Montag, 25. Juli 2011

Frühsozialisten, Puritaner und ein Amateurfilm: WINSTANLEY

WINSTANLEY
Großbritannien 1975
Regie: Kevin Brownlow und Andrew Mollo
Darsteller: Miles Halliwell (Winstanley), Jerome Willis (Fairfax), David Bramley (Platt), Alison Halliwell (Mrs. Platt), Phil Oliver (Will Everard), Terry Higgins (Tom Haydon), Dawson France (Capt. Gladman), Sid Rawle (Ranter)


There's really not much to be said for WINSTANLEY, except that it's the most mysteriously beautiful English film since the best of Michael Powell (Jonathan Rosenbaum, 1976)

Im letzten November erhielten nicht nur Jean-Luc Godard und Eli Wallach einen Ehrenoscar für ihr Lebenswerk, sondern auch Kevin Brownlow - letzterer für seine Verdienste als Filmhistoriker, -restaurator und -journalist. In Büchern und Fernsehsendungen hat er dem modernen Publikum die Welt des Stummfilms nahegebracht, und Brownlow ist es zu verdanken, dass Abel Gances Monumentalwerk NAPOLÉON heute wieder in einer mehr als fünfstündigen Version vorliegt. Weniger bekannt ist, dass er gemeinsam mit seinem Freund Andrew Mollo auch zwei Spielfilme außerhalb der Filmindustrie inszeniert hat, und dass er vielleicht professioneller Regisseur geworden wäre, wenn Angebote von den Studios gekommen wären - doch die blieben aus.


England 1649, als die Puritaner unter Oliver Cromwell die Monarchie abgeschafft und eine Herrschaft des Parlaments errichtet hatten, aus der bald eine Diktatur unter dem "Lordprotektor" Cromwell wurde. Auf St. George's Hill, einem bislang unbewohnten Hügel in der Grafschaft Surrey, lässt sich eine Gruppe von Leuten nieder, die radikale Ideen vertritt, und beginnt, mit primitiven Mitteln Landwirtschaft zu treiben. Nach dem Bürgerkrieg hatten die sogenannten Levellers ("Gleichmacher") soziale und politische Reformen gefordert. Als diese ausblieben, insbesondere das Wahlrecht weiterhin den Grundbesitzern vorbehalten blieb, war es zu einer Meuterei der Levellers innerhalb Cromwells New Model Army gekommen, die gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die Neuankömmlinge auf dem Hügel bildeten eine Splittergruppe mit noch weiterreichenden Forderungen, die auf einen christlichen Kommunismus hinausliefen, der aus der Bibel heraus (im Wesentlichen einige Sätze aus der Apostelgeschichte) begründet wurde. Die Gruppe nennt sich zunächst True Levellers, wird aber wegen ihrer landwirtschaftlichen Aktivitäten bald Diggers ("Buddler") genannt und übernimmt diese Bezeichnung schließlich selbst. Die Diggers bestehen aus durch den Bürgerkrieg verarmten Bauern und Handwerkern, aus Veteranen der New Model Army, die wenig Sold erhielten und nun vor dem Nichts stehen, und aus ihren Frauen und Kindern. Ihr Anführer ist der charismatische Gerrard Winstanley, ein durch den Krieg ruinierter Schneider und Stoffhändler aus London. In Pamphleten und theologischen Traktaten entwirft er das Programm der Diggers.


