Judex
(Judex, Frankreich/Italien 1963)
Regie: Georges Franju
Darsteller: Channing Pollock, Francine Bergé, Edith Scob, Michel Vitold, Jacques Jouanneau, Théo Sarapo, Sylva Koscina u.a.
Während die Engländer eine Vorliebe für skurrile, aber rechtschaffene und mit Ausnahme von Sherlock Holmes (er käme heute wegen seines Kokain-Konsums in Schwierigkeiten) gesetzestreue Detektive hatten, die jeden noch so kniffligen Fall mit unerbittlicher Logik lösten, zogen die Franzosen für ihre Krimis eine andere Art von Helden vor. Es handelte sich um dunkle, zwiespältige Gestalten, von denen man nie so recht wusste, ob nun das Gute oder das sie verlockende Verbrecherische in ihrer Seele am Ende obsiegen würde. Und mit Ausnahme des Meisterdiebs Arsène Lupin, dessen Erschaffung wir dem Schriftsteller Maurice Leblanc verdanken, gingen alle, möge es sich nun um reine Erfindungen oder historische Gestalten wie Louis Mandrin und Eugène François Vidocq, einst Krimineller, später Kriminalist, gehandelt haben, durch die Feder von Arthur Bernède (1871-1937), der auch den Roman “Belphégor” schrieb. - Diese “Nationalheiligen” des französischen düsteren Krimis wurden selbstverständlich in Filmen verewigt, manche bereits im Stummfilm, andere in den 50er- oder 60er Jahren. Sogar das neue Millenium entdeckte für sich den Reiz jener zwielichtigen Aura, die solche Helden umgab (“Vidocq”, 2001, “Arsène Lupin”, 2004).
Eine der von Bernède erfundenen Figuren ist zumindest hierzulande in Vergessenheit geraten, obwohl ihr bereits der Stummfilm-Regisseur Louis Feuillade zwischen 1914 und 1918 eine ganze Serie gewidmet hatte: Judex, der geheimnisvolle, stets in Schwarz gekleidete Rächer, Meister der Verwandlungskunst, der sich in unterirdischen Gängen bewegt und von ihm nahezu ebenbürtigen Bösewichten verfolgt wird, jedoch immer auf ein ganzes Netzwerk an Helfershelfern bauen kann. - Dieses Vorläufers der amerikanischen Superhelden nahm sich 1963 der französische Regisseur Georges Franju (“Les yeux sans visage”, 1960) an und drehte einen Film, der als regelrechtes Tribut an die episodische Stummfilmversion betrachtet werden kann, jedoch eine eigene Handschrift aufweist, und den Kritik und Publikum damals höchstens lauwarm aufnahmen, weil er so gar nicht in die Zeit zu passen schien. - Heute wird er jedoch im französischen und angelsächsischen Raum als Meisterwerk gewürdigt.
Georges Franju war ein Regisseur, der im Gegensatz zu René Clair nicht der “Nouvelle Vague” wich, sondern eigentlich zusammen mit ihrem Aufkommen erst seine grossen Filme zu drehen begann, die ihren eigenen Weg gingen, sich einem Stil verpflichtet sahen, der als “magischer Realismus” bezeichnet wird, und die mit ihren Fabelwesen und einer höchst detaillierten Ausstattung, in die das Unwirkliche, Gespenstische umso überraschender einbricht, sowohl an Jean Cocteau als auch an Surrealisten wie Salvador Dalí und Luis Buñuel erinnern.
Die Geschichte, die “Judex” erzählt, ist denkbar einfach und geradlinig, gewinnt jedoch durch die eigenwillige Gestaltung an Komplexität. Sie umfasst einen korrupten Bankier und dessen schöne unschuldige Tochter Jacqueline, in die sich der Rächer verliebt, die eigentliche Gegenspielerin Diana Monti, ebenfalls eine Meisterin der Verkleidung, einen falschen Vater auf der Suche nach seinem Sohn und einen völlig inkompetenten Detektiv, der nebenbei im ebenfalls von Feuillade verfilmten Roman “Fantômas” (eines jener Elemente des hintergründigen Humors, die den Film auflockern) liest: Eines Tages erhält der Bankier Favraux den Brief eines ihm unbekannten Mannes, der sich Judex nennt und damit droht, ihn umzubringen, wenn er sein zu Unrecht erworbenes Vermögen nicht den betrogenen Besitzern zurückzahle. Tatsächlich erscheint an einem Maskenball zu Ehren der Verlobung von Favraux’ Tochter ein Fremder, der sich einen überdimensionalen Vogelkopf übergestülpt hat, eine scheinbar (der Schein spielt im Film eine bedeutende Rolle) tote Möwe in der Hand hält und die Gäste mit seinen Zaubertricks überrascht. Plötzlich fällt Favraux scheinbar (!) tot um, wurde jedoch von Judex nur betäubt und entführt, damit er ihn unter Druck setzen kann. Mittlerweile kehrt die frühere Angestellte des Bankiers, Diana Monti, in dessen Schloss zurück, um sich sein Vermögen anzueignen. Als sie bemerkt, dass er noch lebt, entführt sie Jacqueline, die gar keinen Anspruch auf das Geld erhebt. Von nun an beginnt ein eigenartiges Katz und Maus-Spiel, innerhalb dessen der Zuschauer unfreiwillig immer wieder Partei für den weiblichen Bösewicht ergreift, weil ihr Judex mit seinem aus Zirkusartisten und anderen vermummten Gestalten bestehenden Netzwerk stets einen Schritt voraus ist, ohne selber kaum je wirklich in Gefahr zu geraten.
