Freitag, 18. November 2016

CŒUR FIDÈLE: Jean Epstein, der Impressionismus und die entsittlichende Wirkung

CŒUR FIDÈLE
Frankreich 1923
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Gina Manès (Marie), Léon Mathot (Jean), Edmond van Daële (Petit Paul), Marie Epstein (Nachbarin), Claude Benedict (Hochon), Mme. Maufroy (Mme. Hochon), Madeleine Erickson (Hure)

Marie; rechts oben Jean; Petit Paul; rechts unten die Hochons mit Marie
Die Filmhistoriker sind gespalten über die Frage, ob es im französischen Film der 1920er Jahre die Bewegung des "Impressionismus" (die natürlich nicht mit der gleichnamigen Richtung in der Malerei verwechselt werden darf) gegeben hat. Während die einen, etwa David Bordwell und Kristin Thompson, mit meiner Meinung nach guten Gründen die Realität dieser Bewegung oder Stilrichtung bejahen und Regisseure wie Abel Gance, Marcel L'Herbier, Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff dazu zählen, streiten einige andere die Existenz einer geschlossenen Bewegung rundweg ab. Die Charakteristika, die die Befürworter des Impressionismus anführen, treffen geradezu exemplarisch auf CŒUR FIDÈLE zu, und so wird auch Jean Epstein zu den Hauptvertretern des Impressionismus gezählt - wenn es ihn denn gab (was ich im Folgenden aber voraussetze). Wie diese Charakteristika denn nun aussahen, darüber unten mehr. Zunächst zur Handlung.

Hafenkneipe mit Tiefenschärfe; Petit Paul betritt die Szene
Die junge Marie wurde als Findelkind von Monsieur und Madame Hochon in Marseille aufgezogen. Doch die beiden sind lieblose Rabeneltern. Marie muss als Bedienung in der schäbigen Hafenkneipe der Hochons schuften, eigene Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Und es kommt noch schlimmer: Sie soll mit dem Ganoven Petit Paul verkuppelt werden, mit dem die Hochons durch irgendwelche krummen Geschäfte verbunden sind. Doch Marie liebt den stillen Hafenarbeiter Jean. Als der in der Kneipe vorstellig wird, um seine Ansprüche auf Marie anzumelden, wird er aber von den Hochons und Petit Paul nur abgebügelt. Und Petit Paul verschwindet daraufhin mit Marie, der keine Wahl gelassen wird, in eine Kleinstadt im Hinterland von Marseille. (Gedreht wurde die Kleinstadt-Sequenz in Manosque, aber der Name der Stadt wird im Film nicht genannt und spielt keine Rolle.) Dort ist gerade ein Rummelplatz in Betrieb, den Petit Paul mit der jetzt völlig apathischen Marie besucht. Jean hat mittlerweile von Maries Verschwinden Wind bekommen und ist Petit Paul auf der Spur. Tatsächlich findet er ihn bald, und mitten auf der Straße der Kleinstadt kommt es zu einem wilden Kampf der beiden Kontrahenten. Petit Paul zückt ein Messer, doch statt Jean trifft er einen Polizisten, der die beiden trennen wollte. Während Petit Paul daraufhin das Weite sucht, wird Jean verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Marie, die wie gelähmt den Kampf verfolgt hat und für Jean aussagen will, wird von der Polizei nur abgewimmelt.

