellen kann. Beide Kontrahenten treffen schließlich bei ihrer "ersten" Begegnung (der ersten, bei der Katya ihn endlich sehen kann) auch auf einer der Pittsburgher Brücken, getaucht in rötlichem Dämmerlicht.

Das bedrohliche Szenario, das LADY BEWARE auffährt, hat seinen Ursprung nicht in den Nebengassen des Großstadt-Slums, sondern hat ein gutbürgerliches Gesicht: der Stalker, Jack, ist kein Creep aus dem dunklen Keller, sondern ein Arzt in der Röntgenabteilung einer städtischen Klinik (die direkt gegenüber von Katyas Kaufhaus liegt). Von Beruf aus schaut er also schon sehr genau auf Menschen, blickt nicht nur auf sie, sondern in sie hinein – bis auf die Knochen. Mit seinem Stalking-Objekt Katya lebt er eine sexuelle Fantasie aus, die er nicht mit seiner respektablen Ehefrau in seinem langweiligen Familienleben ausleben kann. LADY BEWARE macht deutlich, dass wir hier keine Fassade sehen, sondern naheliegend Aspekte der gleichen Person: tagsüber Arzt, abends Stalker. Ein obszöner Anruf, während nebenan die Tochter spielt (er lässt sie sogar die Nummer eingeben). Interferenzen nicht ausgeschlossen: in einer wahrlich unglaublichen Szene ruft er Katya an, spielt bereits an sich herum – und nachdem er den Hörer aufgelegt hat, eilt er erregt zu seiner Frau in die Küche und fällt lustvoll über sie her. Insofern ist es sehr geschickt von Katya, dass sie ihren Stalker dort angreift, wo es ihm richtig weh tut – in den Weichteilen seiner bürgerlichen Existenz.

LADY BEWARE hat die Logik und Struktur eines Rape-and-Revenge-Films, ohne, dass es eine "klassische" Vergewaltigung gibt, sondern etwas viel Tiefgreifenderes, Strukturelleres. "Ich bin in dich drin, und ich ficke mich von innen nach außen" sagt Jack seinem Opfer Katya lustvoll am Telefon. Nach vielen obszönen Anrufen, nachdem er in ihrer Post einen Brief des Vaters abgefangen hat, ihn ihr am Telefon vorliest und eine Missbrauchsgeschichte zwischen den Zeilen liest, auf die Katya sichtlich mimisch reagiert (ein Element, das nie wieder aufgegriffen wird) kommt die ultimative Grenzüberschreitung: er bricht in ihrer Abwesenheit in ihren Loft ein, inspiziert die Wohnung, schnüffelt an ihren Kleidern, trinkt genüsslich ihren Wein, gönnt sich in ihrer Badewanne ein entspannendes Schaumbad, putzt sich mit ihrer Zahnbürste die Zähne und schließlich, noch triefend nass und mit nur einem Badetuch um die Hüften, beginnt er zur Musik, die er aufgelegt hat, ekstatisch zu tanzen – der abgründige, fiese kleine Bastard-Bruder von Tom Cruises legendärem Tanz in RISKY BUSINESS: enthemmter, erotischer und von furchterregender Schönheit. Michael Woods' Körper wird von der Kamera in diesem Moment genauso erotisiert und fetischisiert wie Diane Lanes Körper, wenn sie nackt und bereit für Sex mit ihrem Liebhaber ist (und dabei von Jack heimlich beobachtet wird). Die beiden Antagonisten sind nicht nur Charaktere, sondern auch Körper, lustvolles Fleisch.