Die Diggers sind bald Anfeindungen ausgesetzt. Der Hügel gehört zu den Commons, ist also Gemeineigentum, und die Diggers wollen zwar langfristig das Privateigentum abschaffen, achten aber darauf, bestehendes Eigentum nicht zu verletzen. Doch formal verletzen sie das Gesetz, denn Commons dürfen nur als Viehweide benutzt, aber nicht bebaut oder zum Holzeinschlag benutzt werden. Die ortsansässigen Bauern fühlen sich von den Diggers bedroht, weil diese weidendes Vieh von ihren neu angelegten Feldern vertreiben, und sie attackieren die Siedlung der Diggers gewaltsam. Ebenfalls beunruhigt fühlen sich die reichen Grundbesitzer der Gegend, deren mächtigster der adelige Francis Drake ist. Zum größten Feind der Diggers wird jedoch der presbyterianische Pfarrer John Platt. Erstens gehört auch er zu den wohlhabenden Grundbesitzern. Zweitens ist es ihm, dem ordinierten Priester, zutiefst suspekt, wenn Laien theologische Abhandlungen verfassen. Drittens sind bereits einige seiner Schäflein zu den Diggers übergelaufen. Und viertens schließlich sympathisiert seine Frau Margaret, mit der er eine durch starre Konventionen geprägte Ehe führt, offen mit den Diggers - selbst am Mittagstisch liest sie aus Winstanleys Abhandlung "The New Law of Righteousness", und sie kündigt sogar an, sich den Diggers anschließen zu wollen.


Als die Grundbesitzer eine Beschwerde über die Diggers an den Staatsrat in London richten, erscheint ein Trupp Soldaten unter Captain Gladman am Hügel und fordert den Abzug der Siedler. Winstanley und sein Freund Will Everard werden daraufhin bei Lord General Fairfax vorstellig, dem derzeitigen Oberbefehlshaber in England (Cromwell führt gerade Krieg in Irland). Fairfax ist von der Courage und Offenheit der beiden beeindruckt und gibt den Diggers eine Chance. Gladman wird mit ein paar Leuten beim Hügel stationiert, um den Frieden zu sichern. Doch er hält es mit den Gegnern der Diggers, und die Übergriffe gehen weiter - immer wieder werden Diggers verprügelt, werden ihre Hütten und Felder verwüstet. Als bei einem der Überfälle sogar ein Mann und ein Kind erschlagen werden, beschwert sich Winstanley bei Fairfax über Gladman und erhält die Zusicherung, dass sich Derartiges nicht mehr wiederholen wird. Doch die Schikanen haben damit kein Ende: Winstanley und zwei seiner Mitstreiter werden von Francis Drake wegen Trespassing, unerlaubten Betretens von Land, vor Gericht zitiert. Schon der in Latein gehaltene Auftakt des Prozesses zeigt, wo es langgeht. Die drei Diggers haben kein Geld, um sich einen Anwalt zu leisten, dürfen sich jedoch nicht selbst verteidigen, und gelten deshalb als nicht erschienen, obwohl sie im Gericht anwesend sind. Nach zweimaliger Vertagung wird der Prozess formal in ihrer Abwesenheit geführt. Natürlich verlieren sie und werden zu einer für sie astronomischen Geldstrafe verurteilt. Weil sie nicht bezahlen können, werden die wenigen Kühe der Diggers beschlagnahmt, und ihre Versorgungslage wird langsam prekär. Ohnehin ist der Boden auf dem Hügel unergiebig, der oft peitschende Wind und der sprichwörtliche englische Regen machen den Siedlern das Leben schwer, und die Angriffe auf die Felder tun ein Übriges.


