Und wieder ein Jahr vorbei... Mit vielen schönen
Festivals und Filmwochenenden
Über den wunderbaren 20. Hofbauer-Kongress im Januar habe ich bereits hier geschrieben: tried & tested, bekannt und immer wieder wunderschön. Eine Premiere für mich war 2023 der Besuch des Technicolor-Festivals in der Schauburg in Karlsruhe: der Kinosaal mit der riesigen Cinerama-Leinwand, viele bekannte Gesichter und eine unschlagbare Verköstigung mit Frühstück, Kaffeepausen und Abendessen (und eine größere Runde Freibier mit einer lokalen Brauerei an einem Abend) machten dies zu einem wunderschönen verlängerten Pfingst-Wochenende – und natürlich die tollen Filme: die stark geschnittene Wiederaufführungsfassung von GIÙ LA TESTA hat mir noch mal gezeigt, wo das eigentliche Herz des Films liegt, das Double-Feature aus JAWS und MORTE À VENEZIA war verblüffend stimmig (beide morbid-maritim und mit einer korrupten lokalen Verwaltung, die etwas Störendes – hier ein mörderischer Hai, dort eine Cholera-Epidemie – zu vertuschen versucht). Auch über das 9. Terza Visione, diesen wunderschönen cineastischen Kurzurlaub in Italien, habe ich schon geschrieben.
Zum Frankfurter Filmmuseum zog es mich dann wieder Ende September zur Mini-Retrospektive "Pre-Code Musicals Maudits", die sich gefloppten, genre-hybriden Musicals der Pre-Code-Ära widmete, mit MADAM SATAN von Cecil B. DeMille (eine Ehefrau versucht ihren untreuen Ehemann bei einer wilden Party als Femme Fatale verkleidet "zurück" zu verführen – aber dann gibt es eine Zeppelin-Katastrophe), I AM SUZANNE von Rowland V. Lee (eine verunglückte Tänzerin verliebt sich in einen Puppenspieler, der eine verstörende fetischistische Beziehung zur Puppen-Version seiner Geliebten entwickelt), IT'S GREAT TO BE ALIVE von Alfred L. Werker (nach einer für Männer tödlichen Pandemie wird ein letzter überlebender Mann von allen Frauen der Welt heiß begehrt) und MURDER AT THE VANITIES des langjährigen DeMille-Mitarbeiters Mitchell Leisen (ein Serienmörder versetzt eine Revue-Premiere in Angst und Schrecken). Eine wirklich entgrenzte "wilde Sause" der Freizügigkeiten (so viele so extrem kurze Miniröcke habe ich in dieser Ballung selten gesehen) und der totalen Unfassbarkeiten, bevor der "Code" den Stecker zog.
Wieder nach Italien (bzw. zur Nürnberger Filiale im KommKino) ging es zum Italo-Cinema-Wochenende im Oktober, wie 2018 mit Giallo-Schwerpunkt. Leider auch eine Schau des Materialverfalls, mit vielen rotstichigen, komplett entfärbten, teils in den Aktenden materiell komplett zerstörten und unabspielbaren Kopien. Die ab Samstag 16 Uhr drei aufeinanderfolgenden Filme hatten zum Glück alle Farbe und gutes Material, und zwischen dem Giallo-Gothic-Horror-Klamaukkomödien-Hybrid TUTTI DEFUNTI... TRANNE I MORTI von Pupi Avati und dem als Giallo getarnten entschleunigten Sleazer cum Kinski LA BESTIA UCCIDE A SANGUE FREDDO von Fernando Di Leo lief passenderweise in der Prime-Time das große Tier-Giallo-Meisterwerk UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE in strahlendem Technicolor.
Wenige Wochen später dann wieder Nürnberg, diesmal zum Karacho-Festival des Actionfilms. Mehr bekannte Titel denn je (ROBIN HOOD, THE FRENCH CONNECTION, DEATH WISH 3, LICENCE TO KILL, STRIKING DISTANCE), aber auch schöne Überraschungen aus den Philippinen und aus der Reservekiste für nicht rechtzeitig gelieferte Kopien. Ein besonderer Schmankerl, der den Blick jenseits der klassischen Regisseurs- oder Darsteller-Perspektiven erweiterte, waren die zwei Einführungen zur Musik von Michael Kamen (ROBIN HOOD, LICENCE TO KILL). Und bei aller Liebe zu Kongress und Terza: sehr schön bei Karacho (auch, wenn es in einer idealen Welt anders sein sollte) ist auch die stets kleine, gemütliche, intime Publikumsrunde.
Noch kleiner, gemütlicher und intimer ging es dieses Jahr auch beim Filmarchäologen-Symposium zu (ich war einer von zwei extern Angereisten). Auch hier keineswegs zulasten der Veranstaltungsqualität, im Gegenteil (und einen Tisch im Restaurant zu finden bei dieser Anzahl ist auch gleich viel einfacher!).
Als unterjährige Reihe ein stetiger Begleiter meines Filmjahres war das 35mm-Kino des Film e.V. Jena. Mein erster Miyazaki (SEN TO CHIHIRO NO KAMIKAKUSHI – SPIRITED AWAY) habe ich bei einer Kindervorstellung (mit einigen ob des verblüffenden Gore- und Splatter-Content des Films recht eingeschüchterten sehr jungen Co-Zuschauern) erleben dürfen. Meine Entfremdung von Kubrick schreitet zwar immer weiter voran (wie ich bei THE KILLING und A CLOCKWORK ORANGE gemerkt habe), nur 2001: A SPACE ODYSSEY scheint davon nicht tangiert zu sein: interessanterweise gab es eine Roadshow-Kopie mit Prolog-Musik (ca. 8 Minuten Ligeti mit Schwarzbild) und Intermission (Penderecki mehrere Minuten lang über die Einblendung "Intermission"). Die Mini-Retro zum asiatischen Arthouse-Kino umfasste Zhang Yimous verblüffend dreckig-naturalistisches Dorfdrama und Filmdebüt HONG GAO LIANG – RED SORGHUM und Kurosawas bizarr-exzentrisches Epos bzw. Nicht-Epos RAN als Höhepunkte. Doch die großen Highlights kamen dann im Herbst in der Reihe "Auto & Geschwindigkeit": eine die Großartigkeit dieses Films noch mal unterstreichende Projektion von Tarantinos DEATH PROOF in einer kristallinen Kopie, eine Sonderveranstaltung in 16mm mit Wim Wenders IM LAUF DER ZEIT (der Slowburner der Reihe), John Carpenters wunderbarer CHRISTINE, eine interessante Wiederentdeckung eines Films, den ich bei der Erstsichtung halb verschlafen hatte und der trotz schwerer Verregnung und Braunstich nun gerade im Kino voll einschlug (VANISHING POINT) und last but not least der Höhepunkt, die Gottwerdung der Reihe, das Kino-Erlebnis des Jahres, TWO-LANE BLACKTOP.
Auch eine schöne unterjährige Filmreihe gab es im Leipziger LURU-Kino zu sehen: "LURU Archive" zeigte in sonntäglichen Double-Features Schätze aus dem Kopienarchiv des Kinos. Mitgenommen habe ich das Doppel über schwierige Liebe mit dem Melodrama auf dem schwedischen Dorf HON DANSADE EN SOMMAR (Arne Mattson: Schweden 1951) und dem Mafia-Drama LA MOGLIE PIÙ BELLA (Damiano Damiani: Italien 1970), das urbane Neo-Noir-Doppel mit dem überaus faszinierenden Rape-and-Revenge-Kracher LIPSTICK (Lamont Johnson: USA 1976) und dem "nur" okayen Polizei-Actionfilm NIGHTHAWKS (Bruce Malmuth: USA 1981) sowie das italienische Sleaze- und Exploitation-Doppel mit Ruggero Deodatos fiesem Home-Invasion-Schocker LA CASA SPERDUTA NEL PARCO und Marcello Andreis etwas zerfahrenem, dafür aber mit Joe Dallesandro umso mehr charismatisch besetzten urbaner Gang-Film IL TEMPO DEGLI ASSASSINI.
