Sonntag, 2. Januar 2022

2021 im persönlichen Rückblick


Und wieder ein Jahr vorbei... Ein wieder nicht so schönes Jahr, in dem größere auswärtige Kinoveranstaltungen pandemiebedingt Juli bis Anfang November stattfanden, während in den ersten Monaten Filme ausschließlich im Heimvideoformat stattfanden.

Trotzdem vieles gesehen, viel Neues und Spannendes entdeckt, das es in ein paar kommentierten Listen aufzuarbeiten gilt.



Russische Filmleute in Frankreich: Albatros


Ivan Mosjoukine und Nathalie Lissenko in LE BRASIER ARDENT

Ein Ohrenleiden Mitte Januar machte mich für einige Tage extrem geräuschempfindlich und brachte mich auf die Idee, ein Wochenende mit komplett tonlos abgespielten Stummfilmen zu verbringen. Die Mediathek der Cinemathèque Française enthält so einige Schätze, ein Zufallstreffer mit Ivan Mosjoukines völlig wahnwitzigem LE BRASIER ARDENT verführte mich dazu, die Spur von Mosjoukine und der wunderbaren Nathalie Lissenko weiter zu verfolgen.

Die Produktionsfirma Albatros im Pariser Vorort Montreuil, gegründet 1922 und betrieben von exilierten Filmleuten aus Russland, entwickelte sich im Laufe der 1920er Jahre zu einer der erfolgreichsten Studios in Frankreich. Neben dem Stammpersonal von russischen bzw. russländischen Emigranten kamen auch nach und nach französische Filmleute dazu, wie zum Beispiel Jean Epstein, Marcel L'Herbier und Jacques Feyder.

LE BRASIER ARDENT blieb der einsame Höhepunkt (mehr dazu weiter unten). Die turbulente Komödie PARIS EN CINQ JOURS von Nicolas Rimsky und Pierre Colombier war eine recht kurzweilige Unterhaltung. Epsteins LE LION DES MOGOLS und LE DOUBLE AMOUR hatten einige interessante Momente, sind mir allerdings nicht als besonders außergewöhnlich in der Erinnerung geblieben. Der in seiner Inszenierung sehr verspielte, teils regelrecht verrückte und seinen fast drei Stunden auch sehr verschlungen-bizarr erzählte FEU MATHIAS PASCAL von Marcel L'Herbier nahm in meiner kleinen und natürlich sehr unvollständigen Albatros-Retrospektive den zweiten Platz ein.


Ranking der gesehenen Filme:


1. LE BRASIER ARDENT (Ivan Mosjoukine: Frankreich 1923)

2. FEU MATHIAS PASCAL (Marcel L'Herbier: Frankreich 1926)

3. PARIS EN CINQ JOURS (Nicolas Rimsky, Pierre Colombier: Frankreich 1926)

4. LE LION DES MOGOLS (Jean Epstein: Frankreich 1924)

5. LA TOUR (René Clair: Frankreich 1928)

6. HARMONIES DE PARIS (Lucie Derain: Frankreich 1929)

7. LE DOUBLE AMOUR (Jean Epstein: Frankreich 1925)





Liebeleien und Operetten: Filme von und/oder mit Willi Forst


Willi Forst mit dem damals unbekannten Curd Jürgens in WIENER MÄDELN

Das Filmarchiv Austria veranstaltete im Frühjahr zwei parallele Retrospektiven in ihrer Mediathek: einmal zu Regisseur-Autor-Produzent-Darsteller-Sänger Willi Forst, einmal zum Kino deutscher Emigranten im Österreich der 1930er Jahre (wobei sich das Personal in beiden Retrospektiven manchmal doppelte).

Die Erkenntnis, dass der Willi Forst, der in Gustav Ucickys CAFÉ ELEKTRIC von 1927 als Ganove versucht, Marlene Dietrich auf den Strich zu schicken, die gleiche Person ist, die 1951 den sublimen DIE SÜNDERIN inszeniert ist, kam mir erst später! Doch wenn man sich dann einige Filme anschaut, schält sich doch eine kleine Ikone der HK-Relevanz heraus (ein Double-Feature aus MASKERADE und WIENER MÄDELN beim Hofbauer-Kongress würde ein dankbares Publikum finden).

Forst ist als Darsteller, Selbstdarsteller und Sänger natürlich bereits eine Attraktion für sich: wer nicht aufpasst, übersieht leicht, was für ein eigensinniger und ausdrucksstarker Regisseur er ist. In der Mobilität der Kamera, in dem fetischistischen Blick für kleine Details braucht er den Vergleich mit Max Ophüls oder Alfred Hitchcock nicht zu scheuen. Man siehe sich nur eine Szene in MASKERADE an, in der eine Frau einen Mann erschießt, der ihr gerade Konfekt aus einer Tüte anbietet: der Schuss fällt, die Hand mit der Konfekttüte senkt sich langsam, die Süßigkeiten fallen heraus und verstreuen sich (wie Bluttropfen) auf dem Schnee des Gehwegs.

Wenn Forst nach Hollywood gegangen wäre, hätte er mit seinen Screwball-Komödien das Genre vielleicht neu geschrieben – oder zumindest Hawks den Schreck seines Lebens eingejagt mit dem irrsinnigen Tempo. Die Partnertausch-/Ehesimulations-Komödie ALLOTRIA mit einem absoluten Wirbelsturm von einem Adolf Wohlbrück (um mit ihm mitzuhalten muss Heinz Rühmann schon einen Rennfahrer spielen!) hätte ein Screwball-Comedy-Ground-Zero werden können.


Ranking der gesehenen Forst-Filme:


1. Allotria (Willi Forst: Deutschland 1936)

2. Der Prinz von Arkadien (Karl Hartl: Österreich/Deutschland 1932)

3. Maskerade (Willi Forst: Österreich 1934)

4. Leise flehen meine Lieder (Willi Forst: Österreich/Deutschland 1933)

5. Wiener Mädeln (Willi Forst: Österreich/Deutschland 1949)

6. Bel Ami (Willi Forst: Deutschland 1939)

7. Café Elektric (Gustav Ucicky: Österreich 1927)

8. Burgtheater (Willi Forst: Österreich 1936)

9. Wiener Blut (Willi Forst: Deutschland 1942)



Ars amandi: Filme von und mit Emmanuel Mouret


Édouard Baer und Cécile de France in MADEMOISELLE DE JONCQUIÈRES

Eine Werkschau mit sechs Filmen in der arte-Mediathek und eine große Empfehlung eines Bekannten (vielen Dank, Christian!) brachten mich also zu Emmanuel Mouret.

Immer wieder werden Mourets Filme mit jenen von Éric Rohmer verglichen: beide inszenieren dialogreiche Komödien rund um die Liebesgeschichten ökonomisch gutsituierter, lebensweltlich etwas orientierungsloser Menschen... Damit wird man glaube ich beiden Regisseuren kaum gerecht, nicht nur, weil beide jenseits der Liebeskomödie tätig waren.

Rohmers Charaktere wirken immer etwas steif, weil sie wie Figuren aus einem Roman des 19. Jahrhunderts sprechen (und diese bizarre Diskrepanz macht auch den Charme vieler von Rohmers Filmen aus). Mourets Charaktere wirken steif, weil sie Träumer sind... oft auch etwas tollpatschige und furchtbar schüchterne Träumer – worin sich wiederum ein Vergleich zu den drei Regisseuren auftut, die Mouret besonders bewundert: Keaton, Chaplin und Tati. In einer langen Szene von FAIS-MOI PLAISIR! hinterlässt Mouret (der Darsteller) unbemerkt eine Schneise der Zerstörung in einem großen Appartment, wo gerade eine sehr schicke Feier abgehalten wird (unter anderem klemmt er die Spitze eines edlen Vorhangs in seinen Hosenstall). Post-Keaton'sche Poesie at its best – garniert mit einem schallenden Gelächter.

In diesem französischsprachigen Artikel findet sich vielleicht ein Schlüssel für das Verständnis von Mourets Filmen: neben der reinen Lust ist bei Liebesdingen auch Komplizität ein wichtiger Bestandteil. Mourets beste Filme sind in diesem Sinne nicht nur Liebeskomödien, wenn man auch will Sexkomödien, sondern auch Buddy-Movies. Besonders toll funktioniert die Liebeschemie und die Buddy-Chemie zwischen Mouret (als Darsteller) und der großartigen Frédérique Bel in CHANGEMENT D'ADRESSE, UN BAISER S'IL VOUS PLAÎT und FAIS-MOI PLAISIR!. 

Jenseits der Pariser Liebeskomödie, in der Mouret schlichtweg ein Meister ist, hat er sich auch mit mehr oder minder großem Erfolg an anderen Genres versucht. Mäßig geglückt, wenn auch trotzdem noch interessant sein Melodrama um die Affäre zwischen einer trauernden Konzertpianistin und einem Sicherheitsanlageninstallateur UNE AUTRE VIE. Wesentlich faszinierender sein Kostümfilm MADEMOISELLE DE JONCQUIÈRES, in dem eine enttäuschte Adelige sich auf besonders perverse und perfide Art und Weise an ihren ehemaligen Liebhaber rächt.