Am Hafen von Marseille
Jeans Verurteilung ungefähr in der Mitte des Films bildet eine Zäsur. Es geht dann ein Jahr später mit Jeans Freilassung weiter, und die zweite Hälfte des Films spielt wieder in Marseille. Jean arbeitet jetzt als Kohlenschaufler im Hafen, und nebenbei sucht er nach Marie. Zunächst ohne Erfolg, doch dann läuft er ihr zufällig über den Weg. Und zu seinem Schreck muss er erfahren, dass Marie mit Petit Paul zusammenlebt und ein Baby von ihm hat. Doch Petit Paul hat sich nicht zum Besseren gewendet - ganz im Gegenteil. Er trinkt regelmäßig, und wenn er betrunken ist, schikaniert und tyrannisiert er Marie, die obendrein kaum Geld für sich und das Baby hat, weil Petit Paul alles versäuft oder verzockt. Jean besucht jetzt regelmäßig Marie in ihrer Wohnung, wenn Petit Paul auf Sauftour ist. Unterstützt wird das Liebespaar von einer freundlichen jungen Nachbarin mit verkrüppeltem Fuß (gespielt von Epsteins Schwester Marie, die auch am Drehbuch mitschrieb). Doch eine geschwätzige Hafenhure, die bei Jean abgeblitzt ist, hinterträgt Petit Paul das Treiben in seiner Abwesenheit. So macht er sich zu ungewohnt früher Stunde auf zu seiner Wohnung, ertappt Jean und Marie, und es kommt zum Showdown - diesmal hat er kein Messer, sondern eine Pistole dabei. Aber anders als beim ersten Kampf bleibt Petit Paul auf der Strecke, und Jean und Marie sehen einer gemeinsamen Zukunft ohne Angst vor dem Strolch entgegen.

Jean macht schwere Zeiten durch
Es ist keine freundliche Welt, die Jean Epstein uns zeigt. So wie ungefähr das erste Viertel von CŒUR FIDÈLE, spielt auch Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (verfilmt 1931-36 als MARIUS, FANNY und CÉSAR) in einer Hafenspelunke in Marseille und ihrer näheren Umgebung (in einer der deutschen Zensurentscheidungen, auf die ich unten eingehe, als "Apachenviertel einer französischen Hafenstadt" bezeichnet). Doch von der Atmosphäre gegenseitiger Sympathie und Respekts, die diesen Mikrokosmos der "kleinen Leute" bei Pagnol prägt, findet sich in CŒUR FIDÈLE fast nichts (einziger Lichtblick ist die empathische, selbst vom Leben gebeutelte Nachbarin von Marie). Eher fühlt man sich, um einen weiteren Vergleich mit dem Film der 30er Jahre zu bemühen, an das triste Le Havre von Carnés LE QUAI DES BRUMES erinnert. Überhaupt wirkt manches schon wie eine Vorwegnahme des Poetischen Realismus, der 15 Jahre später seinen Höhepunkt erreichen sollte. Was die Handlung betrifft, so hatte sich Epstein selbst Zurückhaltung und Schlichtheit auferlegt - er wollte ein auf seine Grundmuster reduziertes Melodram erzählen. Das ist - auch nach Auffassung seiner Zeitgenossen - gelungen. "Seine Handlung ist banal", schrieb René Clair im Februar 1924 (seinen ersten Film hatte er da schon abgedreht, aber noch nicht veröffentlicht), "eine Art von BROKEN BLOSSOMS, durch französische Augen gesehen." Doch das sei nicht wichtig, beeilt er sich hinzuzufügen: "Das Thema eines Films ist nicht wichtiger als das Thema einer Symphonie. [...] Monsieur Jean Epstein, der Regisseur von CŒUR FIDÈLE, ist offensichtlich mit der Frage des Rhythmus befasst. [...] Ich fordere diese Leser nochmals auf, sich CŒUR FIDÈLE und seinen Karneval [gemeint ist der Rummelplatz] anzusehen, eine schöne Szene von visueller Berauschung, ein emotionaler Tanz in der Dimension des Raums, in der das Antlitz der Dionysischen Poesie wiedergeboren wird."

