Montag, 28. Juni 2010

Zorniger junger Taugenichts


Samstagnacht bis Sonntagmorgen
(Saturday Night and Sunday Morning, Grossbritannien 1960)
Regie: Karel Reisz
Darsteller: Albert Finney, Shirley Ann Field, Rachel Roberts, Norman Hossington, Hylda Baker u.a.

Im Gegensatz zur noch immer heiss diskutierten und umstrittenen französischen "Nouvelle Vague" samt Ausläufern (François Truffaut scheint als Frühverstorbener wohl der einzige Regisseur dieser Stilrichtung zu sein, der allgemeine Anerkennung geniesst) ist das etwa zeitgleich entstandene britische "Free Cinema" ziemlich in Vergessenheit geraten - zu Unrecht, wie ich meine. Die Filme, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren von jungen Regisseuren gedreht wurden, sind kaum mehr im Fernsehen zu sehen; nicht einmal Programmkinos kämen auf die Idee, eine Retrospektive auf die Beine zu stellen.

Man muss vielleicht zuerst betonen, dass das "Free Cinema" (dummerweise auch "New Wave" genannt) so gut wie nichts mit der "Nouvelle Vague" gemeinsam hat: Während sich die Franzosen gegen eine eingefahrene Bildsprache und einen vorhersehbaren Erzählfluss wandten, stattdessen dem Individualismus des schöpferischen Filmemachers huldigten, ging es den Briten um eine beinahe dokumentarische Nachzeichnung des Alltags (vor allem der Arbeiterklasse in Nordengland), welche  schon   die Literatur, die den Filmen oft zugrunde lag, vorweggenommen hatte. - Die englische Literatur der 50er Jahre hatte sich bewusst gegen einen internationalen Modernismus gewandt, der etwa mit dem späten Joyce und Pound an einem Endpunkt angelangt war. Sie tat dies durch Rückbesinnung auf traditionelle Formen, die die kleinen Menschen mit ihren aufbegehrenden Plänen und ihrem oft unausweichlichen Scheitern schildern sollten. Die Regisseure des "Free Cinema" erkannten in diesen Vorlagen eine Gelegenheit, sich endlich mit einem eigenen Profil gegen die biederen Ealing-Comedies und das übermächtige Hollywood zu behaupten, das es den Engländern schon wegen der fehlenden Sprachbarriere immer schwer gemacht hatte, ein eigenständiges Kino zu entwickeln. So entstanden in einem Zeitraum von wenigen Jahren meist in Schwarzweiss gedrehte Meisterwerke über das Banale, die Schilderung der sozialen Realität letztlich gestrandeter Existenzen, die an Originalschauplätzen gedreht wurden und sich durch ihre Umgangsprache auszeichneten. Es waren etwa Verfilmungen der Werke von Kingsley Amis, John Osborne oder Keith Waterhouse: "Lucky Jim" (John Boulding, 1957), "Look Back in Anger" (Tony Richardson, 1959), "Billy Liar" (John Schlesinger, 1963) - und vor allem "The Loneliness of the Long Distance Runner" (Tony Richardson, 1962) nach einer Erzählung des am 25. April dieses Jahres verstorbenen Alan Sillitoe.

Auch Karel Reisz’s “Saturday Night and Sunday Morning”, ein Film, der als eines der Schlüsselwerke des “Free Cinema” gilt, beruht auf einer Vorlage von Alan Sillitoe. Erzählt wird die Geschichte des jungen Arthur Seaton, der die Woche über in der Industriestadt Nottingham als Akkordarbeiter in einer Fahrradfabrik malocht und nur für das Wochenende lebt, das ihm Gelegenheit bietet, sein hart verdientes Geld im Pub zu versaufen oder für weibliche Eroberungen auszugeben. Arthur, der sich damit brüstet, im Gegensatz zu seinen Kollegen nicht vor den Vorgesetzten zu kuschen, hat ein Verhältnis mit Brenda, der Frau eines älteren Arbeiters. Gleichzeitig lernt er die ungebundene Doreen kennen, die sich jedoch nicht mit gelegentlichem Sex begnügt, sondern von Heirat und einem bürgerlichen Leben im Einfamilienhaus träumt. - Als Brenda von Arthur schwanger wird, will er sie zu einer Abtreibung überreden und schleppt sie sogar zu einer Tante, deren “Anweisungen” (eine halbe Flasche Gin in der mit warmem Wasser gefüllten Badewanne) allerdings auch nicht helfen.  Brendas Mann erfährt, was hinter seinem Rücken getrieben wird und lässt  Arthur von zwei Soldaten heftig verprügeln. Am Ende erleben wir den jungen Mann, der sich während eines Sonntagsspaziergangs mit Doreen über eine gemeinsame Zukunft unterhält. Ob man ihm eine echte Veränderung seiner Vorstellungen von der Zukunft abnehmen kann, bleibt ungewiss: Er selber reagiert auf die Bitte seiner Freundin, nicht mit Steinen auf ein Plakat zu werfen, mit einem “It won’t be the last one I throw”.

Der Film mag dem heutigen Zuschauer auf den ersten Blick “veraltet” vorkommen, da man alle diese Geschichten über Figuren aus der Arbeiterklasse mittlerweile zur Genüge kennt. Seinerzeit war er (er gilt  als eines der ersten “Kitchen-Sink”-Dramas)  eine ganz neue Erfahrung für die Kinogänger, beinahe ein Schock - und er rief wegen seiner angeblichen Freizügigkeit sogar die Zensurbehörden auf den Plan. Man war zwar diesen aufbegehrenden jungen Männern in Hollywood-Filmen der 50er Jahre schon begegnet (“The Wild One”, 1953, “Rebel Without a Cause”, 1955); ihre Darstellung war damals jedoch eher etwas sensationalistisch und fernab von der Realität angelegt gewesen.  Arthur Seaton  hingegen benahm sich alles andere als sensationalistisch: er schien vielmehr dem Leben direkt entsprungen zu sein, wirkte bisweilen vulgär, war ein unsympathischer Kerl mit grossen Sprüchen (“Don’t let the bastards grind you down!”, “All I want is a good time. The rest is propaganda”), der es, dies verriet Albert Finney mit jeder seinen Charakter entlarvenden Bewegung, seiner primitiven Gier, einem Überlegenheitsgehabe und dem Ausweichen, wenn es wirklich darauf ankam (etwa im Gespräch mit Brenda über ihre Schwangerschaft), nie weiterbringen würde als seine Eltern, von denen er behauptete: “They have a TV set and a packet of fags, but they’re both dead from the neck up.” - Also ein Mann, mit dem man sich kaum identifizieren wollte.