Und last but not least fand das 23. Internationale Jenaer Kurzfilmfestival cellu l'art mit meiner Wenigkeit als Teil des Orga-Teams statt. Ein auszehrendes, nervenaufreibendes, ultrastressiges – aber eben am Ende auch sehr belohnendes Event. Besonders stolz bin ich nicht nur darauf, ein 35mm-Programm aus dem Archiv des KommKinos nach Jena gebracht zu haben, sondern auch auf das von mir kuratierte Special zu erotischen Kurzfilmen weiblicher Regisseure (das vor einem aus allen Nähten platzenden ausverkauften Kinosaal stattfand). Nicht organisatorisch beteiligt war ich an der Programmsektion, die dieses Jahr wohl der Höhepunkt war: der Länderschwerpunkt Estland. Zwei historische Programme zum estnischen Animationsfilm der 1950er bis 1980er auf 35mm, ein Programm zum zeitgenössischen estnischen Animationsfilm (inklusive einer Deutschlandpremiere) und ein Kinderprogramm mit Filmmix aus über über sechs Jahrzehnten. Besonders erwähnenswert finde ich
EINE MURUL – BREAKFAST ON THE GRASS (Priit Pärn: Sowjetunion [Estland] 1987)
Priit Pärn gehörte zu den jungen Rebellen der frühen 1980er Jahre, die vom "familienfreundlichen" Animationsstil der Überväter Elbert Tuganov und Heino Paars die Schnauze voll hatten. EINE MURUL ist sichtlich ein Perestrojka-Film, weil Pärn hier dem Zuschauer mit einer unglaublichen Wut die Verrohung des Alltags in der Sowjetunion in grotesken Bildern vor die Füße kotzt: Strafgefangene werden durch graue Straßen geprügelt, Schwarzhändler zwingen Frauen zur Prostitution, in Ämtern wird brav nach Hierarchie immer weiter nach unten getreten, Frauen werden zu Gebärmaschinen degradiert und verlieren dabei wörtlich das Gesicht. Eine finstere, apokalyptische Vision, von galligem Humor durchzogen.
Etwas weniger finster-nihilistisch ging es in Pärns AEG MAHA – TIME OUT (Sowjetunion [Estland] 1984) zu, in dem eine Katze in einer Art infernalischem Perpetuum-Mobile der stressigen Alltagsroutinen gefangen ist, sich in einem Nervenzusammenbruch in eine grotesk-surreale Traumwelt flüchtet – und dort wieder in eine infernalische Stressmaschine gerät.
KOERKORTER – THE DOG APARTMENT (Priit Tender: Estland 2022)
Willkommen zurück zur Apokalypse, diesmal postsowjetisch: ein Wasteland mit grotesk entstellten Figuren, eine hündische Wohnung die bereit ist ihre Mieter zu fressen, eine surreal-absurde Tagesroutine um die Brötchen bzw. Würstchen zu verdienen. Und dazwischen ein poetischer Ballett-Tanz, "Schwanensee", inmitten eines Kuhstalls. (Zu sehen in der arte-Mediathek bis Dezember 2024)
Ekstatische Kinoerlebnisse der Extraklasse mit alten Bekannten
BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven: USA/Frankreich 1992)
7. Februar 2023, Kino am Markt: auf einer großen Leinwand sind die Closeups auf die Wortgefechts-Duelle zwischen Sharon Stone und Michael Douglas noch mal erotischer! "Nicky! Nicky..."
TWO-LANE BLACKTOP (Monte Hellman: USA 1971)
22. November 2023, Schillerhof, 35mm: gesehen in der wahrscheinlich einzigen erhaltenen 35mm-Kopie in Europa. Das Sound-Design ist im Kino wirklich der Wahnsinn. Aber auch die Textur der Bilder kam in der Kopie besonders schön zum Tragen (die schöne Struktur von Warren Oates' farb-wechselndem Pullover!). Das legendäre Ende analog zu sehen ist natürlich atemberaubend. Totales Kino!
Spezialkategorie Film & Whisk(e)y
Nur ein Symbolbild: Charlotte Ramplings Figur trinkt Vodka (und guter Whisky gehört natürlich in Nosing-Gläser) |
UN TAXI MAUVE (Yves Boisset: Frankreich/Irland/Italien 1977)
Boissets erster "unpolitischer" und "unproblematischer" (also: ohne schwierige Zensurgeschichten oder Morddrohungen) Film. Als Irland-Film enthält er zahlreiche Szenen mit Whisky-Genuss, die zugegeben sehr anregend auf mich gewirkt haben. Am gleichen Abend probierte ich dann mit einem Whisky-erprobteren Freund im Café Central zwei Whiskies – und habe mich seitdem langsam vom Gelegenheitsprobierer zum Single-Malt-Scotch-Liebhaber entwickelt. In Hommage an die genuss-induzierende Wirkung von UN TAXI MAUVE hier eine kleine Nicht-Filmliste:
Lagavulin 16
Ardbeg Uigeadail
Laphroaig PX Cask
Oban 14
Glenmorangie Nectar d'Or
Tops aktuelle Filme 2023
PACIFICTION (Albert Serra: Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022)
Benoît Magimel, ehemals so was wie ein Beau des französischen Kinos, schlurft als französischer Hochkommissar Polynesiens durch die schummerigen Nachtclubs, schaut immer entweder leicht verkatert oder besoffen aus der Wäsche, während ihm die Gerüchte um eine mögliche Wiederaufnahme der Atombombenversuche immer mehr um die Ohren fliegen. Knapp drei Stunden lang schlurfen wir in einem unklaren, trance-artigen Dämmerzustand mit ihm durch diesen Film: wie ein Paranoia-Thriller à la Jacques Rivette, der von Edward Hopper fotografiert wurde – mit Polynesien-Motiven statt Americana.
EO (Jerzy Skolimowski: Polen/Italien 2022)
EO ist ein wenig der Film, der AU HASARD BALTHAZAR hätte werden können, der Film, der wahrhaftig radikal den Esel zum wirklichen Protagonisten macht. Und zwischendurch einfach mal dessen Träumen und Visionen (?) folgt, wenn wir durch einen blutrot gefärbten Himmel fliegen, vorbei an den Windrädern und beginnen, uns dabei im Kreis umzudrehen (dieser experimentelle Einschub ist im Kino von schwindelerregender Unfassbarkeit). Oder in einem inzestuösen Subplot Isabelle Huppert als dominante Mutter Geschirr zertrümmern lässt.
PEARL (Ti West: USA/Neuseeland 2022)
Wenn Douglas Sirk einen Slasher inszeniert hätte... so ungefähr lautete die Anteaserung bei West-Bewunderern im Vorfeld des Kinostarts. Alternativ könnte man aber auch sagen: was, wenn Dorothy in Kansas hätte bleiben müssen? PEARL ist wie eine Variation von WIZARD OF OZ als Origin-Story einer Serienkillerin erzählt, mit den Mitteln eines Technicolor-Melodrama. Neben der anbetungswürdigen Farbfotografie ist es – mehr noch als im Vorgänger X – die Hauptdarstellerin (und Co-Autorin und Co-Produzentin) Mia Goth und ihre komplexe Darstellung der Titelfigur, die PEARL zu einem Original macht: ihre Pearl ist natürlich auch eine derangierte Psychopathin, aber eben auch eine junge Frau mit großen Träumen, die in einem von der Spanischen Grippe gelähmten Kleinstädtchen bei streng-protestantischen deutschen Eltern vor sich hin trüben muss.
THE FABELMANS (Steven Spielberg: USA 2022)
Auf eine gewisse Weise fühlt sich THE FABELMANS wie eine Variation von A.I. – ARTIFICIAL INTELLIGENCE an: wo dort ein Roboterjunge unbedingt ein richtiger Junge werden wollte, um mit seiner "Mutter" ins Bett zu gehen, versucht hier ein richtiger Junge ein Filmemacher zu werden, um mit seiner Mutter nur mittels des Medium Film ins Bett gehen zu müssen. Es ist einer der großen Momente dieses unrunden und doch durch und durch faszinierenden Films, wenn Mitzi Fabelman beim Camping im semidurchsichtigen Nachthemd von den Autoscheinwerfern beleuchtet tanzt und von drei Männern lustvoll beobachtet wird: von ihrem Ehemann, der sie anschaut; von ihrem Geliebten, der sie anschaut; und von ihrem Sohn Sammy, der sie... filmt!
In PEEPING TOM greift der Serienkiller-Filmemacher Mark Lewis bei einem Spaziergang mit der Nachbarstochter intuitiv an seine Hüfte, wo üblicherweise seine Kamera hängt, um ein sich küssendes Paar im Park zu filmen (seinem Date zuliebe hat er auf die Mitnahme der Kamera verzichtet). Hier in THE FABELMANS beobachtet Sammy einen epischen Streit zwischen seinen Eltern – und fängt dann prompt in seinem Kopf an, sich vorzustellen, wie er das mit seiner Kamera filmen und zusammenschneiden würde. Hier wie dort zwei Menschen, die mit der Welt hadern und versuchen, sie mittels von Filmemachen zu interpretieren, zu verstehen, zu exorzieren (auch wenn Sammys Filmemachen weniger tödlich ist als Marks).
