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Donnerstag, 5. Mai 2011

Macht und Leidenschaft: DER LÖWE IM WINTER

DER LÖWE IM WINTER (THE LION IN WINTER)
Großbritannien 1968
Regie: Anthony Harvey
Darsteller: Peter O'Toole (Henry II), Katharine Hepburn (Eleanor), Anthony Hopkins (Richard), John Castle (Geoffrey), Nigel Terry (John), Timothy Dalton (Philip II), Jane Merrow (Alais)
In der deutschen Synchronisation werden die Originalnamen wie Henry und Eleanor statt der üblichen eingedeutschten Herrschernamen wie Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien verwendet. Ich halte mich hier an die Sprachregelung des Films.


Es ist kurz vor Weihnachten im Jahre des Herrn 1183. König Henry II von England hält Hof in der Burg Chinon in der Nähe der Loire. Durch seine Herkunft (die Plantagenets waren die Herren von Anjou) und seine Ehe mit Eleanor von Aquitanien beherrscht Henry nicht nur Großbritannien, sondern auch einen größeren Teil Frankreichs als der französische König. Eleanor war einst mit König Louis VII von Frankreich verheiratet, doch die Ehe wurde bald annulliert, und Eleanor heiratete den jüngeren Henry. Doch im Lauf der Jahre entfremdete sich das Paar, und Eleanor führte mehrere Kriege gegen Henry, von denen sie die meisten verlor. Auch den letzten, und deshalb sitzt sie seit zehn Jahren als Henrys Gefangene in einer englischen Burg. Aber zu hohen Feiertagen wird sie gelegentlich hervorgeholt, um gemeinsam mit Henry und ihren Söhnen das Fest zu begehen.


Nun steht also Weihnachten vor der Tür, und wieder wird Eleanor zu Henry geladen, und auch die drei noch lebenden gemeinsamen Söhne Richard, Geoffrey und John werden nach Chinon bestellt. Doch diesmal ist einiges anders als sonst. Erstens ist der älteste Sohn und Thronfolger, der ebenfalls Henry hieß, vor einigen Monaten gestorben, und die Thronfolge muss neu geregelt werden. Eleanors Favorit ist der nunmehr älteste Sohn Richard (der zukünftige Richard Löwenherz), der schon immer mehr ihr als Henrys Sohn war. Henry dagegen favorisiert seinen Lieblingssohn John (der "Prince John" der Robin-Hood-Filme und spätere König Johann Ohneland), jüngster der drei. Er ist ein pickeliger und etwas beschränkter 16-jähriger, der sich nicht wäscht. Den mittleren Sohn Geoffrey, einen kalten Zyniker, mag keiner seiner beiden Eltern. Das war schon immer so, worunter er unter seiner glatten Oberfläche leidet. Da man ihn nicht ganz leer ausgehen lassen kann, wurde er mit der Bretagne abgespeist, wo er sich die Zeit mit irgendwelchen belanglosen Kleinkriegen vertreibt. Aber König will auch er werden.


Der zweite Grund, warum die Situation diesmal anders ist als sonst, liegt in der Verquickung von Henrys Machtpolitik mit seinem Liebesleben. Vor 16 Jahren hatte er mit Louis VII von Frankreich einen Vertrag geschlossen: Louis' Tochter Alais (anderswo auch Alix geschrieben) kam als Kind nach England und wurde an Henrys Hof aufgezogen, und sobald sie heiratsfähig wäre, sollte sie Henrys Sohn Richard heiraten. Der fromme Louis versprach sich von der dynastischen Verbindung eine Zähmung seines aggressiveren und militärisch begabteren Kollegen Henry. Dieser erhielt als Gegenleistung das Vexin, eine kleine, aber strategisch günstig gelegene Grafschaft im Nordwesten Frankreichs, die es Henry erlaubt, seine Truppen in gefährlicher Nähe zu Paris zu stationieren. Inzwischen ist Alais erwachsen, aber immer noch nicht mit Richard verheiratet. Der Grund liegt darin, dass sie längst Henrys Geliebte ist (abgesehen davon hat Richard auch kein gesteigertes persönliches Interesse an ihr). Doch Louis VII ist seit drei Jahren tot, und sein junger und dynamischer Sohn und Nachfolger Philip II, der Halbbruder von Alais, hat sich in Chinon angesagt, um die sofortige Erfüllung des Vertrags oder anderenfalls die Rückgabe des Vexin zu fordern. Doch der gewiefte Taktierer Henry ist nicht gewillt, auf die Forderungen einzugehen.


Pünktlich zum Fest treffen alle erwarteten Gäste in Chinon ein. Und sofort entfaltet sich ein Gespinst aus politischen Intrigen und persönlichen Sticheleien. Die Konstellation der Charaktere ist komplex: Eleanor hasst Henry, und zugleich liebt sie ihn noch immer. Sie versucht, ihn zu treffen, indem sie behauptet, einst mit Thomas Becket geschlafen zu haben, seinem früheren Freund und Kanzler, der als Erzbischof von Canterbury sein Gegner wurde und schließlich ermordet wurde. (Übrigens wird in Peter Glenvilles BECKET von 1964 Henry II ebenfalls von Peter O'Toole dargestellt, die Titelfigur spielte Richard Burton.) Henry durchschaut das als Bluff, was Eleanor auch zugibt, doch später legt sie nach, indem sie nun behauptet, mit Henrys eigenem Vater geschlafen zu haben. Hier ist sich Henry nicht mehr so sicher, ob es stimmt, und das nagt in ihm. Passen würde es jedenfalls zu Eleanor, der man auch nachsagte, dass sie ein Verhältnis mit ihrem eigenen Onkel Raymond, dem Fürsten von Antiochia, gehabt habe, als sie mit ihrem ersten Gatten Louis auf einem Kreuzzug war. Eleanors Angriffe unter der Gürtellinie zum Trotz - letztlich will sie Henry wiederhaben.


Alais wurde von Eleanor wie eine eigene Tochter aufgezogen, doch nun ist sie ihre Rivalin um Henrys Gunst. Alais ist deshalb misstrauisch gegen Eleanor, doch die scheint Alais noch immer mehr zu mögen als jeden ihrer Söhne. Richard ist zwar Eleanors Lieblingssohn, doch ihr Verhältnis zueinander ist jetzt gespannt. Denn Eleanor hat vor Jahren ihr eigenes Herzogtum Aquitanien, also den ganzen Südwesten Frankreichs, an Richard übertragen. Nun will sie Aquitanien wiederhaben, um es als Verhandlungsmasse gegen Henry einsetzen zu können. Der will das Herzogtum an John übertragen, um dessen Machtbasis nach seinem eigenen Ableben zu stärken, so dass John tatsächlich einmal König werden kann. Eleanor gedenkt, Aquitanien bei Henry gegen ihre eigene Freiheit einzutauschen - sie, die früher weite Reisen unternommen hat, leidet sehr unter ihrer Gefangenschaft. Doch der kraftstrotzende und zielstrebige Richard denkt nicht daran, ihr Aquitanien zurückzugeben, denn er braucht es selbst als Ausgangsbasis für seinen eigenen Kampf um die Macht. In einer Szene, die auf Eleanors Seite fast inzestuöse Untertöne durchschimmern lässt, kommt es zu einer emotionalen Wiederannäherung zwischen Mutter und Sohn, doch ihr politischer Gegensatz bleibt bestehen.


Philip II ist ein schlauer und berechnender Machtpolitiker, aber in ihm brodelt es auch wegen der jahrzehntelangen Demütigungen, die sein Vater Louis von Henry erdulden musste. Er ist wild entschlossen, es besser zu machen und sich von Henry nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Geoffrey weiß, dass er nur König werden kann, wenn es ihm gelingt, Henry und John gegeneinander auszuspielen. Zu diesem Zweck überredet er John zu einem Bündnis mit Philip. Dabei baut er auf Johns Gier und Ungeduld, denn dieser will lieber gleich König sein, als auf Henrys natürlichen Tod zu warten. Das Abkommen sieht vor, dass Philip Soldaten und sonstige Unterstützung liefert, mit deren Hilfe John Krieg gegen Henry führt. Nach Johns Sieg sollte er König und Geoffrey sein Kanzler werden. Hätte sich Philip an diesen Vertrag gehalten? Später wird klar, dass Philip wahrscheinlich im letzten Moment seine Unterstützung zurückgezogen und dann mit Freude zugesehen hätte, wie sich die Familie seines Feindes gegenseitig zerfleischt. Doch dem tumben John sind solche Überlegungen zu hoch, und Geoffrey hat ohnehin eigene Pläne.


