Dienstag, 2. Februar 2021

Eine Seuche aus China und der Faschismus

BÍLÁ NEMOC (DIE WEISSE KRANKHEIT)
Tschechoslowakei 1937
Regie: Hugo Haas
Darsteller: Hugo Haas (Dr. Galén), Zdeněk Štěpánek (der Marschall), Bedřich Karen (Prof. Sigelius), Václav Vydra (Baron Krog), František Smolík (Krogs Buchhalter), Helena Friedlová (dessen Frau), Ladislav Boháč (Pavel Krog), Karel Dostal (Propagandaminister)

Wir befinden uns im Jahr 1937 in einer ungenannten und halb fiktiven europäischen Großmacht, die aber Parallelen zu Nazi-Deutschland aufweist. Das Land wird diktatorisch regiert von einem Marschall, dessen Name ungenannt bleibt und auch unwichtig ist - "der Marschall" ist im Film so eindeutig wie in der damaligen Realität "der Führer" oder "der Duce". Abgesehen von seinen Uniformen erinnert der Marschall äußerlich nicht sehr an Mussolini oder Franco und gar nicht an Hitler, eher an Juan Perón (der aber erst in den 40er Jahren die große Bühne betrat). Doch der Diktator verfolgt eine aggressive Aufrüstungspolitik, die in die Eroberung neuen "Lebensraums" münden soll, wie er in Reden vor den jubelnden Massen ganz unverblümt verkündet. Es wird nicht explizit gesagt, dass dieser Lebensraum "im Osten" liegen soll, aber die Parallele zu Hitlers Eroberungspolitik ist trotzdem offensichtlich. Erstes Ziel soll ein kleines und scheinbar wehrloses Nachbarland sein, das auch nicht namentlich genannt wird, in dem man aber zwanglos die damalige Tschechoslowakei erkennen kann. Eine wichtige Stütze der militärischen Pläne ist der Rüstungsindustrielle Baron Krog, der in seinen Fabriken nicht nur Flugzeuge und Panzer, sondern auch Giftgas produzieren lässt. Sein Neffe Pavel ist der Adjutant und zukünftige Schwiegersohn des Marschalls - die Allianz der deutschen Schwerindustrie (Krupp, Flick, Thyssen etc.) mit Hitler lässt grüßen.

Der Marschall hält eine Rede; der Zivilist links ist der Propagandaminister, der natürlich an Goebbels erinnert
BÍLÁ NEMOC ist also eine politische Allegorie auf die damaligen Zeitumstände, aber es gibt einen wichtigen zusätzlichen Punkt: Es grassiert eine tödliche Pandemie, die ihren Ursprung in China hat. Offiziell heißt die Krankheit Morbus Chengi, nach dem chinesischen Wissenschaftler, der sie in Peking erstmals nachgewiesen und beschrieben hat. Doch allgemein wird sie "die Weiße Krankheit" genannt, nach dem ersten Symptom: kleine weiße Flecken auf der Haut, in denen die Sinnesrezeptoren abgestorben sind. Die Flecken vergrößern sich, und die Haut und das Gewebe darunter gehen ähnlich wie bei Lepra in Verwesung über, was üblen Gestank und heftigste Schmerzen verursacht und in wenigen Monaten zum sicheren Tod führt. Anders als eine wohlbekannte heutige Pandemie wird die Weiße Krankheit von Bakterien verursacht. Sie befällt aber nur Personen ab einem Alter von ungefähr 45 bis 50, die Jüngeren sind immun. Ein Heilmittel gibt es nicht, und Prof. Sigelius, Leiter einer großen Klinik und wichtigste medizinische Autorität im Land, empfiehlt zur Behandlung nur Desinfektionsmittel gegen die Geruchsbelästigung und Morphium für die Kranken im Endstadium. Der Marschall aber spielt die Seuche herunter und wähnt sich immun, gewissen heutigen Staatenlenkern nicht unähnlich.