In einem sehr interessanten Artikel auf dvdclassik argumentiert Claude Monnier, dass das kommerzielle Kino Steven Spielbergs von kommunikationsunfähigen Figuren bevölkert ist, die von ihren Obsessionen zerfressen werden. Was in anderen Filmen vielleicht nur versteckt mitschwingt, wäre in THE FABELMANS der eigentliche Text. Es ist faszinierend, dass THE FABELMANS eben keine Geschichte NUR über die Wunder des Filmemachens ist (das ist sie auch, und die Offenbarung der Pistolenschüsse-Spezialeffekte in Sammys Schüler-Amateur-Kriegsfilm ist wirklich großartig – zumal Sammy hier auch kurz einen Draht zu seinem kunstfeindlichen, aber technikaffinen Vater findet), sondern auch über die Gefährlichkeit und die Abgründigkeit von Filmemachen, über das Kino als Waffe: eine Erkenntnis, die Sammy selbst machen muss, als er beim Schneiden seines Urlaubsfilms merkt, dass er ohne Absicht die verheimlichte Affäre seiner Mutter mit "Onkel" Bennie gefilmt hat.
DOGMAN (Luc Besson: Frankreich 2023)
DOGMAN ist der erste Besson-Film seit ANGEL-A (2005), den ich gesehen habe, insofern erzähle ich möglicherweise gleich Quatsch: er wirkt wie der Film eines Altmeisters, der sich von der Last befreit hat, irgendetwas zu drehen, was "gefällt", und stattdessen mit Sachen rumspielt, an denen er sichtlich Spaß hat. Ein verständnisvolles psychologisches Drama, ein quatschiger Tierfilm, ein kindskopfiger Heist-Movie, ein fetziges Drag-Queen-Musical (die Drag-Interpretationen von Édith Piaf ("La foule") und Marlene Dietrich ("Lili Marleen") sind große Höhepunkte), voyeuristisch-schmierig-sadistische White-Trash-ploitation, ein latent verstörender Serienmörder-Thriller, kathartische Action mit Schießereien, das Empowerment eines körperlich behinderten Transmenschen und vor allem ein hemmungslos in großen Emotionen badendes Melodrama – das alles steckt in DOGMAN drin. Die Rahmenhandlung ist das Gespräch zwischen dem Protagonisten in U-Haft und einer Polizeipsychologin und die Rückblendenstruktur fliegt dem Film in ihrer erratischen Erzählweise fast um die Ohren: man kann dem Film bei seiner eigenen Entstehung fast zusehen, doch am Ende muss ich sagen ist er eben tatsächlich mehr als nur die Summe disparater Einzelteile – Caleb Landry Jones hält das alles mit seinem mysteriösen, androgynen Charisma zusammen.
AS BESTAS (Rodrigo Sorogoyen: Spanien/Frankreich 2022)
STRAW DOGS bzw. das ganze Backwood-Genre in einer interessanten Neu-Interpretation und Variation: ein französisches Bauern-Ehepaar wird in einem galizischen Bergdorf von zwei Brüdern in der Nachbarschaft angefeindet und zunehmend bedroht, weil sie Ausländer sind und weil sie gegen ein lokales Windradprojekt gestimmt haben, das finanzielle Entschädigungen gebracht hätte. Sorogoyen, geübt im Polizeifilm (QUE DIOS NOS PERDONE) und im Korruptions-Politthriller (EL REINO), beherrscht meisterhaft die Mittel des langsamen Spannungskinos, um die Eskalationsschraube Stück für Stück anzuziehen und mit Entspannung oder plötzlichen Gewaltausbrüchen zur arbeiten. Bemerkenswert ist auch, wie Antoine, dank Denis Ménochets bulligem Äußeren, zunächst klar im Zentrum steht, seine Frau Olga (Marina Foïs) sich aber Stück für Stück zur zentralen Figur entwickelt.
Als eine Art spanischer, zeitgenössischer Heimatfilm-Thriller interessanterweise fast zur Hälfte französischsprachig, scheint der Film sich dennoch nach und nach zu einer Art Reflektion über das Leben nach dem Spanischen Bürgerkrieg zu entwickeln.
INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY (James Mangold: USA 2023)
Im Laufe der drei-parteiigen Tuk-Tuk-Verfolgungsjagd durch die Straßen von Tangier bin ich von meinem Kinositz aufgesprungen und habe mit einem Freudeschrei die Arme siegend nach oben gestreckt. Man könnte auch sagen: INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY hat mir zwischendurch schon mordsmäßig Spaß gemacht! Es ist kein perfekter Film und nicht alle Einfälle (Personal-Recycling aus früheren Filmen und De-Aging) sind gelungen. Als bislang längster Indiana-Jones-Film fühlte er sich trotzdem angenehm kurzweilig an. Das große Highlight war für mich am Ende Phoebe Waller-Bridge als Indianas Patenkind, die leichte Katherine-Hepburn-Vibes versprüht (und genau so "hard-talking" wie sie ist) und den wohl besten Indy-Sidekick der ganzen Reihe abgesehen von Sean Connery spielt (und auch die beste und komplexeste Frauen-Figur in der Reihe).
ROTER HIMMEL (Christian Petzold: Deutschland 2023)
"Die Arbeit lässt es nicht zu!" Und deshalb nimmt Leon aka Thomas Schubert übel und zieht die spritzig-frische Rohmer'ianische Sommerkomödie mit seiner Arschlochigkeit runter – oder wenn man möchte: hoch. Für mich nicht das große Highlight in Petzolds Filmografie (PHOENIX und seine Fernseh-Polizeifilme stehen bei mir deutlich drüber) – aber nachdem mir TRANSIT und UNDINE nur so-la-la gefallen hatten, war ROTER HIMMEL doch überraschend vergnüglich.
von 2022 noch nachgeholt:
BENEDETTA (Paul Verhoeven: Frankreich/Belgien/Niederlande 2021)
Der Körper und die Lebenssäfte Jesu in einer sehr interessanten Variante des katholischen Glaubens neu gefeiert! Mit einer passend zu ihrer Rolle ikonisch spielenden Virginie Efira.
Tops 15 der Erstsichtungen 2024 (nach Sichtungsreihenfolge geordnet)
DIE DRESSIERTE FRAU (Ernst Hofbauer: BRD 1972)
Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #1 – erster Kinofilm des Jahres, erster Knaller. Gesehen beim 20. Hofbauer-Kongress.
ANGEL (Robert Vincent O'Neil: USA 1983)
Was auf den ersten Blick wie Teenager-Straßenstrich-Sleaze aussieht (und stellenweise natürlich auch ist), entpuppt sich rasch als Film mit einer fast unendlichen Zärtlichkeit für seine Charaktere am Rand der respektablen Gesellschaft im Großstadt-Moloch Los Angeles: die Titelfigur selbst (tagsüber Molly genannt und Schülerin und De-facto-Waise), aber auch der Transvestit Mae, seine beste Freundin, die burschikose exzentrische Künstlerin Solly, der Straßen-Cowboy Kit. Gescheiterte Menschen nach bürgerlichen Maßstäben, die in gemeinsamer Solidarität ein bisschen Glück suchen.
Oben: Thelonious Monk; eine eis-essende Journalistin Unten: zwei gutgelaunte Freunde im Publikum; Dinah Washington freudestrahlend nach einem geglückten Vierhände-Solo mit ihrem Vibrafonisten |
JAZZ ON A SUMMER'S DAY (Bert Stern, Aram Avakian: USA 1959)
Von Jazz-Möchtegerne-Puristen verurteilt, weil der experimentelle Inszenierungsansatz des Films sich selten komplett nur auf die Musiker fokussiert, ist JAZZ ON A SUMMER'S DAY eben nicht nur ein "schnöder" Konzertfilm, sondern ein ganzheitliches Portrait des Newport Jazz Festival 1958. Jimmy Giuffre, Anita O'Day, Louis Armstrong, Dinah Washington, Thelonious Monk, Mahalia Jackson und Chuck Berry (unter anderen) mögen die "Hauptdarsteller" sein, aber gerade der Blick auf die Zuschauer und die Bewohnerinnen und Bewohner Newports macht den Film ganz besonders. Meine Lieblinge: zwei Freunde, die im Partner-Look zum Festival gekommen sind, einen Heidenspaß haben, sich unterhalten (und dann merkt man vielleicht auch, dass einer weiß und der andere schwarz ist).