Rummelplatz
In der Tat bildet die Sequenz auf dem Rummelplatz den Höhepunkt des Films, gerade weil der Plot hier mehr oder weniger pausiert (denn Jean ist noch auf der Suche nach Marie und Petit Paul). Karussell, Kettenkarussell und Schiffschaukeln werden mit Hilfe von ungewöhnlichen Kamerapositionen, mehrfacher Bildüberlagerung, rasantem Schnitt und gezielter Bewegungsunschärfe zu einem sehr dynamischen und modern wirkenden Gebilde aus Bewegung und Geschwindigkeit verwoben. Aber auch sonst bildet die Kameraarbeit den zentralen Bestandteil von CŒUR FIDÈLE, ebenso wie im Impressionismus insgesamt. Fast alle Szenen des Films sind mit sehr großer Tiefenschärfe gefilmt (was damals nichts Besonderes war - als deep focus cinematography mit Filmen wie DIE SPIELREGEL und CITIZEN KANE wieder in Mode kam, war das eigentlich schon ein alter Hut). Die hohe Tiefenschärfe ermöglicht es Epstein und seinen drei Kameramännern, gezielt partielle Unschärfe (nicht nur Bewegungsunschärfe) als Stilmittel einzusetzen. Es gibt auch ausgiebig Doppel- und Dreifachbelichtungen. Viele Szenenübergänge sind nicht als normale Schnitte, sondern als Überblendungen realisiert, auch andere weiche Übergänge wie Iris- und Wischblenden kommen zum Einsatz. Fast alle diese kameratechnischen Mittel dienen dazu, innere Zustände der Protagonisten zu visualisieren - Gedanken, Träume, Visionen, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen. Auch das ein allgemeines Charakteristikum der impressionistischen Filme. Verzerrende Spiegel oder Linsen dienen dazu, Petit Pauls subjektiven Blick im betrunkenen Zustand zu vermitteln (und in Epsteins FINIS TERRAE von 1929 den Blick eines an Blutvergiftung mit hohem Fieber Erkrankten). In anderen impressionistischen Filmen kommt auch Zeitlupe zum Einsatz. Die Betonung des Innenlebens korrespondiert mit einer hohen Zahl von Großaufnahmen in CŒUR FIDÈLE.

Kettenkarussell: Die Kamera fixiert Petit Paul und Marie, während der Hintergrund verschwimmt
Was den rasanten Schnitt betrifft, so hatte Abel Gance in seinem viereinhalbstündigen Eisenbahnepos LA ROUE neue Maßstäbe gesetzt. Zwar war das durchschnitliche Schnitttempo nicht übermaßig hoch, doch gab es wahre Ausbrüche, in denen das Tempo rasant anzog. Beispielsweise eine Sequenz, in der die Einstellungen nacheinander 11, 14, 7, 6, 5 und 6 Frames lang sind (die Zahlen entstammen dem profunden Film History. An Introduction von Bordwell & Thompson). Bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 oder 20 Bildern pro Sekunde, wie damals meist üblich, dauern die kürzesten dieser Einstellungen nur ungefähr eine Viertelsekunde. In einer Szene, in der ein Protagonist über einem Abgrund hängt und gleich in den Tod stürzen wird, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei - und jeder dieser Erinnerungsfetzen besteht aus nur einem einzigen Frame! Das war unerhört und ging über alles hinaus, was frühere Meister der Montage wie D.W. Griffith veranstaltet hatten. LA ROUE wurde denn auch neben Griffith zum wichtigsten Einfluss der sowjetischen Montage-Schule (und auch BORDERLINE mit seiner clatter montage wurde davon beeinflusst). Doch während die sowjetischen Meister um Eisenstein mit ihrer "intellektuellen Montage" Erkenntnisse über die äußere Welt vermitteln wollten, ging es Gance und seinen französischen Kollegen wiederum um das Innenleben der Protagonisten. CŒUR FIDÈLE war nun nach LA ROUE der zweite Film des Impressionismus, der sich der ultraschnellen Montage befleißigte. Zwar treibt es Epstein nicht ganz so wild wie Gance, aber in der Rummelplatzsequenz sind etliche Einstellungen auch gerade mal zwei Frames lang, und früher im Film gibt es in der Hafenkneipe auch schon einen wenn auch etwas gemäßigteren Ausbruch so eines Schnittgewitters. Nach diesen beiden Wegbereitern beinhalteten zwar nicht alle, aber doch recht viele weitere impressionistische Filme sehr dynamisch geschnittene Sequenzen, siehe etwa den ganz erstaunlichen Anfang von Kirsanoffs MÉNILMONTANT.