Ranking der acht gesehenen Filme:


1. FAIS-MOI PLAISIR! (Emmanuel Mouret: Frankreich 2009)

2. UN BAISER S'IL VOUS PLAÎT (Emmanuel Mouret: Frankreich 2007)

3. MADEMOISELLE DE JONCQUIÈRES (Emmanuel Mouret: Frankreich 2018)

4. CHANGEMENT D'ADRESSE (Emmanuel Mouret: Frankreich 2006)

5. L'ART D'AIMER (Emmanuel Mouret: Frankreich 2011)

6. CAPRICE (Emmanuel Mouret: Frankreich 2015)

7. UNE AUTRE VIE (Emmanuel Mouret: Frankreich 2013)

8. VÉNUS ET FLEUR (Emmanuel Mouret: Frankreich 2004)



75. Jubiläum der DEFA / 1. Sonnensucher-Festival des DEFA-Films, Nürnberg


Eva-Maria Hagen, Claus Jurichs und Anna Prucnal in der Musical-Sexkomödie REISE INS EHEBETT

Die DEFA feierte 2021 ihr 75. Jubiläum. Grund genug für ARD/mdr, eine ganze Palette an DEFA-Filmen im Frühling in der Mediathek hochzuladen. Und Grund genug für einen Teil des Hofbauer-Kommandos, im Nürnberger KommKino das 1. Sonnensucher-Festival des DEFA-Films auszurichten, bei dessen Kuration ich beratend mitwirken durfte: dort alleine liefen noch 11 Langfilme, viele von ihnen begleitet von Kurzfilmen, alle auf 35mm. Ungerechnet aller Kurzfilme habe ich dieses Jahr 34 DEFA-Filme, zwischen 1948 (vor Gründung der DDR) und 1991 (nach Ende der DDR) gesehen und damit meine klaffenden Wissenslücken in Bezug auf das Kino der DDR ein klein wenig mehr geschlossen.


Als 10 große Höhepunkte würde ich folgende Filme auswählen, geordnet nach chronologischer Sichtungsreihenfolge (+ gesehen beim Sonnensucher-Festival / * keine Erstsichtung):


HÄNDE HOCH ODER ICH SCHIESSE (Hans-Joachim Kasprzik: DDR 1966/2009)

COMING OUT (Heiner Carow: DDR 1989)*

REISE INS EHEBETT (Joachim Hasler: DDR 1966)+

GELIEBTE WEISSE MAUS (Gottfried Kolditz: DDR 1964)

GOYA ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS (Konrad Wolf: DDR/Sowjetunion 1971)

VORSPIEL (Peter Kahane: DDR 1987)

CHEMIE UND LIEBE (Arthur Maria Rabenalt: Deutschland/SBZ 1948)+*

DER PRINZ HINTER DEN SIEBEN MEEREN (Walter Beck: DDR 1982)+

HOSTESS (Rolf Römer: DDR 1976)+

DER ÜBERGANG (Orlando Lübbert: DDR 1978)+


Zusätzlich noch den besten Kurzfilm:

ROCK 'N' ROLL (Jörg Foth: DDR 1987)+


Zu einigen Filmen gibt es weiter unten dann ein wenig mehr zu lesen.



"The Future's Not Ours To See": Filme mit Doris Day


Doris Day in LOVER COME BACK...
... in CALAMITY JANE
... in PLEASE DON'T EAT THE DAISIES mit David Niven
... und beim Kicken in DO NOT DISTURB (mit Sergio Fantoni; sehr schön: die lebensbejahenden Graffiti im Studio-Paris)


Hätte mir jemand vor 15 Jahren gesagt, dass ich eines Tages eine recht große, teils regelrecht obsessiv durchgeführte (wenn auch nicht vollständige) Privat-Retrospektive zu Doris Day machen würde – ich hätte dieser Person damals zweifelsohne ins Gesicht gelacht. Doris Day? Die Schnulzensängerin, die mit peinlichen Songs HItchocks THE MAN WHO KNEW TOO MUCH kaputt macht?

Mit dem Alter kommt die Weisheit! Und die Erkenntnis der eigenen "Bildungslücken". Die Doris-Day-Rock-Hudson-Komödien zum Beispiel waren lange Zeit eine solche, und im Rahmen meines im November 2020 gegen die Tristesse des Kultur-Lockdown eingeführten "Comedy Sunday" (eine Institution, die auch die Kinoneueröffnungen im Juli 2021 überlebt hat) waren auch diese Filme fällig! PILLOW TALK und LOVER COME BACK haben mich nicht nur schwer begeistert, sondern mir auch gezeigt, was für eine tolle Schauspielerin und tolle Komödiantin Doris Day ist (dass Rock Hudson nicht nur Melodrama kann, sondern auch Komödie, wusste ich ja bereits). Mein Vorhaben, mich mehr mit Rock Hudson als Komödiant zu beschäftigen, schlief nach einigen Filmen wieder ein: nicht aus Widerwillen (ganz im Gegenteil), sondern weil das Parallelvorhaben Doris Day rasch begann, alles andere, was nach planmäßiger Retrospektive klang, zu verdrängen.

Ihr eigensinniger Sexappeal, ihr Lächeln, ihr tolles Augenverdrehen (wahrscheinlich kann niemand so dermaßen angepisst die Augen verdrehen wie Doris Day!) und viele Rollen, die mit einfachen Kategorisierungen nicht zu greifen sind, machten Doris Day zu meiner persönlichen Filmperson des Jahres 2021 (nachdem Sam Firstenberg 2020 wohl diese Position innehatte).

Es gibt in MOVE OVER, DARLING einen Moment, in dem sie nach jahrelanger Abwesenheit ihre zwei Töchter wieder sieht, die sie nur als Babies kannte und dadurch in starke Rührung kommt: eigentlich eine Szene von geradezu ohrenbetäubender Drehbuchrascheligkeit und manipulativer Kitschigkeit, aber Day schafft es, ohne Worte, nur mit ihrer Mimik, ein ganzes Universum an Gefühlen aufzumachen.


Day als Ellen Arden in MOVE OVER, DARLING

Am Ende führen tatsächlich die beiden ersten Day-Hudson-Filme die Tops meiner Retrospektive an, neben der wunderbaren Ehekrise-durch-Umzug-Komödie mit David Niven PLEASE DON’T EAT THE DAISIES, dem proto-queeren Western-Musical CALAMITY JANE (mit Allyn McLerie als unausgesprochenem Love-Interest) und die zwei recht wahnwitzigen Tashlin-Farcen. Der als Day-Klassiker sehr bekannte und offenbar auch sehr beliebte MIDNIGHT LACE hat mich hingegen eher kalt gelassen, und das Wiedersehen von THE MAN WHO KNEW TOO MUCH hat mich verblüffend unterwältigt, was nicht an Day lag, sondern an der schleppenden Dramaturgie (den Marokko-Prolog hatte ich als wesentlich kürzer, und nicht als 50-Minüter in Erinnerung – die Royal-Albert-Hall-Sequenz ist natürlich trotzdem großartig).


Noch verdreht sie nur genervt die Augen, später wird es schlimmer: Day als Ruth Etting mit James Cagney in LOVE ME OR LEAVE ME

Ihre außergewöhnlichste Rolle erlebte ich in ihrer Darstellung der Sängerin Ruth Etting in LOVE ME OR LEAVE ME: für einen Mainstream-Hollywood-Film aus den 1950er Jahren eine verblüffend rohe, brutale Darstellung toxischer Männlichkeit und toxischer Beziehungen. Ein Film, in dem James Cagney als Gangster Martin Snyder Doris Day als Ruth Etting zunächst aufdringlich stalkt, schließlich vergewaltigt und in eine von paranoidem Wahnsinn geprägten Ehe zwingt. Die Wandlung Days von der selbstbewussten Sängerin mit einem scharfen Spruch auf den Lippen zur alkoholischen Fatalistin mit glasigen, ausgelöschten Augen, die nur noch zynische Halbsätze vor sich hinmurmelt, ist absolut beängstigend und großartig.


Die Tops:


LOVER COME BACK (Delbert Mann: USA 1961)

PILLOW TALK (Michael Gordon: USA 1959)

PLEASE DON’T EAT THE DAISIES (Charles Walters: USA 1960)

CALAMITY JANE (David Butler: USA 1953)

THE GLASS BOTTOM BOAT (Frank Tashlin: USA 1966)

CAPRICE (Frank Tashlin: USA 1967)



Harter, verstörender Tobak:


LOVE ME OR LEAVE ME (Charles Vidor: USA 1955)



Sehr unterhaltsam: 


MOVE OVER, DARLING (Michael Gordon: USA 1963)

DO NOT DISTURB (Ralph Levy: USA 1965)

THAT TOUCH OF MINK (Delbert Mann: USA 1962)



Ganz gut:


SEND ME NO FLOWERS (Norman Jewison: USA 1964)

THE THRILL OF IT ALL (Norman Jewison: USA 1963)

TEACHER’S PET (George Seaton: USA 1958)

IT HAPPENED TO JANE (Richard Quine: USA 1959)

BILLY ROSE'S JUMBO (Charles Walters: USA 1962)



Geht so:


YOUNG AT HEART (Gordon Douglas: USA 1955)

THE MAN WHO KNEW TOO MUCH (Alfred Hitchcock: USA 1956)

YOUNG MAN WITH A HORN (Michael Curtiz: USA 1950)