Was ist schuld an Arthur’s Situation? - Er selber führt sich zwar - etwa beim Angeln mit seinem besten Kumpel - als “Angry Young Man” auf und wälzt alles auf die Umgebung, die soziale Situation ab. Und tatsächlich: Wer die engen “terrace houses” sieht, in denen die Leute aufeinander wohnen, wer die Verhältnisse in der Fabrik (etwa den tyrannischen Vorgesetzten, der immer erzählt, früher sei alles viel schlimmer gewesen) miterlebt und darüber staunt, wie sich andere den tristen Umständen der Arbeiterklasse resigniert angepasst haben, wird schon ein gewisses Verständnis für den sich an allem Reibenden aufbringen. Was aber tut Arthur selber, um zu einem besseren Leben zu gelangen? - Er lässt sich vollaufen, bis er die Treppe hinunterstürzt, legt einer Arbeiterin eine tote Ratte vor die Nase - und verpasst mit seinem Luftgewehr einer fetten Tratschtante aus der Nachbarschaft eine Erinnerung in den Allerwertesten. Dies sind alles keine Heldentaten, auf die ein “Rebell” stolz sein kann - und der Prolet mit seinen kindischen Racheakten erweist sich sogar als vollendeter Feigling, als er auf einem Jahrmarkt die Flucht ergreift, nachdem Brendas Mann dem Verhältnis auf die Spur gekommen ist und seine Frau schlägt.

Albert Finney, der in “Saturday Night and Sunday Morning” seine erste Hauptrolle spielte und über Nacht zum Star wurde, verleiht seinem Arthur Seaton all jene trotzigen Züge, die die Figur zu einem lebensechten Antihelden machen, über den man sich oft regelrecht ärgert, weil er die Schuld an allem immer bei den anderen sucht und - dieser primitiv-“arrogante” Wesenszug ist ihm eigen - nicht den geringsten Versuch unternimmt, wirklich etwas zur Verbesserung seiner Situation beizutragen, weil sich die Situation seiner Meinung nach von selber ändern müsste. - Finney’s Darstellung allein (der Schauspieler sollte ja 1962 mit dem hierzulande zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratenen Meisterwerk “Tom Jones” Weltruhm erlangen und zu einer grossen, bis heute andauernden Karriere ansetzen), die den “Angry Young Man” auf einen - freilich durch die “Umstände” geprägten -  leeren Phrasendrescher gegen das Establishment reduziert,  macht den Film noch heute zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis. Hinzu kommen der bemerkenswerte Jazz Score von John Dankworth, der für das britische Kino neu gewesen sein dürfte und  jene die Geschichte durchziehende Zwiespältigkeit (soziale Situation / fehlender Wille, sich zu verbessern) unterstreicht. Dies alles wird ergänzt durch  die ungeschönten Aufnahmen von der Realität einer einstigen Industriestadt in den Midlands. - Mag vielleicht “Saturday Night and Sunday Morning” aus heutiger Sicht auch nicht ganz an Filme wie “The Loneliness of the Long Distance Runner” heranreichen: er ist mit  Sicherheit ein sensibles Alltagsprotokoll der 60er Jahre und prägte eine wichtige Figur des “Free Cinema” - jenen zornigen jungen Taugenichts, in dessen eigenen Händen es liegt, seine Zukunft zu gestalten.

Der gebürtige Tscheche Karel Reisz, dem nicht die Karriere eines John Schlesinger oder eines Tony Richardson vergönnt sein sollte, widmete sich auch in späteren Filmen, die von der Kritik gelobt wurden, aber an den Kinokassen scheiterten (“Morgan: A Suitable Case for Treatment”, 1967, “Isadora”, 1968, oder “The Gambler”, 1974), der Darstellung eines exzentrischen Individualismus. Mit der Verfilmung von John Fowles’ Roman “The French Lieutenant’s Woman” (1981) gelang ihm sein grösster Wurf. - Und ich komme als Fan der Country-Sängerin Patsy Cline natürlich nicht umhin, auf das von ihm gedrehte Biopic “Sweet Dreams” (1985) hinzuweisen...

Leider war das "Free Cinema" eine Sache, die Mitte der 60er Jahre recht schnell durch Grossproduktionen abgelöst wurde. Die Bewegung hatte jedoch einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf  Filme, wie sie seit den 80ern von Ken Loach oder Mike Leigh hervorgebracht werden. Man könnte - diesen Hinweis verdanke ich meinem Blogger-Freund "tschill" (Ockhams Axt)  - vielleicht behaupten, das mangelnde Interesse am "Free Cinema" ausserhalb Englands habe damit zu tun, dass die von ihm geprägten Formen erfolgreich tradiert wurden, während über die Vertreter der "Nouvelle Vague" zum Teil  Kübel der Häme ausgegossen werden. - Trotzdem wird jeder, der sich mit der Geschichte des englischen Films beschäftigt, auf kleine Perlen stossen, wenn er sich den vergessenen Vorläufern der heute aus Grossbritannien kommenden sozialrealistischen Filmen zuwendet.

Mittwoch, 23. Juni 2010

Grossmuttis Schmachtfetzen

Drei Münzen im Brunnen
(Three Coins in the Fountain, USA 1954)

Regie: Jean Negulesco
Darsteller: Clifton Webb, Dorothy McGuire, Jean Peters, Louis Jourdan, Rossano Brazzi, Maggie McNamara u.a.

Während sich die vom Krieg geschundenen Deutschen in den 50er Jahren mit Filmen zufrieden geben mussten, die ihnen die Schönheit ihres Landes schmackhaft zu machen versuchten, sehnte sich der durchschnittliche Amerikaner nach einem Trip durch bedeutende europäische Städte, und sei’s auch nur auf der Leinwand. Rom, die ewige Stadt, war besonders gefragt, was wohl nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass in Studios hergestellte  “Bibelpornos” (ich benutze den Begriff, weil ich die Frömmelei in den betreffenden Monumentalfilmen geradezu obszön finde) wie “Quo Vadis” (1951) die Zuschauer neugierig auf das wirkliche Rom machten - oder auf das Rom, das ein amerikanischer Tourist zu sehen wünschte...

William Wyler lieferte 1953 mit “Roman Holiday” eine bis heute unerreichte Vorlage, die vorführte, wie man eine Stadt mit vielen ihrer Eigenarten grandios in eine passende Story einzubetten vermag. Diese Paramount Pictures-Produktion in Schwarzweiss versuchte Twentieth Century Fox 1954 mit dem ersten ausserhalb der Staaten gedrehten Cinemascope-Spektakel “Three Coins in the Fountain”  zu übertrumpfen. Was die Zuschauer jedoch vorgesetzt bekamen, war eine sich in einem Postkarten-Rom abspielende Soap Opera der heute eher als unerträglich empfundenen Art. - Und sie fand Anklang.