L'ANNONCE FAITE À MARIE (Alain Cuny: Frankreich/Kanada 1991)
Die einzige Regiearbeit Alain Cunys (womit er sich unter anderem bei Charles Laughton, Leonard Kastle, Akramzadeh, Aleksandr Askol'dov einreiht) ist eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des katholischen Autors Paul Claudel: eine ausgestoßene Lepra-Kranke lässt das verstorbene Kleinkind ihrer Schwester in einem Wunder wiederauferstehen. Ein kürzlich wiederentdeckter "film maudit", ein visionäres und vollkommen singuläres Werk, das schwer zu beschreiben ist: Vergleiche mit Bresson wurden gezogen (Bresson auf LSD würde es besser treffen), aber der strukturelle Vergleich mit Laughton – als unklassifizierbares Unikum – ist passender. Ein Mittelalter-Film mit einem stark verfremdeten und ironisierten Period-Setdesign (ein Maneki-neko ist in einer Szene zu sehen), in Tableaus gefilmt, zwischendurch von experimentellen Montagen durchbrochen, mit trance-artig agierenden Darstellerinnen und Darstellern.
RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO (Renato Polselli: Italien 1973)
Als "primitiven Expressionisten" habe ich Renato Polselli einmal bezeichnet. Im dritten Film, den ich von ihm sehe, geht er am weitesten: ist das noch hysterisch-psychotische Exploitation oder schon reines Avantgarde-Kino? Die Handlung spielt in einem Schloss im titelgebenden 13. Jahrhundert, und in der Jetztzeit, schwarze Messen werden im Folterkeller zelebriert, eine mondäne Party wird gecrasht, Figuren werden gnadenlos in einer der beiden Zeitebenen abgemurkst, um später wieder quicklebendig aufzutauchen, sämtliche Charaktere agieren wie am Rand eines Nervenzusammenbruchs oder kurz vor einem Amok-Lauf. Der Soundtrack enthält ein Klavier, das nicht "normal" auf den Tasten gespielt wird: der Pianist kratzt über die Saiten mit den Fingern. So ist auch der ganze Film inszeniert.
HÄXAN (Benjamin Christensen: Schweden/Dänemark 1922)
Avantgardistische Horrorfilme, zum Zweiten. HÄXAN wirkt ein wenig wie der erste Torture-Porn-Horrorfilm, der erste Mondo-Film, der erste Essay-Film (und Polsellis psychotisch-sexuelle Cine-Hysterie scheint er stellenweise auch vorwegzunehmen). Es ist mir ein wenig ein Rätsel, warum dieser Film NOSFERATU nicht den Rang als ultimativen Horrorfilm der 1920er Jahre abgeknüpft hat, wahrscheinlich steht ihm seine verblüffend transgressive Natur (Kinderschlachtungen, Folterungen, Menschenverbrennungen, sadomasochistische-lustvolle Selbstauspeitschungen, grotesk entstellte Figuren etc.) im Wege?
JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (Chantal Akerman: Belgien/Frankreich 1975)
Ein obsessiver Film über obsessive Alltagsrituale. Und wie das Leben ins Schwanken gerät, wenn diese Rituale gestört werden. Das letzte Drittel, als Jeannes Routinen zunehmend harsch gestört werden, hat etwas von einer schwarzen Komödie: gerade dieser Moment, wenn sie sichtlich aufgelöst darüber ist, dass ihr Stammplatz im Café besetzt ist... Zunächst bin ich aber vor Verblüffung fast bis zu Decke gesprungen, als Jeanne am dritten Tag vergisst, den Deckel auf ihre Sparschwein-Ersatz-Terrine zurückzustellen. Ein großartiger Film über Zeit, Dauer, Weile, der sich wie ein Alterswerk eines über viele Jahrzehnte gereiften Regisseurs anfühlt (und doch von einer 25-jährigen Kino-Rebellin inszeniert wurde). Und natürlich Delphine Seyrig...
BUIO OMEGA (Joe D'Amato: Italien 1979)
Ein dunkel-romantischer Film über eine unsterbliche Liebe bis zum Tod – und darüber hinaus. Gesehen und bewundert beim 9. Terza Visione.
PROFUMO (Giuliana Gamba: Italien 1987)
Ein außergewöhnlicher Film über eine Ehekrise, mit einer Anleitung, wie man mit einer Dose Coca-Cola sein Liebesleben bereichern kann. Der große Überraschungs-Hit des 9. Terza Visione.
MALIZIA (Salvatore Samperi: Italien 1973)
Trotz des Titels (nicht ein italienischer Mädchenname, sondern "Bosheit" / "Hinterlistigkeit" / "Heimtücke") bis heute verblüffend eintönig in der Schublade "commedia sexy" eingeordnet. Die Komödie ist auch ein Teil des Films, aber er ist auch eine sehr finstere Studie über die dunklen Seiten der Sexualität im Spiegel von Klassenunterschieden. Wie der Teenager und Unternehmersohn Nino dem Dienstmädchen Angela nachstellt, ist oft nicht lustig, sondern hat eher etwas Psychotisches. Der Film ist in vielen Momenten passenderweise auch wie ein Psycho-Thriller inszeniert (gegen Ende gibt es Passagen wie aus einem Horrorfilm). Dieser Atmosphären-Mix aus lustig und unbehaglich, entspannt und beängstigend, lieblich-zärtlich und brutal-sadistisch, zusammen mit der unvergesslichen Musik Fred Bongustos und Laura Antonellis und Alessandro Momos Präsenz machen das perverse Katz-und-Maus-Spiel MALIZIA zu einem weiteren Meisterwerk des damals gerade einmal 29-jährigen Salvatore Samperi.
HERZKÖNIG (Helmut Weiß: Deutschland – französische Besatzungszone 1947)
Meine Vermutung, geäußert bei der Besprechung von CHEMIE UND LIEBE, dass zwischen 1945 und 1949, im Interregnum zwischen Nationalsozialismus und doppelter deutscher Staatsgründung, so etwas wie ein "pre-code-Zeitalter" des deutschen Kinos schlummert, scheint sich hier zu bestätigen (und Hans Nielsen ist auch wieder dabei). In einer Königsdiktatur wird ein verbotener Schriftsteller, der dem König zum Verwechseln ähnlich sieht, als Hochzeits-Double für den (wieder einmal) hoffnungslos besoffen irgendwo herumstreunenden Potentaten rekrutiert. Den Hinweis des Polizeipräsidenten und des Innenministers, gefälligst nach dem Essen Ohnmacht vorzutäuschen, ignoriert er – und gönnt sich lieber sehr gerne die Hochzeitsnacht mit "seiner" Angetrauten. Ein Feuerwerk von geschliffenen Dialogen, begnadet inszenierten Verwechslungen und ein wahrhaft vergnügliches Dauerfeuer an teils nur sehr leicht verschleierten Anzüglichkeiten und Doppeldeutigkeiten.
UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE (Duccio Tessari: Italien/BRD 1971)
Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #2 – "Ein Engel mit blutigen Flügeln" (wörtlich, deutsche Titel "Das Messer" oder "Blutspur im Park") tarnt seine extreme Emotionalität zunächst mit den Mitteln eines minutiösen, fast obsessiv in Details selbstvergessenen Police-Procedurals und einer längeren Gerichtsszene, doch es hilft nicht: die angestaute Verzweiflung, Schwermütigkeit, Melancholie, die unterdrückten Triebe, die Abgründe hinter der bürgerlichen Fassade, die Perversionen und der Wahnsinn werden sich Bahn brechen. Dazu gibt es nicht nur wie gesagt Tschaikowskis berühmter erster Satz des ersten Klavierkonzerts, sondern auch einen verzweifelt-melancholischen Score von Gianni Ferrio (Kostprobe hier), den wunderbaren Silvano Tranquilli als ruhelosen Polizeiinspektor, Helmut Berger als psychisch labilen Konzertpianisten und die pittoreske (und doch leicht gothisch-bedrohlich gefilmte) Altstadt von Bergamo als Kulisse.