In der Siedlung der Diggers treffen fünf Neuankömmlinge ein: Ranters, Mitglieder einer besonders radikalen, anarchischen und libertären Gruppierung (deren Existenz von manchen Historikern bestritten wird). Die bisher ungetrübte Eintracht unter den Siedlern wird von den aggressiven Ranters, die von den anderen misstrauisch beäugt werden, nun auf die Probe gestellt. Will Everard, der die Siedlung nach einem der Überfälle verlassen hat, bringt unterdessen die Nachricht, dass sich in einigen Orten in verschiedenen Grafschaften neue Diggers-Kolonien gebildet haben. Mrs. Platt hat inzwischen ihre Ankündigung wahrgemacht und ist ins Lager der Diggers gezogen. Doch die radikalen Ansichten über das Privateigentum gehen ihr bald doch zu weit, und als einer der Ranters sie obszön beleidigt und nackt vor ihr herumturnt, sucht sie entsetzt das Weite und kehrt reumütig zu ihrem Mann zurück. In einer Überreaktion beschuldigt sie nun alle Diggers des zügellosen Verhaltens der Ranters. Platt fühlt sich im Aufwind und holt zum nächsten Schlag aus: Auf seine Veranlassung hin verkaufen die Ladenbesitzer der Gegend den Diggers keinerlei Waren und Lebensmittel mehr, und diese leiden nun, kurz vor dem Winter, an akuter Unterversorgung - die Kinder sind bereits unterernährt und krank. In dieser verzweifelten Situation beschließt ein Teil der Diggers unter Tom Haydon, einem tatkräftigen früheren Soldaten, einen Laden zu plündern. Winstanley ist entsetzt - er weiß, dass dies das Ende der Diggers bedeuten würde. Vergeblich versucht er, Haydon und seine Gefolgschaft zurückzuhalten. Einsam und traurig steht er auf dem windumtosten Hügel, blickt den Davonziehenden hinterher und scheint den prasselnden Regen nicht zu bemerken. Es kommt, wie es kommen muss: Haydon und seine Leute werden inhaftiert, und Pfarrer Platt triumphiert - Fairfax hat nun keine andere Wahl, als den Schutz der Diggers zu beenden. Ein großer Trupp Soldaten, angeführt von Platt persönlich, erscheint auf dem Hügel, vertreibt die restlichen Diggers, und macht die Siedlung dem Erdboden gleich. Den anderen Diggers-Kolonien ergeht es ähnlich. Pfarrer Platt zieht im Triumph durch seine Ortschaft und lässt sich von den Bewohnern als Held feiern. Am Ende des Films bedeckt frisch gefallener Schnee den menschenleeren Hügel.


Was im Film nicht mehr gezeigt wird: Winstanley veröffentlicht 1652 ein letztes Pamphlet, in dem er seine Ideen noch einmal darlegt, danach schließt er sich den Quäkern an und führt ein bürgerliches Leben, zuletzt wieder als Händler in London, wo er 1676 stirbt. Denn es gab sie wirklich, Gerrard Winstanley und die Diggers. Sie blieben als eine der ersten sozialistischen oder kommunistischen Bewegungen in Europa in Erinnerung und wurden so zu Vorbildern und Namensgebern späterer Verfechter von alternativen Gesellschaftsentwürfen, insbesondere von Hippies in den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Eine seinerzeit bekannte Gruppe englischer Hippies nannte sich Hyde Park Diggers oder New Diggers. Einer ihrer Anführer war der 2010 verstorbene Sid Rawle, ein Friedensaktivist, passionierter Land- und Hausbesetzer, Veranstalter freier Musikfestivals, und in späteren Jahren ein New-Age-Apologet im Dunstkreis von Stonehenge. Er spielt in WINSTANLEY den Wortführer der Ranters, eine Rolle, für die er sich kaum verstellen musste. Auch die übrigen Ranters wurden von Rawles Hippie-Freunden gespielt, die er selbst für die Rollen aussuchte. Unter den Hippies in San Francisco gab es ebenfalls eine besonders aktivistische und anarchische Fraktion, die sich Diggers nannte, und zu deren Aktivitäten auch improvisiertes Straßentheater gehörte. Mitgründer und bekanntestes Mitglied war der Schauspieler Peter Coyote. 1961 veröffentlichte der englische Schriftsteller David Caute, damals Sozialist, seinen Roman "Comrade Jacob" über Winstanley und die Diggers, und zog darin implizit Parallelen zwischen den Geschehnissen im 17. Jahrhundert und der Gegenwart. Das Buch wurde zum Anstoß und zur Vorlage für Brownlows und Mollos Film.