Die Intrigen kulminieren in einer Szene, in der sich nacheinander die drei Söhne und dann Henry selbst in Philips Gemach einfinden, um heimlich mit ihm zu verhandeln. Und jedesmal, wenn einer der Gäste eintrifft, wird der bereits anwesende von Philip hinter einem Vorhang versteckt. Was klingt wie in einem Schwank, entfaltet sich als ein Drama im Kleinen. Das Verhältnis von Richard zu Philip hat eine besondere Note dadurch, dass die beiden als Jugendliche Freunde waren. Und wie sich nun in dieser Szene erweist, hatten die beiden damals auch ein homosexuelles Verhältnis. Das benutzt jetzt Philip, um Henry zu treffen. Er berichtet Henry von der "Sodomie" seines Sohnes, von der er bisher nur vage Gerüchte kannte, aus erster Hand. Und während es zuvor im Gespräch mit Richard so aussah, als wäre damals Leidenschaft auf beiden Seiten vorhanden gewesen, behauptet Philip nun Henry gegenüber, er habe sich nur unter Ekel daran beteiligt, aus dem einzigen Grund, irgendwann ihm davon berichten zu können. Das sitzt. Henry ist schockiert und peinlich berührt. Vor allem aber ist Richard, der im Versteck hinter dem Vorhang mitgehört hat, tief getroffen. Entgeistert tritt er hervor und widerspricht Philip. Jetzt glaubt Geoffrey, dass seine Stunde gekommen ist. Auch er verlässt sein Versteck, und er enthüllt auch Johns Anwesenheit. Das ist ein vernichtender Schlag für Henry: Er erkennt, dass nicht nur Richard und Geoffrey gegen ihn intrigieren, von denen er es sowieso erwartet hatte, sondern auch sein Liebling John.


Doch Geoffrey hat sich verrechnet. Henry setzt nicht ihn als Nachfolger ein, sondern er enterbt alle seine Söhne und lässt sie ins Verlies im Keller von Chinon sperren (wo sie sich allerdings noch frei bewegen können). Und er fasst einen kühnen Plan: Wenn keiner seiner Söhne als Nachfolger taugt, dann muss eben ein neuer Sohn her. Zu diesem Zweck will er seine Ehe mit Eleanor vom Papst annullieren lassen. Dann, so der Plan, wird er Alais heiraten, die ihm neue Kinder gebären wird. Der Papst schuldet Henry einen Gefallen, denn dieser hatte ihm zu seinem Thron im Vatikan verholfen, aber der Plan ist gefährlich. Denn Henry müsste selbst nach Rom reisen, und in seiner Abwesenheit könnten alle möglichen Dinge geschehen, wie ihm Eleanor, die von den Scheidungsplänen persönlich sehr verletzt ist, sogleich drohend ankündigt. Aber auch Alais steht dem Plan skeptisch gegenüber, und sie macht Henry erst die ganze Tragweite der Situation klar: Er dürfte seine jetzigen Söhne nie mehr freilassen. Denn wenn er erst einmal tot wäre, würden seine erwachsenen Söhne, sobald sie die Gelegenheit hätten, Alais in ein Kloster stecken und ihre Kinder von Henry umbringen, damit sie selbst wieder an die Macht kämen. Henry müsste die drei also lebenslänglich einkerkern oder besser gleich sofort hinrichten. Henry zögert, doch er weiß, dass Alais recht hat.


So rafft er sich also auf und macht sich mit einem Schwert bewaffnet auf ins Verlies, um reinen Tisch zu machen. Dort hat sich aber bereits Eleanor durch Bestechung eines Soldaten Zutritt verschafft, weil sie ahnt, dass Henry bald auftauchen wird, und sie hat ihren Söhnen etwas mitgebracht - für jeden einen Dolch. Und bald kommt es zum Aufeinandertreffen der gesamten Familie im Verlies - doch am Ende wird niemand getötet. Henry ist in der stärkeren Position, doch er bringt es nicht fertig, seine Kinder umzubringen, was Eleanor ohnehin gewusst hatte. Henry erkennt, dass er seine hochfliegenden Scheidungs- und Heiratspläne aufgeben muss. Die Thronfolge bleibt vorerst ungeklärt, die Söhne gehen ihrer Wege, Eleanor bleibt Henrys Gefangene, und sie wird zurück in ihre Burg nach England geschickt. Doch Ostern wird man sich wiedersehen ...


DER LÖWE IM WINTER beruht auf dem Theaterstück "The Lion in Winter" des Amerikaners James Goldman, das 1966 erfolgreich am Broadway lief, und Goldman selbst schrieb das Drehbuch des Films. Die Herkunft von der Bühne merkt man dem Film an: Er ist sehr dialoglastig, und Katharine Hepburn und Peter O'Toole haben auch jeweils einen Monolog, fast wie man es aus Shakespeares Königsdramen kennt. (Mit O'Toole wurde auch ein weiterer, noch längerer Monolog gedreht, der laut Anthony Harvey vielleicht sein bester Auftritt war. Doch die Szene war zu lang und störte den Rhythmus des Films, so dass sie zu O'Tooles Verdruß weggelassen wurde.) Auch die Dramaturgie des Films erinnert an Theater - die Zusammenkünfte der Protagonisten in wechselnden Konstellationen, gelegentlich auch alle zusammen in einem Raum. Vielleicht könnte man den Film sogar in Akte einteilen, aber darauf habe ich nicht besonders geachtet. Aber ein Nachteil ist das alles in diesem Fall nicht. Erstens sind die geschliffenen Dialoge kein Selbstzweck, sondern sie transportieren eine politisch und psychologisch komplexe Handlung. Und zweitens ist es eine wahre Freude, Schauspielern wie Peter O'Toole und Katharine Hepburn beim Parlieren zuzusehen und -hören. (Die deutsche Synchronisation ist auch sehr gut gelungen.)


Außerdem wirken die Schauplätze alle authentisch. Der überwiegende Teil der Innenaufnahmen entstand in einem Studio in Irland, aber die Außenaufnahmen und der Rest der Innenaufnahmen wurden bei echten Burgen in Frankreich sowie in Wales gedreht. Es wurde darauf geachtet, den sehr begrenzten Luxus zu zeigen, den auch die Könige damals genossen. In den schlecht oder gar nicht geheizten Gemäuern war es sowohl im Film als auch beim Drehen bitter kalt (gedreht wurde tatsächlich mitten im Winter). Der Innenhof von Chinon ist nicht gepflastert - bei Regen stapft man durch Schlamm. Und in diesem Innenhof werden auch ganz selbstverständlich Schweine und Hühner gehalten, die Hühner freilaufend (siehe erster Screenshot), die Schweine immerhin in Verschlägen.


Peter O'Toole hatte anscheinend die Rechte an Goldmans Drehbuch erworben, jedenfalls war er in der Lage, Anthony Harvey die Regie anzubieten. Der 1931 in London geborene Harvey machte zunächst eine Ausbildung zum Theaterschauspieler, kam jedoch zum Schluss, dass er dafür nicht übermäßig begabt sei, und verlegte sich auf den Filmschnitt. Ab 1955 war er als Cutter beschäftigt, zunächst für die Brüder John und Roy Boulting. Seine bekanntesten Filme in dieser Funktion sind Stanley Kubricks LOLITA und DR. SELTSAM sowie Martin Ritts DER SPION, DER AUS DER KÄLTE KAM. Harveys erste Regiearbeit DUTCHMAN war eine kurze und mit bescheidensten Mitteln gedrehte Verfilmung eines Theaterstücks von Amiri Baraka (damals noch LeRoi Jones). O'Toole sah den Film, war begeistert und trug Harvey die Verfilmung von DER LÖWE IM WINTER an. Der ließ sich die Chance, mit zwei Weltstars zu arbeiten, nicht entgehen. O'Toole und Hepburn waren von dem Stoff überzeugt und arbeiteten für relativ wenig Geld. Auch Komponist John Barry verlangte nur einen Bruchteil des Gehalts, das er beispielsweise für seine James-Bond-Filme bekam. Überhaupt war DER LÖWE IM WINTER viel billiger, als er aussieht. Die gediegene Anmutung des Films war auch den Künsten von Kameramann Douglas Slocombe zu verdanken. Erwähnung verdient die Farbsetzung. Die dominierenden Farben sind braun und grau - graue Gemäuer, braunes Holz, Dreck, Gewänder in gedeckten Farben. Umso wirkungsvoller sind einzelne Akzente, die von leuchtenden Primärfarben und strahlendem Weiß gesetzt werden, und für die vor allem Eleanor zuständig ist.


Die Dreharbeiten fanden in lockerer und familiärer Atmosphäre statt. Katharine Hepburn war guter Dinge, obwohl der Tod ihres Langzeitpartners Spencer Tracy noch nicht lange zurücklag, sie hatte keinerlei Starallüren, bemutterte das Team, und die Chemie zwischen ihr und O'Toole war schauspielerisch und privat bestens. Sie hielt auch große Stücke auf Anthony Hopkins, der zuvor nur in einem Fernsehfilm und einem Kurzfilm von Lindsay Anderson aufgetreten war, aber bereits ein anerkannter Bühnendarsteller unter den Fittichen von Laurence Olivier war. Auch für Timothy Dalton war DER LÖWE IM WINTER sein erster Spielfilm. Zwei kleinere Katastrophen konnten die Fertigstellung des Films nicht verhindern: Ein Pferd, auf dem Anthony Hopkins in voller Ritterrüstung saß, scheute vor einer Kamera und ging durch. Hopkins fiel herunter und brach sich einen Arm. Und Anthony Harvey bekam eine Hepatitis und war für einige Wochen außer Gefecht gesetzt.