Drei amerikanische Sekretärinnen, Anita, Frances und die eben erst in Rom eingetroffene Maria stehen im Mittelpunkt der Handlung. Maria erfährt von ihren neuen Freundinnen, dass man eine Münze in den Trevi-Brunnen werfen und sich wünschen kann, ein Jahr lang in Rom bleiben zu dürfen. Anita, die in die Staaten zurückkehren will (angeblich wird sie dort heiraten; in Wirklichkeit ist sie in ihren Mitarbeiter, den Übersetzer Giorgio, verliebt, den sie - Firmenpolitik! - nicht privat treffen darf), verzichtet dieses Mal auf den Wurf, während Frances, die sich seit vielen Jahren nach ihrem Arbeitgeber, dem Schriftsteller Shadwell, verzehrt,  die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat. - Und schon bald nehmen drei belanglose Liebesgeschichten, die die Aufnahmen von der Spanischen Treppe und der Villa Borghese rechtfertigen sollen, ihren Lauf. Maria verliebt sich ausgerechnet in den Prinzen Dino, einen stadtbekannten Frauenhelden, der seine Eroberungen zu einem Ausflug nach Venedig einzuladen pflegt (die “Neue” nimmt die Einladung an, trudelt aber zusammen mit Frances, einem früheren Opfer des Prinzen, ein - was dem Bilderbuch-Film Gelegenheit bietet, Venedig zusammen mit Rom in einem Aufwasch mitzunehmen). Anita wird unterdessen von Giorgio, der später Anwalt werden will, zu einem Familienfest aufs Land eingeladen - und auch die Beziehung zwischen Frances und Shadwell scheint sich in die gewünschte Richtung  zu entwickeln. Maria versucht sogar, ihren Prinzen zu zähmen, indem sie vorgibt, die gleichen Dinge zu mögen, die er mag (Kunst, Essen, Musik). All dies führt zu “amore” vor neo-impressionistischen Gemälden im Museum, in einer Rossini-Oper, vor der Schreibmaschine und zwischen Apfelbäumen. --- Natürlich bedarf es einiger  die 102 Minuten Laufzeit notdürftig ausfüllender Komplikationen (Giorgio erhält die Kündigung, weil er zusammen mit Anita beobachtet wurde,  Shadwell erfährt, dass er an einer schweren Krankheit leidet, was der unterschätzten Dorothy McGuire - sie erhielt trotz ihrer grossen Rollen nicht einmal einen Stern auf dem Walk of Fame - nach einem Besäufnis mit ihrem Arbeitgeber die Möglichkeit bietet, noch vor Anita Ekberg in einen römischen Brunnen zu steigen), bevor das unausweichliche Glück der drei Paare besiegelt werden kann.

Die Zusammenfassung der Handlung tönt abschreckend genug. Was dem heutigen Zuschauer jedoch den Rest geben dürfte, ist der Oscar-prämierte Titelsong, den Frank Sinatra schon zu einer rund vier Minuten dauernden Pre-Credit-Sequenz von sich geben darf, die die magischen Fähigkeiten der neuen Cinemascope-Kameras, welche ein idealisiertes Rom in seiner ganzen Länge und Breite einfangen, vorführt. - Wir wissen nicht, wie unsere Grosskinder einmal über die Titelsongs der heutigen Filme urteilen werden; aber die Schmachtfetzen der 50er Jahre warteten mit einigen musikalischen Erzeugnissen auf, die nun wirklich höchstens unsere Grossmütter zum Schluchzen gebracht haben dürften. Und in meiner “Hitparade des Schreckens” nimmt “Three Coins in the Fountain” neben “Raintree County” (1957) den Spitzenplatz ein. - Fox vergass im Eifer des Gefechts übrigens, sich die Rechte am Song zu sichern, weshalb diverse Sänger und Gruppen (u.a. “The Four Aces”) ebenfalls Geld damit verdienen konnten.

Das Cinemascope-Verfahren betont die herrlichen Schauplätze dermassen, dass die Darsteller  in den luxuriösen Innenräumen, vor den Bildern, die ein antikes und ein modernes Rom einzufangen versuchen, beinahe verloren gehen, was angesichts ihrer begrenzten Möglichkeiten, sich in diesem flachen Liebesfilmchen zu entfalten, nicht weiter bedauerlich ist: Louis Jourdan spielt eben das, was er  schon immer spielen konnte: einen Schönling. Die Schauspielerinnen müssen sich  hingegen wie Dummchen erster Güte aufführen, die nur die Liebe respektive das Einfangen von Männern im Kopf haben - was eigentlich entwürdigend wirkt. Einzig der grosse Clifton Webb kann als blasierter Schriftsteller mit herrlich britischem Akzent einige Szenen für sich verbuchen. - Was jedoch am meisten stört: Im Gegensatz zu Wyler bezieht “Three Coins in the Fountain” Rom in keinster Weise in die Geschichte mit ein. Man geht zwar am berühmten “Mund der Wahrheit” vorbei, sieht das Kolosseum im Hintergrund - aber all dies nur, damit der amerikanische Kinogänger überhaupt erfährt, dass sich die Dinger in Rom befinden. Einzig der Brunnen von Trevi wird mit derart kitschiger Bedeutung aufgeladen, dass die Legende entstand, erst seit dem Film würden Münzen hineingeworfen. Abgesehen davon wird Rom - und das sagt eigentlich schon alles - höchstens durch ein paar Trauben heraufbeschworen, die sich in einer Schale auf einem Tisch mit grundsätzlich kariertem Tischtuch befinden. - Es verwundert nicht, dass “Three Coins in the Fountain” auch für die beste Farbkamera einen Oscar bekam; dass man das traurige Ereignis jedoch neben Meisterwerken wie “On the Waterfront” und “The Caine Mutiny” als “Besten Film” nominierte, ist ein Skandal.

Man mag sich fragen, weshalb ich diesen Film über Rom, dem wahrlich bessere entgegenzustellen wären (neben “La dolce vita”, 1960, etwa sogar “Only You“, 1994), überhaupt bespreche. Nun, es geht mir nicht zuletzt um die Figur, die ich bis jetzt bewusst ausgespart habe: den Regisseur. - Der rumänischstämmige Jean Negulesco (1900 - 1993) gehört nämlich wohl zu den eigenartigsten, sich dem heute an der Geschichte des Hollywood-Films Interessierten am meisten entziehenden Figuren der Traumfabrik. Dies mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass sein Name hierzulande höchstens im Zusammenhang  mit gelegentlich ausgestrahlten Belanglosigkeiten wie “How to Marry a Millionaire” (1953) oder “Titanic” (1953) auftaucht.  - Tatsächlich war Negulesco jedoch einmal ein gerade wegen seiner Melodramen (“Humoresque”, 1946,  oder “Johnny Belinda”, 1948, der ihm seine einzige Oscar-Nominierung einbrachte) ausserordentlich geschätzter Regisseur. Er erwies sich aber auch als äusserst “anspassungsfähig” im  Sinne von “gefällig“, weshalb er der Gunst der Kritiker mit der Zeit verlustig ging (spätere Filme wie “Jessica”, 1962, oder “The Pleasure Seekers”, 1964, eine Verlegung des hier besprochenen Films nach Madrid, wirken heute regelrecht peinlich). Diese “Anpassungsfähigkeit” überfiel den Regisseur allerdings  erst mit seinem Ruhm (er galt auch  als einer der frühen Meister des Cinemascope-Verfahrens); sie war nicht von Anfang an vorhanden, und es ist in seinem Werk vielleicht nur eine Konstante auszumachen: die Vorliebe für Episodenfilme, Filme, in denen mehrere Handlungsstränge nebeneinander  herlaufen, wobei man beinahe behaupten könnte, Negulesco sei - obwohl er diese “Neurose” längst nicht in allen seinen Arbeiten kultivieren konnte - auf die Zahl “Drei” geradezu  fixiert gewesen (vgl. neben den hier erwähnten Werken etwa auch “Three Came Home“, 1950).


