Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln
NEIGHBOURS
Kanada 1952
Regie: Norman McLaren
Darsteller: Grant Munro, Jean Paul Ladouceur
A CHAIRY TALE
Kanada 1957
Regie: Norman McLaren, Claude Jutra
Darsteller: Claude Jutra
McLarens radikale politische Ansichten aus den 30er Jahren gingen ihm später zwar nicht vollends verloren, wurden aber von seinen künstlerischen Ambitionen in den Schatten gestellt. (Die Säuberungen in der Sowjetunion Ende der 30er Jahre hatten ihm zwar den Glauben an den orthodoxen Kommunismus ausgetrieben, aber als er 1949 im Auftrag der UNESCO für einige Monate als Instruktor in China lebte, waren ihm die Ideen und Maßnahmen der dort gerade an die Macht gekommenen Kommunisten nicht unsympathisch. Der wenig später ausgebrochene Koreakrieg bewirkte auch hier eine gewisse Ernüchterung. Später war McLaren im Auftrag der UNESCO auch in Indien tätig.) Der einzige seiner späteren Filme, der eine politische, und zwar eine pazifistische, Botschaft transportiert, ist NEIGHBOURS.
Die Variante der Stop-Motion-Technik mit menschlichen Darstellern, die hier an etlichen Stellen zum Einsatz kommt, heißt heute Pixilation. McLaren und sein Umfeld benutzten die Schreibweise Pixillation. Erfunden wurde der Ausdruck von Grant Munro für einen seiner eigenen Filme. Munro war einer derjenigen Nachwuchskräfte, die ab Mitte der 40er Jahre ans NFB unter die Fittiche von McLaren kamen, und er wurde dann neben Evelyn Lambart sein engster Mitarbeiter, sei es als Darsteller wie hier, sei es als Co-Regisseur und in anderen Funktionen. Munro wurde auch als Regisseur seiner eigenen Animationsfilme erfolgreich, später drehte er auch Dokumentationen, und er blieb mit McLaren befreundet.
Pixilation wurde in NEIGHBOURS beispielsweise benutzt, um die beiden Protagonisten auf dem Rücken über den Rasen gleiten zu lassen, sie wie Schlittschuhläufer wirken und schließlich schweben zu lassen. Letzteres war ziemlich anstrengend. Die beiden Darsteller mussten synchron auf der Stelle in die Höhe springen und dabei die Knie anziehen. Auf dem höchsten Punkt der Flugbahn wurden sie aufgenommen. Dann ein kleiner Schritt zur Seite, nächster Sprung und nächstes Einzelbild, und so weiter. Insgesamt musste jeder der beiden ca. 300 Sprünge absolvieren, wie sich Munro in einer Doku über McLaren erinnerte. Die meisten Sequenzen von NEIGHBOURS wurden aber weniger aufwendig mit einer Kamera mit variabler Geschwindigkeit aufgenommen, mit der sich gemäßigter bis extremer Zeitraffer-Effekt erzielen ließ. Doch nicht nur die Kamera lief mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sondern gleichzeitig bewegten sich oft auch die Darsteller in sehr kontrollierter Weise langsamer als bei natürlichen Bewegungen, was zusätzliche Effekte ermöglichte. Dieselbe Kombination von verschiedenen Techniken kam auch bei OPENING SPEECH, A CHAIRY TALE und einigen weiteren Filmen McLarens zum Einsatz. Erfunden wurde Pixilation aber schon lange bevor es den Ausdruck gab. Bereits Georges Méliès hat regelmäßig mit Stop-Motion-Tricks gearbeitet.