Während der Stalker seine sexuellen Fantasien in tätlichen Angriffen auf fremde Menschen auslebt, tut das Katya in ihrer Kunst – heißt: in ihren Schaufensterdekorationen, mit denen sie Parfüms, Schmuck und Joghurts bewirbt. Transgressive Kunst oder zumindest provokante Kunst in einem hyperkommerziellen Umfeld der Kaufhausschnäppchen; Kunst und Begehren vs. Kommerz. Wir sind hier fast schon am Rande der Meta-Kunst, des Meta-Kinos (Lukas Foerster bringt Brian De Palma als Stichwort zum Vergleich). Kunst, nicht nur als etwas Schönes und Erhabenes, sondern auch als Kommunikationsplattform: auf eine gewisse Weise kommunizieren Katya und Jack über Katyas Kunstinstallationen, und Jacks partielle Verwüstung von Katyas Wohnung mit sorgfältigen Arrangements der dort vorhandenen Schaufensterpuppen "liest" sich wie ein künstlerischer Kommentar.

Diane Lane ist neben Ghita Nørby (und ein bisschen auch Lina Romay) die große weibliche Figur des diesjährigen Kongresses: eine fantastische Schauspielerin, die mich anfänglich etwas an Kathleen Turner in BODY HEAT erinnert hat. Keine Femme Fatale, sondern eher der Typ der gequälten Künstlerin, die sich zwar ohne weiteres einen Liebhaber anlächeln kann, diesen dann aber nicht braucht, um sich zu wehren. Während einer Zwangsbeurlaubung gittert sie beim Höhepunkt ihrer Verzweiflung nicht nur alle Fenster ihrer Wohnung zu, sondern spannt auch eine Art Schutzkokon aus Gaze um den Kern ihres Wohnbereichs (um einige der tragenden Säulen). Nach einigen Tagen im fiebrigen Paranoiawahn und offenbar einer Metamorphose in diesem Kokon erlebt sie eine Art Wiedergeburt als entschlossene Rächerin in eigener Sache, ohne, dass sie ihre Identität als Künstlerin aufgibt. Kann man es vielleicht als einen Akt der Zärtlichkeit, der Wertschätzung, des Respekts sehen, dass sie ihrem Stalker eine eigene Kunstinstallation im Schaufenster widmet? Und ihn dann damit sogar fängt?

Regisseurin Karen Arthur hat mit LADY BEWARE ein lang gehegtes Herzensprojekt realisiert – und sich tragischerweise schließlich vom fertigen Film distanziert, nachdem das Studio den Film umschnitt. Mehr Nacktszenen mit Diane Lane wurden hinzugefügt, Szenen mit Cotter Smith (Katyas Liebhaber) wurden herausgeschnitten. Ich wäre dazu geneigt, beide Entscheidungen gutzuheißen: dass beide Protagonisten als körperliche, sexuelle Charaktere dargestellt werden, halte ich für ganz zentral für das Funktionieren des Films. Was Cotter Smith betrifft (der wie ein gemeinsamer Cousin von Billy Cristal und John Leguizamo aussieht): er spielt sicherlich nicht die interessanteste Figur, und dass im letzten Drittel alles sich nur noch um Katya und Jack dreht, spiegelt ihre zunehmende Obsession nach Rache. Es verschwinden auch der stockschwul-extravagante Arbeitskollege Katyas (die etwas peinlichen schwulen Stereotype stehen gegenüber der Tatsache, dass er ein absolut klarer Sympathieträger ist und die wohl "normalste" Figur in einem Film voller "Kaputter") und die schüchterne, schwarze Arbeitskollegin, ebenso der onkelige Chef. Diese Verdichtung macht den Film im letzten Drittel umso stärker, so dass man ihn auch "on the edge of the seat" und vor Anspannung nägelkauend sehen kann.




22.00 Uhr

Open Air


"Gli italiani si voltano"

Regie: Alberto Lattuada

Italien 1954

14 Minuten, 35mm, OV

Impressionen von Italienerinnen, die durch Rom spazieren und von Männern, die ihnen nachblicken.

Diese Episode aus L'AMORE IN CITTÀ lief bereits beim 18. Hofbauer-Kongress. Wieder ein fluffig-leichter Film, der im letzten Drittel ins Bedrohliche und Düstere kippt. Ihn – natürlich nach einer Pause – direkt nach LADY BEWARE zu schauen, war schon ziemlich passend, und hat das Unbehagliche des letzten Drittels, als eine junge Frau plötzlich zu einer echten Protagonistin wird, die hartnäckig von einem einzelnen Mann durch die ganze Stadt verfolgt wird, noch potenziert.