Prof. Sigelius - in seiner Klinik ein Diktator im Kleinen
Die Lage ändert sich, als der einfache Hausarzt Dr. Galén (der Name ist eine Referenz an Galen, neben Hippokrates berühmtester Arzt der Antike) in der Klinik von Prof. Sigelius vorstellig wird. Er hat nämlich als bislang einziger doch ein Heilmittel für die Seuche entdeckt und in seiner Armenpraxis erfolgreich angewendet. Nur sehr mühsam kann er den arroganten Professor, der gegenüber seinen Untergebenen und dem einfachen Arzt Galén selbstherrlich und gegenüber dem Marschall subaltern auftritt, davon überzeugen, in der Klinik einen kontrollierten Versuch mit dem Medikament zu gestatten. Doch dieser gerät zu einem vollen Erfolg, der auch dem Marschall nicht verborgen bleibt, und Sigelius sonnt sich in dem Erfolg. Es gibt aber einen Haken. Dr. Galén hatte sich ausbedungen, die Kranken in der Klinik selbst zu behandeln, und er weigert sich, die Rezeptur des Heilmittels an den Professor oder sonst irgendwen zu verraten. Genauer gesagt, er knüpft es an eine Bedíngung: Erst wenn der Marschall und andere bedeutende Staatschefs dem Militarismus abschwören und eine allgemeine Friedensordnung ausrufen, wird er seine Formel der Öffentlichkeit übergeben. Bis dahin wird er neben der genau bemessenen Zahl der Versuchspatienten in der Klinik nur die Armen in seiner Praxis behandeln. Als Galén in der Klinik einer Abordnung von Journalisten von seiner Bedingung berichtet, wird er vom erbosten linientreuen Sigelius hinausgeworfen und zieht sich erst mal in seine Praxis zurück.

Dr. Galén
Parallel zu diesen Entwicklungen hat der Film auch die Geschichte eines Angestellten von Baron Krog verfolgt. Zunächst nur ein kleines Licht, rückt er zum Chefbuchhalter auf, weil gleich eine Reihe seiner Vorgänger in dieser Position der Weißen Krankheit erlegen sind. Der Mann ist ein reaktionärer Kleinbürger, ein Mitläufer par excellence, der auch die Kriegspläne des Herrschers voll und ganz unterstützt. Erst als er bemerkt, dass seine Frau einen jener weißen Flecken vor ihm verborgen hält, setzt langsam ein Umdenken bei ihm ein, und schließlich landet er mit seiner Frau in Galéns Praxis. Noch jemand findet sich dort ein, nämlich inkognito Baron Krog. Der hat nämlich auch einen weißen Fleck an sich entdeckt und will sich die rettende Behandlung erschleichen, indem er einen Armen mimt. Dr. Galén bestätigt die niederschmetternde Diagnose, aber er durchschaut Krogs Schwindel und weigert sich, ihn zu kurieren. Der bricht daraufhin regelrecht zusammen und fleht den Marschall an, seine Kriegspläne aufzugeben. Als der sich natürlich weigert, erschießt sich der Baron. Kurz darauf beginnt der Einmarsch in das Nachbarland, doch der Widerstand dort ist erheblich größer als erwartet und zumindest vorerst nicht erfolglos. Und dann bemerkt der Marschall, dass auch er gegen alle seine Erwartungen von der Weißen Krankheit befallen ist. Im Handumdrehen ist nun alles anders: Der Marschall ruft seine Truppen zurück, lässt eine Friedensvereinbarung aufsetzen und ruft Dr. Galén zu sich. Doch der läuft direkt vor dem Präsidentenpalast einem aufgebrachten Mob in die Hände, der die neue Situation noch nicht begriffen hat ...

