Darsteller: Jean-Hugues Anglade, Vittorio Mezzogiorno, Roland Bertin, Lisa Kreuzer, Claude Berri, Armin Mueller-Stahl, Annick Alane u.a.
Französische Filme, die sich mit sexuellen Obsessionen beschäftigen, kommen rasch einmal in den Genuss, mit dem Attribut “skandalös” versehen zu werden - welches üblicherweise die Zuschauerzahlen in die Höhe schnellen lässt und einen finanziellen Erfolg garantiert. Auch Patrice Chéreaus dritter Film, “L’Homme blessé”, den der Opern- und Theaterregisseur als seine "vraie naissance au cinéma” zu bezeichnen pflegte, sorgte anlässlich der Filmfestspiele von Cannes seinerzeit für einen mittleren Skandal, wurde hierzulande dann aber hauptsächlich in Programmkinos einem kleinen, interessierten Publikum zugänglich gemacht. Und was auf den ersten Blick besonders eigenartig anmutet: selbst Homosexuelle, die doch sonst ein Faible für so genannte “Coming-of-Age”-Filme haben, welche ein schwules Erwachen thematisieren, mieden den Film eher, wissen noch heute nicht viel mit ihm anzufangen.
Über die Gründe für dieses seltsame Verhalten muss man nicht lange spekulieren: “L’Homme blessé” führte den Betrachter in eine kalte, sprach- und gnadenlose Welt, der er - vielleicht gerade, weil sie real und ihm gar nicht so fremd war - schon während des Films am liebsten entflohen wäre. Und nach dem Verlassen des Kinos wollte man das, was man gesehen hatte, einfach nur vergessen, den “Schmutz der Wirklichkeit” auskotzen. Man wird, und darum scheint sich Chéreau nicht gekümmert zu haben, eben ungern mit Umständen konfrontiert, in deren Trostlosigkeit ein “Erwachen” - welcher Art es auch sein mag - gar keine Chance hat:
Der 18-jährige Henri lebt noch immer in seinem proletarischen Elternhaus, wo er vom Vater (Armin Mueller-Stahl darf vielleicht als einzige Figur im Film seinen Trieben Sprache verleihen) drangsaliert wird. Eines Tages muss der schweigsame Träumer, der eigentlich nur weiss, dass er fort will (beim Öffnen eines Fensters seufzt er einmal beinahe selbstmörderisch anmutend: “Il faut que je sorte!”), die Eltern zum Bahnhof begleiten, wo man seine Schwester in die Ferien verabschieden will. Der Zug hat Verspätung, und Henri, der sich auf dem Bahnhofgelände herumtreibt, wird von einem älteren Mann aufdringlich verfolgt. Er landet, den Mann teils fliehend, teils wohl auch einem unbewussten Bedürfnis folgend, auf der Toilette, wo der Stricher Jean, ein abstossender Rohling, gerade einen seiner Kunden ausraubt. Er fordert Henri auf, das Opfer zu treten, und küsst
den sich nur anfangs zur Wehr setzenden jungen Mann leidenschaftlich. - In diesem Augenblick verfällt Henri dem brutalen, undurchsichtigen Jean, der die lokale Stricherszene beherrscht, und er verfolgt ihn mit unbändiger Leidenschaft, obwohl sich dieser immer wieder von ihm abwendet. Er treibt sich, mittlerweile an die ausgetragenen Jeans und das Jackett des Begehrten gelangt, die er sich wie dessen Haut überzieht, ständig auf dem nächtlichen Bahnhof herum, will nicht selber ins Milieu der Stricher abrutschen und bleibt deshalb ein Einsamer unter ihnen. Als ihm dann nach vielen Erniedrigungen der mit Drogen vollgepumpte Körper Jeans endlich wehrlos zur Verfügung steht, steigert er sich - damit kein anderer mehr vom Objekt seiner Leidenschaft Besitz ergreifen kann - in einen Höhepunkt hinein, den nur Zyniker als “petit mort” bezeichnen würden...
