Donnerstag, 4. Juli 2024

Du musst zur KIPHO!

Wo muss ich hin? Na, steht doch da - in die KIPHO oder KiPho, die Kino- und Photo-Austellung vom 25. September bis 4. Oktober 1925 in Berlin. Oops, das war ja schon. Diese damals sicher sehr interessante Ausstellung, die über 100.000 Besucher anzog, haben wir also verpasst, aber wenigstens hat eine Art von Werbefilm, der das Ereignis feierte, die Zeiten überdauert. Und diesen Film wollen wir uns jetzt mal ansehen.

KIPHO oder KIPHO-FILM, auch schlicht FILM (inoffizielle Titel)
Deutschland 1925
Regie: Guido Seeber und Julius Pinschewer



Hoppla, was war das denn? Vier Minuten pure Avantgarde. Wer sich mit dem Weimarer Kino auskennt, hat natürlich einiges wiedererkannt. Der feuerspeiende Drache aus Fritz Langs DIE NIBELUNGEN (Teil 1, "Siegfrieds Tod"), ein gezeichneter Emil Jannings in seiner Portiers-Operettenuniform und weitere Anspielungen auf Murnaus DER LETZTE MANN, und natürlich Robert Wienes expressionistischer Klassiker DAS CABINET DES DR. CALIGARI, und das eine oder andere weitere (nicht ganz so bekannte) Bildzitat wie etwa aus WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT. Dazu kommen die von Pinschewer und vor allem Seeber selbst gestalteten wilden Collagen und Montagen, die an zeitgenössische Vertreter des "absoluten Films" (wie man abstrakte Filme damals nannte) erinnern, wie etwa BALLET MÉCANIQUE, den Fernand Léger und Dudley Murphy 1924 in Frankreich drehten. Ideen und Gestaltungselemente aus etwas späteren Werken wie Walter Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und vor allem Dsiga Wertows DER MANN MIT DER KAMERA werden hier auch schon vorweggenommen. Ähnlich wie in DER MANN MIT DER KAMERA ist die Herstellung eines Films selbst Thema ebenjenes Films, aber auch die (damals noch junge) Geschichte und Vorgeschichte des Films, etwa indem einige der Apparate für "bewegte Bilder" von Ottomar Anschütz gezeigt werden, die - ähnlich wie die von Étienne-Jules Marey - zu den direkten Vorläufern der Kinematographie zählen.

"Du musst zur KIPHO" - das ist natürlich eine Reminiszenz an "Du musst Caligari werden!". Anfang 1920, vor der Premiere von DAS CABINET DES DR. CALIGARI, prangte diese ominöse Aufforderung auf Berliner Plakatwänden und Litfaßsäulen sowie in Anzeigen in Filmzeitschriften - ohne irgendeinen erklärenden Kontext. Und mit einer expressiven Grafik versehen, in der sehnige Hände nach dem bizarr gestalteten Schriftzug greifen. Was mochte das wohl heißen? Es handelt sich um einen Schlüsselsatz in einem der Zwischentitel von DAS CABINET DES DR. CALIGARI, aber vor der Premiere des Films wusste bis auf wenige Eingeweihte niemand Bescheid - und so wurde privat und öffentlich eifrig darüber diskutiert und spekuliert. Die Kampagne wurde so zu einem frühen Beispiel für das, was man heute virale Werbung nennt. Dass Seeber und Pinschewer gut fünfeinhalb Jahre später daran anknüpften und sich darauf verlassen konnten, dass das Publikum versteht, zeigte erneut, wie innovativ und erfolgreich die Werbekampagne für CALIGARI war (und für die, die da nicht ganz so firm waren, wird die Aufforderung, zur KiPho zu kommen, mit Bildern von Werner Krauß als dem sinistren Hypnotiseur Caligari unterlegt). Natürlich wäre es naheliegend gewesen, dass auch KIPHO in den Tagen oder Wochen vor der Veranstaltung als eine Art Trailer in den Kinos von Berlin (oder gar in ganz Deutschland) lief. Ich habe aber widersprüchliche Informationen dazu gefunden, ob das tatsächlich der Fall war. In dem Artikel von Michael Cowan (siehe unten) heißt es in der Tat "... which ran as a trailer in German theaters in the weeks leading up to the exhibition". Laut filmportal.de allerdings hatte der Film (abgesehen von einer Pressevorführung am 3. September) erst auf der KiPho selbst am 25. September Premiere.