MIDNIGHT LACE (David Miller: USA 1960)



Für wirklich sehr fortgeschrittene, sehr hartgesottene Day-Liebhaber:


WITH SIX YOU GET EGGROLL (Howard Morris: USA 1968)



35mm-Veranstaltungen des Film e.V. Jena


KRONIKA WYPADKÓW MIŁOSNYCH von Andrzej Wajda war der Film, der für mich persönlich am 7. Juli 2021 den Kino-Lockdown beendete (die Kinos waren in Thüringen am 1. Juli 2021 wiedergeöffnet worden): ursprünglich geplant für November oder Dezember 2020, lief er als erster, nachgeholter Film in der 35mm-Reihe des Film e.V. Jena. Materialfetischistisch ein sehr schönes Erlebnis (filmisch ehrlich gesagt eher weniger). Zwei Wochen später BLUE VELVET in einer fast makellosen OV-Kopie (fast makellos, weil ein Vorführer, der die Kopie einst gespielt hat, sich ein Stück von Isabella Rossellinis Nacktszenen als Souvenir rausgeschnitten hat – und dadurch die Kopie für spätere Zuschauer "zensiert" hat). Eine Woche später WILD AT HEART. Zwei Tage später STREET HEAT... Die Lust auf pures Kino hatte der Kultur-Lockdown zwischen November 2020 und Juli 2021 so sehr angeheizt, dass der Film e.V. Jena so ungefähr dieses Tempo an Vorführungen für den Rest des Jahres beibehielt (statt des üblichen Rhythmus von 1 Film pro Monat). 17 Vorführungen des Jenaer 35mm-Kinos wurden es insgesamt, die ich zwischen Juli und Dezember besuchen konnte, manchmal waren es zwei Vorführungen pro Woche (neben den 17 liefen mindestens 2 Vorstellungen, die ich wegen Konkurrenz – dem Terza-Visione-Festival – verpasste und 1 Vorstellung, die ich bewusst schwänzte).

Ein neues Konzept sah dann auch ein Thema pro Monat vor: Agenten-Filme jenseits von James Bond im August, Filme über Filmemachen im September, eine kleine Werkschau zu Federico Fellini im Oktober, eine kleine Werkschau zu Filmen von und mit Clint Eastwood im November und ein geplantes Programm zu Sandalenfilmen im Dezember (wo dann letztendlich nur BEN HUR lief).

Eine große Ehre war es für mich, für einen Film bei der Anpassung, dem Redigieren und schließlich dem Live-Vorführen der Untertitel mitzuhelfen. Einen großen Teil von LE MÉPRIS "sah" ich dann also auch nicht, sondern hörte ihn mit fast durchgehend fixem Blick auf die laufende Untertiteldatei. In Vorbereitung und beim eigentlichen Ereignis sah ich LE MÉPRIS drei Mal auf eben diese Weise: aus einem Film, den ich nicht ausstehen kann wurde langsam ein Film, den ich vielleicht ein wenig mögen könnte.


Hier mal die Top-6 der schönsten, erinnerungswürdigsten Veranstaltungen des Film e.V. Jena:


BLUE VELVET (David Lynch: USA 1986)

Dritt- oder Viertsichtung? OV-Kopie. Abgesehen vom Eingriff eines ehemaligen Vorführers eine kristalline Kopie. Gänsehaut, wenn Dennis Hopper einem eingeschüchterten Kyle MacLachlan "In Dreams" nachsingt. Die melodramatischen "Kitsch"-Momente mit den beiden Teenagern, die sich annähern, sind geradezu magisch! Auf der großen Leinwand merkt man auch erst richtig, dass "Lynch'ianische" Atmosphäre mehr ist eine groteske Szenerie, sondern vor allem in subtilen Kamerabewegungen und Schnitten liegt.


UNFORGIVEN (Clint Eastwood: USA 1992)

Viert- oder Fünftsichtung? DF-Kopie. Mechanisch eine leider recht schlimm mitgenommene Kopie mit vielen Klebestellenmassakern, die dann auch im ersten Akt riss. Film natürlich ein langsames, ruhiges, bedächtiges (wie man das eben von Eastwood kennt) Meisterwerk. Ein großartiger Vertierungsfilm.


NORTH BY NORTHWEST (Alfred Hitchcock: USA 1959)

Fünft- oder Sechstsichtung? OV-Kopie. Auf großer Leinwand geradezu berauschend zu sehen, wie unglaublich toll dieser Film inszeniert ist (das erste Aufeinandertreffen von Cary Grant und James Mason!). Und dann noch die leuchtenden Rots der Technicolor-Kopie!


SATYRICON (Federico Fellini: Italien/Frankreich 1969)

Zweitsichtung. DF-Kopie. Nach einer eher enttäuschenden Wiedersichtung von OTTO E MEZZO (auch beim 35mm-Kino) kam hier der Fellini-Film, der die "Versprechen" des Film-im-Film-Beichtfilms einlöste: eine wirklich enthemmt rauschhafte "Fellineske" in Scope (sein einziger Scope-Film abgesehen von LA DOLCE VITA), der bei jeglichem Anzeichen von "Ver-" oder "Zerlaberung" bereits bei der nächsten Episode war. 


THE IPCRESS FILE (Sidney J. Furie: UK 1965)

Zweitsichtung. DF-Kopie. Das Sichtungsvergnügen wurde etwas durch die deutsche Fassung (nichts kann Michael Caines britische Stimme ersetzen) und durch den Rotstich der Kopie getrübt. Doch gerade auch auf großer Leinwand (und in der ersten Reihe) ein Wahnsinnserlebnis, diese exzentrischen Bildkompositionen zu erleben: fast jede Einstellung durch einen Gegenstand zerschnitten, verdeckt, gekippt...


TROPIC THUNDER (Ben Stiller: USA/UK/Deutschland 2008)

Erstsichtung. OV-Kopie. Statt des sehr üblen Klamauks, den ich erwartet hatte, gab es richtig tollen Klamauk. Die Kopie habe ich als größtenteils quasi-kristallin in Erinnerung. An einer Stelle jedoch "kippte" der Film, die Perforation wurde sichtbar und der Film verbrannte vor unseren Augen! Ein Schaden in der Kopie hatte den Film also tatsächlich aus dem Lauf des Perforationsrads hinausgerissen und die Projektionsglühbirne hat dann ein ein Loch in den Film gebrannt. Nach Ende des Films wurde das hinausgeschnittene, geschädigte Stück mit der Brandspur den neugierigen Zuschauern zur Begutachtung gezeigt. In einem Film über das Filmemachen einen solchen Vorfall zu erleben: wie passend!



7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms, Karlsruhe


Unter allen Filmveranstaltungen das Highlight des Jahres 2021. Mehr dazu schon einmal im ersten Teil meines ausführlichen Festivalberichts (Teil 2 folgt demnächst).



6. Karacho-Festival des Actionfilms, Nürnberg


Gangster-Action in den italienischen Alpen oder auf den Hongkonger Straßen, Söldner-Abenteuer im postkolonialen Kongo, Keilereien zwischen verschiedenen radioaktiv verstrahlten Monstern, Ruppiges aus dem DDR-Frauenknast, Buddy-Polizisten auf Zombiejagd, eine Profikillerin wider Willen, Biker und Indianer im Zwist miteinander und mit skrupellosen Kapitalisten, Reality-TV-Stars der Apokalypse auf der Flucht, Ritterkämpfe in der Renaissance... Das Programm des 6. Karacho-Festivals des Actionfilms war wie zu erwarten wieder sehr vollgepackt mit Action in vielfältigen Facetten, aus vier unterschiedlichen Jahrzehnten. Ein Fest, besonders, da hier im September 2021 das Programm nachgeholt wurde, das für Mitte November 2020 geplant war.


Ranking der 10 gezeigten Filme (* keine Erstsichtung):


1. RED HEAT (Robert Collector, Ernst Ritter von Theumer: BRD/Österreich 1985)

2. DEAD HEAT (Mark Goldblatt: USA 1988)*

3. DAIKAIJÛ KETTÔ: GAMERA TAI BARUGON (Tanaka Shigeo: Japan 1966)

4. CLIFFHANGER (Renny Harlin: USA/Italien/Frankreich 1993)*

5. CHEUNG FOH (Johnnie To: Hong Kong 1999)

6. THE SAVAGE SEVEN (Richard Rush: USA 1968)

7. THE MERCENARIES (Jack Cardiff: UK/USA 1968)

8. NIKITA (Luc Besson: Frankreich/Italien 1990)*

9. ENDGAME – BRONX LOTTA FINALE (Joe D'Amato: Italien 1983)

10. CONDOTTIERI (Luis Trenker, Werner Klingler: Deutschland/Italien 1937)



Paradies und Hölle: 22. internationales Kurzfilmfestival cellu l'art, Jena


Im Orga-Team eines Festivals zu sein, ist ein zweischneidiges Schwert.

Einerseits extremer Druck, Stress, permanente Alarmbereitschaft bei allen Veranstaltungsblöcken die man mitbetreut, der kleine innere Zusammenbruch wenn Sachen schief gehen oder Zeitpläne durch "force majeure" (Deutsche Bahn) verworfen werden, aufgrund des hohen Drucks die Unfähigkeit, viele Filme angemessen schauen zu können, die Zerstörung des Schlafrhythmus und die große Depression nach Ende der Veranstaltung.