L.A. WARS (Tony Kandah, Martin Morris: USA 1994)
Eine wunderschöne Perle aus der verbeultesten Grabbelkiste des 1990er-Direct-to-Video-Schlock (bei mir: im Regal für ausländische Editionen in einem Nürnberger Laden für gebrauchte Schallplatten, CDs, DVDs und Blu-rays als preisgünstige, offiziell OOP-Vinegar-Syndrome-Ausgabe). Eine ziemlich unoriginelle Undercover-Cop-among-Gangsters-Geschichte, aber mit so viel Druck auf der Tube inszeniert, dass es die hellste Freude ist. Der No-Name-Hauptdarsteller Vince Murdocco wirkt mit seiner leichten Verträumtheit ein wenig wie die Pfennigfuchser-Variante von Michael Dudikoff mit sehr gutem Preis-Leistungs-Verhältnis, wird von einer ganzen Riege an großartigen Nebendarsteller-Charakterfressen begleitet (besonders Johnny Venokur als sadistischer Handlanger und eine sehr charismatische Femme-Fatale-Henchwoman) und wandelt durch ein verblüffend elegant fotografiertes L.A. – warm sonnengebadet bei Tage, melancholisch neonlichter-beleuchtet bei Nacht.
HARDCORE (Paul Schrader: USA 1979)
Paul Schraders zärtlich-melancholischer Hassliebesbrief an seinen eigenen calvinistischen Hintergrund schickt George C. Scott vom oberflächlich aufgeräumten, übersichtlichen, konfliktlosen Paradies für Mittelstandsunternehmer Grand Rapids in das oberflächlich chaotische, apokalyptische, unmoralische und konfliktzerfressene Porno-Moloch Los Angeles – nachdem dieser eine cineastische Epiphanie hatte, als er seine verlorene Tochter in einem Pornofilm vorgeführt bekommen hat (eine schauspielerische und inszenatorische Tour-de-Force, wenn Scott sich zunehmend auflöst und er schließlich in seinem Zusammenbruch erleuchtet wird, weil kein Film mehr durch den Projektor läuft und nur noch die Projektorlampe alles gleißend bestrahlt). Scott verliert sich, findet fast schon so was wie Spaß, sich als schmieriger Porno-Casting-Agent zu verkleiden – und wirkt doch wie ein obsessiv suchender Odysseus, weil vielleicht auch echte Menschen mit echten Träumen in Los Angeles wohnen (es ist wahrscheinlich das gleiche Los Angeles wie in ANGEL), und Grand Rapids (schon rein etymologisch suggeriert) natürlich auch Abgründe hat. Wenn die calvinistische Lehre sagt, dass jeder einen vorbestimmten Platz hat, dann gibt es für den Vater möglicherweise auch keine Rückkehr: Grand Rapids ist am Ende für immer verloren.
Einige weitere schönen Neuentdeckungen 2024 (chronologisch nach Premiere innerhalb von Themen geordnet)
Auf Reisen
LES CHEMINS DE KATMANDOU (André Cayatte: Frankreich/Italien 1969)
Ein desillusionierter 68er auf der Flucht vor der Polizei flieht nach Nepal, um dort seinen halbseidenen Vater wiederzufinden und verliebt sich in eine Aussteigerin (Jane Birkin) – und gerät in eine infernalische Drogen-Höllle. Für mich die bessere Version von MORE: stark und kontrolliert inszeniert und dabei doch auch erzählerisch stellenweise fast anarchisch frei (ein Subplot um den Raub einer heiligen Tempelstatue ist fast ein Mini-Heist-Movie im Film).
SANATORIUM POD KLEPSYDRĄ (Wojciech Jerzy Has: Polen 1973)
Bruno Schulz' extrem komplexe, verschlungene, in alle möglichen Richtungen explodierende Prosa ist auf klassische Weise kaum verfilmbar – stattdessen hat Has tatsächlich den Geist, den Flow von Schulz adaptiert zu einem abenteuerlichen, fordernden und faszinierenden zweistündigen audiovisuellen Bewußtseinsstrom.
THE AMUSEMENT PARK (George A. Romero: USA 1975)
Der wiederentdeckte Industriefilm Romeros: eine Auftragsarbeit über Achtsamkeit gegenüber alten Menschen, die von einem christlichen Verein bestellt und nach Fertigstellung erschrocken in den Giftschrank verbannt wurde. Der grausige Horrortrip eines Rentners durch die Hölle eines Vergnügungsparks dürfte die Auftragsgeber nicht nur inhaltlich abgeschreckt haben: statt eines erbauenden Films gab es einen Avantgarde-Horrorfilm, denn Romeros experimentelle Ader, besonders beim Schnitt, kommt hier so stark wie allenfalls noch bei THE CRAZIES zum Tragen.
ROADGAMES (Richard Franklin: Australien 1981)
Wenn der Serienmörder-Thriller auf das Roadmovie im Outback trifft – oder der wunderbare Stacy Keach als Mensch, der einen Truck fährt, auf Jamie Lee Curtis, die in Trucks trampt. Ein sehr schöner Slowburner, der sich ganz auf Keachs Lächeln verlassen kann, wenn grad nicht die Spannungsschraube zugedreht wird.
BOCKSHORN (Frank Beyer: DDR 1984)
Zwei Jugendliche trampen durch ein mysteriöses Land, in Richtung Westen, hin zum Meer – und begegnen Seelenverkäufern, streng-religiösen Bauern, wie Babies sprechende Propheten, bedrohlichen Serienmördern und Schickimicki-Punks auf der Suche nach der nächsten großen Sause. Die erste in den USA gedrehte DEFA-Produktion ist ein Kinnladen-Klapper erster Güte: ein entfesselter surreal-poetischer Roadmovie, dessen Ursprung man nicht in einem eingemauerten Staat vermuten könnte. Gesehen als "Zeitfüller" zwischen zwei "Pre-Code Musicals" im Frankfurter Filmmuseum: wie passend für einen Film, der sich wie die "Pre-Code-Variante" eines DDR-Films anfühlt (oder wie eine Vorwegnahme der wahnsinnigen Filme, die zwischen 1989 und 1991 bei der DEFA produziert wurden).
SPEED (Jan de Bont: USA 1994)
In seiner Struktur (Hochhaus / Straße mit Bus als das längste Segment / U-Bahn) ein kleines, köstliches Triptychon der Action-Setpieces – und effiziente Arbeitsteilung: Keanu Reeves und Sandra Bullock lenken am Lenkrad, Dennis Hopper dreht am Rad.
In der Liebe
JIGOKUMON (Kinugasa Teinosuke: Japan 1953)
Der erste im Ausland bekannte japanische Farbfilm wirkt in der ersten Hälfte fast schon psychedelisch in seinen explodierenden Farben: passend zur Geschichte eines Mannes, der in seiner Obsession zur Frau eines anderen Mannes komplett den Bezug zur Realität verliert und die Welt wohl nur noch durch einen (offenbar farbengestörten) Schleier des Wahnsinns sieht.
SOROK PERVIJ (Grigorij Čuchraj: Sowjetunion 1956)
Die Liebesgeschichte zwischen einer Scharfschützin der Roten Armee und einem gefangenen weißen Offizier ist in einem Wüsten-Kriegsfilm bzw. -Roadmovie eingebettet und ist vor allem farbdramaturgisch ein absoluter Hingucker: in seinem Erstling scheint Grigorij Čuchraj den Farbfilm quasi neuerfinden zu wollen. Bei seinem berühmtesten Film (BALLADA O SOLDATE) fehlten mir persönlich nicht nur wortwörtlich, sondern auch metaphorisch die Farben, aber sein ČISTOE NEBO über die Liebe einer Arbeiterin zu einem Flieger, der nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zum Opfer des stalinistischen Terrors wird, schlägt in eine ähnliche Kerbe und sei deshalb hier auch erwähnt.
FRANÇOISE OU LA VIE CONJUGALE (André Cayatte: Frankreich/Italien/BRD 1964)
Der weibliche Teil von André Cayattes Ehe-Diptychon LA VIE CONJUGALE entfaltet seine ganze Kraft besonders, wenn man ihn nach dem männlichen Teil JEAN-MARC sieht. Wo JEAN-MARC "nur" ein ausgezeichnetes Ehedrama und Portrait eines sozial engagierten Anwalts (teilweise ein idealisiertes Selbstportrait Cayattes?) ist, wirkt FRANÇOISE in seiner Thematisierung von (struktureller) sexueller Übergriffigkeit, aber auch von unbezahltem "Rückenfreihalten", den Ehefrauen für Ehemänner leisten fast schon proto-feministisch. Er ist auch zackiger, pointierter, erzählerisch freier inszeniert als der männliche Teil. Und wieder ein Beweis, dass Cayatte eine Wiederentdeckung wert ist.