GRIECHISCHE FEIGEN

Regie: Siggi Götz

BRD 1977

95 Minuten, 35mm

Patricia soll nach einem Griechenland-Urlaub mit den Eltern allein nach München zurückfliegen, um dort ihr Studium zu beginnen. Stattdessen begibt sie sich auf eine lange Spritztour durch Griechenland, um Spaß zu haben und Männer aufzureissen – und lernt schließlich Tom kennen.

GRIECHISCHE FEIGEN war auf gewisse Weise der perfekte Film, um an einem warmen Frühsommertag ein Festivaltag im Freien ausklingen zu lassen (gleichwohl die Temperaturen zu später Stunde etwas sanken): ein sommerlicher Film, der größtenteils unter freiem Himmel spielt. Ein eher lose vor sich hintreibendes Roadmovie, das Etappe für Etappe, Episode für Episode ruhigen Schrittes erkundet. Die Stimmung ist insgesamt heiter, auch wenn während des ganzen Films dunkle Wolken am Horizont zu sehen sind und die Wärme immer wieder droht, in Gewitter und Unwetter umzuschlagen. Vielleicht liegt es an der zweiten Begegnung, die Patricia auf den Straßen des ländlichen Griechenlands macht: zwei Deutsche (es ist schlimm: sie sind überall! Von ein paar Engländern und einigen griechischen Komparsen abgesehen ist praktisch jede sprechende Rolle im Film deutsch) nehmen sie im Auto mit und versuchen sie schon nach wenigen Hundert Metern zu vergewaltigen – Patricia kann ihnen zwar entkommen und sie sogar der Lächerlichkeit preisgeben, aber es bleibt doch immer ein Nachgefühl von Bedrohung, das nie ganz verschwindet (auch, weil der weitere Weg der zwei Männer immer wieder zwischendurch eingeblendet wird).

Mit dem Segler Tom findet Patricia für einige Tage eine kleine Utopie des Liebesglücks. Doch auch hier ziehen Wolken auf, als Eifersucht, Besitzansprüche und teils auch einfach nur bedauernswerte Missverständnisse die Idylle angreifen.

Die größte Schwäche von GRIECHISCHE FEIGEN ist vielleicht, dass Patricia schon eine sehr, sehr unsympathische, egozentrische, teils schlichtweg asoziale Figur ist – und manchmal auch eine echte Heuchlerin, hinter deren Rebellentum und Unangepasstheit sich auch repressives Spießertum verbirgt, wenn sie etwa gegen Ende eine andere junge Frau, die fast wie ihr eigenes Spiegelbild wirkt und nun ihren Platz an Toms Seite genommen hat (wohlgemerkt nachdem sie Tom selbst zum Teufel gejagt hat) auf aggressive und demütigende Weise zur Sau macht. Insofern wirkt GRIECHISCHE FEIGEN auch ein bisschen wie ein 68er-Katerfilm: von den einstigen Träumen von freier Gesellschaft und freier Liebe sind nur Äußerlichkeiten geblieben – und auch diese blättern schnell ab, wenn der Widerstand zu groß, die Konflikte zu komplex, die Umstände zu ungünstig werden.




Sonntag, 12. Juni 2022


15:00 Uhr


PAPAYA DEI CARAIBI ("Papaya, Liebesgöttin der Kannibalen")

Regie: Joe D'Amato

Italien 1978

86 Minuten, 35mm, DF

Auf einer karibischen Insel soll ein Kernkraftwerk errichtet werden, doch das Projekt gerät ins Stocken, weil die leitenden Projektingenieure nach und nach unter mysteriösen Umständen ermordet werden. Der neue Ingenieur Vincent (Maurice Poli) soll nun das Projekt weiterführen. Zusammen mit der Journalistin Sara (Sirpa Lane) versucht er auch, das Geheimnis um die Morde zu lüften und bekommt prompt Unterstützung von der Einheimischen Papaya (Melissa Chimenti). Diese bietet ihre Hilfe nicht ganz uneigennützig an: sie ist eine der Anführerinnen des konspirativen Aufstands gegen das Kraftwerk und stets bereit, ihre gefährlichste Waffe (ihren Körper) einzusetzen.

