Mittwoch, 2. November 2016

Frühling in einem kleinen Haus

XIAO CHENG ZHI CHUN („Spring In A Small Town“)
China 1948
Regie. Fei Mu
Darsteller: Wei Wei (Yuwen, die Ehefrau), Li Wei (Zhang Zhichen, der Gast), Shi Yu (Liyan, der Ehemann), Zhang Hongmei (Xiu, die kleine Schwester), Cui Chaoming (Laohuang, der Diener)



Irgendwo in der chinesischen Provinz, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (bzw. des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs). Der ehemals reiche Bürger Dai Liyan ist finanziell wie auch gesundheitlich ruiniert: sein einst schönes Haus ist größtenteils zerstört, so dass er mit seiner Familie in noch intakten Nebengebäuden wohnen muss, er selbst leidet an Tuberkulose sowie an „Neurose“ (man würde das wohl heute „Burn-Out“ oder schlicht Depressionen nennen). Mit ihm wohnt seine Ehefrau Yuwen, seine quirlig-fröhliche 15-jährige Schwester Xiu sowie der alte, bedächtig-ruhige Hausdiener Laohuang. Yuwens und Liyans Ehe kriselt. Die Ehefrau muss sich um alles im Haushalt kümmern, geht jeden Tag ins Dorf, um Essen für die Familie sowie Medikamente für ihren Ehemann einzukaufen, während Liyan stundenlang apathisch im Garten herumsitzt und oft abweisend und launig ist. So wirft er etwa das Päckchen mit den Medikamenten, das ihm Yuwen überreicht, gleich zu Beginn – eher resigniert als wütend – weg. Von häuslicher Gewalt (ob physisch oder psychologisch) kann zwar in keiner Weise die Rede sein, und der Umgang zwischen den Eheleuten ist stets respektvoll, aber eben auch ohne jegliche Wärme oder spürbare Zuneigung.

dramatis personae:






Eines Tages kommt ein Mann zu Besuch: der Arzt Zhang Zhichen ist ein ehemaliger Schulkamerad Liyans, und tatsächlich kommt in dem resignierten Hausherrn ein bisschen Freude über den Besuch auf. Was Liyan nicht weiß und der Zuschauer erst im weiteren Verlauf von XIAO CHENG ZHI CHUN nach und nach erfährt: Zhichen war auch Yuwens Geliebter, bevor diese Liyan heiratete. Und so liegt gleich zu Beginn von Zhichens mehrtägigem Aufenthalt eine gewisse Spannung in der Luft. Am ersten Abend gehen die beiden ehemaligen Liebhaber noch recht verstohlen miteinander um: sie kommt mehrmals in sein Gästeraum, um nach dem Rechten zu sehen und zusätzliche Decken zu bringen.

Am nächsten Tag gehen der Hausherr, die Ehefrau, die kleine Schwester und der Gast zusammen spazieren. Zunächst auf der Stadtmauer, wo Zhichen für kurze Zeit Yuwens Hand ergreift. Dann geht es mit dem Boot weiter, wo sich beide sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Am nächsten Tag gehen beide, diesmal alleine, auf der Stadtmauer spazieren. Die Stadtmauer ist der Ort, wo Yuwen gerne alleine schlendern geht, wenn sie nach dem Einkauf vor der Rückkehr in ihr unglückliches Zuhause noch einmal Ruhe tanken möchte. Dort unterhalten sie sich, erwägen implizit, zusammen ein neues Leben zu beginnen und schlendern dann weiter. Später, wieder zuhause, sagt Yuwen, dass alles einfacher wäre, wenn Liyan sterben würde – was sie sofort bereut und sowohl ihr wie auch Zhichen ein sehr schlechtes Gefühl gibt.

Eine entfremdete Ehe...
...bildet die Grundlage für Annäherungen zwischen zwei ehemaligen Liebhabern.
Das linke untere Bild: vielleicht eine Inspiration für die ikonischste Einstellung in Wong Kar-wais IN THE MOOD FOR LOVE?