Der erste Kampf um Marie
Die Impressionisten bevorzugten einen zurückgenommenen, naturalistischen Schauspielstil, und der findet sich auch in CŒUR FIDÈLE. Nur Léon Mathot, der Darsteller von Jean, zeigt gelegentlich leichte Anflüge von Overacting, es hält sich aber immer in Grenzen. Dennoch scheint mir Mathot im Trio der Hauptdarsteller der Schwächste zu sein. Er wird allerdings auch ein bisschen vom Drehbuch benachteiligt. Petit Paul ist ein Widerling, aber auch ein dynamischer Charakter, und solange er nicht betrunken ist, strahlt er sogar ein gewisses Charisma aus. Im Vergleich zu ihm ist Jean fast ein Phlegmatiker, auch wenn er zweimal (in der Mitte und am Ende des Films) aus sich herausgeht. Trotzdem - 15 Jahre später hätte vielleicht Jean Gabin diese Rolle gespielt, und der hätte wesentlich mehr daraus machen können. Mathot (1885 [verschiedene Quellen nennen fälschlich 1886]-1968) war aber zu seiner Zeit ein populärer Darsteller, z.B. spielte er den Grafen von Monte Cristo in einem Serial von 1917/18. Später wechselte er ins Regiefach. - Edmond van Daële (1884-1960) alias Petit Paul war trotz seines holländisch klingenden Namens Franzose - eigentlich hieß er Edmond Jean Adolphe Minckwitz. Er spielte noch in zwei weiteren Filmen von Epstein, und in Gances NAPOLÉON gab er den Robespierre. Auch mit weiteren namhaften Regisseuren wie Maurice Tourneur und mehrfach Julien Duvivier und Marcel L'Herbier hat van Daële zusammengearbeitet. In der deutsch-französischen Coproduktion CAGLIOSTRO von Richard Oswald spielte er Ludwig XVI. - Gina Manès (1893-1989) schließlich kam in ihrer 50-jährigen Filmkarriere von 1916 bis 1966 auf rund 90 Filme. In NAPOLÉON spielte sie Kaiserin Joséphine de Beauharnais. In den späten 20er Jahren machte sie einige Abstecher in den deutschen Stummfilm, u.a. THÉRÈSE RAQUIN aka DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN! von Jacques Feyder, DIE TODESSCHLEIFE von Arthur Robison und DIE HEILIGE UND IHR NARR von und mit William Dieterle. Im Tonfilm wurden ihre Rollen kleiner, aber sie blieb im Geschäft. Unter ihren Auftritten waren etliche Filme von namhaften Exilanten wie DIVINE (Max Ophüls), MAYERLING (Anatole Litvak) und MOLLENARD (Robert Siodmak). 1955 hatte sie einen Auftritt im letzten Film von Preston Sturges, dessen Karriere da eigentlich schon längst vorbei war.

Jean schippt Kohlen und denkt dabei an Marie
Der 1897 in Warschau als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter geborene Jean Epstein war nicht nur Regisseur, sondern neben dem jung verstorbenen Louis Delluc auch der wichtigste Theoretiker der Impressionisten. Etliche Schriften der beiden drehten sich um den etwas schwammigen Begriff photogénie. Mit seiner wilden Künstlertolle, die auch Grafiker und Bildhauer inspiriert hat, war Epstein in den 20er Jahren eine markante Erscheinung. In seinen Filmen ging er mehrfach neue Wege. Im Gegensatz zu den Verfechtern des cinéma pur hielten die Vertreter des Impressionismus am narrativen Kino fest, aber mit seinem Kurzfilm LA GLACE À TROIS FACES entfernte er sich weiter von klassischen Erzählmustern als die meisten seiner Kollegen. Epsteins heute bekanntester Film (zumindest bei uns) ist wohl LA CHUTE DE LA MAISON USHER, entstanden im selben Jahr wie die Version von Watson & Webber dieses Werks von E.A. Poe. Mit USHER hat sich Epstein dem Surrealismus angenähert, und manche Szenen erinnern an den vier Jahre später entstandenen VAMPYR von C.T. Dreyer. Regieassistent und Mitautor des Drehbuchs war Luis Buñuel, doch Buñuel und Epstein zerstritten sich, und ihre Wege trennten sich schnell. Aber Buñuel hatte dabei soviel über das Filmhandwerk gelernt, dass er daraufhin mit Salvador Dalí zu seiner ersten Großtat UN CHIEN ANDALOU schreiten konnte.