Negulesco wollte ursprünglich Maler werden, stürzte sich auf Anraten eines Kritikers jedoch ins Filmgeschäft und debütierte nach beinahe zehn Lehrjahren 1944 mit dem Film noir “The Mask of Dimitrius”,  den er unbedingt mit Sydney Greenstreet und dem von ihm ausserordentlich geschätzten Peter Lorre besetzen wollte. Es folgten zwei weitere “Noirs” mit Lorre, von denen “Three Strangers” (1946) als besonders sehenswert bezeichnet werden darf. - Diese frühe Gruppe von “Films noirs”, der noch “Nobody Lives Forever" (1946) hinzuzufügen wäre, ist vielleicht als der  eigentliche  Höhepunkt im filmischen Schaffen des Regisseurs zu bezeichnen, scheint sie doch kompromisslos jenes seltsam Mysteriöse, beinahe Abergläubische (kann man sein Schicksal umgehen?) einzubringen, das anderen “Noirs” fehlte, weil es eben zu einem noch nicht von der Traumfabrik willig “geformten” Negulesco gehörte, etwas Eigenes war. Leider sind die erwähnten Filme, derer sich das ZDF vor Jahren annahm, in Deutschland nicht auf DVD erhältlich.

Wirkliche Berühmtheit erlangte der Regisseur jedoch mit seinen grossen Melodramen der 40er Jahre - und er verfiel bald dem Reiz jener “Anpassungsfähigkeit” (die Engländer würden von “versatility” reden), die ihn wohl sich auf unangenehme Weise derart entziehend  macht, weil er letztlich weniger als jeder andere Hollywood-Regisseur etwas Individuelles zu bewahren vermochte. Man erkannte seine technischen Fähigkeiten, und er liess sich nur zu gerne “verwenden” - wofür auch immer. “Titanic” schrie geradezu nach mehreren Handlungssträngen, und es war verlockend, mit “How to Marry a Millionaire” den zweiten Cinemascope-Film von Fox zu verwirklichen. Vermochte diese reizvolle Komödie jedoch mit Stars wie Marilyn Monroe und Lauren Bacall aufzuwarten, bot “Three Coins in the Fountain” nur noch technische Meisterschaft verschwendet für eine Banalität. Von Negulescos späteren Filmen ist höchstens noch “Daddy Long Legs” (1955) mit Fred Astaire erwähnenswert, der Rest lief der Zeit hinterher - und das belanglose Wesen, zu dem sich dieser im Ansatz interessante Regisseur entwickelt hatte, zeigt sich vielleicht besonders deutlich in einer seiner nichtssagenden Äusserungen gegenüber der “Los Angeles Times”: “I have found nothing to compare to the beauty of the American girl... - She is more confident and independent than the girls in Europe, and she stays young longer.” --- Was für eine tiefgründige Einsicht nach vielen Jahren im Film-Business!!!

Eigentlich ein merkwürdiger Kerl, dieser Jean Negulesco. Man möchte ihn mit Händen greifen, seine mögliche  Grösse beschreiben - und man könnte es vielleicht auch, hätte er weiterhin Filme gedreht, in denen seine Handschrift derart deutlich zur Geltung gekommen wäre wie in den ersten - hierzulande leider vergessenen - Arbeiten.

Freitag, 18. Juni 2010

Her mit der deutschen DVD! - die Dritte

Es grenzt zwar ans Absurde, eine deutsche DVD für einen deutschen Film zu fordern; aber gelegentlich muss man sich - nolens, volens - diesem Grenzbereich annähern. Und dass ich zu einem Film, den es leider überhaupt nicht auf DVD gibt, keine Bilder liefern kann, versteht sich von selber:

  
Das Brot des Bäckers
(Das Brot des Bäckers, Deutschland 1976)
Regie: Erwin Keusch
Darsteller: Günter Lamprecht, Bernd Tauber, Silvia Reize, Anita Locher, Manfred Seipold, Gerhard Acktun, Ronald Nitschke


So sehr es unser Leben vereinfachen würde: Der deutsche Film der 70er Jahre lässt sich nicht einfach in  billigste Unterhaltungs- respektive Sexstreifen und die oft etwas abgehobenen Werke einer Gruppe von Autorenfilmern (Alexander Kluge, Werner Herzog, Volker Schlöndorff, Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder etc.), denen "künstlerischer" Anspruch und Anerkennung im Ausland oft wichtiger waren als Publikumsnähe, aufteilen. Gerade das Fernsehen erlaubte es bislang weniger etablierten Regisseuren, etwa für Reihen wie "Das kleine Fernsehspiel" oder "Tatort" Filme zu drehen, die brennende Themen der Zeit in leichter zu goutierende Geschichten verpackten, damit sie auch von Leuten wahrgenommen wurden, die weniger informiert waren als die Intellektuellen im Lande. Das zwischen der ARD, dem ZDF und der Filmförderungsanstalt geschlossene Film-Fernsehen-Abkommen ermöglichte es solchen Filmen zum Teil letztlich auch, an den Kinokassen erfolgreich zu sein, bevor sie im Fernsehen gezeigt wurden.

Leider sind viele Produktionen, die sich deutlich aktueller Probleme der Zeit annahmen, etwas in Vergessenheit geraten. Ich möchte deshalb hier an eine von ihnen erinnern, die von einem Regisseur gedreht wurde, der etwa im Gegesatz zu Wolfgang Petersen  dem Fernsehen treu blieb und  dem wir neben Beiträgen für "Tatort", "Eurocops" und "Polizeiruf 110" eine Reihe durchaus beachtlicher Filme verdanken, die nicht mit Pomp, aber mit Themen aufwarteten. Dass er mit der Schweiz zu tun hat, dürfte nicht reiner Zufall sein - letztlich müssen bloss die armen, für Filmzeitschriften arbeitenden Sklaven über Erzeugnisse schreiben, mit denen sie überhaupt nichts verbindet:

Der von Kritikern und Publikum gleichermassen gefeierte Erstling des Zürchers Erwin Keusch beschäftigt sich mit dem Niedergang des Kleingewerbes in den 70er Jahren, verpackt sein Thema jedoch zugleich in die mehr als ansprechende Geschichte des jungen Werner Wild, der eines Tages in einer fränkischen Kleinstadt die Bäckerei von Georg Baum mit den Worten "Ich ess' gern gutes Brot" betritt - und vom Bäckermeister, einem Anhänger gut durchgebackenen Brotes, augenblicklich als Lehrling eingestellt wird. Dieser macht ihn nicht nur mit den Feinheiten des Backens von Brot und Gebäck vertraut, sondern nimmt ihn auch herzlich in seine Familie, die durch die temperamentvolle Meistersfrau zusammengehalten wird, auf. Während Werner unbeschwerte Lehrjahre mit den dazugehörenden Liebeswirren durchlebt, will Baum bloss in Ruhe sein Brot verkaufen und bemerkt erst langsam die sich verändernde wirtschaftliche Umgebung, auf die ihn seine Söhne, zwei Gymnasiasten, die mit dem Betrieb des Vaters nichts zu tun haben wollen, immer wieder aufmerksam machen. Erst als ein Supermarkt im Städtchen seine Tore öffnet, erkennt er die anstehenden Schwierigkeiten, in die ein Preiskrieg ihn führen wird.