Anzeige in der Lichtbild-Bühne (links) und Plakat, gemeinsam gestaltet von Erich Ludwig Stahl und Otto Arpke
Ein witziges Detail im KIPHO-FILM sind die Fake-Credits ziemlich am Anfang. Natürlich sind nicht nur die Charaktere wie der "Emir von Belustigstan", sondern auch die Namen der angeblichen Darsteller frei erfunden. Der amerikanische Avantgarde-Regisseur und Kunsthistoriker Standish D. Lawder (1936-2014) hat in seinem Buch The Cubist Cinema von 1975 dem KIPHO-FILM ein ganzes Kapitel gewidmet. (Lawder hat einen Teil seines Studiums in München absolviert, und seine Frau war eine Stieftochter des Dada-Regisseurs Hans Richter (u.a. RHYTHMUS 21, VORMITTAGSSPUK und DREAMS THAT MONEY CAN BUY), mit dem Lawder zeitweise zusammengearbeitet hat.) In Lawders einfachem, aber sehr originellen Film NECROLOGY (1970) gibt es ebenfalls sehr einfallsreiche Fake-Credits. Zwar sind diese nicht am Anfang, sondern am Ende des Films, und sie entschwinden nicht sofort in die ungebremste Beschleunigung, sondern nehmen einen beträchtlichen Teil des Films ein. Aber wer weiß, vielleicht wurde Lawder von KIPHO dazu inspiriert.

Wer waren nun die Herren Pinschewer und Seeber? Julius Pinschewer (1883-1961) war mindestens im deutschsprachigen Raum, aber vielleicht weltweit, der Erfinder der regulären Kinowerbung. (Der Erfinder der Schleichwerbung im Film war möglicherweise der Schweizer François-Henri Lavanchy-Clarke, der schon ab 1896 dezent platzierte Werbung für Seife und Schokolade in seinen kurzen pseudodokumentarischen - aber in Wirklichkeit inszenierten - Filmen unterbrachte.) Zwar gab es schon zuvor vereinzelte Werbefilme im Kino, aber erst Pinschewer hatte die Vision, diese systematisch herzustellen und zu vertreiben. Ab 1910 produzierte Pinschewer also kurze Werbefilme, die einzeln oder in Blöcken im Vorprogramm der deutschen Kinos gezeigt wurden, und er schuf dafür nicht nur ein eigenes Studio, sondern auch die dazugehörige Vertriebsorganisation. Für eineinhalb Jahrzehnte besaß Pinschewer in Deutschland mehr oder weniger ein Monopol in seinem Metier, bevor er von finanzstarken Konkurrenzfirmen überflügelt wurde, die ihm seine zuvor exklusiven Geschäftspartner wie die Ufa-Kinokette abspenstig machten. 1928 schlug er noch einmal zu, indem er mit DIE CHINESISCHE NACHTIGALL den ersten Werbetrickfilm mit Ton (im Tri-Ergon-Verfahren) produzierte, aber wirtschaftlich konnte er da nicht mehr so recht mithalten. 1933 floh er als Jude mit seiner Familie und nur wenigen Habseligkeiten in die Schweiz, wo er sich eine neue Existenz aufbaute - sein nicht unbeträchtliches Vermögen musste er den Nazis überlassen. Aufgrund der Gegebenheiten in der Schweiz beschränkte sich Pinschewer dort fast vollständig auf Zeichentrickfilme - überwiegend kommerzielle Werbung wie bisher, teils aber auch Filme mit kulturellen und identitätsstiftenden Schweizer Themen, die von öffentlichen Körperschaften in Auftrag gegeben wurden. Die meisten seiner deutschen Werbeclips inszenierte Pinschewer selbst, bei etlichen übertrug er die Regie aber an externe ambitionierte Kräfte wie etwa Lotte Reiniger und mehrfach Walter Ruttmann (die sich dabei aber immer eng mit Pinschewer absprechen mussten). Für KIPHO, der von Pinschewers Werbefilm GmbH im Auftrag des Berliner Messe-Amts produziert wurde, tat er sich dann mit Guido Seeber zusammen. Insgesamt hat Pinschewer rund 700 Werbefilme produziert.