Klatschweiber in Marseille
Epstein dagegen trieb das Konzept von USHER nicht weiter auf die Spitze, sondern machte eine radikale Kehrtwende. In seinem nächsten Film FINIS TERRAE verzichtet er bis auf die schon erwähnte Szene mit dem verzerrten Blick eines Fieberkranken komplett auf die gewohnten Kameratricks. Vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein proto-neorealistisches Drama, in der hintersten Bretagne (finis terrae = "Ende der Welt") mit einheimischen Laiendarstellern gedreht. Danach drehte Epstein noch mehrfach in der Bretagne. Seit den 30er Jahren konnte er nur mehr wenige Spielfilme realisieren, aber er drehte noch eine Reihe von Kurzfilmen, viele davon dokumentarisch. - Heute ist von den Impressionisten wahrscheinlich Abel Gance am bekanntesten, der nach den Großwerken J'ACCUSE! (keine Zola-Verfilmung, sondern eine Anklage des Ersten Weltkriegs) und LA ROUE mit dem Übergroßwerk NAPOLÉON noch eins draufsetzte. Aber die anderen Impressionisten, auch Epstein, sind außerhalb Frankreichs weniger bekannt, weil ihre Filme im Ausland wenig Erfolg hatten, und weil sie in den 30er Jahren von den Vertretern des Poetischen Realismus an Popularität weit übertroffen wurden. Aber CŒUR FIDÈLE kann man durchaus zu den Klassikern des französischen Kinos zählen.

Eine gesprächige Dame aus dem Hafenviertel
Weniger glorios verlief die Karriere von CŒUR FIDÈLE in Deutschland: Da wurde der Film nämlich verboten.

Entsittlichende Wirkung


Im November 1918 wurde mit dem Ende des Kaiserreichs auch die Zensur in Deutschland abgeschafft - jedenfalls auf dem Papier. Untergeordnete Behörden wie Polizeidirektionen konnten nach wie vor Filme verbieten (und taten es auch), aber einheitliche landesweite Verbote gab es nun nicht mehr, und das eröffnete einladende Schlupflöcher für "Sittenfilme" und "Aufklärungsfilme". Tatsächlich war die Zeit von Ende 1918 bis Mitte 1920 und nicht etwa die 60er und 70er Jahre die erste Blütezeit dieses Genres in Deutschland. Manche dieser Filme wollten tatsächlich aufklären oder eine progressive Sexualmoral (und eine entsprechende Gesetzgebung) propagieren (am bekanntesten wohl Richard Oswalds Homosexuellendrama ANDERS ALS DIE ANDERN), während die meisten eher spekulativ waren. So oder so - diese Filme waren natürlich den Konservativen in Gesellschaft und Politik (und auch dem einen oder anderen linken Kulturpessimisten) ein Dorn im Auge, und der Ruf nach einer speziellen Filmzensur wurde laut. So wurde auf Betreiben der Mitte-Rechts-Parteien von der Verfassunggebenden Nationalversammlung die Möglichkeit eines Zensurgesetzes in der Weimarer Verfassung verankert, und dieses Gesetz wurde dann als Reichslichtspielgesetz im Mai 1920 verabschiedet. Neben der Verbannung der "Schund- und Schmutzfilme" wurde damit auch eine politische Filmzensur etabliert, die im Verlauf der 20er Jahre immer rechtslastiger wurde.

Während Petit Paul keinen klaren Blick mehr hat, kümmert sich Marie um ihr Baby
Artikel 118 der Weimarer Verfassung (Fassung vom August 1919):
Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

§ 1 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz (Fassung vom Mai 1920):
Die Zulassung eines Bildstreifens erfolgt auf Antrag. Sie ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, daß die Vorführung eines Bildstreifens geeignet ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden. Die Zulassung darf wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher nicht versagt werden. Die Zulassung darf nicht versagt werden aus Gründen, die außerhalb des Inhalts der Bildstreifen liegen.

