Sonntag, 13. Juni 2010

Aus einem Hexenkessel

Summer of Sam
(Summer of Sam, USA 1999)
Regie: Spike Lee
Darsteller: John Leguizamo, Mira Sorvino, Adrien Brody, Jennifer Esposito, Michael Rispoli, Ken Garito, Saverio Guerra u.a.

Ich gehöre zu den Leuten, die mit David Fincher’s “Zodiac” (2007) nicht so recht warm werden konnten, obwohl er den langjährigen Drogen-Buhmann Robert Downey Jr. endlich wieder einmal in einer Hauptrolle präsentierte - und nebenbei den Beweis erbrachte, dass die mimischen Fähigkeiten von Jake Gyllenhaal denjenigen eines Steven Segal doch überlegen sind.  Was mich am Film störte: dass er sich trotz Überlänge ausschliesslich mit den Recherchen des Journalisten Paul Avery und des Karikaturisten Robert Graysmith, der den Fall jahrelang obsessiv verfolgen sollte, beschäftigte - und ausgerechnet der Reaktion der Bevölkerung auf einen Serienmörder, einem weitaus interessanteren Aspekt als dem mit der Zeit langweilig werdenden Rätselraten, keinen Platz einräumte. - Allen, denen es ähnlich erging, möchte ich den Spike Lee-Joint “Summer of Sam” ans Herz legen.

Während  "Zodiac" von einer Geschichte handelt, die im San Francisco der späten 60er ihren Anfang nahm, basiert “Summer of Sam”  auf einem wahren Fall aus den 70er Jahren (der Mörder David Berkowitz wurde im Gegensatz zum “Zodiac-Killer” gefasst); er beschäftigt sich jedoch in erster Linie mit normalen Menschen, die einfach ihr gewohntes, vielleicht jämmerliches Leben leben wollen, sich aber von den Verbrechen bedroht fühlen - und sich zunehmend in einen unberechenbaren Mob verwandeln, der seine Hilflosigkeit an Aussenseitern austobt:


 Wir befinden uns mitten in der Hitzewelle des Sommers 1977 in einem New York, das von Rassenunruhen und einer einzigartigen sexuellen Befreiung geprägt ist, den Yankees eine unglaubliche Saison beschert, den Übergang von der Disco-Ära zum Punk erlebt (das legendäre “Studio 54” war im April eröffnet worden) - und von den Morden eines Mannes heimgesucht wird, der sich selber “Son of Sam” nennt. Da gibt es in der Bronx eine italo-amerikanische Männerclique, die ständig bei einem “Dead End”-Schild (ein leicht aufdringliches, aber aussagekräftiges Symbol) rumhängt, wo gesoffen und gedealt wird. Zu dieser Clique gehört der Friseur Vinny, der sich in der Ehe mit seiner frustrierten Frau Donna, die er am Wochenende als John Travolta-Verschnitt in die In-Discos ausführt, schon beinahe biedermännisch-katholisch gibt, selber aber nach Strich und Faden fremdgeht. Vinny befindet sich kurz vor einem Mord am Tatort und fürchtet nun, der Mörder, der vor allem brünette Frauen und deren Liebhaber tötet, könnte es auf ihn abgesehen haben. Er will sich deshalb zum treuen Ehegatten mausern, wird jedoch von der Begierde, seine Frau zu betrügen, nur noch mehr über-”mannt”. - Als Vinny’s alter Kumpel Ritchie (grandios verkörpert von Adrien Brody) als Punk aus Manhattan zurückkehrt, ist er den “Saturday Night Fever”-Leuten sofort unheimlich und wird als Aussenseiter behandelt. Der strippende Punk, der sein Geld unter anderem als Pornodarsteller verdienen muss, haust denn auch ausgestossen zusammen mit der jungen Ruby, die ihn als einzige akzeptiert, in der Garage seiner Mutter.