LE CHAT (Pierre Granier-Deferre: Frankreich/Italien 1971)
Ein emotionaler Torture-Porn über eine extreme Hassliebes-Beziehung zweier Menschen, die nur noch sich selbst haben (na ja, und natürlich die Katze), während Paris um sie herum gentrifiziert wird. Fantastische Musik von Philippe Sarde – die bei der Montage mit den beiden Protagonisten, der Abrissbirne und den Katzen auf dem Klettergerüst emotional besonders stark einschlägt (hier eine Impression dieses halluzinatorischen Moments).
ROAD TO NOWHERE (Monte Hellman: USA 2010)
Monte Hellmans letzter abendfüllender Film, persönlicher "Achteinhalb", ein autobiografischer gefärbter Film, der Hellmans Affäre mit Laurie Bird beim Dreh von TWO-LANE BLACKTOP verarbeitet: ein Regisseur dreht einen Polit-Thriller über eine reale, brisante Korruptionsaffäre, in der eine mysteriöse Exil-Kubanerin involviert war und verliebt sich in seine Hauptdarstellerin, während die realen Ereignisse beginnen, den Dreh zu überschatten. Trotz seiner extremen Verschlungenheit (Rahmenhandlung, Ausschnitte aus dem Film, Dreh-Impressionen und -Proben gehen komplett nahtlos ineinander über) ein Film von einer verblüffenden Klarheit und Einfachheit: eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann, einer Frau und dem Kino. Der Titel ist dabei nicht als nihilistisch und zynisch zu verstehen, sondern als Ausdruck einer totalen (und in dieser Konsequenz sehr radikalen) Offenheit: es gibt kein festes Ziel.
Bei Verbrechern und Mördern
L'ARGENT (Marcel L'Herbier: Frankreich 1928)
Wenn ich mich recht erinnere eine eher langweilige Geschichte – aber mit seiner extravaganten, experimentellen, ja stellenweise ekstatischen Inszenierung verwandelt L'Herbier das in einen fesselnden Film. Wenn Brigitte Helm dabei ist, kann da eh wenig schief gehen.
MURDER AT THE VANITIES (Mitchell Leisen: USA 1934)
Ein Lieblingsfilm von Hugh Hefner (der die Restaurierung und die Erstellung einer neuen 35mm-Kopie finanziert hat!). Ein Mörder treibt sein Unwesen hinter den Kulissen einer Revue-Premiere und prägt damit den hybriden Charakter des Films als Krimi/Thriller und als Musical. Die Musical-Nummern gehen mit ultra-knappen Kostümen und schlüpfrig-gewagten Inhalten (ein Songtitel lautet "Sweet Marijuana") komplett in die Vollen: die letzte Sause, bevor ein paar Wochen nach der Premiere der "Production Code" endgültig verschärft wurde. Duke Ellington hat ein Cameo mit seinem Orchester, das die Band der Nummer vorher an die Wand spielt, bis eine Frau auf die Bühne stürmt und eine Dutzend-Reihe von Tänzern mit einer Maschinenpistole niedermäht. Alles ziemlich unglaublich.
Mitchell Leisen, langjähriger Set-Designer von Cecil B. DeMille, wurde gleich von zwei Drehbuchautoren, mit denen er später zusammengearbeitet hat, und die später berühmtere Regisseure wurden, runtergeputzt (nämlich von Preston Sturges und Billy Wilder), was seinem Ruf wohl nicht gut getan hat – offensichtlich zu Unrecht.
LA CONTROFIGURA (Romolo Guerrieri: Italien 1971)
Giallo als wildes, paranoides Puzzle-Spiel. Gesehen beim Terza Visione.
UNE JOURNÉE BIEN REMPLIE (Jean-Louis Trintignant: Frankreich/Italien 1973)
Ein Giallo (es ist ja eine italienisch co-finanzierte Produktion, Bruno Nicolai hat die Musik geschrieben und der verrückte vollständige Titel "Une journée bien remplie ou Neuf meurtres insolites dans une même journée par un seul homme dont ce n'est pas le métier" erinnert an ähnlich verrückte lange italienische Titel) als dadaistische Farce: ein Bäcker bricht eines morgens auf, um an einem Tag neun bestimmte Menschen kaltblütig zu ermorden bzw. sorgfältig choreografiert hinzurichten. Autor und Regisseur Trintignant (er hat ein kleines Cameo als Theater-Regisseur) schickt Jacques Dufilho auf einen mörderischen Trip, der in seiner extremen Reduktion fast schon ein alles zersetzendes Konzentrat des Serienkillerfilms ist, in seiner Abstraktion das Experimentelle streift (einige sehr wilde Montagen sorgen für heruntergeklappte Kinnladen) – und trotzdem bleibt der Ton dabei immer scherzhaft und komödiantisch. Bin sehr gespannt auf Trintignants zweiter Film als Regisseur!
THE PARALLAX VIEW (Alan J. Pakula: USA 1974)
Ein eiskalter Film (der abrupte Schnitt auf die Leiche im Leichenschauhaus am Anfang – puh!). Der Paranoia-Thriller als unausweichlicher Alptraum. Nach der Vorstellung in der Karlsruher Schauburg beim Technicolor-Festival gab es zum Glück Freibier für die Dauerkarteninhaber, um etwas runterzukommen.
DOG DAY AFTERNOON (Sidney Lumet: USA 1975)
Ein Klassiker, den ich schon seit Jahren sehen wollte (besonders, weil er einer der meistgenannten Filme in Lumets Buch "Filme machen" ist). Nach einer überbordenden Liebeserklärung an New York City im Prolog ein verblüffend nüchtern, fast semi-dokumentarisch inszenierter Heist-Movie ohne große "knallige" Attraktionen – und dennoch keineswegs spröde, sondern involvierend, menschlich und emotional.
SCRUBBERS (Mai Zetterling: UK 1982)
Missverstanden und unterbewertet als vermeintlicher Abklatsch von Alan Clarkes Jugendknastfilm SCUM ist SCRUBBERS vor allem ein wunderbarer Vertreter des Frauenknastfilms. Der Blick der schwedischen Regisseurin und Autorin Mai Zetterling ist so einfühlsam und verständnisvoll wie realistisch und ohne Illusionen ob der menschlichen Schwächen. "Jede hat ihre Gründe" ist im Knast natürlich eine Spur härter als bei einer Lustpartie im Schloss.
PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN aka LADY TERMINATOR (Tjut Djalil: Indonesien 1989)
The Terminator to terminate'em all! Gesehen beim internationalen Tag des Terza Visione.
TOUTES PEINES CONFONDUES (Michel Deville: Frankreich 1992)
Ein Korruptionssumpf-Krimi, wo der Teufel im Detail liegt: Gruppen-Pinkeln um die feine Limousine, die bunten Cocktails die die kleine Wirtstochter den beiden Kontrahenten mitten in einer ernsten Auseinandersetzung bringt weil sie eben bunter sind, die fußfetischistischen Einlagen.
Michel Deville, dessen experimenteller Polit-Thriller LE DOSSIER 51 mich letztes Jahr begeistert hat, ist eh ein Toller. Seine manchmal leicht surreale Erotik-Komödie LA LECTRICE (1988) mit Miou-Miou als Titelheldin in literarischer Verführungsmission und NUIT D'ÉTÈ EN VILLE (1990), sein One-Night-Stand-Zweipersonen-Kammerspiel mit Jean-Hugues Anglade und Marie Trintignant möchte ich hier auch noch explizit lobend erwähnen.
DIGGSTOWN aka MIDNIGHT STING (Michael Ritchie: USA 1992)
Gerade in den ersten zwei Dritteln gefühlt unpassend zu einem Festival des Actionfilms (der Film war der Ersatz für einen nicht rechtzeitig im deutschen Zoll abgefertigten Rennrad-Sportfilm), sondern eher eine Art schwarze Komödie über eine korrupte Stadt, die von einem kriminellen Unternehmer (Bruce Dern – loved to hate him!) mit eiserner Hand regiert wird und von einem windigen Gauner (James Woods – loved to hate him too!) herausgefordert wird, den Rekord eines lokalen Boxers, der 10 Einheimische hintereinander geschlagen hat, mit seinem eigenen Kämpfer (Louis Gossett Jr. – mit Haaren zunächst für mich nicht erkennbar!) zu brechen. Atmosphärisch komplett all over the place zwischen schwarzer Gaunerkomödie, Southern Gothic, ultrafinsterem Polit-Thriller, Klamauk-Spitzen und am Ende einem verblüffend brutalen, brachialen, schmerzhaften Boxerfilm erzählt DIGGSTOWN fast komplett plotbefreit, nur mit seinen Figuren: Dern und Woods liefern sich ein Duell der Schmierigkeit, Arroganz und Niedertracht, die Menschlichkeit, Melancholie und Gebrochenheit gibt es bei den Nebenfiguren. Bizarr und sehr faszinierend.