§ 3 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz:
Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist.

Die Nachbarin von Marie und Petit Paul
Nun musste also jeder Film (deutsche ebenso wie importierte ausländische) vor der Veröffentlichung einer der beiden in München und Berlin ansässigen Filmprüfstellen zur Genehmigung vorgelegt werden, als Revisionsinstanz gab es die Oberprüfstelle in Berlin. Diese Prüfstellen waren dem Reichsinnenministerium zugeordnet, und das Ministerium bestimmte auch über die personelle Besetzung. Die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle waren endgültig, der Gerichtsweg war nicht vorgesehen. Ein nicht zugelassener Film konnte jedoch gekürzt oder sonstwie verändert erneut zur Prüfung vorgelegt werden.

Der Schurke und seine Spießgesellen
Wenn die verschiedentlich zu findende Angabe stimmt, dass die Originallänge von CŒUR FIDÈLE 1990 Meter beträgt, dann war die für Deutschland bestimmte Fassung bereits stark gekürzt, denn deren Länge betrug zunächst 1577 Meter. Die fehlenden 413 Meter entsprechen bei der für den Film laut Booklet der Blu-ray vermutlich vorgesehenen Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde einer Dauer von etwas mehr als 20 Minuten. Diese Fassung von CŒUR FIDÈLE wurde nun unter dem vorgesehenen Titel HERZENSTREUE von einem Berliner Verleih am 7. März 1925 der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt und daraufhin auf Antrag eines der Beisitzer mit der Begründung "Exemplarischer Schundfilm, und daher seelisch verrohend" verboten. Gegen diese Entscheidung der Kammer legte der Vorsitzende Beschwerde ein (wie es wörtlich im Protokoll heißt), sowohl aus formalen wie auch aus inhaltlichen Gründen. Formal, weil der Begriff "Schundfilm" im Reichslichtspielgesetz nicht erwähnt war und deshalb kein gültiger Ablehnungsgrund sein konnte. Inhaltlich, weil die seelisch verrohende Wirkung nicht gegeben sei, u.a. weil "... das gute Prinzip am Ende siegt und das elende Leben Petit Pauls endet". Allerdings hielt der Vorsitzende, ein Regierungsrat Goetz, Schnitte für angebracht, "... besonders im letzten Akt jene Scenen, die das blutüberströmte Gesicht Petit Pauls zeigen".

Das hat dem Regierungsrat Goetz nicht gefallen
Am 12. März beriet die Film-Oberprüfstelle über die Beschwerde, wies diese jedoch ab. Zwar wurde dem formalen Teil stattgegeben: "Nach geltendem Recht bildet die Schundfilmeigenschaft eines Bildstreifens keinen Verbotsgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Mai 1920. Zu diesem Teil ist die Beschwerde begründet." Inhaltlich schloss man sich der Vorinstanz aber an, was folgendermaßen zusammengefasst (und jetzt formal korrekt formuliert) wurde: "Der Bildstreifen ist in hohem Masse [sic] geeignet, entsittlichend zu wirken. Das hat wohl auch die Prüfstelle zum Ausdruck bringen wollen, als sie ihn für geeignet erklärte, "seelisch verrohend" zu wirken." Und das wird dann noch ausführlich begründet. Folgende Formulierung ließ dem Verleih wenig Hoffnung: "Diese Wirkung geht von dem g e s a m t e n Bildstreifen [Hervorhebung im Protokoll der Sitzung], nicht nur von einzelnen Bildfolgen aus, von denen Teile der Kampfscenen, insbesondere das Ende Petit Pauls geeignet sind, verrohend zu wirken, sodass ein Teilverbot nach § 1 Abs. 3 [also eine Freigabe mit Schnittauflagen] nicht in Frage kommt."