Friedrich Konrad Guido Seeber (1879-1940) war ein Fotograf und Kameramann sowie (anfangs zusammen mit seinem Vater) ein Techniker und Tüftler, der die Technik (und insbesondere die Tricktechnik) beim Film voranbrachte. Seeber hat als Kameramann über 150 Filme auf dem Konto. Bis ungefähr 1911 hat er auch gelegentlich Regie geführt, danach aber so gut wie nicht mehr - KIPHO bildet hier also eine von offenbar nur zwei Ausnahmen. Parallel dazu inszenierte Seeber nämlich wiederum im Rahmen der KiPho (anscheinend ohne Beteiligung von Pinschewer, aber ebenfalls im Auftrag des Berliner Messe-Amts) die Kurz-Doku AUS VERGANGENER ZEIT, über die ich nichts Nennenswertes finden konnte. Im Rahmen der KiPho betreute Seeber auch eine Sonderschau mit dem Titel "Zur Geschichte des lebenden Lichtbildes". Möglicherweise war AUS VERGANGENER ZEIT ein Bestandteil davon. Seeber schrieb auch Bücher und Beiträge in Fachzeitschriften über seine Tätigkeiten. In seinem Buch Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten (1927, Neuauflage 1979) ging er auch auf KIPHO ein und schrieb, dass es dafür statt eines konventionellen Drehbuchs eine nach musikalischen Prinzipien gestaltete Partitur gab. Beim KIPHO-FILM war Seeber vor allem für die eigens neu gedrehten Teile zuständig. Zwar hatte sich Pinschewer in den damals schon 15 Jahren seiner Karriere auch technische Expertise erworben und benutzte diverse Animationstechniken für seine Filme, aber die "in der Kamera" erzeugten Collagen, Split Screens und Mehrfachbelichtungen, mit Hilfe von Prismen und Maskenvorsätzen am Objektiv, das war Seebers Domäne.

Der KIPHO-FILM ist in der sehr empfehlenswerten DVD "Julius Pinschewer. Klassiker des Werbefilms" enthalten, die in der arte Edition in Zusammenarbeit mit absolut Medien erschienen ist. Momentan scheint die DVD nur noch gebraucht (immerhin zu vernünftigen Preisen) erhältlich zu sein. Da es absolut Medien in der alten Form seit einem halben Jahr nicht mehr gibt, könnte das auch so bleiben. - KIPHO besitzt laut filmportal.de eine Länge von 111 Metern. Die Fassung aus der Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin, die ich hier via YouTube eingebettet habe, dauert gut vier Minuten und besitzt somit eine Bildrate von 24 fps. Die Fassung auf der gerade erwähnten DVD dauert ca. fünfeinhalb Minuten, läuft mithin mit deutlich langsameren 18 fps (was auf der PAL-DVD natürlich zu 25 Bildern pro Sekunde hochgerechnet wird).