Schon 1939, in seiner New Yorker Zeit, begann McLaren damit, nicht nur Bilder, sondern auch Töne manuell auf Filmmaterial aufzubringen, indem er entweder mit Tusche schwarze Kleckse mit variierender Dicke, Höhe und Abstand voneinander auf klaren Film malte, oder entsprechende Figuren auf schwarzem Film einritzte, nur eben nicht im Bildbereich, sondern auf der Lichttonspur des Films. Später verfeinerte er das Verfahren, indem er schwarze Balken auf Papier druckte und dann, entsprechend verkleinert, photographisch auf die Tonspur des Films übertrug. Durch unterschiedliche Breite, Höhe und Abstand ergaben sich unterschiedliche Tonhöhe und Lautstärke, und durch weitere Maßnahmen, etwa Sägezahnkurven statt rechteckiger Balken, konnte auch zwischen relativ reinen und dissonanten Klängen unterschieden werden. Dadurch, dass die Tonmuster Frame für Frame aufgebracht wurden, ergab sich automatisch die ultimative Kontrolle über die Synchronizität von Bild und Ton. Auf diese komplizierte Weise entstand auch der Soundtrack von NEIGHBOURS. (McLaren trieb das Verfahren in SYNCHROMY auf die Spitze, indem die Balken, die den Ton erzeugen, auch Inhalt der Bilder sind, so dass man "den Ton sehen" und "die Bilder hören" kann - ein Ausdruck von McLarens Interesse für Synästhesie.)
NEIGHBOURS wurde einer von McLarens bekanntesten und erfolgreichsten Filmen, was auch daran lag, dass es sein einziger war, der einen Oscar gewann - und zwar merkwürdigerweise in der Kategorie Best Documentary (Short Subject). Später hat die Academy selbst eingestanden, dass das eigentlich die falsche Kategorie war.
"I have sympathy for things that are sat upon." (McLaren)
Die Musik zu A CHAIRY TALE schrieb kein Geringerer als Ravi Shankar, der sie mit seinem Tabla-Spieler Chatur Lal auch einspielte. Die beiden waren zu einem Fernseh-Auftritt in Montreal, als A CHAIRY TALE schon fertig geschnitten, aber noch ohne Sound war. McLaren war ratlos, welche Musik er verwenden sollte, da sah er Shankar im Fernsehen und hatte eine Erleuchtung. Die Übertragung der Bilder in Musik wurde ähnlich bewerkstelligt wie bei BEGONE DULL CARE, nur in umgekehrter Reihenfolge: Die Struktur des Films wurde in eine komplizierte Graphik auf Millimeterpapier mit schriftlichen Anmerkungen übertragen, ein Kästchen entsprach dabei einer Sekunde. Dann führte McLaren den beiden Musikern den Film ungefähr ein Dutzend Mal vor, wobei sie die Graphik zur Hand hatten, so dass sie am Ende beim Blick auf das Schema sofort jeder Stelle die entsprechende Sequenz des Films zuordnen konnten. Derart gewappnet, wurde dann in einer dreiwöchigen Sitzung die Musik geprobt und aufgenommen. McLaren wollte keine rein klassisch-indische Musik, sondern eine Mischung aus indischen und europäischen Elementen, und Shankar hat wunschgemäß geliefert (auch Opernmuffel werden wahrscheinlich "Carmen" erkannt haben).
McLarens Darsteller und Co-Regisseur Claude Jutra war damals als Einsteiger kurze Zeit beim NFB beschäftigt. Wenig später wurde er mit seinen eigenen Spiel- und Dokumentarfilmen einer der Mitbegründer eines eigenständigen franko-kanadischen Kinos und einer der wichtigsten kanadischen Regisseure überhaupt. Sein MON ONCLE ANTOINE von 1971 wurde gelegentlich als bester kanadischer Film überhaupt bezeichnet. McLaren und den französischen Cinéma-vérité-Pionier Jean Rouch (mit dem er ebenfalls zusammengearbeitet hatte) bezeichnete er als seine wichtigsten Einflüsse; seit einem längeren Frankreich-Aufenthalt Ende der 50er Jahre war er auch mit François Truffaut befreundet. Als bei Jutra eine beginnende Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert wurde, ertränkte er sich im St. Lawrence River - ein Ende, das er in gewisser Weise schon 1964 in seinem Film À TOUT PRENDRE vorweggenommen hatte.
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