Unschärfe - kein handwerklicher Fehler, sondern ein Stilmittel

Die im Beschauer schlummernden rohen Instinkte


Trotzdem machte der Verleih tapfer einen zweiten Versuch, kürzte CŒUR FIDÈLE um weitere 23 Meter (was bei einer Abspielgeschwindigkeit von 18 fps einer Dauer von 1:07 min entspricht) und legte ihn am 15. April erneut der Filmprüfstelle Berlin vor. Zwei der vier Beisitzer waren schon beim ersten Durchgang dabei gewesen (was anscheinend ungewöhnlich war, denn sie wurden vom Vorsitzenden ausdrücklich befragt, ob sie nicht befangen seien), die anderen beiden und der Vorsitzende der Kammer waren neu. Doch auch die gekürzte Fassung fiel durch und wurde verboten: "Der Gesamteindruck ist so verrohend, dass durch die Beseitigung einzelner roher Handlungen in der Wirkung nichts wesentliches geändert wird. Aus diesem Grunde sind die inzwischen vorgenommenen Kürzungen belanglos, wie auch weitere Ausschnitte die verrohende Wirkung nicht aufheben können, weil diese hervorgerufen wird durch den Gesamtinhalt der Handlung, durch die sich, wie ein roter Faden, die nackte brutale Gewalt hindurchzieht. [...] Es besteht die Gefahr, dass im Beschauer schlummernde rohe Instinkte ausgelöst werden, die andererseits durch die Geschehnisse keinerlei Dämpfung finden. [...] so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das allgemeine sittliche Niveau durch das Zeigen des Martyriums, das eine wehrlose Frau durch das brutale Verhalten eines gewissenlosen Mannes erleidet, herabgemindert und gesenkt wird."


Der bei der Sitzung anwesende Vertreter des Verleihs legte wiederum Beschwerde ein, so dass es am 22. April 1925 vor der Oberprüfstelle zur vierten und letzten Verhandlung über CŒUR FIDÈLE kam. Die Besetzung war identisch mit der vom 12. März (ob das üblich war, ist mir nicht bekannt). Und neuerlich wurde die Beschwerde abgeschmettert: "Das Verbot des Bildstreifens durch die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 12. März 1925 tat [sic] auf den Verbotsgrund der entsittlichenden Wirkung gegründet, die die Oberprüfstelle darin gesehen hat, dass der Gesamtinhalt des Bildstreifens derart herabziehend und auf das Gefühl des Beschauers abstumpfend wirke, dass von seiner Vorführung eine Verschlechterung des sittlichen Fühlens und Denkens zu besorgen sei. An dieser Feststellung wird durch die von dem Beschwerdeführer vor der Widervorlage [sic] des Bildstreifens gemachten wenigen Ausschnitte nicht [sic] geändert."

Überblendung
Während gemäß der zum Reichslichtspielgesetz erlassenen Gebührenordnung die erste Verbotsentscheidung samt Berufung gebührenfrei erfolgte, trug nach der zweiten Runde der Antragsteller (also der Verleih) die Kosten. Und damit war dann die Karriere von CŒUR FIDÈLE bzw. HERZENSTREUE in Deutschland beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Lexikon des internationalen Films kennt CŒUR FIDÈLE nicht, er lief also anscheinend auch nie in der Bundesrepublik und der DDR. Auf der Website des Österreichischen Filmmuseums in Wien wird CŒUR FIDÈLE als TREUES HERZ erwähnt. Ich weiß aber nicht, wann er diesen Titel verpasst bekam, und ob er zeitnah zu seiner Entstehung in Österreich lief.