Andererseits die unbändige Freude, so ein Festival wenn auch unter verkleinerten Pandemiebedingungen mit anderen tollen Leuten auf die Beine gestellt zu haben, die schönsten der ausgewählten Filme endlich auf einer großen Leinwand im Kino zu sehen, die Solidarität im ganzen Team (besonderen Dank an "den Fahrer"), die Gespräche mit den Gästen.



Tops aktuelle Filme 2021


FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE (Dominik Graf: Deutschland 2021)

Von allen Graf-Filmen, die ich kenne, der wahrscheinlich wahnwitzigste seit seinem TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT; ja eigentlich noch viel wahnwitziger, weil Graf hier auch frei ist vom "Zwang", in anderthalb Stunden einen Krimi erzählen zu müssen: ein tosender, reissender Bilderstrudel, die erste halbe oder Dreiviertelstunde dem völlig freidrehenden, filmischen Bewusstseinsstrom sehr nah, in einem Moment sich überlappender Splitscreens schon nahe an der kompletten Selbstauflösung. So energetisch, elektrisierend kann Kino sein.

In der ganzen Turbulenz, die auch die Turbulenz der frühen 1930er Jahre mit inszenatorischen Mitteln spürbar macht, statt sie mit einem großen T zu thematisieren, steht die eher statische Fabian-Figur, eher passiver Beobachter als wirklicher Handelnder, der verlorene, gemeinsame deutsche Cousin von Gončarovs Oblomov und Fellinis "vitelloni".

FABIAN war auch einer der kurzweiligsten Filme des Jahres: die knapp drei Stunden Laufzeit verflogen wie gefühlt anderthalb.


CRY MACHO (Clint Eastwood: USA 2021)

Eastwood ist mittlerweile quasi beim späten Hawks angelangt. Die erste halbe Stunde mag etwas übermäßig plotreich sein, aber wenn Mike, Rafo (und der Hahn Macho) erst mal in dem verlorenen mexikanischen Kaff angelangt sind und dort feststecken, wird der erzählerische Ballast schwungvoll über Bord gepfeffert, und CRY MACHO verwandelt sich in einen reinen Abhängfilm über Menschen, die ein wenig Zeit miteinander verbringen, sich etwas besser kennenlernen, kleine Dinge genießen und auskosten: Pfannkuchen backen, Pferde einreiten, Kaffee trinken, ein wenig tanzen. Nichts mehr, was passieren muss, ausser einer kleinen, utopischen Feier des Lebens.


DRUK (Thomas Vinterberg: Dänemark/Schweden/Niederlande 2020)

Der große Star dieses ohnehin tollen Schauspielerfilms ist der melancholische Gesichtsausdruck Mads Mikkelsens, der stets zwischen leiser Freude und einem leichten Ekel schwankt: unglaublich der Moment, als er zum Bruch seiner selbst auferlegten Abstinenz ein Glas Wodka nimmt und es mit Ekel und Lust, mit Widerwillen und Genuss austrinkt. Diese Achterbahngefühle zeichnen auch den ganzen Film aus, der keine schwindelhohen Ekstasen oder bodenlosen Peinlichkeiten alkoholisierter Enthemmung auslässt.


BABARDEALĂ CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC (Radu Jude: Rumänien/Luxemburg/Kroatien/Tschechien 2021)

Wenn man Prolog, erster Teil, zweiter Teil und dritter Teil des Films ausmacht, so war besonders der erste Teil absolut großartig: Die Protagonistin läuft durch Bukarest, um verschiedene Besorgungen zu erledigen und die explorative Kamera begleitet sie ein wenig auf ihren langen Wegen: folgt ihr ein Stück, und lässt sie dann irgendwann auch einfach weitergehen, um dann eigene Besorgungen zu erledigen, eine Nebengeschichte zu zeigen, eine Hausfassade zu erkunden, eine Nebenstrasse zu entdecken.


Freudigste aber in Jena und Umgebung bislang enttäuschte Erwartung:


BENEDETTA (Paul Verhoeven: Frankreich/Belgien/Niederlande 2021)



Tops Neuentdeckungen 2021


Die ersten 10 in chronologischer Sichtungsreihenfolge:


SISTERS (Brian De Palma: USA 1972)

Ein Hitchcock-Ripoff-going-completely-bonkers, der mich völlig überfahren zurückgelassen hat. Wenn die Inschrift auf dem Geburtstagskuchen die großartige Inszenierung von De Palma ist, dann sind die brennend-leuchtenden Kerzen der Meisterscore von Bernard Herrmann.


ALLOTRIA (Willi Forst: Deutschland 1936)

Auch wenn Heinz Rühmann einen Rennfahrer spielt, so wird er tempomäßig vom entfesselten Adolf Wohlbrück bei weitem geschlagen. Eine Screwball-Komödie, die es im Tempo mit amerikanischen Komödien mühelos aufnehmen kann, bloß, dass sie visuell auch noch von Forsts verspielter, an manchen Stellen fast experimenteller Inszenierung veredelt wird.


EXORCIST II: THE HERETIC (John Boorman: USA/UK 1977)

Es will mir nicht in den Kopf, wie man einen dermaßen entrückt schönen und poetischen, in träumerischen Bildern taumelnden Film wie EXORCIST II: THE HERETIC als einen der schlechtesten Filme aller Zeiten bezeichnen kann, ohne dass einem die Schamröte ins Gesicht schiesst! Und Exorzisten-Filme mit einem Score von Ennio Morricone sind eh die besten.


THE OX-BOW INCIDENT (William A. Wellman: USA 1942)

Äußerlich ein Western, innen drin aber eine verblüffend krasse und brutale Darstellung eines Zivilisationszusammenbruchs. Ein Film, der noch heute verstört und seiner Zeit eigentlich um mindestens 20 Jahre (wenn nicht 30?) voraus war.


JOSHŪ SASORI – DAI 41 ZAKKYOBŌ (Itō Shun’ya: Japan 1972)

Ist "Female Convict Scorpion: Jailhouse 41", der zweite Teil der Sasori-Reihe, noch Exploitation oder schon Avantgarde? Ein Ausbruch aus dem Frauenknast gefilmt in Scope-Bildern ohne jeglichen Halt, in psychedelisch verfärbten Laubwäldern, in ultrastilisierten Kabuki-Tableaus, mit blut-rotem Regen und blut-roten Wasserfällen. Hinter dem formalen Wahnwitz steckt aber auch ein subversiv-militanter Film über kämpferische Frauen, die unter anderem altherrenschmierigen Touristen, die gerne darüber witzeln, wie sie damals im Zweiten Weltkrieg Chinesinnen vergewaltigt haben, gehörig in den Arsch treten und am Ende in geschlossener Reihe drohend auf Tokyo zumarschieren.


ADDIO ZIO TOM (Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi: Italien 1971)

Mehr eine wahnsinnige, brachiale Grenzerfahrung als ein klassischer Film. Gesehen beim Terza-Visione-Festival (sehr viel mehr von mir zu lesen hier).


PRIGIONE DI DONNE (Brunello Rondi: Italien 1974)

Bereits die Opening Credits mit dem Standbild eines leeren Gefängnistraktes und einer Titelmusik, die nach einer beschwingten Komödie mit Griechenland-Bezug klingt, lassen vermuten, dass "Frauen im Zuchthaus" mehr ist als nur ein Frauenknast-Exploiter: die ersten zehn Minuten sehen dann auch aus wie der Frauenknastfilm, den Alain Resnais nie gedreht hat. PRIGIONE DI DONNE ist dann AUCH ein Sleaze-Knüppel, aber eben auch eine fast soziologische Studie über repressive Gesellschaftsstrukturen und Gewaltsozialisation, ein subversives, anarchisches Agitationsmanifest gegen das Justizsystem und die katholische Kirche, ein zu Tränen rührendes Schicksalsmelodrama, ein beschwingter Female-Buddy-Movie, ein berauschtes audiovisuelles Gedicht. Über allem ragen Martine Brochard und Marilù Tolo als die Zarte und die Harte, die unschuldige Studentin und die erfahrene Insassin, die im Laufe des Films eins werden. Gesehen beim Terza-Visione-Festival.


RED HEAT (Robert Collector, Ernst Ritter von Theumer: BRD/Österreich 1985)

Frauenknast zum Dritten, Linda Blair zum Zweiten! Eine Amerikanerin (Blair) gerät bei einem Westdeutschlandbesuch in eine Politintrige, wird in die DDR verschleppt und dort als "Spionin" in ein Frauenknast gesteckt: ein Schmier-Inferno mit gesichtstätowierten lesbischen Gang-Mitgliedern, denen keine Quälerei und kein Mordversuch zu viel ist... Beim Karacho-Festival des Actionfilms mit ungläubig aufgerissenen Augen und heruntergeklappter Kinnlade geschaut.


DER PRINZ HINTER DEN SIEBEN MEEREN (Walter Beck: DDR 1982)

Kunstvoll-stilisierter Märchenfilm um die obsessive Liebe einer jungen Frau zu einem verfluchten Mann, der sich halbtags in einen Löwen verwandelt, durch ein Unglück schließlich als Taube davonfliegt: einem Gruselfilm von Mario Bava näher als einer gediegenen Märchenverfilmung geht DER PRINZ HINTER DEN SIEBEN MEEREN ganz in seinen kunstvollen Sets auf, erschafft ohne große erzählerischen Gimmicks eigene Universen nur mithilfe beispielsweise eines Sonnenuntergangs am Strand, lässt mit seiner elliptischen Montage die Zeit stillstehen, ja gar komplett verschwinden. Magisch! Gesehen beim 1. Sonnensucher-Festival des DEFA-Films.