DER LÖWE IM WINTER wurde ein grandioser Erfolg bei Publikum und Kritik, der Harveys kühnste Erwartungen übertraf. Es gab drei Oscars: Für Katharine Hepburn (gemeinsam mit Barbra Streisand für FUNNY GIRL - ein Unikum der Oscar-Geschichte), James Goldman für das Drehbuch und John Barry für die Musik; außerdem vier weitere Nominierungen, darunter Harvey für die Regie und O'Toole, der auch bereits für seinen Henry II in BECKET nominiert war. (Bekanntlich gewann O'Toole noch nie einen Oscar, obwohl er bereits achtmal nominiert war.) Dazu gab es zwei BAFTA Awards für Hepburn und Barry plus sechs weitere Nominierungen, Golden Globes für den besten Film und für O'Toole plus fünf weitere Nominierungen, den Regiepreis der Directors Guild of America für Harvey, und noch ein paar weitere Auszeichnungen. Harvey durfte bei der Oscar-Verleihung auch eine der Statuen entgegennehmen, nämlich stellvertretend für Katharine Hepburn, die gerade mit den Dreharbeiten zu DIE IRRE VON CHAILLOT beschäftigt war, und die sich ohnehin nichts aus Oscars und sonstigen Auszeichnungen machte. (Tatsächlich war Hepburn, die zwölfmal für den Oscar nominiert war und viermal gewann, bei den Verleihungen nie anwesend, außer einmal, als sie selbst einen Ehrenpreis an einen mit ihr befreundeten Produzenten überreichte.) Anthony Harvey setzte seine Karriere mit relativ wenigen Filmen bis in die 90er Jahre fort, wobei er noch dreimal mit Katharine Hepburn, einmal mit Peter O'Toole sowie mehrfach mit weiteren großen Stars zusammenarbeitete. Einen so spektakulären Erfolg wie mit DER LÖWE IM WINTER konnte er nicht mehr erringen.


DER LÖWE IM WINTER ist mit einem Audiokommentar von Anthony Harvey auf DVD erschienen.

Samstag, 16. April 2011

Ein letzter Triumph des ländlichen Englands

Die Herrin von Thornhill
(Far From the Madding Crowd, Grossbritannien 1967)

Regie: John Schlesinger
Darsteller: Julie Christie, Terence Stamp, Peter Finch, Alan Bates, Prunella Ransome, Fiona Walker u.a.

Nachdem  die um 1960 entstandenen sozialkritischen Schwarzweiss-Werke aus England zu überraschenden Erfolgen geworden waren, erlebte der britische Film dank einer liberalen Filmförderung, die auch ein Engagement amerikanischer Studios ermöglichte, zwischen 1960 und 1970 einen eigentlichen Höhepunkt. Zu den vielfältigen (qualitativ höchst unterschiedlichen) Produktionen, die in diesem Zeitraum entstanden, gehörten unter anderem “Kostümfilme”, wobei die bereits vorhandene Szenerie gerne für damals sehr erfolgreiche Historienschinken (Zinnemann’s “A Man for All Seasons”, 1966, Charles Jarrott’s “Anne of the Thousand Days”, 1969) benutzt wurde. - Zwei bedeutende Regisseure der “British New Wave” entschieden sich jedoch, Klassiker der englischen Literatur zu verfilmen: Tony Richardson machte aus Henry Fielding’s “Tom Jones” 1963 ein unwiderstehliches Spektakel, das dem Schelmenroman mehr als gerecht wurde - und erntete für das hierzulande leider etwas vergessene Meisterwerk vier Oscars. John Schlesinger wiederum nahm sich 1967, eine Spitzenbesetzung aufbietend, eines Romans des Viktorianers Thomas Hardy (1840-1928) an - und wurde von der Kritik nach allen Regeln der Kunst verrissen. Da  sein “Far From the Madding Crowd” meine liebste Hardy-Verfilmung ist  (und dass Julie Christie, die bekanntlich zu meiner Göttin erkoren wurde, die weibliche Hauptrolle spielt, darf hier als nebensächlich betrachtet werden), möchte ich den Film zu rehabilitieren versuchen.

“Far From the Madding Crowd”, 1874 veröffentlicht, war Hardy’s vierter Roman, und er war, auch wenn ich etwas verallgemeinere, der Roman, der “gerade noch die Kurve kriegte”. Denn obwohl sein “Happy End” nur für zwei der Hauptfiguren gilt, vermag doch das dem Schriftsteller so am Herzen liegende ländliche, den Menschen auffangende England noch einen letzten Triumph zu feiern, während mit “The Return of the Native” (1878) jene Phase einsetzte, die dem Einzelschicksal keine Chance mehr gewährte und  die in die zutiefst tragischen naturalistischen Romane “Tess of the d’Urbervilles” (1891)  und “Jude the Obscure” (1895) münden sollte. - Der nach einigen eher idyllischen Werken entstandene “Far From the Madding Crowd” ist hingegen einem Realismus verpflichtet, der Wesen und Walten der Natur (auch deren Unberechenbarkeit) präzise in seine Geschichte einbindet und faszinierende Schilderungen des bäuerlichen Lebens im Verlauf der Jahreszeiten bietet. Erzählt wird die Geschichte der in der Arbeit disziplinierten, in Liebesdingen launischen Bathsheba Everdene, die die Farm ihres Onkels erbt und gleich von drei Männern umgarnt wird. Natürlich entscheidet sie sich für den falschen, den Windhund Frank Troy, der ihr Vermögen verspielt und sie ins Unglück zu stossen droht. Erst spät erkennt sie, dass sie sich die ganze Zeit über auf die Hilfsbereitschaft des naturverbundenen Gabriel Oak (man beachte den Nachnamen!) verlassen konnte...

 Was gab es nun an Schlesinger’s Arbeit (seiner dritten mit Julie Christie, die für “Darling”, 1965, früh, vielleicht zu früh, einen Oscar erhalten hatte) auszusetzen? - Es waren neben der meines Erachtens unberechtigten  Kritik an der Leistung der Hauptdarstellerin vor allem zwei Dinge, die zeigen, wie wenig man sich mit der literarischen Vorlage auseinandergesetzt hatte: Zum einen kolportierte man gern die von Roger Ebert in der Chicago Sun-Times veröffentlichte Kritik, der Film gehe auf die sozialen Probleme der Zeit überhaupt nicht ein, sondern beschränke sich auf eine stereotype, sich an Hollywood anbiedernde romantische Liebesgeschichte, zwar in hübschen Bildern dargeboten, aber zweieinhalb Stunden nicht ausfüllend.  Zum anderen warf man (ein Vorwurf, der sich im Zusammenhang mit Michael Winterbottom’s “Jude”, 1996, wiederholte und eigentlich auch für Polanski's “Tess”, 1979, gilt) dem Drehbuch vor, es liege zu nah am Original und lasse dem Regisseur überhaupt keine künstlerischen Freiheiten.


Dem ersten Vorwurf ist entgegenzuhalten, dass sich die betreffenden Kritiker wohl vor allem mit Hardy’s späteren Romanen auseinandergesetzt hatten und an “Far From the Madding Crowd” ähnliche Forderungen stellten wie an diese. Tatsächlich gibt sich der Roman nur am Rande “sozialkritisch”. Was aber in dieser Hinsicht aus ihm herauszuholen ist, findet sich auch im Film wieder: die harte Suche nach Arbeit, das Armenhaus als letzte und tödlich endende Zuflucht für eine schwangere Frau etc. Hinzu kommt: Alleine schon die glaubwürdigen Gesichter der Arbeiter auf Bathsheba’s Farm lassen erkennen, wie sehr Schlesinger hollywoodesquen Bildern auszuweichen versuchte, dass es ihm um ein Höchstmass an Authentizität ging. - Zum zweiten Vorwurf: Hardy’s Romane SIND beinahe Drehbücher, weisen, was Literaturwissenschaftler immer wieder in Erstaunen versetzt, ein nahezu filmisches Denken auf. Exemplarisch sei hier nur die Szene genannt, in der Troy die völlig gebannte Bathsheba in der Hügellandschaft jenes semi-fiktionalen Wessex, das natürlich zum grossen Teil mit Dorset, der Heimat des Schriftstellers, identisch ist,  mit seinen Säbelkünsten beeindruckt: Wer sie liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, er habe es mit einem Gedicht in Prosa zu tun, einem Gedicht, das sich aber zugleich Wort für Wort ins Medium Film transportieren lasse. Und tatsächlich: Es gelang Schlesinger‘s Kameramann Nicolas Roeg (der wusste, weshalb er Julie Christie für seinen eigenen ersten Film, “Don’t Look Now”, 1973, besetzen würde) , das Glitzern der messerscharfen Klinge und seinen Effekt auf die junge Frau in einzigartigen Bildern einzufangen.

Zur Handlung: Der junge Farmer Gabriel Oak hält vergeblich um die Hand der schönen, aber in Liebesdingen eigenen Bathsheba an. Als seine Schafe von einem ungehorsamen Hund über die Klippen getrieben werden, macht er sich mit einem “Thank God I’m not married!” auf die Suche nach Arbeit und wird von der mittlerweile mit dem Wahlspruch “I shall manage all with my head and hands” selber zur Farmerin gewordenen Bathsheba als Schäfer eingestellt; denn sie weiss wohl, was sie an dem Mann, der mit der Natur lebt und sich auch Feuer und Sturm zu stellen wagt, hat. - Mittlerweile erwacht in ihr das launisch-kokette Wesen, das dem reichen Farmer William Boldwood, einem Hagestolz, eine Valentinskarte schickt. Entgegen aller Erwartungen verfällt Boldwood der schönen Frau und bedrängt sie beinahe krankhaft. Doch sie zieht den draufgängerischen Charme des charakterlosen Taugenichts Frank Troy, einem Artillerieoffizier, der seine schwangere Geliebte Fanny Robin sitzen liess, weil sie sich zur Hochzeit in der falschen Kirche einfand, vor. In einer überwältigenden Szene (sie spielt sich in einem Seebad ab, und die Wellen des Ozeans übertönen jedes Wort einer offenbar verzweifelt bettelnden Frau) überredet sie ihn, sie zu heiraten, obwohl sie weiss, dass er ihr Verderben sein wird. - Die Ehe verläuft unglücklich; doch Gabriel, der zusammen mit ihr während der von einem Sturm heimgesuchten Hochzeitsnacht (die Männer liegen besoffen in der Scheune herum!) das geerntete Getreide mit Planen abdeckt, hält zu ihr. - Als Troy’s Geliebte Fanny während der Geburt ihres Kindes im Armenhaus stirbt und ihr Sarg auf Geheiss von Bathsheba auf der Farm aufgebahrt wird, erfährt die bloss wegen ihres Geldes geheiratete Frau während einer verzweifelten Auseinandersetzung aus dem Mund des Gatten die Wahrheit: “This woman is more to me, dead as she is, than you ever were.” Troy stürzt sich in die Fluten des Ozeans, und der Weg scheint endlich frei für William Boldwood, der vor lauter Liebeskummer seine eigene Farm zu vernachlässigen begann...