Werner identifiziert sich zunehmend mit den Problemen seines Meisters, der jetzt in grossem Stil zu rationalisieren beginnt, ohne dass sich der finanzielle Erfolg einstellen würde. Ein zweiter Lehrling schmeisst den Bettel hin, und auch Werner sieht sich nach dem Ende seiner Lehrzeit gezwungen, eine Stelle in einer Grossbäckerei anzunehmen. - Baum, der seinen Einmannbetrieb stur und hoffnungslos verteidigt, dringt eines Nachts in den Supermarkt ein und verwüstet die Brotabteilung. Seine berufliche Karriere ist damit beendet. Dass der Film trotzdem zu einem höchst fragilen Happy End findet, ist umso berührender.

Es würde mich nicht erstaunen, wenn der Bäckersohn Keusch vom Schweizer Film "Bäckerei Zürrer" (1957) auf die Idee gebracht worden wäre, sein eigentliches Anliegen zuerst raffiniert in eine scheinbare Idylle zu verpacken. Während der erwähnte Film aus der Schweiz jedoch nichts weiter als eine "Was man so alles in eine Bäckerei-Geschichte einpacken kann"-Schnulze ist, gelingt Keusch und seinem Team ein höchst aufwühlendes Dokument über die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit. Ohne die Leistung der anderen Darsteller schmälern zu wollen, muss man sagen, dass insbesondere Günter Lamprecht als zunehmend verzweifelnder Bäckermeister einzigartig glaubhaft wirkt. Wenn man seinen Weg mitverfolgt, erkennt man, dass nicht bloss der Eindruck einer bleibenden Aktualität erweckt wird, sondern sich ein vergleichbares Schicksal jeden Tag abspielt.

Ich machte zu Beginn dezent darauf aufmerksam, dass wir letztlich nicht grundlos über ganz bestimmte Filme schreiben oder sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten. Manchmal schadet es nichts, sich über dieses uns Bewegende ein paar Gedanken zu machen: Ich wuchs in den 70ern in einer ländlichen Gegend der Schweiz (der ich auch treu blieb) vom Kind zum jungen Mann heran und erlebte, wie aus den fünf einst stolzen Dorfläden in einer 750-Seelen-Gemeinde immer weniger wurden, weil der gar nicht so weit entfernte Supermarkt nicht bloss alles, sondern auch alles billiger hatte. Man beklagte sich zwar über die mangelnde Qualität, nahm sie aber letztlich ebenso in Kauf wie die Klagen der Ladenbesitzer über Umsatzrückgänge. - Im Grunde genommen erlebte ich das, was Erwin Keusch in seinem Film zeigt, hautnah mit - ohne mich einen Deut darum zu scheren.


Der noch heute in jeder Hinsicht sehenswerte Film "Das Brot des Bäckers" erhielt neben weiteren Preisen das Prädikat "Besonders wertvoll"; die "Financial Times" schrieb darüber sogar: "Was 'Moby Dick' für den Walfang ist, ist dieser Film fürs Brotbacken." - Ist es nicht bedenklich, dass man sich ein solches Meisterwerk vor langer Zeit auf 3sat aufnahm und auf einer bald ausgeleierten VHS-Kassette anschauen muss, weil es noch immer nicht als DVD erhältlich ist?

Sonntag, 13. Juni 2010

Aus einem Hexenkessel

Summer of Sam
(Summer of Sam, USA 1999)
Regie: Spike Lee
Darsteller: John Leguizamo, Mira Sorvino, Adrien Brody, Jennifer Esposito, Michael Rispoli, Ken Garito, Saverio Guerra u.a.

Ich gehöre zu den Leuten, die mit David Fincher’s “Zodiac” (2007) nicht so recht warm werden konnten, obwohl er den langjährigen Drogen-Buhmann Robert Downey Jr. endlich wieder einmal in einer Hauptrolle präsentierte - und nebenbei den Beweis erbrachte, dass die mimischen Fähigkeiten von Jake Gyllenhaal denjenigen eines Steven Segal doch überlegen sind.  Was mich am Film störte: dass er sich trotz Überlänge ausschliesslich mit den Recherchen des Journalisten Paul Avery und des Karikaturisten Robert Graysmith, der den Fall jahrelang obsessiv verfolgen sollte, beschäftigte - und ausgerechnet der Reaktion der Bevölkerung auf einen Serienmörder, einem weitaus interessanteren Aspekt als dem mit der Zeit langweilig werdenden Rätselraten, keinen Platz einräumte. - Allen, denen es ähnlich erging, möchte ich den Spike Lee-Joint “Summer of Sam” ans Herz legen.

Während  "Zodiac" von einer Geschichte handelt, die im San Francisco der späten 60er ihren Anfang nahm, basiert “Summer of Sam”  auf einem wahren Fall aus den 70er Jahren (der Mörder David Berkowitz wurde im Gegensatz zum “Zodiac-Killer” gefasst); er beschäftigt sich jedoch in erster Linie mit normalen Menschen, die einfach ihr gewohntes, vielleicht jämmerliches Leben leben wollen, sich aber von den Verbrechen bedroht fühlen - und sich zunehmend in einen unberechenbaren Mob verwandeln, der seine Hilflosigkeit an Aussenseitern austobt:


 Wir befinden uns mitten in der Hitzewelle des Sommers 1977 in einem New York, das von Rassenunruhen und einer einzigartigen sexuellen Befreiung geprägt ist, den Yankees eine unglaubliche Saison beschert, den Übergang von der Disco-Ära zum Punk erlebt (das legendäre “Studio 54” war im April eröffnet worden) - und von den Morden eines Mannes heimgesucht wird, der sich selber “Son of Sam” nennt. Da gibt es in der Bronx eine italo-amerikanische Männerclique, die ständig bei einem “Dead End”-Schild (ein leicht aufdringliches, aber aussagekräftiges Symbol) rumhängt, wo gesoffen und gedealt wird. Zu dieser Clique gehört der Friseur Vinny, der sich in der Ehe mit seiner frustrierten Frau Donna, die er am Wochenende als John Travolta-Verschnitt in die In-Discos ausführt, schon beinahe biedermännisch-katholisch gibt, selber aber nach Strich und Faden fremdgeht. Vinny befindet sich kurz vor einem Mord am Tatort und fürchtet nun, der Mörder, der vor allem brünette Frauen und deren Liebhaber tötet, könnte es auf ihn abgesehen haben. Er will sich deshalb zum treuen Ehegatten mausern, wird jedoch von der Begierde, seine Frau zu betrügen, nur noch mehr über-”mannt”. - Als Vinny’s alter Kumpel Ritchie (grandios verkörpert von Adrien Brody) als Punk aus Manhattan zurückkehrt, ist er den “Saturday Night Fever”-Leuten sofort unheimlich und wird als Aussenseiter behandelt. Der strippende Punk, der sein Geld unter anderem als Pornodarsteller verdienen muss, haust denn auch ausgestossen zusammen mit der jungen Ruby, die ihn als einzige akzeptiert, in der Garage seiner Mutter.