Was Franjus Film auszeichnet, ist nicht zuletzt die oft verblüffende Langsamkeit, die ein Grauen ohne Blutvergiessen erzeugt, weil man nie so recht voraussagen kann, wie eine seiner unheimlichen Szenen enden wird. Bezeichnend dafür sind etwa das von Maurice Jarres effektvoller Musik begleitete Auftauchen des Rächers am Maskenball, sein mehrere Minuten andauerndes Durchschreiten des Saals, oder die Szene, in der sich die als Nonne verkleidete Maria Monti in einer Mühle über die bewusstlose Jacqueline beugt, sich gemütlich eine Zigarette anzündet und dann eine Nadel aus ihrem Kleid holt, mit der sie sie umbringen will. Nichts geschieht hektisch, selbst Marias Verwandlung von einer Nonne in eine katzenhafte “Lederbraut”, die boshafte Version von Emma Peel, verläuft langsam - obwohl sie doch auf der Flucht ist. Und als - eines der bezeichnenden “Deus ex machina”-Elemente gegen das Ende hin - die Artistin Daisy auftaucht, die den für einmal gefesselten Helden befreien soll, erklettert sie gemütlich die Hausfassade und bleibt vor dem Balkon für einen Augenblick lächelnd stehen (als führe sie ihre Nummer vor einem Publikum auf), bevor sie das Zimmer betritt. - Die häufig in der Dunkelheit spielenden Szenen (Strassen, durch die vermummte Gestalten eilen) werden gelegentlich von Bildern abgelöst, deren Helligkeit beinahe beängstigend wirkt. Und das Abheben der Silhouetten vom Hintergrund (die Artistin im weissen Kleid etc.) zeugt vom Willen, das Schwarweiss-Spektrum zur Gänze auszunutzen. - Unvergesslich die Szene, in der der leblose Körper von Jacqueline den Fluss hinunter getrieben wird - oder der wie ein Tanz arrangierte Kampf zwischen der "Damsel in distress" und Diana Monti.
Für die Besetzung der Hauptfigur erlaubte sich Franju einen ganz besonderen Coup: Er engagierte den amerikanischen Magier Channing Pollock, der bis anhin nur in wenigen Filmen mitgespielt hatte. Pollock galt damals als der berühmteste Magier der Welt, der überdies für sein gutes Aussehen bekannt war (er war eine Art Vorläufer von David Copperfield mit dem Gesicht von Rudolpho Valentino). Der Amerikaner bewältigt die Rolle erstaunlich gut, darf sogar einige seiner berühmten Zaubertricks zum Besten geben. - Maria Monti sollte ursprünglich mit Brigitte Bardot besetzt werden; Françine Bergé erweist sich jedoch als Idealbesetzung und vermag trotz ihrer Boshaftigkeit in ihrer Todesszene das Mitleid des Zuschauers zu erwecken.
Ich erinnere mich, als Junge eine Ausstrahlung von “Judex” im deutschen Fernsehen verfolgt zu haben. Später geriet der Film in Vergessenheit. Mittlerweile wird der vielen kaum bekannte Name des grossen Regisseurs von Kennern immer wieder lobend erwähnt; sein Weg zwischen den zum Teil seichten französischen Komödien der 60er Jahre, denen man auch die Neuverfilmungen von “Fantômas” zuordnen möchte, und der oft nur ein intellektuelles Publikum ansprechenden “Nouvelle Vague” als künstlerisch überragend betrachtet. “Judex” ist im französischen und englischsprachigen Raum als DVD erhältlich. Es scheint mir an der Zeit, ihm auch hier endlich eine Chance zu geben.