Der 1938 geborene Brownlow fand mit 11 Jahren zu seiner Filmleidenschaft, als er in einem Trödelladen zwei stumme Filmrollen im Format 9.5mm erstand, die Szenen aus dem Leben Napoleons zeigten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Fragmente von Gances NAPOLÉON von 1927. Brownlow war von dem, was er da sah, begeistert, und er machte sich auf eine intensive Suche nach weiteren Teilen des Films. Im Alter von 15 hatte er schon eine eineinhalbstündige Version auf 9.5mm zusammengeschnitten, damals die längste bekannte Fassung dieses fast verschollenen Meisterwerks. Brownlow führte die Arbeit an NAPOLÉON fort, und wie schon erwähnt, existiert seit über 15 Jahren wieder eine mehr als fünfstündige Version auf 35mm. Leider wird diese Fassung aufgrund eines langwierigen Rechtsstreits, in den Francis Ford Coppola involviert ist, weitgehend unter Verschluss gehalten.


Zwischen 1952 und 1955 realisierte Brownlow seinen ersten eigenen Amateurfilm mit Spielhandlung auf 9.5mm (das Format wird von manchen Amateurfilm-Enthusiasten bis heute benutzt). THE CAPTURE ist eine Adaption einer Kurzgeschichte von Guy de Maupassant, verlegt in die 1940er Jahre, mit immerhin schon fast 100 Amateurdarstellern, und finanziert durch Honorare für Artikel in einer Amateurfilmzeitschrift. Der 17-jährige Brownlow erntete dafür Lob von professioneller Seite, u.a. Lindsay Anderson, was ihn zu einem noch ambitionierteren Projekt ermutigte. Nachdem er eine Ausbildung als Cutter bei einer Londoner Dokumentarfilmfirma absolviert hatte, nahm Brownlow IT HAPPENED HERE in Angriff, einen Film aus dem Bereich der Speculative Fiction - "was wäre, wenn?" In diesem Fall: Was wäre, wenn Deutschland 1940 die Luftschlacht um England gewonnen, die britischen Truppen bei Dünkirchen vernichtet und dann Großbritannien erobert hätte? Der Film spielt unter dieser Voraussetzung im Jahr 1944, und es gibt in England nun Kollaborateure, Mitläufer und Widerstandskämpfer - insgesamt entwirft der Film ein nicht unbedingt schmeichelhaftes, aber vermutlich realistisches Bild. Brownlow hatte für die Nazis zunächst die erstbesten Uniformen, Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenstände genommen, die er auftreiben konnte. Doch dann kam der zwei Jahre jüngere Andrew Mollo ins Spiel, der mit 16 bereits ein Experte für militärgeschichtliche Themen, insbesondere für Uniformen, war. Er überzeugte Brownlow, dass alle diesbezüglichen Details falsch waren, und so verwarf Brownlow das bereits gedrehte Material, mit Ausnahme einer Sequenz, die er bei einer Versammlung von echten britischen Neonazis am Trafalgar Square in London gedreht hatte. Brownlow begann also nochmal von vorn, und Mollo wurde zum Art Director und bald zum gleichberechtigten Co-Regisseur befördert.


Weil alle Darsteller bis auf eine Ausnahme Laien waren, die ihren Berufen nachgehen mussten, wurde fast nur an Wochenenden gedreht. Deshalb, und wegen der stets knappen Kasse, zogen sich die Arbeiten an IT HAPPENED HERE Jahre hin, doch Brownlow und Mollo konnten mit ihrem Enthusiasmus das Projekt organisatorisch und stilistisch zusammenhalten. Über den Fortgang wurde in Amateurfilmzeitschriften und gelegentlich auch in der Tagespresse berichtet, und manchmal gab es professionellen Beistand. So spendierte Stanley Kubrick Filmmaterial, das bei einem seiner Filme übriggeblieben war, und Tony Richardson sorgte mit einer Geldspende dafür, dass der Schluss des Films, der weitgehend auf 16mm gedreht wurde, sogar auf 35mm realisiert werden konnte. 1964 war der 1956 begonnene Film schließlich fertig, 30 Jahre vor Chris Menauls FATHERLAND, der eine ähnliche Thematik verfolgt, und die Gesamtkosten betrugen gerade mal lächerliche 7000 Pfund. IT HAPPENED HERE wurde auf verschiedenen europäischen Filmfestivals gezeigt und überwiegend positiv aufgenommen, doch es gab auch heftige Kontroversen. Diese entzündeten sich an der fünfminütigen Szene mit den englischen Nazis vom Trafalgar Square, die von vielen als schockierend empfunden wurde. Manche erhoben sogar den absurden Vorwurf, Brownlow und Mollo seien selbst Faschisten. Der Film wurde mit eineinhalb Jahren Verspätung von United Artists vertrieben, jedoch nur unter der Auflage, dass die Szene vom Trafalgar Square herausgeschnitten wurde (auf der inzwischen vorliegenden DVD ist sie wieder drin). Der Film lief erfolgreich in London, doch die Einnahmen wurden von den Werbungskosten aufgefressen, so dass am Ende für Brownlow und Mollo nichts übrigblieb.


