Teil 1: Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus
Teil 2: Publikumsbeschimpfung auf Japanisch
DER PROZESS (SHINPAN)
Japan 1975
Und so geht es weiter: Nägel in allen Größen, in absurden, surreal anmutenden Situationen. Die Frau im Kimono muss hilflos und angsterfüllt zusehen, wie ein großer gekrümmter Nagel - vielleicht derselbe, den der Mann durch die Gegend trägt - scheinbar aus eigenem Antrieb in ihr Zimmer eindringt. Der zunehmend entkräftete Mann, der seinen Nagel zu tragen hat, kehrt mehrfach wieder; seine Szenen sind mit sehr schöner melodischer, aber auch etwas rätselhaft-beunruhigender Musik unterlegt - dies und die violett eingefärbte Szenerie verleihen den Sequenzen einen ungewöhnlichen ästhetischen Reiz. Ein Mann mit Vollbart und Brille, der wie ein Gelehrter wirkt, schlägt auf würdevolle Art große Nägel in ein aufgeschlagenes dickes Buch. Ein weiteres Liebespaar: Sie treiben es auf konventionelle Weise, doch dann lugt ein riesiger Nagel (wohl der größte im Film) durch das offene Fenster herein. Und noch einiges mehr - Nägel, immer wieder Nägel.
Was hat das alles zu bedeuten? Bedeutet es überhaupt irgendwas? Es ist zumindest offensichtlich, dass es eine enge Verbindung zur Sexualität gibt. Man könnte den Nagel als Phallussymbol interpretieren. In einigen Abschnitten wird diese Deutung forciert - neben den Szenen mit den beiden Liebespaaren vor allem ein Blowjob mit einem überdimensionalen Nagel (siehe fünften Screenshot). In anderen Szenen will sie nicht so recht passen, wäre zumindest recht bemüht. Ein Rezensent deutet die Nägel ähnlich, aber etwas allegorischer als Symbol der männlichen Libido - ein interessanter Gedanke, der etwas für sich hat. Aber muss es überhaupt eine geschlossene Deutung des Films geben? Eher nicht. Terayama war keiner, der seinem Publikum irgendwelche Interpretationen seiner Filme aufdrängte, sondern zu eigenem Nachdenken anregen wollte, so wie auch in seinen Theaterproduktionen das Publikum oft einbezogen wurde. "Für Terayama waren seine Arbeiten Fragen und keine Antworten", sagte Henriku (oder Henrikku) Morisaki, ein langjähriger Mitarbeiter und Freund, 2008 in einem Interview - "sie mussten durch das Publikum komplettiert werden."
So kann also jeder in den Film hineinlesen, was er will - eine "richtige" oder "wahre" Interpretation gibt es nicht. Der Titel DER PROZESS ist übrigens kein deutscher Verleih- oder Fernsehtitel, sondern ein Originaltitel, und er bezieht sich auf Franz Kafkas bekanntes Romanfragment. Der alternative Titel SHINPAN ist der übliche Titel japanischer Übersetzungen von Kafkas auch in Japan berühmtem Werk. Worin der Bezug des Films zu Kafka nun tatsächlich besteht, ist mir allerdings schleierhaft.
Unabhängig von möglichen Interpretationen ist DER PROZESS ein sehr schöner Film. Neben den ungewöhnlichen und fantasievollen Bildern trägt auch der gekonnte Soundtrack von Terayamas Haus- und Hofkomponisten J.A. Seazer (gelegentlich auch J.A. Caesar geschrieben) dazu bei. Einen dreisten Coup erlaubt sich Terayama mit dem Schluss. Elf Minuten vor Ende des 35-minütigen Films erreicht der nackte Mann mit dem geschulterten Nagel torkelnd bewohntes Gebiet, und das Bild verschwindet in einer Weißblende. Und dann passiert - nichts. Man lauscht der wunderschönen sanft-melodischen, fast elegischen Musik und blickt gebannt (zumindest beim ersten Sehen) auf die Leinwand oder den Monitor, weil ja noch etwas passieren muss. Aber das Bild bleibt zehn Minuten weiß, es passiert nichts, bis die End-Credits eingeblendet werden. Was soll das nun wieder? Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte ein Rückbezug auf Terayamas ersten Spielfilm WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE sein. Da ist am Anfang zunächst mal die Leinwand eine Minute lang schwarz. Dann wird ähnlich wie in LAURA die "vierte Wand" durchbrochen, und der Protagonist spricht zum Zuschauer: "Was tust Du hier? Durch herumhängen bewirkt man nichts. Die Leinwand ist komplett leer." Und dann, gegen Ende des Films: "Schaltet das Licht ein! Der Film endet hier. Jetzt bin ich an der Reihe zu reden. Wenn man darüber nachdenkt, kann ein Film nur im Dunkeln existieren. Wenn die Lichter angehen, wie jetzt, wird die Welt des Film ausgelöscht." Und ganz am Ende erscheint dann eine weiße Leinwand, wenn auch nur für eine knappe Minute, bevor die End-Credits beginnen (die in diesem faszinierenden Film auch eine ganz besondere Form haben, aber das ist ein anderes Thema). Es könnte also sein, dass Terayama dieses Motiv nochmal aufgreift und ausbaut. Auf jeden Fall gibt es einen Querbezug von DER PROZESS zu A TALE OF SMALLPOX (HŌSŌTAN), einen seiner beiden anderen Kurzfilme von 1975, denn darin kommen auch Nägel vor - etwa ein Mann mit vollständig bandagiertem Kopf, in den Nägel geschlagen werden.
Von allen Kurzfilmen Terayamas ist DER PROZESS für mich der interessanteste. Seine sämtlichen Kurzfilme (bis auf den ersten von 1960, der verschollen ist) sind in einer Box mit vier DVDs in Japan erschienen, die jedoch nicht mehr erhältlich ist. Einige Kurzfilme und Ausschnitte aus den Spielfilmen findet man bei YouTube.
Deine Einstellung zur Interpretation (jeder kann hineinlesen, was er will) gefällt mir. Ich habs bei "Rossini" mit dem Ficken, du nagelst hier drauf los - aber: Honi soit qui mal y pense! :D
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