Das Informative an deinem Blog ist ja, dass ich die meisten Filme, die du besprichst, noch nicht gesehen habe. Das macht das Kommentieren nicht gerade leicht. Von vielen habe ich immerhin gehört und ein grobe Vorstellung, wie und wo ich sie einsortieren könnte.
AntwortenLöschenAber "Judex"? Da sehe ich nur einen weißen Fleck auf der Landkarte. Immerhin gibt es mit "Fantômas" und "Arsène Lupin" einige Positionsangaben, die mir was sagen.
Was mir auffiel, neben den vielen Sachinformation und persönlichen Erinnerungen an den Film, ist dein Gestus, eigentümlich zurückhaltend mit der Bewertung zu sein und auf andere zu hinzuweisen ("wird (...) als Meisterwerk gewürdigt"). Du verfolgst den Film mit Sympatie, soweit verstehe ich, aber in welcher Etage rangiert der Film bei dir persönlich? Da wollte ich mal indiskret nachhaken.
Das stimmt: Es fiele mir tatsächlich schwer, eine "Skala" für die Filmbewertung anzulegen. Ich muss vielleicht betonen, dass ich "Judex" als richtig unheimlich in Erinnerung hatte (gieriges Kindheitstrauma). Als ich ihm vor ein paar Wochen bei einem regelrechten Sammler in der französischen Fassung erneut begegnete, war ich vor allem begeistert von der so völlig eigenwilligen Art, wie Franju den Stoff anging (was vielleicht auch daran lag, dass ich "Les yeux sans visage" noch nicht kannte). - Also fernab von den "Fantômas"- oder "Arsène Lupin"-Filmen, selbst der Vergleich mit "Vidocq" wäre eher eine Ausflucht. Franju war wirklich ein Regisseur, der mit ganz anderen Mitteln arbeitete und eine eigentümlich-unheimliche Spannung zu erzeugen vermochte (sie bediente sich faszinierenderweise ästhetischer Mittel, die du sonst wie erwähnt bei Cocteau oder den Surrealisten findest). - Ich kann nicht behaupten, der Film bekäme die berühmte 10, sagte mir jedoch augenblicklich: He, so etwas muss doch auch im deutschen Sprachraum erhältlich sein! Es hebt sich ab von allem, was wir aus Frankreich kennen - und ist KUNST.
AntwortenLöschenKunst mag nicht jedem gefallen, hebt sich aber entschieden von der Masse ab, der wir üblicherweise begegnen. Das muss nichts über meine persönliche Präferenz aussagen (ich könnte dir diverse "Kunst"-Filme nennen, mit denen ich gar nichts anzufangen vermag - von Godard bis Greenaway); in diesem Fall ist sie vorhanden. --- Wenn du aber auf eine Besprechung wartest, in der ich mich vor Begeisterung überschlage: Sie befindet sich in der Pipeline und soll anfangs Februar reingeknallt werden. ;)
Herzlichen Dank für die vielen zusätzlichen Informationen. Ich wusste von Franjus Dokumentarfilmen, habe aber nie einen von ihnen gesehen (auch mir sind lediglich das "Schreckenshaus" - herrlich! - und "Judex" bekannt, obwohl "Thomas l'imposteur", 1964, von Cocteau gelobt wurde).
AntwortenLöschen"Judex" kam mir bei der erneuten Sichtung vor allem formal höchst interessant vor (ein Superheld, ders mit der Langsamkeit hat). Meine Kindheitserinnerungen waren anderer Art. - Es stimmt: Max Ernst kam mir im Zusammenhang mit der Ballszene auch in den Sinn. Die Feuillade-Serie kenne ich natürlich nicht (da müssen wir vermutlich auf "gabelingeber" hoffen). Die Version von Franju hat aber tatsächlich etwas Episodisches, was möglicherweise deine Begeisterung etwas dämmte.
Und was? Du hast den "Belphégor"-Vierteiler mit der Gréco gesehen? Hatte keine Ahnung, dass er als DVD erhältlich ist! Ich war nämlich wirklich ein kleines Bubi, als das Schweizer Fernsehen ihn ausstrahlte, erinnerte mich lediglich an diese schwarz gekleidete und stets traurig dreinblickende Frau, die später zu einer meiner Lieblingschansonsängerinnen wurde.
Edit: Ich habe mich gerade noch einmal informiert: Offenbar war Franju gar nicht so gierig auf "Judex". Er wollte viel lieber Feuillades "Fantômas" erneut verfilmen (sagt die englische Wikipedia). - Wenn man daran denkt, was aus dem armen "Fantômas" dann tatsächlich gemacht wurde...