Noch eine Überblendung
Die so ausgiebig bemühte "verrohende" und "entsittlichende" Wirkung eines Films war eine Universalkeule des Reichslichtspielgesetzes. Das Schöne daran (aus Sicht der Zensoren) war, dass man diese Wirkung gar nicht schlüssig nachweisen, sondern nur vermuten bzw. behaupten musste (darin der "sozialethischen Desorientierung" nicht unähnlich, vor der die heutige Bundesprüfstelle und weitere Gremien seit den 50er Jahren die gefährdungsgeneigte Jugend schützen zu müssen glauben). Das war auch so gewollt. Leiter der Oberprüfstelle war seit 1924 ein Oberregierungsrat Dr. Ernst Seeger, der auch die beiden Berufungsverhandlungen HERZENSTREUE betreffend als Vorsitzender leitete. Dr. Seeger war auch an der Abfassung des Reichslichtspielgesetzes beteiligt, und in einem 1923 von ihm verfassten Kommentar zum Gesetz kann man lesen: "Der Inhalt des Bildstreifens ist nur insoweit Gegenstand der Prüfung, als von ihm aus Schlüsse auf die mutmaßliche Wirkung bei der Vorführung auf den Beschauer zu ziehen sind" (Hervorhebung von mir). 1933 konnte Dr. Seeger, inzwischen zum Ministerialrat befördert, seine Laufbahn nahtlos im Propagandaministerium fortsetzen - "Die Lücke, die sein Tod im Reichspropagandaministerium gerissen hat, wird schwer auszufüllen sein", hieß es in einem Nachruf im Film-Kurier vom 18. August 1937. - Aus heutiger Sicht ist das Verbot von CŒUR FIDÈLE natürlich ein schlechter Witz, aber damals war das ein ganz normaler Vorgang, und meist ging sowas sang- und klanglos über die Bühne. Öffentlich ausgetragene Zensurskandale wie bei DIE FREUDLOSE GASSE, PANZERKREUZER POTEMKIN oder KUHLE WAMPE blieben die Ausnahme. - Wer sich die erbauliche Lektüre der famosen Filmprüfer gönnen will, findet hier die Sitzungsprotokolle verlinkt.

Links Dreifachbelichtung, rechts ein natürlicher Schleier im Bild
CŒUR FIDÈLE ist in England bei Masters of Cinema als Blu-ray/DVD-Combo mit ausgezeichneter Bildqualität erschienen. Eine französische DVD gibt es auch. Und für die, die mehr von Epstein sehen wollen, gibt es ebenfalls in Frankreich drei DVD-Boxen: "Jean Epstein - Première Vague" mit vier Filmen auf zwei DVDs, "Jean Epstein - Poème Bretons" mit seinen sieben bretonischen Filmen auf drei DVDs sowie (zu einem sehr gehobenen Preis) den "Coffret Jean Epstein" mit 14 Filmen auf acht Scheiben sowie einem beigelegten Buch.

Großaufnahmen ...
... und noch mehr Großaufnahmen

2 Kommentare:

  1. Für mich eine tolle Neuentdeckung, auch wenn mir Jean Epstein schon bekannt war. Die britische Edition habe ich gleich mal bestellt.
    An LE QUAI DES BRUMES musste ich denken, bevor ich auch nur ein einziges Wort gelesen hatte. Petit Paul / Edmond van Daele sieht dem späteren Jean Gabin schon auf dem ersten Screenshot unglaublich ähnlich – auch weiter unten, wie er die Zigarette im Mundwinkel hält. Und Epsteins Marseiller (bzw. Manosque‘er) Hafen sieht dem Carné‘schen Hafen von Le Havre auch verdächtig ähnlich. Da LE QUAI DES BRUMES einer meiner liebsten Filme ist, freue ich mich umso mehr auf COEUR FIDÈLE.
    Der Abschnitt zur Zensur in Deutschland ist sehr aufschlussreich, die Kontinuitäten heutiger Zensurpraktiken (über die Hans Schmid ja immer wieder ausführlich und engagiert schreibt) zu jenen der 1920er Jahre erschreckend. Bis hin zur mangelhaften Rechtschreibung bei den Protokollen.

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  2. Ja, über die mangelhafte Rechtschreibung hat Hans Schmid in der Tat auch schon berichtet. Ob das nun die FSK oder die BPjM war - die Kontinuität ist gegeben. In der Frühzeit in den 50er Jahren wurden ja auch so furchtbare Dinge wie ein Tarzan-Comic auf den Index gesetzt, wegen der im Beschauer schlummernden rohen ... äh, wegen der sozialethischen Desorientierung.

    Der Hafen ist tatsächlich der von Marseille (in Manosque gibt es keinen, das liegt im Hinterland), aber wahrscheinlich sahen Industriehäfen damals überall gleich aus. Wobei ich jetzt nicht weiß, wo Carné gedreht hat - vielleicht wirklich in Le Havre.

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