THE THOMAS CROWN AFFAIR (John McTiernan: USA 1999)
Ein auf jeglicher Ebene vergnüglicher Film, bei dem das Katz-und-Maus-Spiel (im Original, wenn ich mich richtig erinnere, schon eher distanziert-spröde) wirklich komplett in die Vollen geht. Ich denke vielleicht zu schmutzig, aber da gibt es natürlich diese "verschleierte" Natursekt-Einlage (Pierce Brosnan kniet unterwürfig vor Rene Russo und empfängt einen Flüssigkeitsstrahl) – zumindest aber die Karibikreise zum Luxus-Bungalow: Thomas Crown beugt sich mit offenem Hemd über ein Gericht, das er gerade kocht, ein bisschen Gemütlichkeitsplauze hängt über den Hosenbund, Catherine Banning huscht oben ohne vorbei und gibt ihm einen Po-Klaps. Ja, Katz-und-Maus-Spiel nicht als Trockenübung, sondern als sinnliches Vergnügen zum Fallenlassen!
THE CAT'S MEOW (Peter Bogdanovich: USA/Deutschland/UK 2001)
Eine kleine Yacht-Spritztour mit William Randolph Hearst und Charlie Chaplin – was kann da schon schief gehen? Zum Glück sehr vieles!
LES MISÉRABLES (Ladj Ly: Frankreich 2019)
Die Langfilmversion des gleichnamigen Kurzfilms mit größtenteils der selben Kern-Crew, der alle Qualitäten beibehalten hat und aus einem kurzen Schlaglicht eine dichtere und breitere Impression macht (die Eskalationsschraube allerdings weiter anzieht): ein toller Polizeifilm, wo die Ambivalenzen der Polizeiarbeit auf die undurchdringbare Komplexität der Cité treffen.
Familie, Nachbarn und andere Gestörte
WO DER WILDBACH RAUSCHT (Heinz Paul: BRD 1956)
Der Heimatfilm als Film Noir und Horrorfilm über dörfliche Niedertracht. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.
BOOM! (Joseph Losey: UK 1968)
Mit SKIDOO (Preminger) und THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Aldrich) reiht sich BOOM! in eine Kollektion angeblicher "Total-Entgleisungen" großer Studio-Regisseure anno 1968 ein. Richard Burton zieht ein Katana und fuchtelt damit im Kimono gekleidet auf einer Balustrade rum, während Elizabeth Taylor schreit, keift und rum-taylort. Einer ihrer Hüte sieht aus wie aus einer Junkie-Müllhalde zusammengeklaubt. Und wenn sie zwei Minuten lang dem Publikum ins Gesicht hustet, sieht das auf einer 17 Meter breiten Cinerama-Leinwand schon sehr beeindruckend aus. Wie bei den erstgenannten sieht man dabei die ganze Zeit einen inszenatorisch komplett kontrollierten Film (das Gerücht, Losey sei während des Drehs dauerhaft unkontrolliert besoffen gewesen, scheint totaler Quatsch zu sein – unkontrolliert war er ganz bestimmt nicht). Unglaublich.
LA MANDARINE (Édouard Molinaro: Frankreich/Italien 1972)
Nach dem Sex schläft er (Philippe Noiret) entspannt ein, sie (Annie Girardot) aber geht hinunter in die Hotelküche und veranstaltet dort mit den Resten ein veritables kleines Fressgelage. So beginnt diese heitere Hotel-Komödie, die komplett plotfrei, leicht wie eine Wolke vor sich hin spaziert, weil wir nur einigen Figuren dabei folgen, wie sie mit ihren kulinarischen und sexuellen Gelüsten umgehen, wie sie tanzen und spazieren und Spaß haben (und na gut: manchmal auch, wie sie versuchen, mit Eheproblemen umzugehen).
MAA ON SYNTINEN LAULU (Rauni Mollberg: Finnland 1973)
Das Kino Finnlands außerhalb der Kaurismäki- und Unterkühlte-Nordeuropäer-Klischeekiste-Komfortzone ist offenbar eine wahre Fundgrube: "Die Erde ist ein sündiges Lied" ist weniger die in der Synopse erzählte Liebesgeschichte zwischen einer Finnin und einem Samen als eher das impressionistische Stimmungsportraits eines Dorfs nach dem Weltkrieg und dessen Zyklen von Geburt, Sex, Trunksucht und Tod. Der Naturalismus des Films ist von einer verblüffenden Krassheit und erreicht bei der realen Onscreen-Schlachtung und -Zerlegung eines Rentiers fast eine halluzinatorische Qualität. Film als ein sinnlicher, reißender, gefährlicher Strudel!
CHOCOLAT (Claire Denis: Frankreich/BRD/Kamerun 1988)
Impressionistische Kindheits-Erinnerungen an Episoden in der afrikanischen Halbwüste. Keine Idealisierung, keine Romantisierung, keine Verklärung, aber auch keine echten Konflikte, sondern immer nur ein leichtes Dauer-Unbehagen.
DEMAIN ON DÉMÉNAGE (Chantal Akerman: Frankreich/Belgien 2004)
Wie würde es also aussehen, wenn eine Avantgardistin und Rebellin des europäischen Autorenkinos eine spritzige Komödie über eine schreibblockierte Sexbuchautorin dreht, in deren Wohnung aus heiterem Himmel die überdominante Mutter einzieht? Leicht off-beat (ein Double-Feature mit einem Helge-Schneider-Film wäre wohl interessant), aber absolut vergnüglich.
ROIS ET REINE (Arnaud Desplechin: Frankreich 2004)
Eine Mini-Retrospektive zu Arnaud Desplechin bereitete mir vor allem im "großen" Desplechin-Amalric-Zyklus viel Vergnügen, also: COMMENT JE ME SUIS DISPUTÉ... (MA VIE SEXUELLE), ROIS ET REINE, UN CONTE DE NOËL, JIMMY P. (PSYCHOTHÉRAPIE D'UN INDIEN DES PLEINES), LES FANTÔMES D'ISMAËL (in TROIS SOUVENIRS DE MA JEUNESSE spielt Amalric zwar auch mit, aber den würde ich nicht zu den Guten zählen, und in LA SENTINELLE ist er wirklich nur in einer Mini-Rolle zu sehen, der ist aber auch toll). Ich habe etwas Mühe, die Details vieler der Filme auseinanderzuhalten, weil Mathieu Amalric und Emmanuelle Devos meistens mitspielen, ein Teil der Figuren jüdisch ist und sich mit jüdischer Identität auseinandersetzt, psychologische oder psychiatrische Behandlung immer wieder eine zentrale Rolle spielt, der Vornamen Ismaël und der Nachname Vuillard immer wieder vorkommen (aber es sind nicht die gleichen Figuren) und die nordfranzösische Stadt Roubaix als Heimatstadt immer wieder Handlungsort ist.
Daher: ROIS ET REINE als Stellvertreter für Desplechins nicht unbedingt konsistent großartiges, aber über weite Strecken faszinierendes Kino mit Mathieu Amalric als schauspielerisches Herz und emotionale (manchmal auch: emotional gestörte) Seele. Besonders schön: der Subplot um die Freundschaft / Liebe zwischen Amalrics Ismaël und der Co-Patientin "La chinoise" in der Psychiatrie.
Eine weitere ehrenvolle Nennung spreche ich hiermit noch für LES FANTÔMES D'ISMAËL aus, der quatschkopfigste, verrückteste, aber auch zärtlichste Desplechin-Amalric-Film (der leider von der französischen Filmkritik unverständlicherweise verrissen wurde).