Bevor das alles zu trübsinnig wird, kommt Xiu dazwischen, die nun am nächsten Tag mit dem „Großen Bruder Zhichen“ zur Stadtmauer geht, dort zu seinem Gesang etwas tanzt und sich dann milde beschwert, dass ihr Bruder Liyan immer so unlustig und schwermütig sei. Nachdem Xiu ihrer Schwägerin gesagt hat, wie schön der Spaziergang mit Zhichen war, spielt Yuwen ihrem Ex-Geliebten eine kleine Eifersuchtsszene, weil er offensichtlich Xiu lieber möge als sie – sagt ihm aber kurz vor ihrem Abgang, dass das nicht ernst gemeint war. Den gleichen Gedanken spinnt jedoch Liyan völlig ernsthaft weiter: Zhichen sei möglicherweise für Xiu die richtige Partie, und da müsse man mit den beiden mal drüber sprechen. Yuwen redet ihm den Gedanken aber erst einmal aus. Xiu werde ja morgen erst 16 Jahre alt.

Auf der Geburtstagsfeier am nächsten Abend wird dann fröhlich gesungen, gespielt und getrunken. Aus Hände- und Fingerspielen à la Schere-Stein-Papier entwickeln sich bald Trinkspiele. Yuwen, offensichtlich in trüber Laune, trinkt mehr als alle anderen, und taut erst auf, als sie mit Zhichen ein Trinksspiel spielt – an dieser Stelle merkt Liyan auch zum ersten Mal, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist. Später, als alle schon im Bett sind, schleicht sich Yuwen zu Zhichen ins Zimmer. Beide werden von ihrer Leidenschaft zueinander fast überwältigt, stoßen sich aber mehrmals im letzten Moment wieder voneinander. Zhichen eilt danach zu Liyan ins Zimmer, um sich eine Schlaftablette zu borgen. Wenig später wiederum sucht Yuwen ihren Ehemann auf. Dieser fragt sie offen, ob sie immer noch Zhichen liebe, gibt sich aber auch selbst die Schuld an der zerrütteten Ehe.

Bei den Trinkspielen zu Xius Geburtstag ereilt Liyan eine Erkenntnis
Am nächsten Tag will Zhichen weiterziehen. Liyan bittet ihn verzweifelt, zu bleiben, weil Yuwen in seiner Anwesenheit glücklicher sei. Später versucht er, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen – Zhichen hatte jedoch in der Nacht zuvor die Tabletten mit Vitaminpillen ausgetauscht. Trotzdem geht es dem Ehemann schlechter und er ringt kurzzeitig mit dem Tod. Sein Zustand bessert sich jedoch dank der raschen medizinischen Intervention Zhichens, und allen Mitgliedern des Haushalts fällt ein Stein vom Herzen. Der Arzt verlässt den Haushalt am nächsten Tag, verspricht, zum nächsten Frühling wieder vorbeizukommen. Später, wohl am selben Tag, geht Yuwen wieder wie so oft auf der Stadtmauer spazieren, mit dem Unterschied, dass ihr Ehemann sich zu ihr gesellt. Die Eheleute blicken Arm in Arm in den Horizont – und offenbar auch in eine etwas hoffnungsvollere und fröhlichere Zukunft.