Die quasi-dokumentarische Anmutung von IT HAPPENED HERE brachte viel Lob von den Kritikern, aber die Filmindustrie blieb ob der eigenwilligen Arbeitsweise der beiden Regisseure skeptisch, und die erhofften Angebote für kommerzielle Spielfilme blieben aus. Brownlow ging neben der Arbeit an IT HAPPENED HERE seinem erlernten Beruf als Cutter von Dokumentarfilmen nach, und 1962 drehte er selbst eine kurze Dokumentation für das British Film Institute (BFI): NINE, DALMUIR WEST, über das Ende der Trambahn in Glasgow (sie wurde durch Busse ersetzt). Ab 1965 war er auch Cutter bei zwei Kurzfilmen und einem Spielfilm von Lindsay Anderson und Tony Richardson bei Woodfall Films, der zentralen Firma des Free Cinema bzw. der British New Wave. 1968 veröffentlichte er gleich zwei Bücher, "How It Happened Here" über die Entstehung von IT HAPPENED HERE, sowie "The Parade's Gone By ..." über Hollywoods Stummfilmära. Für dieses Buch hatte er in den USA viele noch lebende Mitwirkende an den Stummfilmen interviewt. Auf diese Idee war zuvor niemand gekommen, und so wurde Brownlow zu einem Pionier der modernen Stummfilmrezeption. Ebenfalls 1968 drehte er für die BBC eine Dokumentation über sein Idol Abel Gance. Mollo betrieb unterdessen seine militärgeschichtlichen Studien, schrieb Bücher zu diesen Themen, und wirkte gelegentlich als Berater oder Art Director an größeren Filmprojekten mit, von David Leans DR. SCHIWAGO über John Sturges' DER ADLER IST GELANDET bis zu Roman Polanskis DER PIANIST, Oliver Hirschbiegels DER UNTERGANG, und zuletzt für JOHN RABE.


Doch neben all diesen Aktivitäten wollten Brownlow und Mollo auch wieder einen Spielfilm drehen, und die Arbeiten daran begannen schon 1966. Miles Halliwell, ein Lehrer aus London, hatte eine kleine Rolle in IT HAPPENED HERE gespielt, und er war mit Andrew Mollo befreundet. Halliwell war es, der Mollo David Cautes "Comrade Jacob" als ein Buch vorschlug, das zu einer Verfilmung geeignet schien. Mollo und Brownlow waren davon begeistert, und Mollo dachte bei der Titelrolle auch gleich an Halliwell. Brownlow war in diesem Punkt skeptisch, aber nach einer Probeaufnahme in einem historischen Kostüm war auch er restlos von Halliwell überzeugt. Zu Recht, denn Halliwell ging geradezu in seiner Rolle auf und wirkt ungemein präsent. Mrs. Platt wird übrigens von Halliwells Frau Alison gespielt.