Neben Standish Lawder hat sich auch Michael Cowan ausführlich mit dem KIPHO-FILM befasst, in einer Arbeit mit dem Titel Advertising, Rhythm, and the Filmic Avant-Garde in Weimar: Guido Seeber and Julius Pinschewer's Kipho Film (October Magazine, Winter 2010, Seiten 23-50). Mit etwas Mühe kann man den Artikel mit einem kostenlosen Account bei JSTOR auftreiben. Cowan stellt den Film darin in einen weiteren Kontext, der um die zeitgenössischen Diskussionen um den Gegensatz von natürlichen/biologischen und künstlichen/industriellen Rhythmen kreist (und das nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Arbeitswelt). Dabei zitiert er Arbeiten wie Arbeit und Rhythmus von Karl Bücher, Vom Wesen des Rhythmus von Ludwig Klages, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl von Fritz Giese, Expressionismus und Film von Rudolf Kurtz, Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen und weitere Texte von Hans Richter, und noch einiges mehr. Cowan weist auch darauf hin, dass die KiPho in einer Zeit der großen Krise der deutschen Filmindustrie stattfand. In den Zeiten der Hyperinflation konnten die Studios quasi auf Pump aufwendige Filme drehen, ohne die Kosten dafür dann auch wirklich bezahlen zu müssen. Nach dem Ende dieser Zustände durch die Währungsreform im November 1923 hatten es die Studios verabsäumt, sich auf die neue Situation einzustellen, und 1925 standen viele Firmen einschl. der Ufa kurz vor der Pleite. Damals forderten viele Insider, von "zu viel" Kunst im Film wegzukommen und der Industrie (also dem Kommerz) absoluten Vorrang einzuräumen. Und Cowan kommt zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, dass auch KIPHO auf dieser Linie liegt. Und zu den vorher schon zitierten Arbeiten kommt eine weitere von 1926 mit dem Titel Rhythmus und Resonanz als ökonomisches Prinzip in der Reklame von einem Fritz Pauli. Auch die damaligen Werbepsychologen und Psychotechniker hatten den Rhythmus als ein wichtiges Werkzeug ihrer Zunft entdeckt. Und KIPHO ist eben nicht nur Avantgarde, sondern auch Werbung - für eine Ausstellung, aber damit auch für die Firmen und Verbände der deutschen Filmwirtschaft. Seebers und Pinschewers Film soll das Publikum wie einst Caligari in sein Zelt locken, ja zwingen, aber nicht mit den okkulten Mitteln des verrückten Hypnotiseurs, sondern mit den modernen wissenschaftlichen Methoden der damaligen Zeit. - Neuere ausführliche Texte über KIPHO auf Deutsch habe ich nicht gefunden (nach dem erwähnten Buch von Seeber habe ich nicht gesucht), aber das muss nicht heißen, dass es keine gibt.

2 Kommentare:

  1. Ich muss dann mal wohl zur KIPHO!
    Ach Mist, um ein paar Tage verpasst... dann muss eben die DVD mit der Sammlung von Pinschewers Werbefilmen herhalten, die ich gleich nach Lektüre und Sichtung bestellt habe. Denn der schöne KIPHO-Film und seine Hintergründe haben mich auf jeden Fall neugierig auf mehr aus dem Hause Pinschewer gemacht (auch, wenn der entscheidende Input von Seeber dann wohl oft fehlen dürfte). Unter den ganzen spektakulären Ideen mit den Split-Screens und Collagen und den wirbelnden Bildern fand ich das eigentlich sehr einfache Wort-/Bildspiel mit dem sich drehenden Drehbuch sehr schön und witzig.

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    1. auch, wenn der entscheidende Input von Seeber dann wohl oft fehlen dürfte

      Ja, KIPHO ist schon der spektakulärste und, wenn man so will, radikalste Film in der Sammlung. Ich hatte die Idee zum Artikel auch schon vor Jahren, als ich die DVD kaufte, aber da gab es den Film nicht online, deshalb hab ich das aufgeschoben, bis er endlich da war.

      Von den anderen Filmen gehen die von Ruttmann am ehesten in Richtung Avantgarde, aber auch viele der konventionelleren sind durchaus sehenswert, etwa ein regelrechter Scherenschnitt-Kurzfilm, der in Form einer "Heldenreise" Reklame für Schmerztabletten macht.

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