AZ ÉN XX. SZÁZADOM (Enyedi Ildikó: Ungarn/BRD/Kuba 1989)

Thomas Edison erfindet an der US-Westküste die Glühbirne; zwei Zwillingsschwestern werden in Ungarn als kleine Kinder getrennt, die eine wird zur Ganovin, die mit ihrem Charme Männer um ihren Finger wickelt, die andere zur militanten Anarchistin, die Bomben auf Minister wirft; ein Gelehrter kreuzt immer wieder den Weg der beiden Frauen; ein Esel greift ab und zu in das Geschehen ein; die Sterne (oder die Seelen der Zwillingsschwestern?) kommentieren das ganze; die experimentelle, bruchstückhafte Erzählweise erschafft ein funkelndes Mosaik aus Schwarzweißbildern.



einige weitere tolle Filme:


DER PRINZ VON ARKADIEN (Karl Hartl: Österreich/Deutschland 1932)

Willi Forst als gefallener und exilierter Potentat eines hinweggefegten Operettenstaats singt Liane Haid von seinem großen "Heimweh, nach deinem Mund, nach deinem Kuss, nach dir" und bleibt dann auch gleich die ganze Nacht.


LE BRASIER ARDENT (Ivan Mosjoukine: Frankreich 1923)

Surrealismus, sadomasochistische Fieberträume, Slapstick, Amour-Fou-Melodrama, eine Detektivgeschichte, Erhabenes und Albernes, Mainstream und Avantgarde gehen hier eine wahnwitzige Verbindung ein. Praktisch jede Szene ein Ereignis, mittendrin Ivan Mosjoukine mit seinen alles verschlingenden, gierigen Augen und die fantastische Nathalie Lissenko, die in einer besseren Welt als einer der großen Stars des frühen Kinos anerkannt wäre.


LOVER COME BACK (Delbert Mann: USA 1961)

Wahrscheinlich die beste der Doris-Day-Rock-Hudson-Komödien. Natürlich auch ein Gag-Feuerwerk, aber am Ende liegt der Zauber dieser Filme in der außergewöhnlichen Chemie zwischen Doris Day und Rock Hudson, eine Chemie, die Doris Day wohl mit niemand anderem hatte (Rod Taylor und James Garner reichen Hudson schauspielerisch einfach nicht das Wasser, David Niven fehlt Hudsons Sex-Appeal). Wahrscheinlich könnten die beiden sich gegenseitig das Telefonbuch vorlesen und es wäre ein Riesenvergnügen: wie schön, dass sie sich lieber versteckte Anzüglichkeiten wie Bälle zuwerfen.


FAIS-MOI PLAISIR! (Emmanuel Mouret: Frankreich 2009)

Jean-Jacques wird wird von seiner Lebensgefährtin offiziell beauftragt, einen Seitensprung zu vollziehen (um die Begierden aus seinem System rauszubekommen): der Beginn einer nächtlichen Odyssee voller Missverständnisse und Fehltritte. Jean-Jacques' knapp 10-minütiges Martyrium auf der Party seiner neuen Bekanntschaft ist ein Schmuckstück aus perfektem Gag-Timing, zarter Poesie, wüstem Slapstick und einem alles umfassenden Gefühl totaler sozialer Unbeholfenheit. Mouret entpuppt sich hier als Meister der Körperkomik und als ungekrönter Nachfolger Buster Keatons.


AN AFFAIR TO REMEMBER (Leo McCarey: USA 1957)

Cary Grant und Deborah Kerr vereint in einem Strudel aus großen Gefühlen: geeint und doch immer wieder getrennt in den breiten Scope-Tableaus.


CHOOSE ME (Alan Rudolph: USA 1984)

Eine eigensinnige Mischung aus tiefenentspanntem Abhängfilm und aufwühlendem Melodrama rund um einige verlorene Figuren in Los Angeles: die einsame Talk-Radio-Moderatorin (Geneviève Bujold), der umtriebige Mythomane (Keith Carradine), die verzweifelte Barbesitzerin (Lesley Ann Warren) und viele andere, die immer wieder in der gleichen Bar landen...


UN CONDÉ (Yves Boisset: Frankreich/Italien 1970)

Ein Schlag in die Fresse eröffnet den Film sowohl metaphorisch wie auch wörtlich. Er lässt den Zuschauer auch nicht mehr los, wenn ein Polizist einen mörderischen Rachefeldzug gegen jegliche Person beginnt, die entfernt am Tod seines Partners beteiligt war. Michel Bouquet ist mit seinem gemütlichen Biedermeier-Gesicht scheinbar unpassend und dennoch perfekt besetzt als Folterer und Mörder mit Polizeimarke.


THE MAJOR AND THE MINOR (Billy Wilder: USA 1942)

Eine geradezu köstlich perverse Komödie um Ginger Rogers, die sich zwecks Erschleichung des ermässigten Bahnpreises als Teenagerin ausgibt und anschließend von einer kompletten Armeebasis angegeilt wird. Ein Rätsel, warum dieser Film offenbar als "minor Wilder" und nicht als "major Wilder" gilt.


KURO NO HŌKOKUSHO (Masumura Yasuzo: Japan 1963)

"Black Report" ist ein "police procedural" um einen offensichtlichen Eifersuchtsmord an einem Unternehmer: der Staatsanwalt sammelt minutiös die schlüssigen Beweise, und wird in der zweiten Hälfte des Films mit einer geradezu schmerzhaften Gnadenlosigkeit von Verteidigung, wankelmütigen Zeugen und Ambivalenzen in der eigenen Beweisführung in kleine Stücke gerissen. Genau so gnadenlos sind die extrem kontrastreichen schwarzweissen Scope-Bilder und die wilde Montage: in Masumuras Welt existiert die 180-Grad-Regel nicht, fast jedes Bild ist ein (manchmal fast sarkastisches) Tableau über Machtbeziehungen.


A WOMAN'S TORMENT (Roberta Findlay: USA 1977)

Eine geistig schwer traumatisierte Frau findet sich in einem Urlaubshaus auf Fire Island wieder, wo sie verwirrt am Strand spazieren geht, wenn sie nicht gerade all ihre Besucher in großer Furcht brutal ermordet. Eine sehr einzigartige und faszinierende Mischung aus rohem Porno, Serienkiller-Thriller, Psychogramm der Verzweiflung und Strand-Abhängfilm.


HÄNDE HOCH ODER ICH SCHIESSE (Hans-Joachim Kasprzik: DDR 1966/2009)

Unter der Krimikomödie versteckt sich fast ein Essayfilm über die Möglichkeiten von Genrekino und im Speziellen von Kriminalfilm in der DDR. Die Andeutung, dass Kriminalität in der DDR künstlich erzeugt wird, um den Fortbestand von Polizeistrukturen in einer sozialistischen Gesellschaft zu rechtfertigen, führte wohl direkt zum Verbot. Heute bleibt, neben dem Subtext, eine unglaublich vergnügliche und temporeiche Komödie, mühelos getragen vom wunderbaren Rolf Herricht, einem Komödianten, dem ich in meiner recht breiten DEFA-Werkschau mehrmals begegnete und den ich lieben gelernt habe.


THE LONG GOOD FRIDAY (John Mackenzie: UK 1980)

Der Thatcher'sche Unternehmer-Gangster, grinsend über seinen Triumph vor dem Tower Bridge – und schließlich doch von "Nebenwirkungen" der britischen Kolonialgeschichte in den Abgrund gerissen. Ein toller "politischer" Gangsterfilm, wunderbar besetzt bis in die kleinsten Nebenrollen (u. a. Pierce Brosnan, der seine Bond-Rolle schon mal als Profikiller einübt). Nach Sichtung des Films empfehle ich zur besseren Kontextualisierung die Lektüre von Hans Schmids (sehr langem, dreiteiligen) Text über THE LONG GOOD FRIDAY, der zwischen einzelnen Szenenanalysen auch über britische Kolonialgeschichte und Einwanderungspolitik, Konjunkturen von Rassismus und Euroskeptisismus in Großbritannien sowie über strategische Entwicklungen innerhalb der IRA schreibt. 


A CLIMAX OF BLUE POWER (Lee Frost: USA 1974)

Ein Lagerarbeiter verkleidet sich nach Feierabend als Polizist, um nachts Prostituierte zu vergewaltigen und demütigen. Nach Beobachtung einer Tötung in Notwehr steigert sich sein Hass auf "unreine" Frauen ins Grenzenlose... Ein sehr ruppiger, dreckiger, unangenehmer und großartiger Beitrag zum Subgenre des Thrillers über puritanische Triebtäter und gewissermaßen der "Missing Link" zwischen PEEPING TOM und PSYCHO auf der einen und TAXI DRIVER auf der anderen Seite (wie Travis Bickle schaut der Protagonist Pornos, um sich gleichzeitig aufzugeilen und zu empören).