“Far From the Madding Crowd” erzählt wie die Romane des Schweizers Jeremias Gotthelf von einer Gemeinschaft, die noch ganz im Ländlichen verhaftet ist. Und dieses Verhaftetsein wird von Schlesinger, seinem Kameramann Nicolas Roeg und dem für die Musik zuständigen Richard Rodney Bennett in Szenen eingefangen, die schlicht ein Erlebnis sind: Atemberaubende Landschaftsaufnahmen lassen uns an einer Vergangenheit teilhaben, in der sich neue Techniken (etwa auf Boldwood’s Farm) erst am Rande bemerkbar machen, weil das von jenen oft zu Flötenspiel gesungenen alten Liedern, an die auch Hardy’s Gedichte immer wieder erinnern, begleitete Leben sich mit eigenen Händen dem Rythmus der Jahreszeiten anpasst, mit der Natur lebt, ihr aber auch Widerstand leistet, wenn sie zu heftig in seine Existenz  eingreift. Manche Bilder (etwa vom Erntedankfest) wirken wie Stilleben; kleine Szenen (der Mann, der von seiner alles andere als bibelfesten Mutter “Cain” genannt wurde) erinnern immer wieder an die Orality und die damit einhergehende mangelnde Bildung der Menschen, die weit weg von der Menge leben. Einzelne Abläufe sind auf eine die Figuren minutiös charakterisierende Weise  aneinandergereiht, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschliesst: Noch sieht man Gabriel Oak, der verzweifelt auf seine toten Schafe hinabblickt und den Hund erschiesst - und schon wandert er entschlossen den Pfad hoch, felsenfest auf eine Zukunft für sich bauend.  Um ein Abgleiten ins Idyllische zu vermeiden, bauen Film wie Roman etwa drastische Bilder von Fanny Robin ein, die sich in Casterbridge mit letzter Kraft zum Armenhaus hochschleppt. Und natürlich darf auch die für Hardy typische Ironie, heute beinahe makaber anmutend, nicht fehlen: Während Troy auf Fanny, die er unterstützen will, wartet, wird ihr Sarg an ihm vorbeigefahren, ohne dass er es bemerkt. Er “verpasst” also die Tote wie sie einst die Hochzeit verpasste.

Gewiss, “Far From the Madding Crowd” ist sowohl als Roman als auch als Film mein liebster Hardy, weil er den Rezipienten nicht mit in einen Strudel völliger Hoffnungslosigkeit hinabreisst, sondern wie viele Gedichte des Schriftstellers eine Vergangenheit heraufbeschwört, die dem Willigen, dem ländlichen England Verbundenen, stets einen Weg in eine bessere Zukunft wies. Diesen vielleicht eskapistischen Genuss ermöglichen bei Schlesinger  männliche Hauptdarsteller, die wahre Glanzleistungen bieten: Wer je Peter Finch sah, der, vom Ticken der vielen Uhren und den Blicken zweier Dalmatiner begleitet, sein Essen stehen lässt und ständig auf die Valentinskarte mit ihrem “Marry me!” starrt, wird diese Szene nie vergessen können (er verbrennt die Karte, was aber sein innerliches Feuer erst recht zum Lodern bringt). Alan Bates spielt den treuen Weggefährten der jungen Frau, deren Tun und Lassen er mit Blicken, die Bände sprechen, kommentiert, mit einer Glaubhaftigkeit, wie man sie wohl seit seinem “Alexis Sorbas” (1964) nicht mehr erlebte - und Terence Stamp gibt mit jeder Bewegung zu erkennen, dass er ein skrupelloser Mensch ist, der sich auf seinen billigen Charme verlassen darf. - Bei einer solchen Besetzung möge sogar die Frage unbeantwortet bleiben, ob Julie Christie, Symbol der 60er, die nach der harten Arbeit mit David Lean (“Doctor Zhivago”, 1965) gleich wieder lange und beschwerliche Dreharbeiten in Dorset auf sich nehmen musste, nicht eher als mit spröder Schönheit ausgestattete sinnliche Frau denn als Farmerin glaubhaft wirke.

 ***

In meiner kleinen Besprechung eines Hardy-Gedichts wies ich auf einen Film hin, in dem neben dem Gesang einer ländlichen Gemeinschaft auch das Bild des über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins peitschenden Regens vorkommen würde. Tatsächlich gibt es in “Far From the Madding Crowd” eine ganz auf Nässe hin stilisierte Szene, die ich sogar als emotionalen Höhepunkt der Geschichte bezeichen möchte: Während eines heftigen Regens eilt Troy zum Grab seiner Geliebten und versucht verzweifelt,  Blumenzwiebeln in die nasse Erde zu pflanzen. Der Regen wird immer stärker, und das aus einer Dachrinne schüttende Wasser scheint auf Geheiss einer "höheren" Macht  die Aufnahme der Blumenzwiebeln regelrecht  zu verunmöglichen. Troy aber geht an den Strand, um seinen nackten Körper den Fluten zu übergeben. Das Ende eines unnützen Lebens? - Das soll hier nicht verraten werden.

Donnerstag, 10. Februar 2011

Das vom kichernden Clown verdrängte Meisterwerk

Es gibt Filme, von deren Besprechung man wohl besser die Finger lassen sollte, weil man ihnen auch nicht ansatzweise gerecht zu werden vermag. Andererseits sieht man sich gelegentlich genötigt, seine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen - und sucht nach Ausreden (ein Wort, dem wir später erneut begegnen werden) dafür. Ich schiebe hiermit die Schuld auf Alex ("hypnosemaschinen"), der mich dank seines "Weihnachtsfilms" wieder einmal mit den einzigartigen Bildern konfrontiert hat, die David Lean zu erschaffen vermochte. Aber wie schon der Titel dieses Eintrags andeutet, hat mein Wunsch, mich Lean's letztem Film zuzuwenden, vor allem mit dessen eigenartiger Rezeption, auch mit einer persönlichen Betroffenheit, zu tun - liess ich mich damals doch selber  willig zum Opfer des "Zeitgeists" machen.

Reise nach Indien
(A Passage to India, Grossbritannien/USA 1984)

Regie: David  Lean
Darsteller:   Judy Davis, Victor Banerjee, Peggy Ashcroft, James Fox, Alec Guinness, Nigel Havers, Richard Wilson, Antonia Pemberton, Sandra Hotz u.a.

Der Misserfolg von “Ryan’s Daughter” (1970) erschütterte David Lean so sehr, dass der Eindruck entstand, er werde nie wieder ein Kinoprojekt in Angriff nehmen. Als aber die Produzenten Brabourne und Goodwin auf der Suche nach einem Regisseur für die Verfilmung von E.M. Forster’s Roman “A Passage to India” waren, stand er, der sich schon in den 60ern vergeblich um die Filmrechte bemüht hatte,  noch einmal zur Verfügung. - Leider sollte auch sein letzter Film, der 1984 in die Kinos kam, nicht gebührend gewürdigt werden, stampfte doch das kindische Wiehern eines zum Clown mutierten Komponisten aus Salzburg alles, was ihm in den Weg kam, gnadenlos in den Boden. Miloš Forman’s “Amadeus”, die Verfilmung eines Bühnenstücks von Peter Shaffer, in dem Antonio Salieri indirekt zum Mörder Mozarts gemacht wird, sicherte sich jene schwer zu greifende Macht, die nicht nur Falco zu einem Welthit verhalf, sondern  zur Begeisterung eines in Trance versetzten Publikums kreischend durch sämtliche Kinosäle dieser Welt wirbelte, um alle wichtigen Preise abzuräumen. Lean’s monumentale Romanverfilmung, von der man annehmen durfte, dass sie seine letzte Arbeit sein würde, erschien hingegen --- altmodisch!