XIAO CHENG ZHI CHUN / SPRING IN A SMALL TOWN gilt als lange Zeit verschollene Perle des chinesischen Kinos. Er ist, so Noah Cowan, ein Höhepunkt im „Goldenen Zeitalters“ des chinesischen Films der 1930er und 1940er Jahre und verbindet dieses zugleich mit dem chinesischen Autorenkino der 1990er und 2000er Jahre, als maßgeblicher und erklärter Einfluss für Filmemacher wie Zhang Yimou, Wong Kar-wai und Stanley Kwan. Über Jahrzehnte war XIAO CHENG ZHI CHUN in China verschmäht und vergessen. Der Film entstand ein Jahr vor der Ausrufung der Volksrepublik und Regisseur Fei Mu gehörte nicht zu den Gewinnern des politischen Umbruchs. Fei, geboren 1906 in Shanghai, aufgewachsen in Peking, war in den 1920er Jahren Filmkritiker und wurde später auch Herausgeber einer Filmzeitschrift. Seinen ersten eigenen Film (der heute verschollen ist), drehte er 1935. Der gebürtige Shanghaier, der seinen Schulabschluss in einer französischsprachigen Schule gemacht hatte, war ein echter Kosmopolit und sprach wohl nicht nur fließend Französisch, sondern auch Deutsch, Englisch, Italienisch und Russisch – offenbar der richtige Mann, um als Ko-Regiseur mit den Emigranten Jacob und Luise Fleck den Film SÖHNE UND TÖCHTER DER DER WELT (Originaltitel) zu drehen: die erste Koproduktion zwischen österreichischen und chinesischen Filmkünstlern. Mit der Opernverfilmung SHENG SI HEN („Remorse at Death“) drehte Fei 1948 den ersten chinesischen Farbfilm. XIAO CHENG ZHI CHUN aus dem selben Jahr blieb Feis letzter Film. Nach dem Sieg der Kommunisten floh er nach Hongkong. Der Regisseur, der lebenslang an chronischen Gesundheitsproblemen litt, starb dort 1951 mit nur 44 Jahren. Von den Kommunisten wurde XIAO CHENG ZHI CHUN jahrelang als bourgeois verurteilt und unter Verschluss gehalten. Erst in den 1980er Jahren änderte sich diese Haltung, und das Pekinger Filmarchiv brachte eine neue Kopie des Films im Umlauf. XIAO CHENG ZHI CHUN gewann rasch eine große Popularität in China, Hongkong sowie international und brachte auch seinen Regisseur wieder ins Gespräch. Tian Zhuangzhuang drehte 2001 ein Remake des Films mit dem gleichen Titel (und dies war paradoxerweise nach mehreren Jahren Exil sein „Rückkehrfilm“).

David Bordwell schreibt, dass XIAO CHENG ZHI CHUN mit seiner langsamen Entwicklung einer erotischen Geschichte in karger Umgebung Michelangelo Antonioni vorwegnimmt. Die flüssigen Kamerabewegungen und die gekonnte Nutzung der Raumtiefe, die bereits in Feis Filmen der 1930er Jahre sichtbar seien, erinnern Bordwell an Jean Renoir. Ganz anders inszenierte Fei sein Konfuzius-Biopic KONG FUZI von 1940, der größtenteils in statischen Tableaus mit stilisierten, dezidiert artifiziellen und gemalten Bühnenbildern gefilmt ist, was Bordwell als sehr modern wertet. Der Hongkonger Filmkritiker Wong Ain-ling vergleicht Feis Konfuzius-Biopic mit Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D‘ARC sowie mit Eric Rohmers über 35 Jahre später gedrehten PERCEVAL LE GALLOIS (der als der experimentellste Film des nouvelle-vague-Filmemachers gilt).

Antonioni, Renoir, Rohmer, Dreyer – ich selbst werde gleich noch Fritz Lang und sogar Jean-Pierre Melville dazu holen: dass so viele Vergleiche bei der Bewertung von Feis Filmen herangezogen werden (müssen), weist sicherlich darauf hin, dass er als eigener Name (noch) nicht etabliert ist und zugleich dass da offenbar sehr vieles Interessantes zu entdecken ist. Nun also zu „Frühling in einer kleinen Stadt“. Sicherlich würde „Frühling in einem kleinen Haus“ besser als Titel passen, weil es zwar in Feis Film einen Frühling gibt, allerdings keine „kleine Stadt“. Im gesamten Film sind tatsächlich nur 5 Figuren zu sehen, und „Stadt“ taucht als geografisches Konzept nur sehr peripher auf (wir erfahren, dass Yuwen in der kleinen Stadt einkaufen geht, sehen sie aber nicht), als soziales Konzept überhaupt nicht. Der zentrale Ort des Films ist das semi-zerstörte Haus, in dem die Familie mit ihrem Gast wohnt. Das trägt dazu bei, dass XIAO CHENG ZHI CHUN wie ein extrem konzentriertes und intimes Kammerspiel wirkt, eher von Charakteren als von Plot getrieben. Diese Abgeschiedenheit verleiht dem Film aber auch einen Hauch verzweifelter Weltabgewandtheit – was mich etwas an Jean-Pierre Melville erinnert hat, minus die Gangsterfiguren und die Gewalt.