GELIEBTE WEISSE MAUS (Gottfried Kolditz: DDR 1964)

Ein verliebter Verkehrspolizist lädt eine hübsche Verkehrssünderin zur Verkehrserziehung in sein Revier ein: Liebe, Musik, Tanz und Lachen folgen, von Gottfried Kolditz auf den Punkt inszeniert und wieder mit einem wunderbaren Rolf Herricht in der Titelrolle.


THE GLASS BOTTOM BOAT (Frank Tashlin: USA 1966)

Doris Days körperlichste Rolle (abgesehen vielleicht von CAPRICE, auch von Tashlin inszeniert, auch großartig): hier beweist sie ihr Talent als Slapstick-Komikerin, wenn sie durch ein Forschungslabor humpelt, unter Tische springt und nicht zuletzt wenn sie einen wahnwitzigen Balance-Tanz mit Dom DeLuise, einer Torte und einem Mülleimer vollbringt. Ihre multiple Spionin-Inkarnation (in Rod Taylors Fantasie) ist allerdings auch den Eintrittspreis wert!


BOYS IN THE SAND (Wakefield Poole: USA 1971)

Die Begierde entspringt wie Venus aus dem Meer (bloß in Form eines Mannes) und löst so eine Reihe erotischer Begegnungen auf Fire Island aus. Wie Pooles BIJOU ein jenseitig-verträumter, völlig dialogfreier Film mit einem beeindruckenden klassischen Score.

Wakefield Poole ist 2021 (am 27. Oktober) verstorben. 


JEUNESSE PERDUE (Akramzadeh: Schweden/UK 1961)

"Der Perser und die Schwedin", die deutsche Schnittfassung von JEUNESSE PERDUE, ist zwar ganz nett, aber die tristen Inserts bremsen den Rhythmus des Films doch ziemlich aus. Den wahrhaft entfesselten persisch-schwedischen Wahnsinn gibt es tatsächlich nur in JEUNESSE PERDUE: voller mit Impressionen von Swinging London, ausführlicher beim Treiben/Herumtreiben/Treibenlassen der Protagonisten. Mehr zum Film und zu den beiden Versionen gibt es in diesem Blog von Manfred zu lesen.


LA BRIDE SUR LE COU (Roger Vadim: Frankreich/Italien 1961)

Brigitte Bardot mag diesen Film noch so sehr retrospektiv als Flop bezeichnen: er ist ein kleines Meisterwerk der Komödie, mit Bardot, die zögert, ob sie ihren Ex mit einer neuen Bekanntschaft (toll: Michel Subor) eifersüchtig machen oder ihn gleich umbringen soll. Ein geradezu magischer Moment: in der Besenkammer eines Alpenhotels sitzen Bardot und Subor rum, eine Latin-Band beginnt in einer Kammer daneben zu spielen. Bardot springt auf, schlägt auf die trennende Wand, schreit "Lauter!" und beginnt mit Subor zu tanzen.


L'AMORE DIFFICILE (Luciano Lucignani, Sergio Sollima, Alberto Bonucci, Nino Manfredi: Italien/BRD 1962)

Die ersten zwei Episoden sind ganz nett, doch ab der dritten wird es erst richtig heiß. In Bonuccis "Il serpente" reist Lilli Palmer mit ihrem steifen Professorenehemann Bernard Wicki durch Italien und statt wie Ingrid Bergman bei Ansicht der Sehenswürdigkeiten in Trübsinn zu verfallen oder zu höheren Erkenntnissen zu kommen, macht sie sich frei, bekommt in einer Tempelruine einen spontanen Orgasmus und ist danach vor Wolllust kaum zu bremsen. In Manfredis dialogfreier Episode "L'avventura di un soldato" hingegen nähert sich ein Soldat in einem Zugabteil einer neben ihm sitzenden Witwe langsam, ganz langsam an – und wenn auch ein halbes Dutzend weitere Passagiere um sie sitzen. Gesehen beim Terza-Visione-Festival.


DAIKAIJÛ KETTÔ: GAMERA TAI BARUGON (Tanaka Shigeo: Japan 1966)

"Godzilla: Der Drache aus dem Dschungel" war der Überraschungshit beim Karacho-Festival: der wahnwitzige Prolog hat in zwei Minuten mehr Action als andere Monsterfilme in ihrer ganzen Laufzeit, das erste Drittel überrascht mit einer sehr unterhaltsamen Erforscher-auf-Schatzsuche-Abenteuergeschichte, bevor dann endlich die verstrahlten Monster mit Eisatem oder ihren Gliedmassen Chaos, Zerstörung und eine Riesengaudi bringen.


THE HEIRESS (William Wyler: USA 1949)

Das naive Mädchen, der eiskalte Vater, der ölige Emporkömmling... Die Abgründe, die in den ersten zwei Dritteln schon sehr deutlich immer wieder eruptiv aufblitzen, verwandeln den Film im letzten Drittel geradezu ein Torture-Porn der seelischen Grausamkeiten, wenn Catherine alias Olivia de Havilland es allen dreifach und vierfach heimzahlt. Wie Wyler zusammen mit Kameramann Leo Tover diesen seelischen Grausamkeiten mit Treppen, Spiegeln und einer atemberaubenden Deep-Focus-Photography einen physischen Raum geben, ist manchmal furchterregend.


MASCARA (Henri Pachard, Roberta Findlay: USA 1983)

Eine sexuell gehemmte Sekretärin entdeckt ihre Sexualität, nachdem sie die Lieblingsprostituierte ihres Bosses kennenlernt – so in den meisten Synopsen zu lesen. MASCARA ist aber vor allem auch ein toller Film über die Freundschaft zweier sehr unglücklicher Frauen in der kältesten, dreckigsten und einsamsten Stadt der Welt, New York City. Immer wieder traurige Blicke, dazwischen ein wenig hoffnungsvollere Augen in Anwesenheit der neuen Freundin.


ESPION, LÈVE-TOI (Yves Boisset: Frankreich/Schweiz 1982)

Ein ehemaliger Spion wird zwangsweise wieder aus dem Tiefschlaf geweckt – und sofort beginnen alle Menschen um ihn herum, wie Fliegen zu sterben. Ein großer Ventura-Film mit einem wieder einmal ganz großen Score von Ennio Morricone. À propos tolle französische Polit-Thriller der späten 1970er/frühen 1980er...


I... COMME ICARE (Henri Verneuil: Frankreich 1979)

...inszeniert Henri Verneuil hier einen Film, den man thematisch tatsächlich eher von Boisset oder Costa-Cavras erwartet hätte. Ein zunächst bizarr anmutender, langer Exkurs ist die weit über 10 Minuten dauernde, minutiös und detailreich inszenierte Variation des Milgram-Experiments und mündet in den unfassbarsten Moment des Films, als Staatsanwalt Volney (Yves Montand) vom passiven Zuschauer zum aktiven Teilnehmer des Experiments gemacht wird.


INDISCREET (Stanley Donen: UK 1958)

Cary Grant und Ingrid Bergman wiedervereint. Die großen Stars des Films in der ersten Hälfte sind Ingrid Bergmans Augen: ihr Strahlen, ihr Glänzen, ihre Zärtlichkeit, ihre Sehnsucht machen fast jeglichen Plot überflüssig und tatsächlich geht es praktisch nur um zwei Menschen, die die Gesellschaft des jeweils anderen genießen. Später gibt es dann Konflikte, weil es sich nunmal in einem Film so gehört: der Film wird lustiger, gleichzeitig verhärten sich paradoxerweise Bergmans Augen.


VRAŽDA ING. ČERTA (Ester Krumbachová: ČSSR 1970) 

Die einzige Regiearbeit der Drehbuchautorin, Produktions- und Kostümdesignerin und zentralen Figur der Tschechoslowakischen Neuen Welle Ester Krumbachová (Jan Němec, Zbyněk Brynych, Věra Chytilová, Jaromil Jireš, Otakar Vávra sollen als Namen der Regisseure, für die sie Drehbücher geschrieben hat, erst mal reichen): eine einsame Frau lädt einen ehemaligen Schulkameraden (der aber vielleicht auch der Teufel persönlich sein könnte) zum Essen ein. Dieser entpuppt sich als vulgärer und undankbarer Rüpel, der sich gedankenlos mit den von ihr liebevoll zubereiteten Speisen vollstopft. In der im Retro-Märchenwald-Stil eingerichteten Wohnung entspinnt sich eine Art Katz-und-Maus-Spiel. Metapher auf Krumbachovás Beziehung zu "ihren" Regisseuren? Fabel über die condition féminine?


THE EXORCIST III (William Peter Blatty: USA 1990)

Lee J. Cobbs Polizist im ersten Exorzisten-Film war eigentlich schon immer die interessanteste Figur (vielleicht, weil es eben auch Lee J. Cobb war?). Einen Exorzisten-Film mit dem Polizisten als die Hauptfigur zu drehen, ist dann eigentlich nur konsequent, und wenn es George C. Scott statt Cobb ist – auch recht. Die ersten zwei Drittel sind dann auch eher Serienmörder-Thriller als Exorzismus-Schocker: ruhig, elegant, voller ominöser Bedrohlichkeit gefilmt.