Heute hat, dies darf man guten Gewissens behaupten, der Zahn der Zeit an diesem Ding, das uns seinerzeit so “hip” vorkam, genagt - ein Phänomen, das sich bei derart umjubelten Modefilmen (und nicht zuletzt bei  einigen Arbeiten von Forman) immer wieder bemerkbar macht. Wir kennen mittlerweile auch die sich zwar äusserst "britisch" gebenden, aber gepflegt langweiligen und eher einem John Galsworthy als der elegant-schlanken Sprache Forsters angemessenen Verfilmungen aus der Merchant/Ivory-Küche (“Room With a View”, 1985, “Maurice”, 1987, “Howards End”, 1991).   Dennoch wollen viele Kritiker von “A Passage to India” noch immer nicht zugeben, damals aus vielleicht verständlichen Gründen ein zeitloses Meisterwerk verkannt zu haben, einen gewaltigen Film, der wohl nur wenig hinter “The Bridge on the River Kwai” (1957) und “Lawrence of Arabia” (1962) zurückstehen muss. - Ausreden werden immer wieder gefunden: So “stört” man sich am altmodischen Soundtrack von Maurice Jarre, obwohl sich dieser schelmisch dem vom “British Empire” so geliebten Marschrhythmus unterwirft und bewusst zurückhaltend eingesetzt wird. Es wird auch behauptet, Lean habe keine Beziehung zum “Östlichen” gehabt und  in Indien vergeblich nach jenen vor Schönheit schmerzenden Bildern gesucht, die einen “Lawrence of Arabia” auszeichnen - und man fragt sich: Haben diese Kritiker die Augen vor all dem Reichtum an Farben verschlossen, gar den im ehemaligen Kaschmir spielenden Schluss verschlafen?

Für die boshafteste Anschuldigung ist vielleicht Alec Guinness, der Lean so grosse Rollen verdankte, zuständig: Der Regisseur eines Films, der sich nicht zuletzt gegen den Rassismus unter der Kolonialherrschaft  wendet, soll Inder für “minderwertige” Schauspieler gehalten und deshalb ihn, Guinness, dazu überredet haben, den Philosophen Godbole zu spielen, der als lächerlich geschminkte Figur zur schlechtesten Rolle seines Lebens geworden sei (ob der Mime Filme wie “The Scapegoat”, 1957, wohl bei dieser Gelegenheit aus seiner Filmographie verbannte?). In Wirklichkeit ärgerte sich Guinness, weil ein grosser Teil seines Parts um der Wirkung willen dem Schnitt zum Opfer fiel - obwohl er sich darüber hätte freuen dürfen. Denn dieser Godbole, der die fragende Bemerkung der englischen Damen, es müsse doch einen Grund für den Ruf der Höhlen von Marabar geben, mit einem abschliessenden “Indeed!” beantwortet, ist die Personifizierung jener Kluft, die zwischen zwei Kulturen besteht, jedoch  im entscheidenden Augenblick von Mrs. Moore, “a very old soul”, überwunden wird: als sie versteht, dass der Weise sie auf dem Bahnhof zur Reise in ihren Tod verabschiedet.


Es fällt einem bedeutenden Regisseur nicht unbedingt schwer, aus einem durchschnittlichen Roman einen guten Film zu machen; die Verfilmung von Weltliteratur ist hingegen - wer wusste dies besser als David Lean, der sich zweier Charles Dickens-Romane angenommen und  - pardon! - Boris Pasternaks “Doktor Schiwago” 1965 um des Kitschs willen vergeigt hatte? - eine höchst diffizile Angelegenheit. Einerseits muss man der Grösse eines solchen Werks gerecht werden, es auch möglichst “getreu” und umfassend wiedergeben. Andererseits genügt es nicht, einfach dem Plot und den Dialogen zu folgen; denn: “I think people remember pictures, not dialogue." (Lean) - Es geht also um die filmische Erfassung des oft beschworenen “Geists” eines Werks, dessen Umsetzung in ein anderes Medium. Dies erfordert gelegentliche Freiheiten: So kommt etwa die grossartige Szene, in der Adela auf ihrer Fahrradtour dem Erotischen begegnet, im Roman nicht vor, erweist sich aber als unumgänglich, wenn man aufzeigen will, was in der jungen Frau vorgeht.  - Und wer  eine Liste mit bedeutenden Verfilmungen von Weltliteratur anzufertigen versucht, stellt bald einmal fest, dass er um Lean, auch um seinen letzten Film, nicht herumkommt.

Etliche Leser werden Forster’s Roman aus ihrem Englischunterricht kennen. Ich begnüge mich deshalb mit einer Beschreibung der Filmhandlung: Im unwirtlichen, regnerischen England der 20er Jahre steht die junge Adela Quested vor dem Schaufenster eines Reisebüros, wo sie für sich und die ältere Mrs. Moore eine Überfahrt nach Indien buchen will. Mrs. Moore will dort ihren Sohn Ronny, der in der Provinzstadt Chandrapore Friedensrichter ist, besuchen, Adela begleitet sie als dessen zukünftige Verlobte. Die beiden Frauen, die ein ihnen fremdes Indien und seine Leute kennen lernen möchten, begegnen schon anlässlich der Ankunft des Vizekönigs einem - arroganten - Kolonialismus auf seinem Höhepunkt, entdecken auch das Brodeln in der Menge der Unterdrückten, das im Verlauf der Geschichte in einen Aufruhr umzuschlagen droht. Statt den Indern zu begegnen, begegnen sie dem Club, Inbegriff des Englischen, englischen Strassennamen - und einem Ronny, der zum karrieresüchtigen, rassistischen Schleimer geworden ist. Ihr Wunsch, mit Indern in Kontakt zu kommen, wird mit einer “Garden Party” erfüllt, auf der ein dressiertes indisches Orchester flotte englische Märsche spielt, die eingeladenen  Inder herablassend begrüsst und anschliessend gemieden werden. Lediglich der Hochschulleiter Richard Fielding tritt gegenüber der indischen Bevölkerung aufgeschlossen auf, vermag er ihr Wesen letztlich auch nicht ganz zu verstehen. Er bietet den beiden Damen eine Begegnung mit dem kauzigen Philosophen Godbole an, zu der auch der von den Briten ausgenutzte Arzt Dr. Aziz eingeladen werden soll (Mrs. Moore war ihm an ihrem ersten Abend in einer Moschee am Ganges begegnet und freundlich als Mensch mit einem guten Gesicht wahrgenommen worden).  - Während sich Godbole in mancherlei Hinsicht reserviert gibt, den Damen aber immerhin seine Reinkarnations-Philosophie und den Glauben an die Vorbestimmung (“My philosophy is you can do what you like... but the outcome will be the same.”) erläutert, lässt sich Aziz voreilig zu einer Einladung hinreissen: Er bietet Adela und Mrs. Moore an, ihnen die berühmten Höhlen von Marabar zu zeigen...


Aziz’ Freunde tragen mit Mühe und Not zusammen, was für einen Ausflug mit englischen Ladies benötigt wird (sogar Tische, Stühle und Portwein werden besorgt). Unterdessen entdeckt Adela auf einer Fahrradtour eine alte Tempelstätte mit Figuren, die sich offen liebend umschlingen. Zum ersten Mal wird ihre Neugier auf etwas geweckt, was sie bis jetzt unterdrückte: die hemmungslose Erotik, die sich zugleich als animalisch erweist (die Stätte dient als Fels für Affen, die die flüchtende junge Frau verfolgen) - und sie nachts nicht mehr schlafen lässt.

Als man sich am frühen Morgen am Bahnhof trifft, stellt sich heraus, dass Fielding, der ebenfalls eingeladen war, später nachkommen muss, weil Godbole zu lange gebetet hat. Und spätestens jetzt erkennt der Zuschauer das den ganzen Film durchdringende Vorbestimmte, die Vorahnungen des Unausweichlichen, die von beiden Kulturen - wenn auch unterschiedlich - wahrgenommen werden: Schon im Reisebüro zu Beginn des Films fühlte sich Adela auf seltsame Weise von einem Bild mit den Höhlen angezogen; Mrs. Moore empfand den vom Mond beschienenen nächtlichen Ganges, den sie in der Moschee erblickte, als schrecklich und wunderbar zugleich, weil sie ahnte, dass das Wasser zu ihrem Grab werden sollte...

Trotzdem scheint der Ausflug zu einem Erfolg zu werden: Die Fahrt mit dem Zug und der farbenprächtige Ritt auf einem Elefanten mit grosser Begleitung befremden und beeindrucken die Damen. -  In der ersten Höhle erleidet die klaustrophobische Mrs. Moore jedoch wegen des ungewöhnlichen Echos einen Schwächeanfall und fordert Adela und Aziz auf, die weiter oben gelegenen Höhlen alleine zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin werden seltsame “Grenzen” überschritten: Aziz reicht der Engländerin beim Aufstieg die Hand, Adela lässt sich - die Ferne ihres Verlobten, für den sie im Grunde gar nichts empfindet, erkennend - zu persönlichen Fragen über seine Beziehung zur verstorbenen Frau und die Liebe hinreissen.  - Und dann geschieht etwas, was dem Zuschauer wohl ebenso bruchstückhaft und zusammenhangslos  vorkommt wie den involvierten Figuren im Rückblick: Aziz, sich des Überschreitens der "Kluft" nur allzu bewusst, entfernt sich, um eine Zigarette zu rauchen, Adela betritt unterdessen eine der Höhlen, zündet ein Streichholz an, bläst es aber ängstlich aus, als sie bemerkt, dass der Inder nach ihr suchend vor dem Eingang steht. Kurz darauf sieht man sie völlig entgeistert den Hang hinunterrennen und in ein Auto steigen. - Als der mittlerweile nachgekommene Fielding mit Mrs. Moore und Aziz wieder in Chandrapore eintrifft, wird der Arzt beschuldigt, er habe Adela Quested in den Höhlen von Marabar zu vergewaltigen versucht...