In der Ausstattung wirkt XIAO CHENG ZHI CHUN recht karg und minimalistisch, dabei ist er sehr konzise inszeniert. In seinen ersten Bildern schwenkt eine Kamera mit verblüffend hoher Geschwindigkeit über provinzielle Landschaften, und der Rest des Films ist von flüssigen, eleganten Kamerabewegungen und tatsächlich einer meisterhaften Nutzung der Raumtiefe gekennzeichnet – der Film führt etwa den Hausherrn ein, indem die Kamera durch den Garten und eine löcherige Mauer nach ihn „sucht“. Die Bildkompositionen sind wie die Bewegungen der Kamera auf unaufdringliche Weise elegant. Es gibt nur wenige Nahaufnahmen, die dann umso auffälliger sind: etwa auf die Gesichter Zhichens und Yuwans, als sie sich wieder erkennen, oder – besonders hervorgehoben – eine Nahaufnahme einer Pflanze, die Yuwen Zhichen schenkt.

Sehr auffällig ist, dass Fei immer wieder Überblendungen einsetzt, und zwar nicht, um das Ende einer Szene mit dem Beginn der nächsten zu verbinden (das manchmal auch), und auch nicht in „Montage-Impressionen“ (wie am Anfang von CITIZEN KANE), sondern mitten in normalen Szenen – statt eines Schnitts. Das wirkt leicht desorientierend, weil nebenbei oft die 180-Grad-Regel gebrochen wird und einmal die Figuren zugleich ihre Position im Raum auf „falsche“ Weise ändern. Fast wie ein jump-cut, nur eben mit den Mitteln einer Überblendung. Wäre der Film bekannter, könnte man letzteres bestimmt schon beim IMDb-Eintrag in den Goofs zu lesen. Ich sehe darin keinen „Fehler“, sondern vielmehr ein faszinierendes Stilelement, das dem Film eine leicht träumerische, schwelgerische und fließende Note gibt und ihn zwischendurch ungemein modern aussehen lässt.

Experimentelle Überblendungen in einem eigentlich klassischen Melodrama
Vielleicht noch faszinierender ist die Nutzung des Tons, oder besser gesagt der Stille. Zwei Mal während des Films „fällt“ der Ton „aus“. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass das tatsächlich mit der überlieferten Kopie des Films zu tun hat, also damit, dass an diesen Stellen die Tonspur verschollen oder teils verschollen ist, aber das glaube ich nicht. Der erste Tonausfall erfolgt, als die beiden Ex-Liebhaber zusammen alleine spazieren gehen. Auf der Stadtmauer sprechen die beiden darüber, wie sie sich über die Jahre geändert haben. Als sie zusammen waren, soll Yuwen wohl immer einer Meinung mit Zhichen gewesen sein. „Wenn ich dich bitte, mit mir wegzugehen, würdest du dann immer noch sagen ‚Was du auch immer sagst‘?“, fragt Zhichen seine ehemalige Geliebte. „Meinst du das ernsthaft?“, erwidert Yuwen. Hier fällt der Ton aus, beide gehen ein Stück weiter, Zhichen wirft einen Ziegelstein in den nahegelegenen Fluss (das Geräusch hört man folglich nicht), und dann gehen die beiden auf einem kleinen Waldweg spazieren: während Yuwen und Zhichen zusammen gehen, sich immer mehr von der fixen Kamera entfernen und schließlich übermütig zusammen ein Stückchen rennen, herrscht vollkommene Stille. Diese knapp 50 Sekunden lange, statische Einstellung ist ein entscheidender Moment, denn hier wird eine Art Harmonie zwischen den beiden gezeigt, die keiner Erklärung (und auch keines Tons) mehr bedarf.