GIORNATA NERA PER L'ARIETE (Luigi Bazzoni: Italien 1971)

...und mit den Serienmörder-Thriller sind wir dann auch wieder beim Giallo, genauer gesagt beim frühen "Tier-Giallo" (hier der "Schwarze Tag für den Widder"). Die Mördergeschichte ist nicht sonderlich originell, doch unter der Oberfläche lauert ein Film über verletzte, verzweifelte und paranoide Einsamkeit in der Großstadt (hier: Rom). Der an der Flasche hängende Journalist und Hobbyermittler-Protagonist (Franco Nero) wird visuell entsprechend immer wieder in vielfach gebrochenen Spiegelungen, in feindseligen urbanen Architekturmonstren gefangen genommen.


SEXWORLD (Anthony Spinelli: USA 1978)

Von Verletzungen und Einsamkeit handelt auch SEXWORLD: kaputte Ehen und gebrochene Herzen sollen bei einem Wochenendaufenthalt im Erlebnishotel "Sexworld" gekittet werden... Unter den großen Auteurs des Golden Age of Porn ist Spinelli nach meinem Laien-Kenntnisstand derjenige, der Gefühlszustände, Gefühlswandlungen, ja ganze Gefühlsuniversen mit Sexszenen erzählt bzw. visualisiert, seien es obsessiv-übergriffige Abgründe (THE NIGHT CALLER) oder Entfremdung und Versöhnung in der Ehe (ORIENTAL BABYSITTER). Der exquisit fotografierte SEXWORLD ist darin wohl sein Meisterwerk: beim Sex werden hier Traumata geheilt, oder wahlweise Rassismus überwunden.


SUDDEN FURY (Brian Damude: Kanada 1975)

Eine Geschichte um einen habgierigen Ehemann, der seine Frau bei einem Autounfall sterben lassen möchte und den zufälligen Autofahrer, der sie retten möchte: ein "kleiner", "unambitionierter", extrem minimalistischer (nur ein halbes Dutzend Figuren in größtenteils zwei Schauplätzen) Thriller, der in aller Ruhe, mit verblüffender Geradlinigkeit die zunehmend fiese Eskalation durchdekliniert und dabei doch immer wieder überrascht.


VORSPIEL (Peter Kahane: DDR 1987)

Coming-of-Age-Geschichte in der tristen, grauen ostdeutschen Provinz, die von den großen Gefühlen der jugendlichen Protagonisten erleuchtet wird (und auch der weniger jugendlichen Protagonisten: der Subplot um die Neuknospung einer lange ruhenden Jugendliebe gehört zu den schönsten des Films). Das japanische Dinner ist ein kleines komödiantisches Schmuckstück. Und als Rivette-Fan sind Filme mit Theaterproben-Szenen ("Vorspiel") natürlich ein Muss!


THE BABY (Ted Post: USA 1973)

Eine engagierte Sozialarbeiterin kämpft um ihren außergewöhnlichsten Fall: ein Mann in den Zwanzigern mit dem geistigen Niveau eines Säuglings, der von seiner Familie (ultra-dominante Mutter, zwei nymphenartige Schwestern) als großes Baby gehalten wird. Dass das ganze nicht von Robert Aldrich ("Baby Jane 3") oder von John Waters, sondern von einem TV-Routinier handwerklich so solide aber auch vollkommen nonchalant inszeniert wird, macht den Film auf gewisse Weise erst richtig irre.


DIE REISE NACH LYON (Claudia von Alemann: BRD/Frankreich/Schweiz 1981)

Eine deutsche Historikerin reist nach Lyon, um den Spuren einer Frühsozialistin und Frühfeministin aus dem 19. Jahrhundert zu folgen. Ein toller Stadtfilm, ein wunderbarer Spaziergangfilm, ein Film, in dem die Körper der Gegenwart und die Geister der Vergangenheit durch Laufen, Schauen, Erzählen, Zuhören zueinander finden.


COME SEPTEMBER (Robert Mulligan: USA 1961)

Rock Hudson möchte einfach nur in Ruhe in seiner italienischen Villa sein Liebeswochenende mit Gina Lollobridiga vollziehen. Wären da nur nicht diese Teenies, diese unwillkommenen Gäste in der konspirativ vermieteten Villa. Unter der warmen, goldenen italienischen Sonne erklärt Hudson also inoffiziell den Krieg: wer härter spazieren kann, wer mehr trinken kann, wer der richtige Herr im Hause ist. Ein Fest für die Sinne und eine Herausforderung für die Lachmuskeln.


SHOPPING (Paul W. S. Anderson: UK/Japan 1994)

Zarte Jugendliebe im Gangland eines postapokalyptischen London-Suburbs. Mit weniger Aufwand als in den "Resident Evil"-Filmen erschafft Anderson aus zerstörten Landschaften und langen, labyrinthischen Korridoren ein eigenes Paralleluniversum.


CLEAN, SHAVEN (Lodge H. Kerrigan: USA 1993)

Ein Road-Movie durch das Seelenleben eines psychisch kranken Menschen: keine Thematisierung von Krankheit, sondern ein formales Eintauchen in die Paranoia, die Filmrisse, die Dissoziationen des Protagonisten.


CHEUNG FOH (Johnnie To: Hong Kong 1999)

Johnnie Tos "The Mission" folgt den Bodyguards eines bedrohten Politikers auf deren Mission: Schießereien natürlich, aber auch Langeweile, wenn der Boss gerade in einem Meeting sitzt – da wird auch mal ein kleines Fußball-Match mit einem zusammengeknüllten Stück Papier veranstaltet und die Kugel unauffällig zum richtigen Zeitpunkt aufgesammelt, wenn der Boss wieder erscheint (ein absolut magischer Kino-Moment). Absolut faszinierend und in komplettem Gegensatz zu allem, was man normalerweise von einer Actionszene erwartet: die Schießerei im großen Kaufhaus, die To fast bis zur völligen Abstraktion stilisiert, zu einer Abfolge von Stilleben-Tableaus mit Pistolenmännern. Gesehen beim Karacho-Festival.


YOUNG LOVE – HOT LOVE: AUS DEM TAGEBUCH EINER SIEBZEHNJÄHRIGEN (Jürgen Enz: BRD 1979)

Zarte und doch oft schon schale Jugendliebe in teutonischen Infernos aus Zinnteller-Kollektionen und kackbraunen Sofagarnituren. Dazwischen wieder diese vielen assoziativen Enz'ianischen Überblendungen und die skurrilen Begegnungen mit dem Blinden auf den Straßen Hamburgs. 


MISHIMA: A LIFE IN FOUR CHAPTERS (Paul Schrader: USA/Japan 1985)

Eine ungewöhnliche, sehr impressionistische und assoziative Herangehensweise an das formal oft etwas steife Genre des Künstler-Biopics: mehr ein Gedicht aus Farben, Reimen und Musik voller Brüche.


INTIMNÍ OSVĚTLENÍ (Ivan Passer: ČSSR 1965)

Ein Wochenendbesuch auf dem Land... Zeit, um die vergangenen Träume Revue passieren zu lassen, Hähnchen zum Mittag zu verspeisen oder akrobatisch durch die Luft sausen zu lassen, Mozarts "Eine kleine Nachtmusik" jeglichen störenden Umständen zum Trotz zu spielen und diverse spirituelle Getränke zu verkosten. Ein luftig-fluffiges Wölkchen von einem Film.


QUE DIOS NOS PERDONE (Rodrigo Sorogoyen: Spanien 2016)

Ein Serienvergewaltiger und -killer wütet in Madrid, und zwei Außenseiterpolizisten müssen sich zusammenraufen, um diesen zu finden: ein angenehm "altmodischer" Police-Procedural auf der eher nihilistisch-finsteren Seite des Spektrums, mit einer dennoch recht großen Bandbreite an Atmosphären: von der atemlosen Verfolgungsjagd zu Fuß durch die menschengefüllten Straßen Madrids bis hin zum schmerzhaft unglücklichen Flirt einer der beiden Polizisten mit der Gebäudeputzfrau.


FATHER GOOSE (Ralph Nelson: USA 1964)

Cary Grant mal nicht als eleganten Gentleman zu sehen, sondern als dreckigen Saufbold, ist schon mal den Eintrittspreis wert. Die Screwball-Comedy-Chemie mit Leslie Caron ist dann das Sahnehäubchen (bzw. der große Schluck direkt aus der Whiskyflasche).



Weinkellerfilme 2021


Eine neue Kategorie für Filme, die wahrscheinlich großartig sind, leider aber nicht richtig angekommen sind bei mir, weil es irgendwie nicht gepasst hat: zu müde, zu unkonzentriert, falsche Erwartungen, ungünstige Untertitel oder mehrere Faktoren zusammen... Deshalb kommen diese Filme in den Weinkeller, wo sie etwas lagern, reifen und später noch mal in hoffentlich besseren Umständen verkostet werden.


IO LA CONOSCEVO BENE (Antonio Pietrangeli: Italien/Frankreich/BRD 1965)


PANNA ZÁZRAČNICA (Štefan Uher: ČSSR 1967)


CHRUSTALËV, MAŠINU! (Aleksej German: Russland/Frankreich 1998)


ABSCHIEDSDISCO (Rolf Losansky: DDR 1990)



Tops Kurzfilme


Chronologisch nach Produktionsjahr geordnet:


OTVÍRÁNÍ STUDÁNEK (Alfréd Radok: ČSSR 1960)

Eine experimentelle Ode an den Frühling, konzipiert als Bestandteil eines multimedialen Theaterstücks.