Nach GRIECHISCHE FEIGEN ging es mit den sommerlichen Filmen nun weiter: noch höhere Temperaturen, ein noch langsameres Tempo und noch viel mehr nackte Haut leiteten den letzten Tag des Leipziger Kongresses ein. PAPAYA DEI CARAIBI mag wesentlich langsamer sein als GRIECHISCHE FEIGEN, sein revolutionärer Spirit war allerdings intakter und auch roher: die selbstherrlichen kolonialen Imperialisten, die für ihre Profite und die in Kauf genommene Umweltverschmutzung irgendetwas von "Fortschritt" faseln, werden verführt, bekommen ihren Penis abgebissen und werden dann noch lebendig verbrannt.

Die große "pièce de résistance" des Films kommt in der Mitte, als Vincent und Sara nach einer Autofahrt, einem längeren Spaziergang durch eine kleine Stadt, die gerade von einem feierlichen Umzug belebt wird, ein paar Mal zu viel "falsch" abbiegen, in ein Haus eintreten, dort überfallen und unter Drogen gesetzt werden und in ihrem Rausch einer sehr wilden, eskalierenden Voodoo-Zeremonie beiwohnen müssen. Wenn Vincent und Sara dann hilf- und wehrlos dem wilden Treiben zusehen müssen, befinden wir uns als Zuschauer in einer ähnlichen Position: die sublimen Bilder haben uns eingelullt, wir wussten, dass das nicht "gut" endet, aber wir konnten uns einfach diesem Flow nicht entziehen. In PAPAYA DEI CARAIBI sieht man wieder, welch großartiger Kameramann Aristide Massaccesi  (so Joe D'Amatos bürgerlicher Name, unter dem er seine eigenen Regiearbeiten auch fotografierte) war: ja, das ist der Mann, der L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE fotografiert hat (und natürlich auch EVA NERA, von den mir bislang bekannten D'Amato-Filmen der schönste). Einen erheblichen Teil zum Vergnügen trägt Stelvio Ciprianis wunderschöner Score, der sich für den Rest des Tages als sanfter Ohrwurm in meinem Kopf eingebrannt hat.

Eine deutliche Trübung des Vergnügens brachte der leider schon recht fortgeschrittene Rotstich (und Kontrastverlust) der Kopie, der die vermutlich satten karibischen Farben in ein gedämpftes Sepia verwandelte.




17:00 Uhr


LA ESCONDIDA ("Die Rebellenbraut")

Regie: Roberto Gavaldón

Mexiko 1956

99 Minuten, 35mm, DF

Mexiko, Anfang des 20. Jahrhunderts. Felipe und Gabriele wollen bald heiraten. Doch die revolutionären Wirren treiben sie auseinander: Felipe wird zum Revolutionär, Gabriele lässt sich – zunächst, um Felipe zu retten – auf eine Affäre mit einem brutalen General ein.

Die "carte blanche" des LURU-Kino hat mich persönlich gepflegt gelangweilt. Die Liebesgeschichte im Zentrum dieses Revolutionsmelodrama hat mich leider eher kalt gelassen: zu groß war in meinem Kopf die Kluft zwischen dem hölzernen Felipe-Darsteller Pedro Armendáriz, den der Film als bewundernswerter Held darstellte, und der eigentlich ganz guten Maria Félix, deren Gabriele der Film als durch und durch verdorbenes, intrigantes und teuflisches Luder zeichnete, ohne ihr freilich dabei den Glamour einer femme fatale zuzustehen.

Die Kopie war allerdings farbecht, die mexikanische Sonne brannte unerbittlich auf die trockenen und staubigen Feldwege, und eine ausgelassene Karnevalsfeier bei Nacht erstrahlte frenetisch (ja gar fast stroboskopisch) in den knalligsten Farben. Also irgendwie auch schön anzusehen.




