Videocracy
(Videocracy, Schweden/Dänemark/Grossbritannien/Finnland 2009)
Regie: Erik Gandini
Italiens Langzeit-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wird von vielen Filmemachern seines Landes als ihr persönlicher Feind wahrgenommen, als ein Diktator, der ihnen vorzuschreiben versucht, mit welchen Illusionen sie ihr Publikum von der Wirklichkeit abzulenken haben Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie ihn immer wieder angreifen und seine Machtmechanismen aufzudecken versuchen. Nach Nanni Morettis “Il Caimano” (2006) sorgte vor allem der Dokumentarfilm “Videocracy” des Italo-Schweden Erik Gandini, der sich gleich der “unheiligen” Verbindung zwischen dem italienischen Fernsehen und der Regierung annimmt, für Aufsehen, scheint er doch ins Herz jenes eigenartigen Systems vorzudringen, das von den Italienern verführend Besitz ergriff und dem sie sich nur allzu willig auslieferten. Gelegentlich wurde Gandinis Darstellung eines Medienfaschismus “made in Italy” Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil sie aus einzelnen Figuren Repräsentanten für eine These mache, unzulässig verallgemeinere. Mir stellte sich nach der Sichtung eher die Frage: Wie soll der Zuschauer auf einen Film reagieren, der ihn auf unangenehme Weise daran erinnert, dass die angeschnittenen Themen wohl nicht nur für Italien - wenn dort auch besonders ausgeprägt - gültig sind?
Es begann vor rund dreissig Jahren, als der erste kommerzielle Lokalsender des Landes (im Besitz von Berlusconi) auf die Idee kam, eine Late-Night-Quiz-Show mit Strip-Einlagen für die Unterschicht attraktiver zu gestalten: Wann immer eine Frage richtig beantwortet wurde, entschloss sich eine durchschnittliche Hausfrau im billig zusammengeschusterten Studio, sich eines Kleidungsstücks zu entledigen. Dies war die Geburtsstunde des Präsidentenfernsehens, der Beginn einer “kulturellen” Revolution. Denn heute bevölkern auf nahezu allen Sendern zur Prime Time halbnackte Frauen seichte Shows, locken die Massen vor die Fernsehgeräte und gaukeln ihnen eine stets sonnige Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen vor. - Und die Zuschauer träumen davon, eines Tages selber im Fernsehen, das zu ihrer Realität geworden ist, auftreten zu dürfen. Sie sind sowohl Opfer als auch Teilnehmer in diesem riesigen Imperium, über das Silvio Berlusconi, gleichzeitig Ministerpräsident und Medienmogul (ihm gehören die drei grössten Privatsender, und er hat das Sagen über das staatliche Fernsehen), waltet.
Da ist zum Beispiel Ricky, Mitte zwanzig und noch bei Mutti wohnend. Er ist von Beruf Mechaniker, möchte jedoch als eine Mischung aus Jean-Claude van Damme und Ricky Martin (kurzlebigen) Ruhm erlangen. Er nimmt als kickboxender Sänger an Talent Castings teil, sitzt in den Shows in den vordersten Reihen - und weiss genau, was seiner Karriere im Weg steht: Die wunderschönen vollbusigen Mädchen, die die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen und nur dürftig bekleidet als “veline” vom meist in die Jahre gekommenen, widerlich grinsenden Moderator ablenken. - Sie sind es, nach denen Berlusconis Unterhaltungsmaschinerie sucht, und ihnen kommt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: zu lächeln, nichts zu sagen und gut auszusehen. Sie dürfen sich überdies mit einem “eigenen” 30 Sekunden dauernden Tanz (einem Stacchetto) Aufmerksamkeit verschaffen. Und ein solcher Job kann durchaus Folgen haben: Berlusconi ernannte eine frühere “velina” zur Ministerin für Gleichberechtigung. Ist es da nicht verständlich, dass viele junge Frauen alles dafür täten, um eine “velina” zu werden?