Man hat “L’Homme blessé” zum Vorwurf gemacht, er erzähle keine nachvollziehbare Geschichte, sondern bestehe aus lauter “Löchern”, weise Erklärungslücken auf. Es ging Chéreau, der sich zusammen mit seinem Drehbuchschreiber Hervé Guibert sechs Jahre lang auf sein Projekt vorbereitet hatte, jedoch auch nicht um die Erklärung eines jeden Details; er wollte, dies zeigt sich an vielen Kleinigkeiten, vielmehr jene vom Zuschauer gerne verdrängte triste Welt der Kommunikationsunfähigkeit, deren unmenschliches, gnadenloses Wesen zwangsläufig Zerstörung hervorbringen musste, wenigstens aus dem Blickwinkel eines verletzbaren Jungen verfolgen und mit Bildern versehen. - Es sei an die Szene erinnert, in der Bosmans, der ältere Herr, der Henri immer wieder verfolgte und sich als begüterter “Doktor” erweist, den jungen Mann zu einem Kaffee einlädt, weil er ihm von seinen eigenen Nöten erzählen will und stattdessen - ohne einen wirklichen Zuhörer zu finden - nur andeutende Nichtigkeiten zu stammeln vermag (später stellt sich heraus, dass er Voyeur ist und Henri beim - vorgetäuschten! - Sex mit Jean beobachten will, während er, wiederum Banalitäten vor sich her lallend, angeblich ein Telefonat “mit Amerika” führt). Oder die Stricher, die auf einer Treppe vor dem Bahnhof sitzen und sich rücksichtslos über Henri lustig machen, während er sich vor lauter Gier nach Jean immer weniger um das Milieu kümmert, in dem er sich bewegt; Henris Versuch, auf dem Bahnhof einen möglichen Kunden zu küssen, ein Versuch, der eher wie das wilde Zubeissen eines schlecht dressierten Tiers anmutet. Später betritt er - die Szene wurde nicht aus der Nähe aufgenommen, was die Steinwüste, in der sie sich abspielt, als besonders abweisend erscheinen lässt - eine Bar, die Jean offenbar gelegentlich aufsucht, und wird wortlos mit Prügeln hinausgeworfen. Elisabeth, eine Freundin bei der Jean gelegentlich übernachtet und die im Gegensatz zu Henri ihre Illusionen verloren hat, reagiert auf das Vorbeischauen des Unstetigen nur noch mit einem schier motorischen “Du hast meinen Geburtstag vergessen”.
Solche atmosphärisch dichten Bilder und Situationen sind es, die in Chéreaus Werk im Vordergrund stehen und den Zuschauer mit einer Trostlosigkeit sondergleichen konfrontieren. --- Und spätestens jetzt erkennt man, obwohl im Zusammenhang mit den Schauplätzen (Bahnhofsklappen, Strichermilieu) immer wieder auf Jean Genet hingewiesen wurde, auch: “L’Homme blessé” ist nicht in erster Linie ein “Schwulenfilm”; er benutzt das homosexuelle Strichermilieu, den Schmutz, in dem sich Henri ständig bewegt, nur als Metapher für die Unmöglichkeit eines menschenwürdigen sexuellen Erwachens, das Aufflammen von Leidenschaft, die eben doch als "Naturgewalt" (Gay Watch: Filmarchiv) erscheint und als langsamer Abstieg in die Hölle geschildert wird, in der Einsamkeit einer kommunikationsunfähigen Welt. - Diese Thematik machte den Film in den 80er Jahren nicht zu einer leicht verdaulichen Kost; er ist es auch heute noch nicht. Und den Homosexuellen bot er keine muskulösen Jungs, denen am Ende alles Glück dieser Welt beschieden war. - Wer sich auf "L'Homme blessé" einliess, wurde jedoch mit der Darstellung einer verdrängten Realität belohnt, die ihresgleichen suchte. Selbst spätere Filme, die das Erwachen einer (schwulen) Identität nicht so “verklärend” schilderten wie etwa “Sommersturm” (2004) - ich denke an “Der Traum vom schlafenden Hund” (1998) oder “Garçon stupide” (2004) - wirkten mit ihrem hoffnungsverheissenden Ende wesentlich weniger radikal als Chéreaus “Beinahe-Skandal”.
Jean-Hugues Anglade, der 1986 mit “37° 2 le matin” internationale Berühmtheit erlangen sollte, war während des Drehs von “L’Homme blessé” bereits 27 Jahre alt, spielte aber den verwirrten Teenager mit erwachender Sexualität (die Figur des Henri wurde natürlich nur aus Gründen der Filmfreigabe zum 18-Jährigen gemacht) derart überzeugend, dass man gelegentlich den Eindruck erhielt, man habe es mit einem Dokumentarfilm zu tun; und Patrice Chéreau liess sich trotz Kritik an seinem Werk nicht von der Beschäftigung mit sexuellen Problemen in einer ungeschönten Wirklichkeit abbringen: für “Intimacy” (2001) sollte er sogar endlich das zweifelhafte Attribut “skandalös” erhalten, welches eigentlich mit “wahrhaftig” übersetzt werden müsste.
Leider ist es ausgesprochen schwierig, an eine (französischsprachige!) VHS-Kassette von “L’Homme blessé” zu gelangen, weshalb für diesen verstörenden Film an sich auch eine DVD in Deutsch zu fordern wäre. Es dürfte ihm jedoch noch heute schwer fallen, sein Publikum zu finden.
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