Was geschah wirklich in den Höhlen? - Vergewaltigt wurde Adela auf jeden Fall: weil ihr niemand zu diesem “Only Connect” zwischen den Kulturen verhelfen konnte, das Forster zum Motto seines Romans “Howards End” machte - und das ihre später verwirrte Persönlichkeit vervollständigt hätte.  Man wird sie auch weiter vergewaltigen, dient sie doch von jetzt an nur als Spielball in einem Prozess, in dem die englische Kolonialmacht nahezu verzweifelt gegen aufbegehrende Unterworfene antritt.

Im Gegensatz zum monumentalen “Lawrence of Arabia” ist “A Passage to India” (die Mehrdeutigkeit des Titels erschliesst sich nach und nach, geht es doch keineswegs nur um eine Reise, sondern vor allem um eine Überbrückung respektive den Versuch) sowohl monumental als auch höchst intim, Details sorgfältig auslotend, zugleich - was durchaus dem erwähnten “Geist” des Romans entspricht. Und während die  Merchant/Ivory-Verfilmungen vor allem mit einer etwas schwülstigen, aber dennoch merkwürdig sterilen Atmosphäre aufwarteten, sind die Bilder schlank und edel, selbst in ihren monumentalsten Momenten nie überladen. Man möchte Szene für Szene wegen ihrer erlesenen Schönheit hervorheben, muss sich aber doch auf die nächtliche Begegnung zwischen der englischen Lady und dem Inder  in der  Moschee, Adelas Treffen auf die in ihr schlummernde sexuelle Lust, den Ausflug mit seiner zunehmend ersichtlich werdenden Vorbestimmung oder die prachtvoll-erschütternde Abfahrt des Zugs, in dem eine Mrs. Moore, die man loswerden wollte, weil sie Aziz für unschuldig hält, sitzt - und von einem die Zukunft erfassenden Godbole verabschiedet wird, beschränken. - Wer auch könnte sagen, je solche Bilder von der abgeschiedenen Welt nahe des Himalayas gesehen zu haben, in die sich ein mit den Briten hadernder Aziz als Leiter einer Klinik zurückzieht - um sich doch noch (Vorbestimmung!) mit seinem Freund Fielding auszusöhnen, der entgegen seiner Erwartungen eine andere Frau als Adela geheiratet hat? --- Solche Szenen erkannten wir seinerzeit auf der grossen Leinwand nicht als einzigartig, weil uns das Kreischen des Forman-Clowns die Ohren volldröhnte. Heute treiben sie mir Tränen in die Augen, wenn ich sie auf dem viel kleineren Bildschirm sehe. Was um alles in der Welt liessen wir uns entgehen?

Es soll im Vorfeld einige Probleme mit der Besetzung gegeben haben. Lean wollte Peter O’Toole für die Rolle des Fielding gewinnen, Celia Johnson war seine ursprüngliche Wahl für Mrs. Moore - und die Suche nach der passenden Schauspielerin für den Part der Adela Quested habe sich als schwierig erwiesen. Wer sich den Film heute anschaut, entdeckt schlicht Perfektion: James Fox ist ein herausragender Fielding und die grosse Dame Peggy Ashcroft wurde als dem Tode geweihte Mrs. Moore höchst verdient mit einem Oscar für die Beste Nebenrolle ausgezeichnet.


Ich konnte “A Passage to India” natürlich nicht gerecht werden, vermochte jedoch vielleicht wenigstens meine persönliche - leider späte! - Begeisterung halbwegs in Worte zu fassen. Und ich wünsche mir, dass jeder Filmfreund sich dieses Alterswerk des grossen  Regisseurs eines Tages im Kino anschauen und seine  Meisterschaft erfassen darf.

Freitag, 1. Oktober 2010

Her mit der deutschen DVD! - die Fünfte

"Where's Brummel? Dish'd. Where's Long Pole Wellesley? Diddled.
      Where's Whitbread? Romilly? Where's George the Third?
  Where is his will? (That's not so soon unriddled.)
       And where is 'Fum' the Fourth, our 'royal bird'?
   Gone down, it seems, to Scotland to be fiddled..."
(Don Juan, Canto XI, 78)

Zu den Figuren, deren "Verlust" Lord Byron in seinem "Don Juan" gelegentlich auch ironisch in mehreren Strophen beklagt, gehört unter anderem ein gewisser George Bryan Brummell (1778 - 1840), von dem man sagt, er habe ein ganzes Zeitalter geprägt und der unter dem Namen 'Beau' Brummell in die Geschichtsbücher einging. -  Brummell war der Sohn eines Privatsekretärs und machte in der englischen Armee als Husarenoffizier Karriere. Dort freundete er sich bald mit dem Prince of Wales, dem späteren Prinzregenten und König George IV., bekannt für seinen ausschweifenden Lebensstil und seine Fresssucht (er wog 1797 bereits 111 Kilo!), an, auf den er eine Zeitlang grossen Einfluss ausübte. Nach einem Zerwürfnis - seine Hoheit ertrug die spitzen Entgegnungen des Freundes nicht mehr -  kannten Brummell's Gläubiger keine Gnade, und er musste England wegen seiner Spielschulden verlassen. - Sein eigenwilliger Modestil (er forderte nicht zu auffällige, aber genau angepasste Kleidung, sorgfältig ausgesuchte Halstücher und das Reinigen der Stiefel in Champagner) setzte sich zum Teil durch und wurde unter dem Begriff "Dandyism" bekannt. Brummell behauptete, ein anständiger Mann brauche mindestens fünf Stunden, um sich anzuziehen und müsse sich auch mehrmals am Tag umziehen. Er war  zudem  dafür verantwortlich, dass sich die Männer der "guten Gesellschaft" täglich rasierten. Byron, der zu seinen eifrigen Nachahmern zählte, meinte, es sei an sich nichts Aussergewöhnliches an Brummell's Kleidung festzustellen ausser "a certain exquisite propriety". - Das Leben des ersten Dandys wurde mehrmals verfilmt.

Beau Brummell - Rebell und Verführer
(Beau Brummell, USA/Grossbritannien 1954)

Regie: Curtis Bernhardt
Darsteller: Stewart Granger, Elizabeth Taylor, Peter Ustinov, Robert Morley, James Donald, Rosemary Harris, Paul Rogers, Noel Willman u.a.

Ich habe es an sich nicht so mit den Historienschinken, die das Hollywood der 50er Jahre als Waffe gegen das aufkommende Fernsehen einzusetzen versuchte. Besonders grosse Mühe bereiten sie mir, wenn sich Robert Taylor als römischer Kommandant (1951), Ivanhoe (1952) oder Lancelot (1953)  schwerfällig durch pompöse Kulissen bewegen  und Langeweile verbreiten muss. - Dass “Beau Brummell” in dieser Hinsicht eine Ausnahme bildet, mich sogar ausserordentlich begeistert, hat verschiedene Gründe: Zum einen wurde der farbenprächtige Film an Originalschauplätzen gedreht, was die herrliche Landschaft Englands etwa in einer Jagdszene  zur Geltung bringt und dem Zuschauer durch die in einem Landsitz in der Nähe von Windsor Castle entstandenen Innenaufnahmen eine Vorstellung von der Pracht des frühen 19. Jahrhunderts zu vermitteln vermag; zum anderen liegt es natürlich an der über weite Strecken leicht und flüssig daherkommenden Geschichte, die zwar ohne einige historische “Klitterungen” und  erfundenen Liebesschmalz nicht auskommt, diese aber dank des an sich faszinierenden Lebens des “interessantesten Mannes Europas” auf ein Minimum zu beschränken vermag. Und es hat nicht zuletzt mit dem spielfreudigen Ensemble zu tun, das den “Helden” umgibt und ihm - obwohl Stewart Granger, damals ein veritabler Star, eine gute Figur abgibt - gelegentlich sogar die Show stiehlt. (Vielleicht, dies aber mehr privat, finde ich mich auch in den schönen und weniger schönen Seiten des Phänomens Brummell ein wenig wieder.)


Der Film beginnt mit einer Veranstaltung der Husaren, an der der Prince of Wales mehr hungrig als interessiert teilnimmt und die Beau Brummell, der sich gleich in die schöne Lady Patricia verliebt, zum ersten Mal Gelegenheit bietet, sein Missfallen zu erregen. Denn Brummell sagt grundsätzlich, was er für richtig hält - und er kleidet seine Meinung in elegante Spitzen, die ein zukünftiger König nur als frech empfinden kann. Nach Brummell’s Rauswurf aus der Armee sorgt er als politischer Redner, der  die höfische Unsitte, sich die Perücken mit Mehl zu pudern, anprangert, für Furore (er zählt genau auf, wie viele Brote für hungrige Mäuler man stattdessen backen könnte). Als ihn  Prince George deswegen zu sich rufen lässt, entdeckt er rasch, dass er in Brummell eigentlich keinen Gegner hat, sondern einen Menschen, der es gut mit ihm, dem kindischen und entscheidungsunfähigen Fettwanst, meint. Er folgt deshalb nicht nur seinen - auch modischen - Ratschlägen, sondern macht ihn zu seinem engsten Vertrauten und Freund. Schon bald treten die beiden in der Öffentlichkeit immer gemeinsam auf, eine Entwicklung, die der Adel - insbesondere der konservative Premierminister  William Pitt - mit Misstrauen verfolgt.