Lele Mora ist einer jener einflussreichen Agenten, durch dessen Bett die Karrieren vieler weiblicher und vermutlich die der meisten männlichen Fernseh-Berühmtheiten geführt haben dürften. Er brüstet sich damit, seine Villa an der Costa Smeralda in Sardinien, wo sich die “Glanzvollen” tummeln, vollkommen in Weiss eingerichtet zu haben; und er erweckt den Eindruck eines kleinen selbstgefälligen Jungen, wenn er einem der muskulösen Männer, die um seinen Pool herumlungern, einen Klaps gibt oder stolz darauf hinweist, ein persönlicher Freund Berlusconis und ein Bewunderer von Mussolini zu sein (Berlusconi ist für ihn ein Mann, der zwar nicht ganz an die “Methoden” des Duce anzuknüpfen vermag, aber dennoch als grosser “Führer” gelten darf).
Mora weist auch auf die Parties hin, die im Milliardärsclub an der Costa Smeralda Nacht für Nacht geschmissen werden und die eher den Eindruck von Orgien erwecken. Geile alte Böcke starren auf tanzende Mädchen, von denen sich jedes einen Job als Wetterfee für zwei Wochen in einem Sender von Berlusconi erhofft. - Auf diesen Parties trifft man die Fotografin Morella, die zwar mit Leuten wie Mora nichts zu tun haben will, als Nachbarin von Berlusconi den Ministerpräsidenten aber für authentisch, weil natürlich, hält (er ist ein Mann, der Spass haben will und ihn sich eben “kaufen“ kann). Sie bietet die Bilder, die sie von den Prominenten an den Parties macht, im Internet zum Kauf an. Diese Bilder zeigen italienische Promis, deren lachende Mäuler über mindestens 64 Zähne zu verfügen scheinen - und plötzlich sieht man auch Zähne, die nicht zu einem Italiener gehören, sondern zu Tony Blair. - Spätestens in dem Moment fragt sich der Zuschauer: Haben wir es überhaupt mit einem rein italienischen Phänomen zu tun? Trifft sich hier nicht alles, was sich für die “Elite” der Welt hält? Und erhält man vielleicht nur Einblick in eine der vielen Vergnügungsveranstaltungen jener “Supermenschen”, die über wahrhafte Macht verfügen? - Man mag vielleicht den Pauschalisierungen eines Filmemachers auf den Leim gegangen sein; aber es könnte hinter den Kulissen einer scheinbar braven Bambi-Verleihung ähnlich zugehen wie auf den Parties an der Costa Smeralda. Und womöglich zeigen uns unsere Illustrierten auch nur das, was Berlusconis Illustrierten den Italienern zeigen.
Sogar die scheinbare Opposition, die Berlusconi in Form der Paparazzi erwächst, unterliegt dem System. Die Leute von Fabrizio Corona sorgen zwar für Schnappschüsse von Prominenten in misslichen Situationen, verkaufen diese jedoch anschliessend wiederum den Opfern oder dem Ministerpräsidenten, der sie nach Lust und Laune in den Zeitungen, die er kontrolliert, veröffentlicht. Corona selber, der “Chef” der Paparazzi, ein eitler Macho, der dem Zuschauer minutenlang vorführt, wie er sich zwischen den Beinen eincremt, will auch nur eines: möglichst oft im Fernsehen auftreten. Selbst seine Entlassung aus dem Gefängnis (man hatte ihn wegen Erpressung zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt) inszeniert er vor den Reportern als Ereignis, das unweigerlich zu einer Einladung in eine Talk Show führen muss. Er selber betrachtet sich als modernen Robin Hood, der das Geld von den Reichen nimmt und für sich behält. - Was er dabei akzeptiert: dass er es von Berlusconi nimmt, der es versteht, auch seine Gegenspieler zu integrieren.
Wie intensiv der Ministerpräsident das Fernsehen für den Ausbau seines "Vierten Reiches" benutzt, zeigt etwa eine Hymne auf ihn, die im Hinblick auf seine Wahl mit Untertiteln zum Mitsingen ständig ausgestrahlt wird. Will er eine politische Ansprache auf einem Sender halten, muss die Show auf einem anderen Sender entsprechend früher beendet werden. Alles um ihn herum ist Werbung, Effekthascherei und Ablenkung. Die Macht bestimmt, was gezeigt werden darf und was nicht. Es versteht sich von selber, dass im italienischen Fernsehen für “Videocracy” nicht geworben werden durfte. - Man fühlt sich an dunkelste Zeiten erinnert.