Woodfall Films finanzierte die Erstellung eines Drehbuchs, wollte dann aber den Film nicht produzieren. Auch United Artists und sonstige potentielle Finanziers sagten ab. Nach Jahren, als die Realisierung schon fraglich war, kam Hilfe von unerwarteter Seite. Eine Geldspritze des Kultusministeriums ermöglichte es dem British Film Institute, nicht nur kurze Dokumentationen, sondern auch experimentelle Spielfilme auf bescheidenem finanziellen Niveau zu produzieren. Neuer Leiter der Produktionsabteilung des BFI wurde Mamoun Hassan, der bereits als Kameramann bei NINE, DALMUIR WEST für Brownlow gearbeitet hatte. Hassan wusste von Brownlows Nöten, rief ihn an und bot die Finanzierung von WINSTANLEY an. So wurde der Film vom BFI produziert, mit Hassan als ausführendem Produzenten. Das Gesamtbudget betrug bescheidene 24.000 Pfund. Wie schon bei IT HAPPENED HERE waren alle Darsteller mit einer Ausnahme Laien, die völlig umsonst arbeiteten. Die eine Ausnahme war der vielbeschäftigte Fernsehschauspieler Jerome Willis, der Lord General Fairfax spielt. Die Figur war ihm vertraut, denn Willis hatte bereits 1962 in einer experimentellen TV-Fassung von "Comrade Jacob" in der BBC-Serie STUDIO 4 Fairfax gespielt [KORREKTUR: Willis spielte in diesem Film Captain Gladman, dagegen spielte er tatsächlich Fairfax in THE CRUEL NECESSITY, ebenfalls ein Fernsehfilm der BBC von 1962]. Willis war an dem Projekt WINSTANLEY sehr interessiert und verlangte nur den von der Schauspielergewerkschaft vorgeschriebenen Mindestlohn. Tatsächlich wollten Brownlow und Mollo eigentlich mehr professionelle Darsteller verwenden, doch alle, die kontaktiert wurden, fanden entweder das Drehbuch schlecht, oder ihre Agenten legten schon den Hörer auf, als sie hörten, dass nur der Mindestlohn gezahlt werden konnte. Die meisten Laiendarsteller kamen aus der Gegend des Drehortes in Surrey, doch manche wurden auch von Mollo oder Brownlow buchstäblich in der Londoner U-Bahn aufgegriffen, und dazu kamen Rawle und seine Hippies. Gecastet wurde ausschließlich nach der passenden physischen Erscheinung, nicht nach den schauspielerischen Fähigkeiten.


Eine frühe Drehbuchfassung hielt sich eng an Cautes Roman, doch dann entfernten Brownlow und Mollo alle Bezüge zur Gegenwart zugunsten eines möglichst tiefen und authentischen Eintauchens in die Welt des 17. Jahrhunderts. Auch alle fiktionalen Elemente wurden weitgehend eliminiert, bis auf kleine Details, die den Figuren Leben einhauchen, ohne spekulativ zu sein. Im Film wird ausgiebig aus Winstanleys Schriften, die auch tagebuchartige Einträge enthalten, zitiert. Die materielle Welt um 1650 wurde mit geradezu fanatischer Genauigkeit rekonstruiert. Während bei kommerziellen Filmprojekten Wortmeldungen von irgendwelchen Experten oft als lästige Besserwisserei abgetan werden, nahmen Brownlow und Mollo jede derartige Hilfe dankbar an. So konsultierten sie einen im Museum des Tower of London beschäftigten Fachmann, was schließlich dazu führte, dass sie historische Waffen und Uniformen in großer Zahl entleihen durften - ein sehr seltenes Privileg. Die Kühe, Schweine und Hühner der Diggers gehörten historischen Rassen an, die es nur in speziellen Zuchtanstalten gab (Jerome Willis verglich die sehr robusten und willensstarken Schweine in einem Interview mit "kleinen Elefanten"). Die Gerichtsverhandlung wurde im damals ältesten echten noch existierenden Gerichtsgebäude Englands in Malmesbury gedreht, die restlichen Innenaufnahmen in Chastleton House, einem Herrenhaus mit hervorragend erhaltener Inneneinrichtung aus dem 17. Jahrhundert. Und eine historische Scheune in Essex wurde mit Hilfe von Schulkindern zerlegt und in Surrey wieder aufgebaut. St. George's Hill kam als Drehort nicht in Frage, weil er inzwischen von umzäunten Villen gesäumt war, doch nur 30 oder 40 Kilometer entfernt fand sich ein hervorragend geeigneter Hügel. Und Mollos Vater besaß in unmittelbarer Nähe ein Haus mit großem Grundstück, auf dem die Siedlung der Diggers errichtet und für Monate stehengelassen werden konnte. Diejenigen Kostüme, die nicht von irgendwelchen Museen oder Privatsammlern geliehen werden konnten, wurden nach historischen Vorlagen in Handarbeit gefertigt, die meisten von Mollos Frau Carmen.