19:00 Uhr


MIDNIGHT PARTY ("Heiße Berührungen")

Regie: Jess Franco

Frankreich/Schweiz 1975

63 Minuten, 35mm, DF

Eine Stripperin (Lina Romay) bandelt mit zwei Nachtclubkunden an, und gerät dabei in eine haarsträubende Mord- und Spionageintrige.


Joseph von Sternberg und Marlene Dietrich, Yasujiro Ozu und Setsuko Hara, Jean-Luc Godard und Anna Karina, John Cassavetes und Gena Rowlands... Alles bekannte Duos aus Regisseur und Schauspielerin, doch keines dürfte in der Intensität, Dauer und dem schieren Output an jenes von Jess Franco und Lina Romay reichen, die über fast 40 Jahre eine dreistellige Anzahl an Filmen drehten.

Vor der Vorstellung gab es eine wunderschöne Einführung von Hofbauer-Kommandant Christoph, der von der Schönheit des leidenschaftlich-obsessiven Kinos Jess Francos schwärmte und die Zuschauer passend auf den Film einstimmte. Die gezeigte deutsche Kopie hat leider viele Federn gelassen, offenbar vor allem aus den interessantesten Teilen des Films: Lina Romay, die in einer Art Rahmen-Kommentar zum Film sich in rotes Licht getaucht nackt in einem Bett räkelt, die vierte Wand brechend mit den Zuschauern im Kino plaudert, sie teils sanft anteast, teils roh anbaggert und teils einfach nur entspannt rumblödelt.

Dazwischen gibt es eine völlig haarsträubende Räubergeschichte um eine Verschwörung und eine Mordintrige, die die Protagonistin immer wieder aus den Klamotten und ins Bett treibt – Hindernisse werden gegebenenfalls mit Mitteln des Slapsticks überwunden: Luststöhnen und prustendes Gelächter sind in MIDNIGHT PARTY nie weit voneinander entfernt.

Das Ende ist dann pure Eskalation: wilde Verfolgungsjagden, Figuren werden erschossen, aber werden kurz darauf wieder lebendig. Das schwindelerregende Spielen mit den Genre-Motiven hat was von Godard (den Franco verehrte), bloß in etwas beschwingter. Kino ist Spaß, Kino ist Lust, Kino ist Entspannung, Kino ist Leben.

Freitag, 9. September 2022

Ich werde dich töten, Wolf

ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF
Deutschland (BRD) 1970
Regie: Wolfgang Petersen
Darsteller: Ursula Sieg (Uschi), Wolf Roth (Wolf), Helmut Heckelmann (Berliner im Zug), Alberto Sozzi (Italiener im Zug), Tilly Zinner (alte Dame im Zug), Theodor Pamin (Vermieter), Ingrid Oppermann (Wolfs Frau), Hans Dörnbrandt (Wolfs Bühnenpartner), Wolfgang Petersen (Heizer)