Mit dem Zweiten sieht man besser
DEATH WISH 3 (Michael Winner: USA 1985)
Gesehen als "Midnight Nasty" bzw. Spätschienen-Film beim Karacho. Beim ersten Mal (auf einem kleinen Röhrenfernseher in der WG eines Freundes) ist er etwas an mir vorbei getrübt. Auf großer Leinwand entfaltet er sein ganzes anarchisches, zersetzerisches, krankes, gestörtes Potential: ein Meisterwerk des totalen Over-the-Top-Unfassbarkeitskinos. Eine Extrem-Satire über entfesselte kleinbürgerliche Mordlust. Da ist natürlich Paul Kersey, der seinen besten Anzug anzieht, um bei den netten Nachbarn von nebenan Kohl zu essen, sich zwischendurch höflich entschuldigt, aufsteht, seine Serviette säuberlich zusammenfaltet und niederlegt, rausgeht, zwei Gang-Mitglieder draußen vor seinem Auto niederknallt und dann seelenruhig zurückkehrt, um seinen restlichen Kohl gentleman-like aufzuessen. Die völlig wahnsinnige Szene mit Eis-Essen, um die Schulter baumelnde Kamera und die zur Elefantenjagd konzipierte Monsterpistole. Dann der Showdown, der wie eine ausgelassene Kindergeburtstagsfeier gefilmt ist, mit Blutbad und Massaker statt Limonade und Topfschlagen. Überhaupt die Inszenierung, die immer leicht off ist und den Film immer wieder auflaufen lässt: DEATH WISH 3 enthält den wahrscheinlich unromantischsten, widerwärtigsten Kuss der Filmgeschichte, wenn kurz, bevor sich die Lippen treffen, auf ein extrem unvorteilhaftes Closeup von Charles Bronsons runzelig-faltigem Schnurrbartmund geschnitten wird.
Mit diesem letzten Bild im Kopf...
wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von Whoknows Presents ein schönes Jahr 2024!
Pre-Code Musicals Maudits:
AntwortenLöschenDas erinnert mich an die Busby-Berkeley-Nummer "Pettin' in the Park" in GOLD DIGGERS OF 1933. Da guckt ein Baby, das vom ungefähr achtjährigen kleinwüchsigen Billy Barty gespielt wurde, auf einer Wiese einer Frau unter den Rock. Danach sieht man die Silhouetten der nackten Frauen, die sich nach einem Regenguss umziehen, auf einem Stoffvorhang - und das Baby beginnt grinsend, den Vorhang hochzuziehen.
https://www.youtube.com/watch?v=3UhP02w0zgc&t=60
Meine Entfremdung von Kubrick schreitet zwar immer weiter voran (wie ich bei THE KILLING und A CLOCKWORK ORANGE gemerkt habe)
Bei mir gibt es keine solche Entfremdung, aber im Vergleich zu THE KILLING bevorzuge ich KILLER'S KISS. Schon allein wegen der schönen Bilder von New York bei Dunkelheit und im Morgengrauen, die mich etwas an ähnliche Bilder in ON THE WATERFRONT erinnern. Und dann dieses tolle Showdown mit den Schaufensterpuppen:
https://www.youtube.com/watch?v=grlDMsiQ2Yc
Ich hatte bis jetzt keine Ahnung, dass Alain Cuny auch mal einen Film gedreht hat. L'ANNONCE FAITE À MARIE ist jetzt mal vorgemerkt. Das rechte untere Teilbild dazu sieht fast aus, als wäre es Paradschanows DIE FARBE DES GRANATAPFELS entsprungen. Und auch RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO ist vorgemerkt, von dem hatte ich auch noch nichts gehört. HÄXAN hab ich vor langer Zeit mal im Fernsehen gesehen, aber, wenn ich mich recht erinnere, in sehr viel schlechterer Bildqualität als auf deinen Bildern. Da lag wohl mal eine ordentliche Restaurierung dazwischen.
SANATORIUM POD KLEPSYDRA
Ja, in der Tat ein sehr verschlungener und faszinierender Film. Has war ja im Westen lange Zeit ein ziemlich Unbekannter, aber seit DIE HANDSCHRIFT VON SARAGOSSA (der ja auf seine Art auch sehr verschlungen ist) in den USA und England auf DVD erschien, hat sich das wohl etwas gebessert.
JIGOKUMON finde ich auch sehr gut. Zur restlosen Begeisterung reicht es bei mir nicht, weil ich mit dem Hasegawa nicht so viel anfangen kann. Das reißt auch die immer tolle Machiko Kyô nicht ganz raus. Aber die Farben ... Der erste japanische Spielfilm in Farbe war der sehr unterhaltsame CARMEN KEHRT HEIM von Kinoshita, aber der kam wohl erst etwas später in den Westen als JIGOKUMON.
"Pettin' in the Park" – großartig! Und dann der Dosenöffner, um die Metallkleider zu öffnen :-D
LöschenKILLER'S KISS habe ich noch als ganz okay in Erinnerung. Als New-York-Film ist er tatsächlich sehr schön und der Kampf mitten unter den Schaufensterpuppen ist natürlich ganz groß (und wird in Henri Verneuils PEUR SUR LA VILLE auch in der zentralen langen Verfolgungsjagd an einer Stelle zitiert).
BARRY LYNDON, den ich von der letzten Sichtung als sehr toll in Erinnerung habe, lief auch beim 35mm-Kino in Jena, den habe ich aber leider wegen Krankheit verpasst.
Eine Facette von Kubrick, die ich nach wie vor sehr schätze, sind seine Fotografie-Arbeiten als Journalist in New York (bevor er Filmemacher wurde). Die gibt es in dem schönen Band des TASCHEN-Verlags THROUGH A DIFFERENT LENS. STANLEY KUBRICK. PHOTOGRAPHS zu bewundern.
Ich kann mich tatsächlich nicht mehr erinnern, wo ich von L'ANNONCE FAITE À MARIE zum ersten Mal gelesen habe, es war jedenfalls anlässlich der DVD/Blu-ray-Veröffentlichung (wenn ich es richtig sehe, wohl nur frz. Untertitel) bzw. einer kurzen Wiederaufführung im Kino in Frankreich, über die ich gestolpert war. Der Trailer versprach schon einen sehr merkwürdigen, außergewöhnlichen Film. Von Paradschanow kenne ich bislang nur DIE FEUERPFERDE (der noch stark vom Kameramann Ilyenko geprägt ist), insofern weiß ich nicht, ob der Vergleich passt.
Alain Cuny hatte eine Rolle in einer Aufführung des Theaterstücks 1944 gespielt und dem Autor Paul Claudel wohl versprochen, den Stoff eines Tags für das Kino zu adaptieren: ein Versprechen, das er dann (glücklicherweise) eingehalten hat.
Von HÄXAN habe ich die französische Edition von "Potemkine Films". Die enthält die vollständigste erhältliche Version des Films mit drei verschiedenen Musikbegleitungen (besonders eine davon kann ich sehr empfehlen, von einer würde ich stark abraten), dazu als Extras noch zwei umgeschnittene Wiederaufführungs-Versionen und ist auch ansonsten eine sehr schicke Ausgabe. Wer des Schwedischen (für die Zwischentitel) nicht mächtig ist, sollte allerdings Französisch (für die Übersetzungsuntertitel) können.
Bei JIGOKUMON hat mich Hasegawa durchaus mitgerissen, aber nun, ist Geschmackssache.... Kinoshita ist bei mir noch eine absolute Leerstelle, aber die verlinkte Besprechung zu CARMEN KEHRT HEIM macht schon Lust.
Von HÄXAN habe ich die französische Edition von "Potemkine Films". [...] Wer des Schwedischen (für die Zwischentitel) nicht mächtig ist, sollte allerdings Französisch (für die Übersetzungsuntertitel) können.
LöschenDa ich weder Schwedisch noch Französisch kann, wollte ich eigentlich nur mal sehen, ob ich in den Weiten des Internet eine passende englische Untertiteldatei finde. Aber mit dem Suchbegriff "Häxan subtitles" führt gleich der erste oder zweite Link zu archive.org, wo es den ganzen Film in einer Länge von 1:45 Stunden, 2016 von Schwedischen Filminstitut restauriert (sowas hatte ich mir schon gedacht) und in Blu-ray-Qualität gibt, zum Ansehen und zum Download. Zwar nur mit einer Musik, und das Video selbst hat keine Untertitel, aber eine passende Datei dafür hab ich dann auch noch gefunden.
Die aktuelle Blu-ray/DVD-Combo von Potemkine würde mich vielleicht trotzdem reizen, wenn es da durchgehend (also auch beim Bonusmaterial) engl. Untertitel gäbe, aber damit sieht es ja bei franz. Editionen traditionell schlecht aus.