Der Marschall und Baron Krog, Partner im Geschäft und in der Politik
BÍLÁ NEMOC entstand in den Prager Barrandov-Studios, in den 30er Jahren das Zentrum der florierenden tschechoslowakischen Filmindustrie. Der Film beruht auf dem gleichnamigen dreiaktigen Bühnenstück von Karel Čapek (der auch die Vorlage für KRAKATIT geliefert hatte), das im Januar 1937 in Prag Premiere hatte, fünf Monate lang aufgeführt wurde und auch erfolgreich im europäischen Ausland lief - aber natürlich nicht in Deutschland. Der deutsche Gesandte in Prag fühlte sich sogar zu einer Protestnote bemüßigt. Der im mährischen Brünn/Brno geborene Hugo Haas (1901-1968) war damals sowohl als Schauspieler wie auch als Regisseur beliebt und erfolgreich. Haas als Dr. Galén, Zdeněk Štěpánek als der Marschall und Bedřich Karen als Prof. Sigelius (und vielleicht noch weitere Darsteller) hatten ihre Rollen schon auf der Prager Bühne gespielt und wiederholten sie dann im Film, den Haas auch inszenierte (im Gegensatz zur Bühnenfassung, bei der Karel Dostal, der Propagandaminister im Film, Regie führte). Der Film hält sich weitgehend an die Vorlage und er kam im Dezember 1937 in die Kinos. Haas inszenierte ohne größere filmische Höhepunkte, aber auch ohne größere Schwächen, und allein schon als zeitgeschichtliches Dokument ist er allemal noch sehenswert. Nur eine gewisse Naivität oder grundlosen Optimismus könnte man im Rückblick bemängeln - wenn doch nur alle Kriegstreiber und Faschisten so schnell umfallen würden wie der Baron und der Marschall ... Bekanntlich entwickelten sich die Dinge in der echten Tschechoslowakei schlechter als in ihrem halb-fiktiven Filmgegenstück. Der aus einer jüdischen Familie stammende Hugo Haas floh in die USA (sein Vater und sein Bruder Pavel, ein Komponist, wurden von den Nazis ermordet) und kam in Hollywood unter, vorerst aber nur als Schauspieler. Erst 1951 hatte er so viel Geld angespart, dass er eine kleine Produktionsfirma gründete und wieder als unabhängiger Regisseur, Produzent und sein eigener Hauptdarsteller arbeiten konnte. Es handelte sich dabei durchweg um Billigproduktionen, die aber interessant gestaltet waren und heute einen guten Ruf genießen, auch wenn sie damals wenig beachtet wurden. Seinen Lebensabend verbrachte Hugo Haas dann in Österreich, er starb 1968 in Wien.

Der Marschall besucht die Klinik, und das Personal steht stramm
BÍLÁ NEMOC wurde 2016 in einer internationalen Zusammenarbeit vom Nationalen Filmarchiv Prag und vom Ungarischen Filmlabor in Budapest mit Geldmitteln aus weiteren Ländern digital restauriert. Diese Version ist in sehr guter Qualität und mit wahlweisen englischen Untertiteln auf einem YouTube-Kanal, der vom Nationalen Filmarchiv Prag gemeinsam mit weiteren Institutionen betrieben wird, ansehbar, wird dort aber unerquicklich oft von Werbung unterbrochen. Die restaurierte Fassung ist auch einzeln und zusammen mit KRAKATIT auf Blu-ray erhältlich, und es gibt auch ältere DVDs, ebenfalls einzeln und zusammen mit KRAKATIT.

2 Kommentare:

  1. Ich hab den Film gestern auf dem erwähnten Youtube-Kanal geschaut. Er hat mir sehr gut gefallen. Ich finde ihn auch sehr schön fotografiert, die Credits gehen hier an Otto Heller, der später PEEPING TOM und THE IPCRESS FILE fotografiert hat (in einem Bild wird Baron Krog durch eine geflochtene Sessellehne gefilmt – das schien mir in einem kurzen Moment den visuellen Wahnwitz des letztgenannten vorweg zu nehmen). Sehr beeindruckend die Rückblende mit Galens befreundeten Arzt Martin, die nicht durch einen Schnitt entsteht, sondern durch die Änderung des Hintergrundes: da habe ich zweimal verblüfft und begeistert wieder zurückgespult.

    Der Film hat tatsächlich viel Naivität, ist aber doch auch in seinem "Happy End" ambivalent: am Ende wird der Frieden vom Diktator genau so verkündet wie der Krieg, an der politischen Kultur ändert sich nichts (davon zeugt ja dann auch das Schicksal Galens in den Händen des wütenden Mobs).

    "Abgesehen von seinen Uniformen erinnert der Marschall äußerlich nicht sehr an Mussolini oder Franco und gar nicht an Hitler, eher an Juan Perón"
    als zeitgenössischer Vergleich würde sich mit entfernter Ähnlichkeit noch Admiral Horthy (Ungarn) anbieten, aber ja, auch durch die prominente Nutzung von Beethovens neunter Sinfonie im Vorspann wird der Zuschauer sehr "teutonisch" auf den Film eingestimmt.

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    1. War mir gar nicht aufgefallen, dass da mit Otto Heller noch einer dabei war, der dann im Westen (hier England) lebte und arbeitete. Dabei habe ich sogar einen seiner Filme (RICHARD III.) auf DVD. Die letzte Sichtung der Harry-Palmer-Filme liegt aber schon etwas zurück, so dass ich da etwaige Parallelen nicht mehr parat habe.

      Stimmt, der "Reichsverweser" Horthy war auch so ein Typ.

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