Uschi, eine Frau Anfang bis Mitte Dreißig, fährt, zunächst allein im Abteil, mit dem Zug nach Berlin (West). Nach und nach füllt sich das Abteil, doch Uschi beteiligt sich nicht an den sporadischen Gesprächen. Sie ist in Gedanken versunken, denn sie ist unterwegs, um einen Mord zu begehen, wie wir gleich ganz am Anfang durch einen inneren Monolog erfahren. Die Fahrt im Zug bildet die Haupt-Zeitebene, zumindest in den ersten zwei Dritteln des einstündigen Films, mehrfach unterbrochen durch Rückblenden, die die Vorgeschichte des Mordplans erzählen.
Sie wird ihn töten
Wolf ist ein begabter, aber vorerst nur mäßig erfolgreicher Theaterschauspieler irgendwo in der Provinz. Uschi lernt ihn kennen, als sie eine seiner Vorstellungen besucht (man gibt eine Bühnenfassung von "Von Mäusen und Menschen") und ein Autogramm erbittet. Schnell werden die beiden ein Liebespaar, doch glücklich wird Uschi nicht. Zunächst erfährt sie quasi nebenbei, dass Wolf verheiratet ist. Doch er erzählt ihr, dass er unter seine Frau, einer Grundschullehrerin, leidet, weil diese nicht ganz normal sei. Einmal hat sie auf einer Klassenfahrt eines der ihr anvertrauten Kinder, das ihr unsympathisch war, einfach in einem Steinbruch zurückgelassen. Als Wolf ein attraktives Rollenangebot aus München erhielt, hat sie versucht, ihn mit einem Pilzgericht zu vergiften, nach einem weiteren Angebot aus Berlin hat sie ihn beinahe "aus Versehen" überfahren. So erzählt es zumindest Wolf, und zunächst haben wir als Zuseher und Uschi keinen Grund, daran zu zweifeln. Nun sei er komplett entnervt, fährt er fort, und schon kurz vor dem Selbstmord. Es gibt nur einen Ausweg: Wolfs Frau muss sterben. Und er hat auch schon einen Plan. Demnächst wird sie mit ihren Schülern einen Ausflug zu einem abgelegenen Aussichtsturm unternehmen, der auf einer Seite nur eine sehr niedrige Brüstung hat. Und weil Wolf den Anschlag nicht selbst unternehmen kann, ohne sich verdächtig zu machen, muss Uschi den entscheidenden Schubs geben. Niemand sonst wird da sein, niemand kann sie mit Wolfs Frau in Verbindung bringen, und die Kinder sind zu jung, um als Zeugen eine Gefahr zu sein.
Zugfahrt mit sinistrer Absicht
Am fraglichen Tag steht Uschi einsam auf dem nebelverhangenen Turm. (In der Realität handelt es sich um den Berliner Grunewaldturm, doch im Nebel wirkt er viel moderner als dieses wilhelminische Ding, fast schon brutalistisch-avantgardistisch, und die heute vorhandenen Sicherheitsgitter gab es damals noch nicht.) Ohne sichtbare Emotionen wartet sie auf die Schulklasse, und dann zögert sie auch nicht lange, und sie stürzt Wolfs Frau in den Tod. Doch schon kurz danach folgt herbe Ernüchterung. "Die Liebe kommt, die Liebe geht", erklärt ihr Wolf, und er habe jetzt wieder ein attraktives Angebot aus Berlin, eine Hauptrolle in einer Brecht-Aufführung, und er gibt ihr freundlich, aber bestimmt den Laufpass. Als ihm Uschi am Bahnhof noch etwas hinterhergeht, sieht sie, wie er eine andere Frau umarmt. Sie nimmt das alles äußerlich gefasst hin, aber sicherlich stellt sie sich dieselben Fragen wie wir als Publikum: Wurde sie von Wolf nur ausgenutzt? War sie von Anfang an nur ein naives Werkzeug, um seine Frau auf bequeme und für ihn gefahrlose Weise loszuwerden? Selbst wenn sie geschnappt worden wäre, hätte er ja sagen können, dass sie aus eigenem Antrieb einen Eifersuchtsmord begangen hat und er nichts damit zu tun hat. Und hatte er womöglich schon die ganze Zeit eine andere Geliebte? Uschi kommt offenbar zu dem Schluss, dass alles genauso war, und die Konsequenz, die sie daraus zieht, steht schon im Titel des Films.
Der Turm des Todes