Und dennoch: Möchte man die in “Videocracy” angeschnittenen Themen, nicht augenblicklich auch auf die USA übertragen? Hatten wir zu Beginn des Privatfernsehens (Leo Kirchs Sat.1, RTL, das mit Hugo Egon Balders Nackedei-Show “Tutti Frutti“ konterte) nicht Ähnliches zu befürchten? Und können wir uns so sicher sein, dass wir von einem von den “Mächtigen” gelenkten Fernsehen nicht auch bis zu einem gewissen Grad am Gängelband geführt werden, bloss naiverweise an die gelobte Pressefreiheit glauben? - Dies waren in etwa die früher gekonnt verdrängten Fragen, die mich während der Sichtung des teilweise tatsächlich pauschalisierenden und polemischen Films, dem eine Prise beissende Satire gut getan hätte, beschäftigten; und sie sorgten dafür, dass mir stellenweise beinahe übel wurde, als ich Einblick in den gezielten Einsatz der wackelnden Brüste und Ärsche, der primitiven Unterhaltung, schlicht des Oberflächlichen erhielt. Ich möchte mir “Videocracy” nicht noch einmal ansehen, bin jedoch froh, mich ihm ausgesetzt zu haben, als ihn der ORF, was ich dem Sender hoch anrechne, ausstrahlte.
Die DVD ist ab September in Deutschland erhältlich. Man sollte sich “Videocracy” - im wahrsten Sinne des Wortes - antun!
Ich gebe dir recht, wenn du die Tendenzen der Spassgesellschaft nicht auf Italien beschränkst. Fast denkt man an den Duce und seine "120 Tage von Sodom", womit wir bei Pasolini wären, der schon früh den Konsumismus als den neuen Faschismus bezeichnet hat. Die Tendenzen der Oberflächlichkeit gehen nämlich auch vom Privatfernsehen aufs Staatsfernsehen über. So sind z.B. mit Frau Deltenre die Abzocker-0900-Nummern salonfähig geworden. Und in den Zeitungen der Ringier- und Tamedia-Presse wird nur noch dasjenige abgedruckt, was keine Kritik gegen die Marktkräfte beinhaltet. Man will ja nicht mehr "belehren" und schiebt jegliche Kritik als Jeremiade von verbitterten Pessimisten ab (beispielhafter Titel eines Artikels des Tagi-Magazins: «Optimisten brauchen diesen Text nicht zu lesen. Pessimisten sollten ihn auswendig lernen. Ein Gespräch mit dem notorisch zuversichtlichen Blablabla.») Die Verblödung greift um sich - wir versinken in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, weil auch politische Themen nur noch per Internet-Klick-Umfragen und oberflächlichen Analysen angegangen werden. Insgesamt sieht es düster aus für die Pressefreiheit in Europa. Da wird auch ein «Videocracy» die Menschen nicht aus dem Schlaf der Gerechten holen...
AntwortenLöschenIch fürchte, ich muss dir in jedem Punkt zustimmen (Pasolini war - als hätte er als Italiener ein Gespür für zukünftige Entwicklungen gehabt - seiner Zeit weit voraus). Und wenn ein Dokumentarfilm wie "Videocracy" Leute anzusprechen vermag, sind es bestimmt nicht diejenigen, die aus dem "Schlaf" gerissen werden müssten. - Erfreulich, dass du auf die Internet-Klick-Umfragen hinweist: das Internet ist mit Sicherheit ein wichtiger Bestandteil jener weltweiten Ablenkungskultur, die intensiveres Nachfragen "unnötig" zu machen versucht.
AntwortenLöschenAn die Leser aus Deutschland: Bei den von Thomas erwähnten Medienhäusern aus der Schweiz handelt es sich um diejenigen, die darüber zu bestimmen vermögen, was der Bürger erfährt, was nicht (Ringier gibt z.B. neben scheinbar seriösen Zeitungen den "Blick", die Schweizer Version von "Bild", heraus, Tamedia den einst renommierten "Tagesanzeiger").