Aus Rücksicht auf die Laiendarsteller wurde wie schon bei IT HAPPENED HERE fast nur an Wochenenden gedreht. Die Dreharbeiten dauerten ungefähr ein Jahr, was den Vorteil bot, alle Jahreszeiten zur Verfügung zu haben. Es war eine Bedingung des BFI, dass nur solche Filmtechniker verwendet werden sollten, die noch nicht bei kommerziellen Spielfilmen mitgearbeitet hatten. Sinn war es wohl, diesen sozusagen ein Praktikum zu verschaffen, um ihnen den Berufsstart zu erleichtern. Kameramann bei WINSTANLEY war der in Ungarn geborene Ernie Vincze. Das war ein Glücksfall, denn in Absprache mit den Regisseuren entwarf er einen visuell ungemein schönen Stil für den Film, der von klaren Aufnahmen mit großer Tiefenschärfe geprägt ist. Wie die Laiendarsteller musste auch Vincze einem Broterwerb nachgehen und war deshalb manchmal längere Zeit abwesend, etwa, als er für eine Dokumentation auf dem Flugzeugträger Ark Royal drehte. Es kam aber nicht in Frage, ihn zu ersetzen - es wurde einfach gewartet, bis er wieder da war. WINSTANLEY ist auch deshalb ein sehr visueller Film, weil Dialoge recht sparsam gesetzt sind. Das geschah nicht nur, um die Laiendarsteller mit ihren meist begrenzten schauspielerischen Fähigkeiten nicht zu überfordern, es war auch eine bewusste Stilentscheidung von Brownlow und Mollo. Als ästhetische Vorbilder für den visuellen Stil dienten dem Stummfilmexperten Brownlow vor allem zwei Filme, Arthur von Gerlachs ZUR CHRONIK VON GRIESHUUS von 1925 und Carl Theoder Dreyers DIE PASTORENWITWE von 1920. Mollo orientierte sich bei seinen Entwürfen auch an historischen Radierungen und Kupferstichen, vor allem solchen von Jacques Callot. So beginnt WINSTANLEY mit einem kurzen Prolog, der die Ereignisse von 1646 bis 1649 zusammenfasst, und darin gibt es die Hinrichtung eines Levellers, die sehr eng einer Radierung aus Callots Zyklus "Die großen Schrecken des Krieges" nachempfunden ist.


Wie es nicht anders sein konnte, fanden die Dreharbeiten in sehr familiärer Atmosphäre statt. Für die Verpflegung war hauptsächlich Brownlows Frau Virginia zuständig. Es gab keine ausgeprägten Hierarchien - Brownlow und Mollo waren gleichberechtigt und sowieso immer einer Meinung, und sie machten eher Vorschläge, statt Anweisungen zu geben. Vieles entschieden Halliwell oder Vincze selbst. "... a lack of hierarchy that occasionally bordered on the anarchic", schreibt Marina Lewycka, die als Beraterin für die Sprache des 17. Jahrhunderts, als Komparsin und gelegentlich als Teeköchin und Mädchen für alles an den Dreharbeiten beteiligt war. 1975 war der Film schließlich fertig. Er lief wie IT HAPPENED HERE auf einigen Festivals, aber die Aufnahme war gemischt. Neben enthusiastischen Kritiken wie der von Jonathan Rosenbaum (die er später etwas relativiert hat) gab es auch viel Ablehnung. Und Angebote aus der Filmindustrie blieben abermals aus. Erstaunlich positiv war dagegen die Rezeption in Frankreich, wo WINSTANLEY monatelang in den Kinos lief und 1976 einen Prix Georges-Sadoul gewann. Brownlow konzentrierte sich nach WINSTANLEY auf seine Tätigkeit als Filmhistoriker und -journalist. In zwei Serien über den amerikanischen resp. europäischen Stummfilm, in Fernsehfilmen über Charlie Chaplin, Buster Keaton, D.W. Griffith und weitere Persönlichkeiten, die er meist gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen David Gill realisierte, sowie in weiteren Büchern war er unermüdlich für die Popularisierung des Stummfilms tätig, was schließlich in den wohlverdienten Ehrenoscar mündete.