NAKED SEXES (N. N.: USA 1970)

Kontrollierter Striptease und unkontrolliertes Lachen.


CRASH! (Harley Cokeliss: UK 1971)

Ein erotischer Kurzfilm über Autos und die Moderne.


PAPER BOY (Clay Borris: Kanada 1971)

Ein urbanes Road-Movie auf den Spuren eines jugendlichen Delinquenten. Zu sehen hier beim National Film Board of Canada.


ROCK 'N' ROLL (Jörg Foth: DDR 1987)

Juanita aka Judy und Clemens aka Dean tanzen zu Silvester ihre fetzige Rock'n'Roll-Tanz-Show unermüdlich durch ein Dutzend Parties in ganz (Ost-)Berlin – und wir tanzen mit!


THE EXQUISITE CORPUS (Peter Tscherkassky: Österreich 2015)

Purer Cine-Sex in verfremdeten, manipulierten, zerschnittenen Found-Footage-Bildern. Gesehen beim Terza-Visione-Festival.


RIO (Zhenia Kazankina: Russland 2019)

Tristesse, Tanz und Träumerei in einem russisch-finnischen Grenzhotel. Vielfach gesehen im Rahmen des cellu l'art, totale Ekstase bei zumindest einem der Kinoscreenings. Zu sehen hier auf dem Vimeo-Kanal der Regisseurin.


DANIEL (Claire van Beek: Neuseeland 2019)

Vom aufwühlenden Begehren einer Novizin zum Leib Christi, zu einem benachbarten Zimmermann und zu dessen Eidechse Daniel. Vielfach gesehen im Rahmen des cellu l'art, totale Ekstase bei einem der Kinoscreenings.


MIDNIGHT JAZZ (Jules Mathôt: Belgien/Niederlande 2019)

Wie ein Giallo ohne Serienkiller und ohne Hobbyermittler, dafür aber mit einem Jazzradio-Moderator und einem Mann auf der Flucht. Vielfach gesehen im Rahmen des cellu l'art, zweimal totale Ekstase bei zwei Kinoscreenings, im jeweils "roten Saal" und "blauen Saal" des Jenaer Schillerhof-Kinos – passend für einen Film, der fast komplett in Rot und Blau gehalten ist.


SUN DOG (Dorian Jespers: Belgien/Russland 2020)

Auf den Spuren eines Schlossers, der in der tiefdunklen, nordrussischen, eiskalten Nacht Ausgesperrten die Tür aufmacht. Gesehen beim Russland-Abend des cellu l'art im Kulturschlachthof.



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Ich wünsche allen unseren Leserinnen und Lesern ein schönes Jahr 2022 mit vielen schönen Filmen!




2 Kommentare:

  1. Die Schnulzensängerin, die mit peinlichen Songs HItchocks THE MAN WHO KNEW TOO MUCH kaputt macht?

    Ich finde nicht, dass sie den Film kaputtmacht, jedenfalls nicht mit "Que Sera, Sera" (an sonstige Songs von ihr in dem Film kann ich mich jetzt nicht erinnern). Denn das singt sie ja im Film völlig anders als in der süßlichen Schallplattenversion. Nämlich genau so, wie es die Szene verlangt. Immerhin wird der Film für dich jetzt aus anderen Gründen ruiniert als ursprünglich ... :-)


    dass Rock Hudson nicht nur Melodrama kann, sondern auch Komödie, wusste ich ja bereits

    Kennst Du auch Frankenheimers SECONDS? Da lernt man Hudson nochmal neu kennen, und zwar in seiner vielleicht besten Leistung überhaupt (auch seiner eigenen Meinung nach). Aber die klassischen (meist weiblichen) Rock-Hudson-Komödien-Fans fanden es nicht so toll, was ihr Idol in diesem krassen Film anstellt (bzw. was mit ihm angestellt wird).


    THE OX-BOW INCIDENT: Ich mag überhaupt Wellmans Western, neben diesem auch BUFFALO BILL, YELLOW SKY und den rustikalen WESTWARD THE WOMEN.


    LE BRASIER ARDENT hat dazu beigetragen, dass Jean Renoir Regisseur wurde, wie ich schon mal in meinem Artikel zu LES BAS-FONDS (der auch von Albatros produziert wurde) geschrieben hatte. Offenbar teilte Renoir deine Begeisterung für den Film, und jetzt ist er auch auf meiner Agenda.


    UN CONDÉ: Den hab ich vor ein paar Monaten auf arte zum ersten Mal gesehen, und er hat mich auch ziemlich umgehauen. Vorher kannte ich ihn nicht mal dem Titel nach. Ja, Michel Bouquet hat schon so manche Abgründe hinter seinem "gemütlichen Biedermeier-Gesicht" verborgen, etwa den Mörder aus Eifersucht in LA FEMME INFIDÈLE. Fast noch fieser als in UN CONDÉ ist er in José Giovannis DEUX HOMMES DANS LA VILLE, wo er als böser Kommissar daran arbeitet, einen Ex-Knacki (Alain Delon) wieder in den Knast zu bringen (Jean Gabin ist der Bewährungshelfer, der das verhindern will).

    Weil wir gerade bei Boisset sind: ESPION, LÈVE-TOI macht sich hervorragend im Doppelpack mit Jacques Derays AVEC LA PEAU DES AUTRES. Statt in Zürich und München sind wir jetzt in Wien, und auch hier ist Lino Ventura ein Geheimagent, der es mit russischen Spionen und mit Verrätern zu tun hat.


    THE BABY: Ted Post hatte auch mit HANG 'EM HIGH schon bewiesen, dass er auch Kino konnte (und er brachte als einer der ersten den Italowestern zurück in die "Heimat").


    Was ist das denn mit Ernest Borgnine am Anfang? IS’ WAS, DOC? hab ich erkannt.

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    1. Mittlerweile bin ich so sehr doris-day'isiert, dass ich die süßliche Schlagerversion von "Que sera sera" auch ganz schön finde ;-)
      "ruiniert" ist vielleicht zu hart für THE MAN WHO KNEW TOO MUCH. Aber im direkten Vergleich mit anderen Hitchcock-Filmen aus den 1950er Jahren und nicht zuletzt mit den unmittelbaren Vor- und Nachgängern (THE TROUBLE WITH HARRY und THE WRONG MAN) ist es okayer Film, aber doch ein eher schwacher Hitchcock.

      SECONDS habe ich noch nicht gesehen, habe aber natürlich schon viel Gutes über diesen Film gelesen. Und die spektakulären Opening Credits von Saul Bass mit Jerry Goldsmiths eindringlicher Musik und den grotesk verzerrten Gesichts-Closeups gesehen. Den muss ich auf jeden Fall auch irgendwann mal schauen!

      Wellman: die Westerns, die du nennst, muss ich alle noch schauen. Zu nennen wäre noch der außergewöhnliche Schneewestern TRACK OF THE CAT.

      UN CONDÉ habe ich auch bei arte erwischt. AVEC LA PEAU DES AUTRES kenne ich nicht, hatte bisher tatsächlich noch nie davon gehört – ist notiert!

      Ted Post ist für mich bislang sehr gemischt: HANG 'EM HIGH habe ich irgendwann in meinen Teenagerjahren gesehen und als nicht besonders gut in Erinnerung behalten (aber eine Wiedersichtung könnte neue Erkenntnisse bringen). MAGNUM FORCE halte ich für den schwächsten Teil der Dirty-Harry-Reihe, auch wenn es trotzdem ein grundsolider, unterhaltsamer Film bleibt. BENEATH THE PLANET OF THE APES ist ebenfalls der zweite Teil einer Reihe, deutlich schwächer als der Vorgänger und auch als der Nachfolger, aber trotzdem ein grundsolider, unterhaltsamer Film. Mit GOOD GUYS WEAR BLACK ("Black Tiger") startete Chuck Norris' Karriere als eigenständiger Martial-Arts-Actionstar, den Film fand ich aber persönlich stinklangweilig.
      GO TELL THE SPARTANS fand ich gemischt und schwer greifbar: Burt Lancaster in der Hauptrolle ist tatsächlich großartig und das "unrealistische" Setting, das wie eine kalifornische Prärie aussieht (weil es in einer kalifornischen Prärie gedreht wurde) bringt eine sehr bizarre, stilisierte, Vietnamkriegsfilm-untypische Atmosphäre (und nimmt wohl das ultrastilisierte Industriewerk-Setting von Kubricks FULL METAL JACKET vorweg). Trotzdem war der irgendwie schleppend erzählt – aber möglicherweise ist das genau auch der Kern des Films und ich sollte ihn noch mal mit anderen Erwartungen gucken.

      Ernest Borgnine ist im ersten Screenshot als Cabbie in Carpenters ESCAPE FROM NEW YORK zu sehen (der erste Film, den ich 2021 geschaut habe). Und WHAT'S UP, DOC? ist der letzte Film, den ich 2021 sah – zufällig wenige Tage, bevor Peter Bogdanovich starb. Wenn mich mittlerweile jemand fragen würde, meinen liebsten New-Hollywood-Film zu nennen, würde meine Wahl wohl spontan auf die turbulenten Abenteuer von Judy Maxwell und Howard Bannister fallen.

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