Nach 40 Minuten im Film ist der Zug angekommen (die damals eigentlich nötigen Umstände einer Bahnreise aus der BRD durch die DDR nach West-Berlin ignoriert Petersen komplett); der Rest spielt in Berlin, und es gibt keine Rückblenden mehr. Uschi mietet ein Appartement in Grunewald und zahlt bar einen Monat im Voraus. Der Vermieter entpuppt sich als Spanner - unmittelbar nach Erhalt der Miete wetzt er in ein Nachbarhaus, wo er selbst wohnt, erklimmt auf dem Dachboden einen "Hochsitz" in Form einer Stehleiter und beobachtet durch eine Dachluke mit einem Fernglas Uschi hinter der großen nackten Glasfront des Appartements ("die Gardinen hat meine Frau gerade in der Wäsche", hat er ihr zuvor weisgemacht). Doch just als sich Uschi auszieht, bricht der Hochsitz krachend zusammen, und der Spanner landet auf dem Hosenboden - Pech gehabt.
Der erste Mord
Wolf spielt jetzt auf einer großen Bühne den Baal, und Uschi besucht wieder einmal eine seiner Vorstellungen. Irgendwie (wie genau, lässt der Film offen) schleppt sie ihn in das Appartement ab, und die beiden schlafen miteinander - Wolf lässt offenbar nichts aus. Doch als er schon selig neben ihr schlummert, schleicht Uschi in die Küche, holt ein großes Messer und sticht wild auf ihn ein. Nach vollbrachter Tat bleibt sie erst mal auf dem Bett neben dem toten Wolf sitzen bis zum Morgen. Erst dann packt sie ihre wenigen Sachen zusammen und ruft ein Taxi, um zu verduften. Gerade noch rechtzeitig, denn der Spanner-Vermieter hat mit seinem Fernglas die Leiche entdeckt und die Polizei alarmiert, nachdem er vor Schreck erneut von seinem Hochsitz auf seinen Allerwertesten plumpste. "Bitte fahren Sie etwas schneller", sagt Uschi zum Taxifahrer, als sie die Blaulichter und Sirenen bemerkt, doch es klingt, als wolle sie nur ihren Zug nicht verpassen. Wahrscheinlich wird sie ungeschoren davonkommen, und die geradezu hymnische Schlussmusik verstärkt diesen Eindruck.
Kein glückliches Paar mehr
Das Thema von ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ist düster, doch Petersens bisweilen gallig-ironische Inszenierung sorgt dafür, dass es nicht zu ernst wird (der ferkelige Vermieter ist da nur ein Beispiel unter mehreren) - Petersen selbst hat den Film sogar ausdrücklich als "unernst" bezeichnet. Wolfgang Petersen hatte von 1966 bis 1970 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Regie studiert, und ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ist sein dortiger Abschlussfilm, gedreht im Oktober und November 1969. Eigentlich hatte er nur ein Budget von 10.500 DM zur Verfügung, was nur für einen Kurzfilm gereicht hätte, doch er war wild entschlossen, einen zumindest einstündigen Film zu machen. So drehte er drauflos, steuerte sehenden Auges auf die Budgetüberschreitung zu, und als das Geld alle war, ging er mit dem bereits gedrehten Material zur DFFB-Leitung, um mehr loszueisen. Letzten Endes erhielt er 50.000 DM, aber ein erheblicher Teil der Kosten konnte wieder hereingeholt werden, weil es gelang, den Film an den NDR zu verkaufen.
Trennung
50.000 DM waren, auch inflationsbereinigt, natürlich immer noch ein mickriger Betrag für einen Spielfilm. Immerhin konnte zwar in Schwarzweiß, aber auf 35 mm gedreht werden, aber der Zeitrahmen von 60 Minuten bedingte, dass es zwischen den Rückblenden jeweils Sprünge in der Zeit und im aktuellen Status der Beziehung von Uschi und Wolf gibt. Der Zuschauer wird über diesen Status aber nie im Unklaren gelassen oder gar verwirrt, so dass die Geschichte zwar etwas elliptisch, aber trotzdem flüssig erzählt wird - Petersen hat hier also sehr ökonomisch gearbeitet. Den Kosten war es auch geschuldet, dass der Film zum größten Teil in West-Berlin gedreht