Im Verlauf des Sommers (man spürt - wie oft bei Lee - das Zunehmen der äusseren und der innerlichen Hitze förmlich) nehmen Angst vor dem “Son of Sam” und Paranoia immer mehr zu. Frauen färben sich ihr Haar blond, Vergessen wird in den sich zunehmend leerenden Discos, aber auch im berüchtigten Sexclub “Plato’s Retreat” gesucht. Verschiedene Gruppen versuchen den Mörder selber zu fassen, darunter die Leute eines Quartier-Paten, aber auch die Gang, der Vinny angehört. Es werden Listen mit “Verdächtigen” aufgestellt, auf denen sich ausschliesslich die Namen von Aussenseitern befinden. - New York verwandelt sich in einen Hexenkessel, seine Bevölkerung wird zum Sinnbild für eine amerikanische Gesellschaft, mit der etwas nicht mehr stimmt, weil sie, in mehrfacher Hinsicht an einem Scheideweg stehend, nicht über die Kraft verfügt, vernünftig auf das über sie Hereinbrechende zu reagieren.
 Am Schluss gerät immer mehr der anpassungsunwillige Ritchie (“Since when does your hairstyle determine whether or not you’re a fukin’ killer?”) ins Visier des Mobs. Vinny, der - mittlerweile ein drogenabhängiges Wrack - von seiner Frau verlassen wurde, erklärt sich bereit, den Judas zu spielen und seinen Freund den lynchfreudigen Kumpanen ans Messer zu liefern. Und während der wirkliche Mörder gefasst wird, macht man sich über den Punk her...

Die Kritik reagierte gespalten auf “Summer of Sam”, und der Film spielte in den USA nicht einmal das Geld ein, das seine Herstellung gekostet hatte. Man warf Spike Lee vor, er habe zuviel auf einmal erzählen wollen, die Detailverliebtheit störe - und er ahme schamlos den frühen Martin Scorsese nach. Diese Kritik scheint mir vor allem zwei Ursachen zu haben: “Summer of Sam” war Lee’s erster Film, der sich nach einer Reihe weniger erfolgreicher Arbeiten nicht mit der afro-amerikanischen Bevölkerung beschäftigte (er begab sich sozusagen auf “verbotenes Terrain”) - und es ging dem Regisseur darum, nicht einfach einen Serienmörder-Film zu drehen; er wollte vielmehr dieses einzigartige Klima einer Stadt in einem temporären Zustand allgemeiner Unzurechnungsfähigkeit vollständig und beinahe dokumentarisch erfassen. Das Einbetten sozialer und gesamtgesellschaftlicher Umstände, eine Bestandesaufnahme über die Gesellschaft der 70er Jahre, scheint mir meisterhaft geglückt zu sein, es wirkt auch weitaus spannender als das Rätselraten von Polizei und Journalisten in Fincher‘s Film. Man darf sogar behaupten, “Summer of Sam” (vielleicht zusammen mit “Do the Right Thing”, 1989, der beste Streifen des Regisseurs) sei ein Muss für Filmfans, die von den üblichen Thrillern die Nase gelegentlich voll haben - und die Musik der Bee Gees und von ABBA zur Unterstützung der Atmosphäre in Kauf zu nehmen bereit sind.

Eigentlich ein glänzendes, wenn auch lange Zeit unterschätztes Comeback von Spike Lee, der sich später mit “Inside Man” (2006) leider zu sehr dem Mainstream anzupassen versuchte.

2 Kommentare:

  1. Mir hat der Film damals auch sehr gut gefallen, wenngleich ich die Kritik auch durchaus verstehen kann. Der Film wirkt tatsächlich etwas überladen, doch vielleicht macht das auch gerade seinen Reiz aus.

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  2. Dein Einwand ist schon berechtigt. Das "Überladene" dürfte wohl mit dem Bedürfnis zusammenhängen, dem Zuschauer ein möglichst exaktes Bild der Zeit (vorwiegend in einem kleinen Italo-Viertel) zu vermitteln. - Was ich an "Summer of Sam" u.a. schätze: Er wirkt wesentlich weniger schematisch als etwa "Jungle Fever" (1991).

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