Sonntag, 1. Januar 2017

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt [und hier ist er schon]). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt [schon da], will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

2 Kommentare:

  1. Eine schöne Zusammenstellung für die Überbrückung. Die Jones-Shell-Filme hatte ich mir vor knapp drei Jahren im Zuge deines Artikels angeschaut und die sind auch bei der Neusichtung richtig toll. GLAS hat mich richtig begeistert (SPIEGEL VAN HOLLAND ebenso), nicht nur wegen der Bilderpoesie und Musikalität, sondern auch wegen der menschlichen Note: en passant die Kleinportraits der Glasbläser; der Zwischenfall, der von menschlicher Hand gelöst werden muss. Die Bert-Haanstra-Compleet-Box habe ich mir gleich mal vorgemerkt.
    Jetzt schau ich – ach ja, das Schneeballsystem – erst noch mal bei deinem älteren Artikel zu VENEDIG vorbei, dann zu deinem anderen Steinwendner-Artikel (den ich tatsächlich noch nicht kenne). Unsere Leser müssen also noch ein bisschen länger auf den Rückblick warten ;-)

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    1. Ich fürchte, Du musst den Artikel über VENEDIG gleich nochmal lesen, denn er ist jetzt doppelt so lang wie vorher, was den Text betrifft. Von Dir angeregt, hab ich auch nochmal reingeschaut, dann ein bisschen gegoogelt und einen kleinen Fehler korrigiert ...

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