Der zweite Tonausfall begleitet die leidenschaftlichste und emotionalste Szene von XIAO CHENG ZHI CHUN – also der Moment, als Yuwen zu Zhichen ins Zimmer geht mit der unsicheren Absicht, ihn zu verführen. Nachdem sie sich zu ihm geschlichen hat, tauschen sie wenige Worte aus, dann herrscht vollkommene Stille, während sie zunächst ein Licht anzündet, er es wieder ausmacht, beide sich umarmen, er sie in die Arme hebt, sie dann wieder hinstellt, schnell rausgeht und sie einsperrt, damit sie ihm nicht folgt. Mit wenigen Schlägen zerschlägt sie das Türglas – das Zerschmettern des Glases und ihr leiser Schmerzensschrei sind kurz zu hören. Er eilt zu ihr, verbindet ihre Verletzung und fängt dann an, leidenschaftlich ihre Hand zu küssen. Sie hat sich wieder gefangen, erhebt sich, und durchbricht wieder die Stille mit einem schroffen und kalten „Danke“.  Wie gesagt handelt es sich um die emotionalste Szene in XIAO CHENG ZHI CHUN. Wo sich in den meisten Filmen klassischerweise die schweren Orchesterklängen überstürzen würden, herrscht hier in dieser wundervoll „low key“ fotografierten Sequenz totale, nur punktuell durchbrochene Stille. Ihre emotionale Wirkung ist dadurch vielleicht noch stärker.
Diese Nutzung des Tons erinnert an eines der großen Pionierwerke in Sachen experimenteller Tonmontage, nämlich Fritz Langs M, in dem immer wieder totale Stille eingesetzt wird. In Feis Film belebt dieses Verfahren keine Polizeiprozeduren, keine Verbrechen und keine urbanen Milieus, sondern Momente intimer Leidenschaft. Großes „drama“ ohne „melos“.

Der emotionalste Moment des ganzen Films...
...fast komplett ohne Ton gefilmt.
Weitaus weniger experimentell und interessant, sondern manchmal etwas entnervend, wirkt der leicht penetrante Voice-Over Yuwens, die nicht nur knappe Expositionen gibt, sondern teils fast schon pedantisch übererklärt – und manchmal sogar triviale Handlungen „doppelt“, die der Zuschauer eigentlich in den Bildern sieht. „Wir fahren dann Boot auf dem Fluss. Xiu singt ein Lied.“ – während der Zuschauer sieht, dass die Gruppe Boot fährt und Xiu ein Lied anstimmt. Im weiteren Verlauf des Films könnte man vielleicht denken, dass Yuwen ständig über Selbstverständlichkeiten und Trivialitäten spricht, damit sie nicht über den Kern der Dinge reden muss, aber so richtig davon überzeugt bin ich nicht.

Das bleibt aber mein vielleicht einziger größerer Kritikpunkt an diesem schönen ländlichen Melodrama, das nicht nur in der Kameraführung ein wenig an Renoir erinnert. Fei ist wie sein berühmterer Kollege ein klassischer humanistischer Erzähler, der keine Guten oder Bösen präsentiert, sondern nur Figuren, die „ihre Gründe haben“. Des weiteren fühlt sich XIAO CHENG ZHI CHUN sehr universell an – nicht nur wegen der sehr „europäisch“ wirkenden Inszenierung, sondern weil die gleiche Geschichte sich ebenso gut in Italien, Deutschland, Frankreich oder den USA abspielen könnte.