wurde, auch die Szenen, die in der ländlichen Provinz spielen. Nur die Zugfahrt wurde an der Strecke Hamburg-Flensburg gedreht. Abgesehen davon, dass eine Dampflok und ein Nebengleis für vier Stunden zum Preis von 300 DM von der Bundesbahn angemietet wurden, wurden dafür nur reguläre Bahnfahrten benutzt - das Team fuhr eine Woche lang zwischen Hamburg und Flensburg hin und her, um die Szenen in den Kasten zu bekommen. Auch die Ausgaben für die Schauspieler waren sehr gering - sie erhielten kaum mehr als ein Taschengeld. Neben den beiden Hauptdarstellern war nur Helmut Heckelmann, der einen dicken Berliner im Zugabteil spielt, ein echter (aber kein bekannter) Schauspieler. Ingrid Oppermann, Wolfs Frau im Film, studierte ebenfalls Regie an der DFFB, und nebenbei kam sie im Lauf der Jahre auf ungefähr ein Dutzend Film- und Fernsehrollen. Alle anderen auf der Leinwand waren Laiendarsteller, so war etwa der Vermieter im echten Leben ein Taxifahrer.
Ein unanständiger Vermieter
Ursula Sieg war Petersens erste Frau, sie waren von 1970 bis 1978 miteinander verheiratet. Kennengelernt hatten sie sich schon in den frühen 60er Jahren an einem Hamburger Theater, wo Petersen als Regieassistent und Schauspieler tätig war. Siegs Uschi ist unterkühlt, introvertiert, wortkarg, aber das ändert nichts daran, dass man trotz des ersten Mordes mit der Figur sympathisieren kann (den zweiten Mord gönnt man dem bösen Wolf ohnehin). Wolf Roth (der auch im Film vollständig Wolf Roth heißt) gehörte (wie Klaus Schwarzkopf und Jürgen Prochnow) zu den Darstellern, mit denen Petersen mehrfach gearbeitet hat: Viermal spielte er unter Petersen im TATORT Kommissar Finkes Assistenten Jessner, dazu kam noch eine Nebenrolle in EINER VON UNS BEIDEN. Seinen Wolf stattet er mit einer gewissen Portion Exaltiertheit aus, so dass man ihm beim ersten Sehen des Films den leidenden Wolf noch abnimmt, aber beim zweiten Mal, wenn man seinen Charakter und seine Absichten kennt, den unlauteren und manipulativen gelernten Schauspieler herauslesen kann. Kurz, er macht seine Sache sehr gut.
Der zweite Mord
ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF hatte im Juni 1970 auf der Berlinale in der Reihe "Info-Schau" seine Premiere, und die Erstausstrahlung in der ARD erfolgte im April 1971. Dabei hinterließ er einen guten Eindruck - so wie zuvor schon bei Dieter Meichsner, dem langjährigen Fernsehspielchef des NDR. Schon im selben Jahr 1971 inszenierte Petersen für den NDR mit BLECHSCHADEN die erste der TATORT-Folgen mit Kommissar Finke. Insgesamt gab es davon sieben, alle bis auf die letzte unter der Regie von Petersen. ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF war also seine Eintrittskarte für größere Aufgaben (und das ist ja auch der Sinn solcher Abschlussfilme). Zum Schluss soll der Regisseur selbst das Wort haben:
"ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF ist zu einem Film der Zitate aus allem geworden, was ich im Kino gerne mochte. Hitchcock kommt vor, Truffauts DIE BRAUT TRUG SCHWARZ, von Polanski eine gewisse Brutalität. [Apropos Hitchcock: Petersen gönnt sich ein Cameo als Heizer in der Dampflok des Zugs nach Berlin.] Alles in diesem Film ist in Anführungsstrichen zu sehen. Ich spielte mit allen möglichen Stilmitteln, ein typischer Akademiefilm. Ich war gefangen im Nachdenken über filmische Sprache und wußte, daß mir das Finden einer eigenen Sprache noch bevorstand." (Wolfgang Petersen/Ulrich Greiwe: Ich liebe die großen Geschichten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, S. 81)
Erfreulicherweise kann man ICH WERDE DICH TÖTEN, WOLF im DFFB-Archiv kostenlos streamen.
Wolfgang Petersen schippt Kohlen