Jetzt wurde aber das Informationsbedürfnis sehr reichlich gestillt. Vielen Dank für die bis ins Detail gehenden Anmerkungen, Franju wurde mir dadurch überhaupt erstmals als Künstler präsent. Übrigens: Max Ernst war auch so eine Assoziation, die ich hatte, aber nicht recht zu denken traute.
AntwortenLöschenAuf jedenfall kommen "Judex" und "Les yeux sans visage" jetzt auf die Liste der noch zu sehenden Filme. Die Petition "Her mit der deutschen DVD" unterschreibe ich nun glatt.
Ach, nähme man sie doch wahr, die Petition! Es hiess einmal: Bald werden alle Filme auf DVD erhältlich sein. - Und was gab es stattdessen? Die Blu-ray! :(
AntwortenLöschenJa, ich hab BELPHÉGOR auf DVD, zu ungefähr einem Drittel des Preises, der jetzt dafür verlangt wird. Ist wohl out of print, da steigen die Preise. Aus dem ursprünglichen Vierteiler machte das franz. Fernsehen schon für die erste Wiederholung, die bald folgte, 13 Teile à 25 Minuten, und in der Form lief die Serie 1967 in der ARD, und ist jetzt auf DVD.
AntwortenLöschenWenn Du Genaueres über Feuillade erfahren willst, so hab ich zwar nichts über JUDEX, aber einen ausführlichen Artikel über LES VAMPIRES (PDF, 320 kB), den ich dir mailen kann, falls Du Interesse hast. Theoretisch dürfte ich das auch veröffentlichen, weil es unter einer Creative Commons-Lizenz steht, aber der Autor überarbeitet sein Werk gerade, da will ich nicht dazwischenpfuschen.
Über FANTÔMAS hat David Bordwell hier etwas geschrieben.
Ich weiss: Ist immer so eine Sache, wenn der Autor gerade am Überarbeiten ist. Mail mal besser, obwohl ich selber mich nie zum Experten in Sachen Stummfilm mausern werde (dafür gibts ja den Schweizer von "Hauptsache Stummfilm")! - Vielleicht nimmt sich das Fernsehen der französischen "Belphégor"-Serie von 1965 mal wieder an; wäre nach dem traurigen Ding mit Sophie Marceau mehr als nötig...
AntwortenLöschenDer Stummfilmschweizer hätte durchaus Interesse an der Feuillade-Serie - sie ist vor kurzem in den USA komplett auf DVD erschienen - doch sie sprengt sein momentanes Zeitbudget bei Weitem.
AntwortenLöschenIrgendwann mal...
Im Moment bin ich noch mit René Clair beschäftigt, dann ist eine kleine Werkschau mit den amerikanischen Filmen Fritz Langs geplant, die versprochene Chaplin-Neusichtung steht auch an, sowie eine immer länger werdene, sich langsam durchbiegende Regalreihe mit weiteren vielversprechenden Filmen...
Es geht mir auch nicht anders. Das ist wohl der Fluch des Daseins als Blogger. Früher freute man sich über all die Filme, in deren Genuss man kam; jetzt wird die Liste mit zu besprechendem Zeugs immer länger (und in meinem Fall funken dann plötzlich noch Dinger dazwischen, derer ich mich überhaupt nie annehmen wollte, die mir aber doch plötzlich ein "Hier!" zurufen). - Hoffen wir auf den Tag, an dem das Internet zusammenbricht!
AntwortenLöschenDanke, dass du den Ungebildeten den Balken aus den Augen reißt (auch wenn ich ja um Aufklärung im Fall "Marnie" erbat (: )
AntwortenLöschenUnd so bildgesteuert wie ich funktioniere, hattest du mich schon bei dem Bild von dem Mann mit dem Vogelkopf.
Was heisst hier Ungebildeten? Ich lese deine Beiträge immer mit grossem Vergnügen und Gewinn. Und das ist kein billiger Schmus, sondern hängt damit zusammen, dass gute Blogs unterschiedliche (Film-)Felder beackern und sich gegenseitig befruchten.
AntwortenLöschen"Marnie" muss auch noch dran glauben. Ich habe aber, obwohl sich der Eintrag in der Pipeline befindet, vorher noch ein paar weitere Versprechen abzuarbeiten und spare mir die Holde vermutlich für nach den Ferien auf (April). Das kann ich mir jetzt leisten, weil es mir endlich auch gelungen ist, jenny einen möglichen Mitautor vor der Nase wegzuschnappen. :)