Ein hoffnungsvolles Ende


XIAO CHENG ZHI CHUN ist als „Spring In A Small Town“ in einer schönen DVD-Edition des British Film Institute erschienen, und dies ist wohl die einzige Edition mit der restaurierten Filmfassung – bei anderen DVD-Editionen soll die Sichtung wohl aufgrund der scheusslichen Bild- und Tonqualität eine recht anstrengende Herausforderung sein. 1A ist die Qualität auch bei der BFI-Edition nicht, und besonders der Ton ist immer wieder etwas scheppernd: das Bild wurde anhand des 35mm-Original-Nitratnegativs restauriert, das offenbar aber keinen Ton hatte; der Ton wurde von einer 35mm-Kopie transferiert.
Die BFI-Edition enthält zwei Bonus-Filme. Nein, leider keine weiteren Filme von Fei Mu, sondern zwei britische Filme aus dem Archivfundus des British Film Institute. A SMALL TOWN IN CHINA von 1933 ist ein neunminütiger, stummer Kurzfilm eines namentlich nicht bekannten Amateur-Filmers der Methodist Missionary Society, der in einer ungenannten chinesischen Stadt Straßenszenen filmt und später Alltagsmomente in offenbar methodistischen Schulen und Krankenhäusern auf Film festhält. Der Film hat eigentlich keinen Titel: er bekam ihn lediglich bei der Katalogisierung in den 1990er Jahren, wie im Booklet der DVD zu erfahren ist. Dieser bezeichnet A SMALL TOWN IN CHINA als „home movie“, und tatsächlich wirkt er wie ein frühes Heimvideo, das damals wahrscheinlich die Schüler, Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte und Patienten zu sehen bekamen, die darin gezeigt werden.
THIS IS CHINA von 1946 ist ein 8-minütiger Dokumentarfilm, der vom britischen Informationsministerium produziert wurde. Dafür wurde kein Originalmaterial gedreht, sondern bereits gefilmtes „stock footage“ montiert und mit einem narrativen Kommentar versehen. Einen nominellen Regisseur hat der Film nicht, das Booklet nennt den Schnittmeister John Krish als entscheidende kreative Kraft des Films – Krish drehte später als Regisseur vor allem Dokumentarfilme. THIS IS CHINA zeichnet China als rückständiges Land, das eine Tausende Jahre alte Geschichte nun mit westlicher Technologie in Richtung Moderne bringt. Der Unterton des Narrativs ist stellenweise latent eurozentrisch und orientalistisch, die Agenda des Films aber (dem Einführungstext des Booklets würde ich da zustimmen) durchaus nicht antihumanistisch: „westlicher“ Fortschritt soll nicht sich selbst, sondern schlussendlich dem Wohl der Chinesen selbst nützen. So ambivalent der Inhalt, so dynamisch ist die Form dieses schnell geschnittenen Kurzfilms, der aus nicht selbst gedrehtem Material durch die Montage viel rausholt.

2 Kommentare:

  1. Als der Film 2005 in Hongkong zum besten chinesischen Film aller Zeiten gekürt wurde, habe ich ihn irgendwo runtergeladen und angesehen, allerdings in sehr lausiger Qualität. Schön, dass es inzwischen eine gute engl. DVD davon gibt.

    Mir hat er damals auch gut gefallen, ich hab mich dann aber nicht weiter um Fei Mu gekümmert. So ist mir auch seine Zusammenarbeit mit der Familie Veltée/Kolm/Fleck entgangen, obwohl ich schon mal bei Senses of Cinema darüber gelesen hatte (aber da hatte mir der Name Fei Mu noch nichts gesagt). Die gehören ja zu den frühesten österreichischen Filmpionieren, und Jakob Fleck hatte es nur mit Glück und Unterstützung durch William Dieterle von den KZ Buchenwald und Dachau nach Shanghai geschafft.

    Interessant, dass der erste chinesische Farbfilm drei Jahre vor dem ersten japanischen (CARMEN COMES HOME von Kinoshita) entstand, obwohl Japan da schon seit Jahrzehnten sein hochgezüchtetes Studiosystem hatte.

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    1. Vielen Dank für die Verlinkung des aufschlussreichen Artikels über Louise Kolm-Fleck. Da hat Fei also mit richtigen Pionieren des frühen Kinos zusammengearbeitet! Ein längerer Ausschnitt von Feis Konfuzius-Biopic gibt es übrigens bei dem gängigen Videoportal zu sehen.
      Kleine Anekdote aus aktuellem Anlass: über google habe ich eben nach Fei Mu in der ofdb gesucht. Der erste Treffer war der ofdb-Eintrag eines Hongkong-Actionfilms von 1979, dem irgendein besonders kreativer deutscher Verleiher ernsthaft den deutschen Titel „Die Schlitzaugen mit dem Superschlag“ gab. Ich bin fast vom Stuhl gekippt. Unfassbar! Der EU-Kommissar mit Billigbier-Namen hat seine Leber wohl in den 1970er Jahren irgendwo liegen lassen.

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