WINSTANLEY ist digital restauriert und mit erstklassigem Bonusmaterial versehen in England beim BFI auf DVD und Blu-ray erschienen. Es gibt auch eine ältere US-DVD.


3 Kommentare:

  1. Ich wusste, dass du es schaffen würdest, einen englischen Historienfilm zu besprechen, von dem ich noch nie etwas gehört habe! Hier muss ich jedoch sogar beschämt gestehen: Obwohl doch auch ich um das Interregnum nicht herumkam, drillte man mich offenbar ausschliesslich auf Cromwell und den Mann mit dem unerträglichen Epos "Of man' first disobedience...". - Sogar die "New Diggers" sind mir als Spät-Hippie ein Begriff; dass sie so spannende Vorgänger hatten, weiss ich erst dank dir. :)

    Was für ein bildgewaltiger Film das sein muss, der die ohnehin dankbare englische Landschaft so einfängt, wie es deine Screenshots andeuten! Und welche Gesichter! Man fühlt sich an Pasolini erinnert, der sich für "Il vangelo secondo Matteo" ebenfalls die "wahrhaftigen" Menschen aussuchte.

    Offenbar ein hierzulande zu Unrecht kaum bekannter Film, auf den nur privilegierte Liebhaber wie du stossen!

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  2. Mrs. Platt hat übrigens auch Milton gelesen (im Gegensatz zu mir).

    Ja, von den Gesichtern wird ausgiebig Gebrauch gemacht - es gibt viele Großaufnahmen. Ein paar andere Aspekte hab ich nicht mehr erwähnt, weil mir der Text zu lang wurde. Beispielsweise gibt es im Prolog eine Schlacht, die durch Kameraführung und Schnitt äußerst dynamisch wirkt, und die mit der Schlachtenmusik von Prokofjew für Eisensteins ALEXANDER NEWSKI unterlegt ist. Was in gewisser Hinsicht ein Bluff ist, weil Eisenstein die Ritterschlacht auf dem zugefrorenen Peipus-See mit einem Riesenheer an Komparsen aufwendig choreographiert hat, während Brownlow und Mollo nur die Anfangsaufstellung mit vielen Soldaten zeigten, die Schlacht selbst aber nur mit 6 (!) Leuten drehten. Hier nahmen sie sich Orson Welles zum Vorbild, der das in FALSTAFF auch so gemacht hatte. Welles hatte bekanntlich auch nie genug Geld (das Thema hatten wir ja erst gerade).

    Hm, Du ein Spät-Hippie? Sieht man dir gar nicht an ...

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  3. Lang ists her mit dem Spät-Hippie (wie mit dem Milton). ;) Aber ich kann dir versichern: Als alle Welt bereits enge Röhrenjeans trug, lief das Ei vom Lande Whoknows noch in Schlaghosen herum und glänzte mit einer Frisur, die der von Frau Jolie ähnelte - bis die berühmte Rekrutenschule seinem Treiben ein Ende setzte und ihn zum - äh - Manne formte.

    Ich finde das manchmal faszinierend, zu welchen Methoden Filmemacher greifen, wenn es ihnen an Geld mangelt. Man sollte meinen, ihre Verzweiflungstaten müssten vollends in die Hose gehen; dabei ist eher das Gegenteil der Fall (wie eben bei Welles' "Othello", dessen Szene im türkischen Bad ja unfreiwillig zum Klassiker wurde). - Vielleicht müsste man den gelackten Hollywood-Filmern einfach ihr Budget streichen. Wer weiss, zu welchen Meisterwerken sie fähig wären!

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