Im Verlauf des Sommers (man spürt - wie oft bei Lee - das Zunehmen der äusseren und der innerlichen Hitze förmlich) nehmen Angst vor dem “Son of Sam” und Paranoia immer mehr zu. Frauen färben sich ihr Haar blond, Vergessen wird in den sich zunehmend leerenden Discos, aber auch im berüchtigten Sexclub “Plato’s Retreat” gesucht. Verschiedene Gruppen versuchen den Mörder selber zu fassen, darunter die Leute eines Quartier-Paten, aber auch die Gang, der Vinny angehört. Es werden Listen mit “Verdächtigen” aufgestellt, auf denen sich ausschliesslich die Namen von Aussenseitern befinden. - New York verwandelt sich in einen Hexenkessel, seine Bevölkerung wird zum Sinnbild für eine amerikanische Gesellschaft, mit der etwas nicht mehr stimmt, weil sie, in mehrfacher Hinsicht an einem Scheideweg stehend, nicht über die Kraft verfügt, vernünftig auf das über sie Hereinbrechende zu reagieren.
 Am Schluss gerät immer mehr der anpassungsunwillige Ritchie (“Since when does your hairstyle determine whether or not you’re a fukin’ killer?”) ins Visier des Mobs. Vinny, der - mittlerweile ein drogenabhängiges Wrack - von seiner Frau verlassen wurde, erklärt sich bereit, den Judas zu spielen und seinen Freund den lynchfreudigen Kumpanen ans Messer zu liefern. Und während der wirkliche Mörder gefasst wird, macht man sich über den Punk her...

Die Kritik reagierte gespalten auf “Summer of Sam”, und der Film spielte in den USA nicht einmal das Geld ein, das seine Herstellung gekostet hatte. Man warf Spike Lee vor, er habe zuviel auf einmal erzählen wollen, die Detailverliebtheit störe - und er ahme schamlos den frühen Martin Scorsese nach. Diese Kritik scheint mir vor allem zwei Ursachen zu haben: “Summer of Sam” war Lee’s erster Film, der sich nach einer Reihe weniger erfolgreicher Arbeiten nicht mit der afro-amerikanischen Bevölkerung beschäftigte (er begab sich sozusagen auf “verbotenes Terrain”) - und es ging dem Regisseur darum, nicht einfach einen Serienmörder-Film zu drehen; er wollte vielmehr dieses einzigartige Klima einer Stadt in einem temporären Zustand allgemeiner Unzurechnungsfähigkeit vollständig und beinahe dokumentarisch erfassen. Das Einbetten sozialer und gesamtgesellschaftlicher Umstände, eine Bestandesaufnahme über die Gesellschaft der 70er Jahre, scheint mir meisterhaft geglückt zu sein, es wirkt auch weitaus spannender als das Rätselraten von Polizei und Journalisten in Fincher‘s Film. Man darf sogar behaupten, “Summer of Sam” (vielleicht zusammen mit “Do the Right Thing”, 1989, der beste Streifen des Regisseurs) sei ein Muss für Filmfans, die von den üblichen Thrillern die Nase gelegentlich voll haben - und die Musik der Bee Gees und von ABBA zur Unterstützung der Atmosphäre in Kauf zu nehmen bereit sind.

Eigentlich ein glänzendes, wenn auch lange Zeit unterschätztes Comeback von Spike Lee, der sich später mit “Inside Man” (2006) leider zu sehr dem Mainstream anzupassen versuchte.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Gespenster für wenige Zuschauer

Welthund
(Welthund, Schweiz 2008)
Regie: Ueli Ackermann
Darsteller: Bea Schneider, Claude Bärtschi, Florian Schneider, Sylvia Bossart, Urs Bosshardt, Ueli Ackermann u.a.

Die ländliche Gegend um Basel ist sicher nicht mehr als andere Gebiete mit Gespenstern und seltsamen Ereignissen gesegnet, aus denen sich Sagen machen lassen. Was wir jedoch hatten: Zwei unermüdliche Forscher, Paul Suter und Eduard Strübin, die den zum Teil mündlich überlieferten, zum Teil schriftlich festgehaltenen Geschichten für schlaflose Nächte auf den Grund gingen und sie in ihren “Baselbieter Sagen” einem interessierten Publikum zugänglich machten. - Und so komme auch ich in den Genuss, Besuchern mit all den Dingen, die sie im Dörfchen, in dem ich wohne, erwarten, einen gehörigen Schrecken einzujagen (bilde ich mir zumindest ein); denn noch jetzt stolpert man hinter jedem Winkel, in jeder nächtlichen Gasse, im tiefen Wald über Tote, die “ums Verrecken” keine Ruhe finden können. Im 19. Jahrhundert predigte ein Pfarrer nachts in der Kirche vor ihnen,  im Schuppen des Totengräbers hörte man sogar das Geschirr klappern, wenn mal wieder jemand an der Reihe war - und nebenbei dienen unsere Ungeheuerchen auch noch als ausserordentlich zuverlässige Wetterpropheten.

Zu erneuter Popularität verhalf unseren Sagengestalten die Autorin und Journalistin Barbara Saladin, die einige von ihnen in ihrem zuerst in Fortsetzungen erschienenen Roman “Bachpflattli” (“Ein etwas anderer Sommer”) zu den Auslösern einer spannenden Geschichte, in der die Vergangenheit in unser postmodernes Leben eingreift, machte. Ihr in der Nordwestschweiz gern gelesener Roman schrie förmlich nach einer Verfilmung, und so entstand die Idee, den “ersten Oberbaselbieter Film” zu verwirklichen, eine Idee, die erstaunlicherweise regelrecht vom Glück verfolgt war: Profischauspieler, die ohne Gage zu arbeiten bereit waren, stellten sich dem speziell für das “No Budget”-Projekt gegründeten unabhängigen Verein “WH-Films” zur Verfügung, dank Sponsoren gelangte man zu (höchst bescheidenen!) 80 000 Franken, die hauptsächlich für die Postproduktion eingesetzt wurden - und die Zusammenarbeit mit der Dorfbevölkerung (es wurde ausschliesslich vor Ort in verschiedenen Gemeinden des Oberbaselbiets  gedreht), funktionierte hervorragend, wobei diverse Freiwillige die Profis als Laiendarsteller unterstützen durften:

Nach Jahrzehnten kehrt Sarah Hirt an den Ort ihrer Kindheit, ins (fiktive) Dorf Rauringen, zurück, wo sie den Haushalt ihres verstorbenen Grossvaters auflösen soll. Der Empfang fällt nicht gerade herzlich aus; denn einerseits galt Sarahs mit dem Vaganten Ruedi befreundeter Gossvater als “seltsamer Kauz”, andererseits grassiert im Dorf eine seltsame Hautkrankheit, ein eitriges Ekzem, von dem viele betroffen sind und dessen Ursache man sich nicht erklären kann. - Bald entdeckt Sarah, deren Bruder einen riesigen schwarzen Hund beobachtet hatte und nun auch an einem Hautausschlag leidet, in einem alten Sagenbuch jedoch einen Hinweis auf den “Welthund” (die Sagengestalt kommt in vielen deutschsprachigen Gegenden vor und wird unterschiedlich gedeutet), dessen gespenstische Rückkehr ins Dorf nichts Gutes verheisst, weil er  für gewöhnlich ungesühnte Schuld einfordert. Der Gemeinderat will freilich von den Ideen, die Sarah und der Landstreicher einbringen, nichts wissen, kämpft beinahe schon hysterisch gegen die “politische Instrumentalisierung” der Gespensterfurcht an. Doch da ist noch die alte Louise, die - vielleicht vom plötzlichen “Sagenfieber” gepackt? - allerlei über vergrabene Schätze zu berichten weiss, deren Bergung jedoch unweigerlich mit der Erlösung einer ruhelosen Seele zusammenhängt. Bald befindet sich halb Rauringen auf Schatzsuche und begegnet diversen Geistern...

Der ländliche Grusler, der, wie es sich für einen echten Horrorfilm gehört, sogar mit einem (leider etwas kurz geratenen und leicht zu übersehenden) “final twist” aufwartet, kann natürlich nicht mit beeindruckenden Special Effects glänzen, er weist auch trotz stimmungsvoller Bilder technische Mängel auf (die Szenenübergänge wirken zum Teil regelrecht abrupt), der Spannungsbogen wird nicht durchgehend aufrecht erhalten, da man etwas gar viele Handlungsstränge anschneidet  - und die Zusammenarbeit zwischen Profis und Laien lässt - um die Liste der gelegentlich kritisierten Punkte zu vervollständigen - selten den Eindruck aufkommen, man habe es mit “gehobenem Laientheater” zu tun (Ähnliches wurde übrigens Markus Imhoofs für den Academy Award nominierten “Das Boot ist voll”, 1980, auch vorgeworfen). - Dennoch kann ich mich Michael Sennhauser nicht anschliessen, der in seinem von mir sonst sehr geschätzten Filmblog die Meinung äusserte, der in den Kinos der Region Basel ausserordentlich erfolgreiche “Welthund” (er schaffte es leider nicht einmal ins “Schweizer Fernehen DRS”, sondern musste sich mit der Ausstrahlung in einem Regionalsender begnügen) sei wie etwa der von mir übrigens auch sehr geschätzte Dokumentarfilm “Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke” (2003) nur “bedingt exportfähig”, ziehe - dies wohl Sennhausers eigentliche Botschaft - die  Zuschauer vor allem wegen seines Lokalkolorits an (man erkennt Schauplätze und fühlt sich “daheim“). Es scheint mir vielmehr, ein guter Verleiher hätte ein Näschen für das in “Welthund” steckende Potential (der Film ist wesentlich besser als diverse staatlich subventionierte Streifen fürs Fernsehen) entwickeln und das Baselbieter Projekt einer “Post-Post-Production” (gleitendere Übergänge,  notwendige Straffungen, kleine technische Ausbesserungen und eine Verdeutlichung des überraschenden Endes) unterziehen müssen. Eine beachtliche Zuschauerzahl wäre zumindest schweizweit garantiert gewesen, da wir Baselbieter unsere Sagengestalten schliesslich nicht für uns gepachtet haben. Kommt hinzu, dass das “5,5 Millionen Franken”-Projekt “Sennentuntschi” (es dreht sich auch um eine Sagengestalt, allerdings aus den Alpen) von Michael Steiner, das im Oktober 2010 endlich in die Kinos kommen soll, bereits hoch verschuldet und keineswegs erfolgversprechender als “Welthund” ist.

Es wäre - dies als kleine Schlussbemerkung -  schön gewesen, wenn man die DVD (ist sie überhaupt noch erhältlich?) des ersten Oberbaselbieter Films mit deutschen Untertiteln versehen hätte. Freunde kleiner Mystery-Thriller aus Deutschland hätten sich bestimmt auf sie gestürzt, und ich kann mir vorstellen, dass  zum Beispiel meine Blogger-Freunde Alex (Hypnosemaschinen) und Oliver (Remember it for later) sich “Welthund” mit Vergnügen reingezogen hätten - wobei ich nicht zu sagen vermag, wer von den Beiden  sich während des  Anschauens wessen zerhackten Oberschenkel  hätte munden lassen...

Freitag, 4. Juni 2010

Dieses selbstzerstörerische Begehren in einer kalten Welt

Der verführte Mann
(L'Homme blessé, Frankreich 1983)
Regie: Patrice Chéreau
Darsteller: Jean-Hugues Anglade, Vittorio Mezzogiorno, Roland Bertin, Lisa Kreuzer, Claude Berri, Armin Mueller-Stahl, Annick Alane u.a.

Französische Filme, die sich mit sexuellen Obsessionen beschäftigen, kommen  rasch einmal in den Genuss, mit dem Attribut “skandalös” versehen zu werden - welches üblicherweise die Zuschauerzahlen in die Höhe schnellen lässt und einen finanziellen Erfolg garantiert. Auch Patrice Chéreaus dritter Film, “L’Homme blessé”, den der Opern- und Theaterregisseur als seine "vraie naissance au cinéma” zu bezeichnen  pflegte, sorgte anlässlich der Filmfestspiele von Cannes seinerzeit für einen mittleren Skandal, wurde hierzulande dann aber hauptsächlich in Programmkinos einem kleinen, interessierten Publikum zugänglich gemacht. Und was auf den ersten Blick besonders eigenartig anmutet: selbst Homosexuelle, die doch sonst ein Faible für so genannte “Coming-of-Age”-Filme haben, welche ein schwules Erwachen thematisieren, mieden den Film eher, wissen noch heute nicht viel mit ihm anzufangen.

Über die Gründe für dieses seltsame Verhalten muss man nicht lange spekulieren: “L’Homme blessé” führte den Betrachter  in eine kalte, sprach- und gnadenlose Welt, der er - vielleicht gerade, weil sie real und ihm gar nicht so fremd war - schon während des Films am liebsten entflohen wäre. Und nach dem Verlassen des Kinos wollte man das, was man gesehen hatte, einfach nur vergessen, den “Schmutz der Wirklichkeit” auskotzen. Man wird, und darum scheint sich Chéreau nicht gekümmert zu haben, eben ungern mit Umständen konfrontiert, in deren Trostlosigkeit ein “Erwachen” - welcher Art es auch sein mag - gar keine Chance hat:

Der 18-jährige Henri lebt noch immer in seinem proletarischen Elternhaus, wo er vom Vater (Armin Mueller-Stahl darf vielleicht als einzige Figur im Film seinen Trieben Sprache verleihen) drangsaliert wird. Eines Tages muss der schweigsame Träumer, der eigentlich nur weiss, dass er fort will (beim Öffnen eines Fensters seufzt er einmal beinahe selbstmörderisch anmutend: “Il faut que je sorte!”), die Eltern zum Bahnhof begleiten, wo man seine Schwester in die Ferien verabschieden will. Der Zug hat Verspätung, und Henri, der sich auf dem Bahnhofgelände herumtreibt, wird von einem älteren Mann aufdringlich verfolgt. Er landet, den Mann teils fliehend, teils wohl auch einem unbewussten Bedürfnis folgend, auf der Toilette, wo der Stricher Jean, ein  abstossender Rohling, gerade einen seiner Kunden ausraubt. Er fordert Henri auf, das Opfer zu treten, und küsst
den sich nur anfangs zur Wehr setzenden jungen Mann  leidenschaftlich. - In diesem Augenblick verfällt Henri dem  brutalen, undurchsichtigen Jean, der die lokale Stricherszene beherrscht, und er verfolgt ihn mit unbändiger Leidenschaft, obwohl sich dieser immer wieder von ihm abwendet. Er treibt sich, mittlerweile an die ausgetragenen Jeans und das Jackett des Begehrten gelangt, die er sich wie dessen Haut überzieht,  ständig auf dem nächtlichen Bahnhof herum, will nicht selber ins Milieu der Stricher abrutschen und bleibt deshalb  ein Einsamer unter ihnen.  Als ihm dann nach vielen Erniedrigungen der mit Drogen vollgepumpte Körper Jeans endlich wehrlos zur Verfügung steht, steigert er sich - damit kein anderer mehr vom Objekt seiner Leidenschaft Besitz ergreifen kann - in einen Höhepunkt hinein, den nur Zyniker als “petit mort” bezeichnen würden...

Man hat “L’Homme blessé” zum Vorwurf gemacht, er erzähle keine nachvollziehbare Geschichte, sondern bestehe aus lauter “Löchern”, weise Erklärungslücken auf. Es ging  Chéreau, der sich zusammen mit seinem Drehbuchschreiber Hervé Guibert sechs Jahre lang auf sein Projekt vorbereitet hatte,  jedoch auch nicht um die Erklärung eines  jeden Details; er wollte, dies zeigt sich an vielen Kleinigkeiten, vielmehr jene vom Zuschauer gerne verdrängte triste Welt der Kommunikationsunfähigkeit, deren unmenschliches, gnadenloses Wesen  zwangsläufig Zerstörung hervorbringen musste, wenigstens aus dem Blickwinkel eines verletzbaren Jungen verfolgen und mit Bildern  versehen. - Es sei an die Szene erinnert, in der Bosmans, der ältere Herr, der Henri immer wieder verfolgte und sich als begüterter “Doktor” erweist, den jungen Mann zu einem Kaffee einlädt, weil er ihm von seinen eigenen Nöten erzählen will und stattdessen - ohne einen wirklichen Zuhörer zu finden - nur andeutende Nichtigkeiten zu stammeln vermag (später stellt sich heraus, dass er Voyeur ist und Henri beim - vorgetäuschten! - Sex mit Jean beobachten will, während er, wiederum Banalitäten vor sich her lallend, angeblich ein Telefonat “mit Amerika” führt). Oder die Stricher, die auf einer Treppe vor dem Bahnhof sitzen und sich rücksichtslos über Henri lustig machen, während er sich vor lauter Gier nach Jean immer weniger um das Milieu kümmert, in dem er sich bewegt; Henris Versuch, auf dem Bahnhof einen möglichen Kunden zu küssen, ein Versuch, der eher wie das wilde Zubeissen eines schlecht dressierten Tiers anmutet. Später betritt er - die Szene wurde nicht aus der Nähe aufgenommen, was die Steinwüste, in der sie sich abspielt, als besonders abweisend erscheinen lässt - eine Bar, die Jean offenbar gelegentlich aufsucht, und wird wortlos mit Prügeln hinausgeworfen. Elisabeth, eine Freundin bei der Jean gelegentlich übernachtet und die im Gegensatz zu Henri ihre Illusionen verloren hat, reagiert auf das Vorbeischauen des Unstetigen nur noch mit einem schier motorischen “Du hast meinen Geburtstag vergessen”.  

Solche atmosphärisch dichten Bilder und Situationen sind es, die in Chéreaus Werk  im Vordergrund stehen und den Zuschauer mit einer Trostlosigkeit sondergleichen konfrontieren. --- Und spätestens jetzt erkennt man, obwohl im Zusammenhang mit den Schauplätzen (Bahnhofsklappen, Strichermilieu) immer wieder auf Jean Genet hingewiesen wurde, auch: “L’Homme blessé” ist nicht in erster Linie ein “Schwulenfilm”; er benutzt das homosexuelle Strichermilieu, den Schmutz, in dem sich Henri ständig bewegt, nur als  Metapher für die Unmöglichkeit eines menschenwürdigen sexuellen Erwachens, das Aufflammen von Leidenschaft, die eben doch als "Naturgewalt" (Gay Watch: Filmarchiv) erscheint und als langsamer Abstieg in die Hölle geschildert wird, in der Einsamkeit einer kommunikationsunfähigen Welt. - Diese Thematik machte den Film in den 80er Jahren nicht zu einer leicht verdaulichen Kost; er ist es auch heute noch nicht. Und den Homosexuellen bot er keine muskulösen Jungs, denen am Ende alles Glück dieser Welt beschieden war. - Wer sich auf "L'Homme blessé" einliess, wurde jedoch mit der Darstellung einer verdrängten Realität belohnt, die ihresgleichen suchte. Selbst spätere Filme, die das Erwachen einer (schwulen) Identität nicht so “verklärend” schilderten wie etwa “Sommersturm” (2004) - ich denke an “Der Traum vom schlafenden Hund” (1998) oder “Garçon stupide” (2004) - wirkten mit ihrem hoffnungsverheissenden Ende wesentlich weniger radikal als Chéreaus “Beinahe-Skandal”.

Jean-Hugues Anglade, der 1986 mit “37° 2 le matin” internationale Berühmtheit erlangen sollte, war während des Drehs von “L’Homme blessé” bereits 27 Jahre alt, spielte aber den verwirrten Teenager mit erwachender Sexualität (die Figur des Henri wurde natürlich nur aus Gründen der Filmfreigabe zum 18-Jährigen gemacht)  derart überzeugend, dass man gelegentlich den Eindruck erhielt, man habe es mit einem Dokumentarfilm zu tun; und Patrice Chéreau liess sich trotz Kritik an seinem Werk nicht von der Beschäftigung mit sexuellen Problemen in einer ungeschönten Wirklichkeit abbringen: für “Intimacy” (2001) sollte er sogar endlich das zweifelhafte Attribut “skandalös” erhalten, welches eigentlich mit “wahrhaftig” übersetzt werden müsste.

Leider ist es ausgesprochen schwierig, an eine (französischsprachige!) VHS-Kassette von “L’Homme blessé” zu gelangen, weshalb  für diesen verstörenden Film an sich auch eine DVD in Deutsch zu fordern wäre. Es dürfte ihm jedoch noch heute schwer fallen, sein Publikum zu finden.