Von nun an wird der Abenteurer Beau Brummell, der sich für seine elegante Kleidung und die prächtig ausgestattete Wohnung, in der der Prince of Wales ein- und ausgeht, in Unkosten stürzte, von seinen Gläubigern in Ruhe gelassen. Auch Lady Patricia, die eigentlich mit einem Mann von Adel, Lord Edwin, verlobt ist, vermag sich seinem Charme (er nimmt ihr die Ohrringe ab, weil ein vollkommenes Gesicht solchen Schmuck nicht nötig habe) nicht mehr zu entziehen. - Und Lord Byron, der im Film als Brummell’s Freund auftaucht, sieht im Dandy, der in “Ofenröhren” am Geburtstagsfest des Prinzen auftaucht,  sogar die Zukunft heraufkommen. Er erkennt aber auch: “The trouble with most men of superior intellect is their pride. And a proud man can be just as foolish as a fool.”

Als Premierminister Pitt den Prinzen, der seit längerer Zeit offen mit seiner Geliebten Maria Fitzherbert zusammenlebt, aus politischen und finanziellen Gründen mit einer deutschen Prinzessin verehelichen will, rät ihm Brummell, seinen Vater, den auf Schloss Windsor zurückgezogen lebenden und zunehmend in geistiger Umnachtung versinkenden  König George III. (eine kleine Glanzrolle für Robert Morley), entmündigen zu lassen und die Regentschaft zu übernehmen, womit er Pitt’s Pläne durchkreuzen könnte. Tatsächlich willigt das Parlament nur einer Regentschaft mit stark eingeschränkten Befugnissen zu, was Brummell wiederum nicht akzeptieren will. Er weckt dadurch das Misstrauen seines Freundes, der plötzlich denkt, der “Emporkömmling” habe lediglich auf einen Peer-Titel spekuliert. Es kommt zum Zerwürfnis, das seinen Höhepunkt anlässlich eines Balls findet: Brummell weigert sich, dem Prinzen seine Aufwartung zu machen, und nachdem sich Lord Byron pflichtgemäss mit diesem unterhalten hat, fragt er ihn laut vernehmlich: “Gordie, who is your fat friend?”  (Die vorlaute Frage ist meines Wissens historisch beglaubigt, war aber nicht an Byron, sondern an Lord Alvanley gerichtet.)

Beau Brummell’s Schicksal ist damit besiegelt.  Die Gläubiger stürzen sich auf ihn, und Lady Patricia zieht die ruhige Bucht an der Seite eines Adligen dem Orkan mit dem Abenteurer vor. Brummell verlässt das Land und geht zusammen mit seinem treuen Diener nach Frankreich, wo er verarmt. - Am Ende des Films kommt es zu einer berührenden Szene: Der ehemalige Freund, jetzt König George IV., sucht während eines Europabesuchs die Bleibe des Mannes auf, der ihm einst eine Schnupftabakdose schenkte, die beim Öffnen ein “He’s a jolly good fellow” spielt - und die ihn immer an ihn erinnert hat. Er findet Brummell auf dem Sterbebett, und es kommt zur späten Aussöhnung.

Curtis Bernhardt, der als Kurt Bernhardt bereits zu den gefragten Stummfilmregisseuren Deutschlands gehörte ("Schinderhannes", 1928, "Das letzte Fort", 1929), inszeniert die verschwenderisch ausgestattete Geschichte mit grossem Können, die geschliffenen Dialoge und die dem ersten Dandy angemessene fürstliche Musik von Richard Addinsell machen den Film zu einem mehr als beachtlichen unterhaltsamen Erlebnis. Peter Ustinov darf in seiner zweiten Arbeit für MGM nach “Quo Vadis” (1951) als fetter Prince of Wales wieder einen unwiderstehlichen, das Spektakel dominierenden Charaktertypen hinlegen; aber auch Elizabeth Taylor, deren Rolle sicher nicht sonderlich ausgearbeitet ist, und Stewart Granger, in Deutschland noch als “Old Surehand” in diversen Winnetou-Filmen in Erinnerung, überzeugen.

Ein Jammer, dass ausgerechnet dieser unterschätzte Historienfilm nicht endlich aufgefrischt und den Zuschauern im deutschsprachigen Raum auf DVD zugänglich gemacht wird!

Dienstag, 31. August 2010

Endlich Polanski!

Ich lästere zwar ungern über meine Blogger-Freunde; aber "fincher" (Blockbuster Entertainment) ist ein raffinierter kleiner Erpresser! Kaum erwähnt man ihm gegenüber den Titel eines Films oder den Namen eines Regisseurs,  schon  folgt die hinterhältige Bemerkung, er würde sich über eine Besprechung freuen. Und da er meine Sanftmut und Nachgiebigkeit kennt, nutzt er mich schamlos aus. - Also, "fincher", this one is especially for you:

Der Tod und das Mädchen
(Death and the Maiden, USA/Grossbritannien/Frankreich 1994)

Regie: Roman Polanski
Darsteller: Sigourney Weaver, Ben Kingsley, Stuart Wilson

Roman Polanski wurde am 12. Juli aus seinem Hausarrest in Gstaad entlassen, und niemand wird mir unterstellen können, ich verpasse ihm den endgültigen Todesstoss, wenn ich eingestehe, zu seinen Filmen ein “zwiespältiges” Verhältnis zu haben. - Es ist durchaus nichts Aussergewöhnliches, dass sich Filmfreunde an “Macken”, an als Schwächen empfundenen Eigentümlichkeiten bedeutender Regisseure stören. So wurde etwa Howard Hawks wegen seiner “Kamera auf Augenhöhe” immer wieder kritisiert, während Brian de Palma mit dem in Rezensionen  ständig vorgebrachten Vorwurf, er sei lediglich ein Hitchcock-Epigone, leben muss. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

Was ich Polanski vorwerfe: Sein mangelndes Gespür für “Tempowechsel”.  Diese wohl nur von mir als Schwäche empfundene Eigenart hängt direkt mit seinem unbändigen Perfektionismus zusammen, der jede Szene gleichwertig neben der anderen stehen lassen, sozusagen Höhepunkt an Höhepunkt reihen will und gelegentlich - den für eine Geschichte nötigen Spannungsbogen missachtend -  schlicht Langweile anstelle intelligenter Unterhaltung erzeugt. Einige üblicherweise gelobte Filme, die meines Erachtens besonders unter diesem Mangel an “Tempovariationen” leiden: “The Fearless Vampire Killers” (1967), ein Film, der überwältigende Bilder, jedoch keine überzeugende Entwicklung zu einem Höhepunkt hin bietet (allein schon die Solonummer des sich als Schauspieler gebärdenden Regisseurs in der Gruft scheint eine Ewigkeit zu währen), von dessen letzter Fassung sich Polanski allerdings auch ausdrücklich distanzierte; die äusserst detailgetreue Thomas Hardy-Verfilmung “Tess” (1979), von der man sagen kann, sie vergöttere die Kinski in jeder Aufnahme, erzähle deshalb jedoch in Überlänge keine zusammenhängende Geschichte vom Niedergang einer “pure woman” mehr, vermöge von Episode zu Episode keine Verbindung zu schaffen (es handelt sich vermutlich um die Adaption eines Hardy-Romans, der ich jedoch aus dem erwähnten Grund eine später zu besprechende vorziehe); und letztlich - dies mag Verehrern des Regisseurs als Blasphemie erscheinen! - der als Hommage an Hitchcock gedachte “Frantic” (1988), der nicht  nur wegen seiner überraschungsarmen Story und einem geradezu peinlichen MacGuffin, sondern auch “dank” seines gleichmässigen Vor-Sich-Hinplätscherns, seiner Unfähigkeit, Spannung aufzubauen, nichts von alledem zu bieten hat, was einen Thriller ausmacht.


Wenn Polanski jedoch eine Vorlage zur Verfügung stand, die es ihm erlaubte, sich seinem Streben nach Perfektionismus hinzugeben, eine sich langsam entwickelnde Geschichte - vielleicht mit spätem und unerwartet eintretendem Umschlag - zu erzählen, vermochte er tatsächlich meisterhaftes Kino zu schaffen. Dies traf mit Sicherheit auf den Film zu, der ihm zu Weltruhm verhalf: "Rosemary’s Baby” (1968). Man kann sich des - selbstverständlich irreführenden - Eindrucks nicht erwehren, Ira Levin habe seinen Roman dem Regisseur geradezu auf den Leib geschrieben, ihm die vielen Details einer scheinbar nur unter den Schmerzen ihrer Schwangerschaft leidenden Frau, die möglicherweise gegen Ende einer Hysterie verfällt, förmlich angeboten. - Und ich bin der Ansicht, dem chilenischen Bühnenautor Ariel Dorfman sei mit “Death and the Maiden” eine für Polanski filmisch nicht minder grandios umzusetzende Vorlage geglückt, mag auch das 1994 entstandene verstörende Meisterwerk  - es knüpft in vielerlei Hinsicht an die ersten Filme an! - leider nicht zu dessen bekanntesten Arbeiten gehören:


Fünf Jahre nach dem Ende einer faschistischen Militärdiktatur  in einem namentlich nicht genannten südamerikanischen Land (man nimmt an, Dorfman habe damit das Chile unter Pinochet gemeint) leben der Rechtsanawalt Gerardo Escobar und seine Frau Paulina in einem abgelegenen Strandhaus, von wo aus sie die neue, mildere Regierung zu unterstützen versuchen (Gerardo darf sich Hoffnungen auf einen Posten machen, der es ihm ermöglicht, ehemaligen Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, zwangsläufig aber auch einige der schlimmsten Verbrecher laufen lassen zu müssen). Paulina, die selber zwei Monate lang inhaftiert war, jedoch das während dieser Zeit Durchlittene  nie vollständig zu erzählen vermochte, ist eine schwer traumatisierte Frau, die an einem stürmischen, von einem Stromausfall begleiteten Abend ungeduldig auf ihren Mann wartet und - von der Vergangenheit geprägt - ihr Essen auf dem Boden einer Vorratskammer, in die sie sich eingeschlossen hat, einnimmt. Als Escobar nach einer Reifenpanne endlich eintrifft, bringt er den hilfsbereiten Arzt Dr. Miranda mit, in dem Paulina augenblicklich jenen Mann wieder zu erkennen glaubt, der sie während ihrer Gefangenschaft (vor rund 15 Jahren!) mehrfach folterte und vergewaltigte. Während sich die beiden Männer bereits freundschaftlich unterhalten, entwendet sie das Auto des Arztes und sucht in ihm nach einem Beweis für ihren Verdacht - den sie in Form eines Tapes mit Schuberts Streichquartett “Der Tod und das Mädchen” auch rasch zu finden glaubt; denn ihr Peiniger, den sie nie wirklich zu sehen bekam, liess während seiner “Besuche” regelmässig dieses Stück laufen (was für ein Symbol, ist doch der “Knochen-Mann” im Gedicht von Matthias Claudius, von dem sich Schubert inspirieren liess, sowohl Liebhaber als auch “schlafbringender” Tod, der das “Noli me tangere!”-Motiv der ersten Strophe wegzuwischen versucht). - Dies ist der Anfang einer langen, von einem heftigen Gewitter und der Brandung der Steilklippen begleiteten Nacht, in der es sicher in mehrfacher Hinsicht um die “Wahrheit”, vor allem aber um Existenzen und die Frage geht, was sich ereignet, wenn jemand (sei es eine Gesellschaft oder ein Einzelner) Macht über eine hilflose Person erhält, in der aus einem ehemaligen Opfer ein Peiniger wird - und die in einen Morgen mündet, an dem ein seltsames Geständnis abgelegt wird, von dem vermutlich nicht einmal die involvierten Figuren  wissen, was davon der Wahrheit entspricht und welche Bedeutung ihm zukommt. 

Ben Kingsley, ein Schauspieler, der jeden Film an sich zu reissen vermag (selbst wenn er nur - wie in “Maurice”, 1987,  als Hypnotiseur  - in einer Nebenrolle auftritt), war klug genug, sich als Dr. Miranda nicht unnötig in den Vordergrund zu drängen (sein grosser Auftritt sollte ohnehin in den letzten Minuten erfolgen), sondern neben dem über weite Strecken hinweg die Position des Zuschauers einnehmenden Stuart Wilson insbesondere einer hervorragend agierenden Sigourney Weaver, deren geschundene und sich jetzt oft rätselhaft aufführende Paulina in dieser nach Rache dürstenden Nacht den Ton angibt, genügend Raum zu gewähren. Paulina ist, dies zeigt sich schon zu Beginn, nicht nur eine ungeduldige, sondern auch eine übermässig misstrauische Frau geworden, die ihren spät zurückgekehrten Mann einer regelrechten Inquisition unterzieht und nach einer unbefriedigenden Reaktion sein Essen in den Mülleimer schmeisst. Der Zuschauer fragt sich nach dieser “Szene einer keineswegs unproblematischen Ehe” deshalb unweigerlich: Bietet Dr. Miranda, ein anfangs höflicher, vielleicht unschuldiger Mann, den sie lediglich an seiner Stimme und seinem Geruch zu erkennen glaubt, ihr einfach Gelegenheit, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Manche ihrer Reaktionen (etwa wenn sie dem Gefesselten ihren getragenen Slip in den Mund stopft oder ihn geradezu gierig beschnuppert) wirken beinahe, als wolle sie die unerträgliche sado-masochistische Erotik der Vergangenheit wieder aufleben lassen. Escobar wiederum wird zunehmend faszinierter Zeuge eines Schauprozesses, der durch Quälereien (Paulina besteht darauf, Mirandas Glied während eines Gangs zur Toilette zu halten) unterbrochen wird, auch wenn er weiterhin nicht weiss, ob er nicht dem nach einiger Zeit ebenfalls zu handfesten Ausdrücken (“Cunt!”) neigenden Dr. Miranda, der möglicherweise ein Alibi für die Zeit, in der seine Frau gefoltert wurde, vorweisen kann, glauben soll.



All dies spielt sich von wenigen Ausnahmen abgesehen in einem einzigen Raum ab, was Polanski den Vorwurf einbrachte, sein Film sei “abgefilmtes Theater”, obwohl doch gerade die kammerspielartige Inszenierung eine einzigartige klaustrophobische Stimmung, wie sie für mehrere Filme des Regisseurs  bezeichnend ist, zu erzeugen vermag, in der es den Figuren nach einer längeren Exposition gelingt, sich  in quälende und gequälte Ungeheuer zu verwandeln. - Ein solch gnadenloser Film über Schuld, Leid und Rache ist sicher nichts für Zuschauer, die sich lieber leicht verdaulicher Kost hingeben. - Wer sich jedoch auf “Death and the Maiden” einlässt, bemerkt rasch, welche Bedeutung der Film für Polanski hatte, vermochte er in ihm doch indirekt auch Erinnerungen an seine Kindheit im Krakauer Ghetto aufzuarbeiten. Das von der Kritik meist nur mit Einschränkungen gelobte Meisterwerk hätte grössere Anerkennung verdient. Es gibt ausser dem frühen “Cul-de-Sac” (1965), dem die Verfilmung von Dorfman’s Stück die deutlich ausgesprochene politische Komponente hinzufügt,  nämlich wohl keine vergleichbare Arbeit in der Geschichte des neueren Films, die mit nur drei Figuren eine derart unerträgliche Spannung zu erzeugen vermag. - Interessantes Detail: Am Anfang und am Ende von “Death and the Maiden” sieht man Paulina und Escobar in einem Konzertsaal sitzen und Schuberts Streichquartett lauschen. Am Schluss kreuzen sich ihre Blicke mit dem von Miranda, der zusammen mit seiner Familie weiter oben sitzt. Selbst dieser Schluss - und das macht Polanskis Film so faszinierend - ist interpretationsbedürftig.

Sonntag, 18. Juli 2010

Über den gezielten Einsatz des Oberflächlichen


Videocracy
(Videocracy, Schweden/Dänemark/Grossbritannien/Finnland 2009)
Regie: Erik Gandini

Italiens Langzeit-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wird von vielen Filmemachern seines Landes als ihr persönlicher Feind wahrgenommen, als ein Diktator, der ihnen vorzuschreiben versucht, mit welchen Illusionen sie ihr Publikum von der Wirklichkeit abzulenken haben Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie ihn immer wieder angreifen und seine Machtmechanismen aufzudecken versuchen.  Nach Nanni Morettis “Il Caimano” (2006) sorgte vor allem der Dokumentarfilm “Videocracy” des Italo-Schweden Erik Gandini, der sich gleich der “unheiligen” Verbindung zwischen dem italienischen Fernsehen und der Regierung annimmt, für Aufsehen, scheint er doch ins Herz jenes eigenartigen Systems vorzudringen, das von den Italienern verführend Besitz ergriff und dem sie sich nur allzu willig auslieferten. Gelegentlich wurde Gandinis Darstellung eines Medienfaschismus “made in Italy” Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil sie aus einzelnen Figuren Repräsentanten für eine These mache, unzulässig verallgemeinere. Mir stellte sich nach der Sichtung eher die Frage: Wie soll der Zuschauer auf einen Film reagieren, der ihn auf unangenehme Weise daran erinnert, dass die angeschnittenen Themen wohl nicht nur für Italien - wenn dort auch besonders ausgeprägt - gültig sind?

Es begann vor rund dreissig Jahren, als der erste kommerzielle Lokalsender des Landes (im Besitz von Berlusconi) auf die Idee kam, eine Late-Night-Quiz-Show mit Strip-Einlagen für die Unterschicht attraktiver zu gestalten: Wann immer eine Frage richtig beantwortet wurde, entschloss sich eine durchschnittliche Hausfrau im billig zusammengeschusterten Studio, sich eines Kleidungsstücks zu entledigen. Dies war die Geburtsstunde des Präsidentenfernsehens, der Beginn einer “kulturellen” Revolution. Denn heute bevölkern auf nahezu allen Sendern zur Prime Time halbnackte Frauen seichte Shows, locken die Massen vor die Fernsehgeräte und gaukeln ihnen eine stets sonnige Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen vor. - Und die Zuschauer träumen davon, eines Tages selber im Fernsehen, das zu ihrer Realität geworden ist, auftreten zu dürfen. Sie sind sowohl Opfer als auch Teilnehmer in diesem riesigen Imperium, über das Silvio Berlusconi, gleichzeitig Ministerpräsident und Medienmogul (ihm gehören die drei grössten Privatsender, und er hat das Sagen über das staatliche Fernsehen), waltet.


Da ist zum Beispiel Ricky, Mitte zwanzig und noch bei Mutti wohnend. Er ist von Beruf Mechaniker, möchte jedoch als eine Mischung aus Jean-Claude van Damme und Ricky Martin (kurzlebigen) Ruhm erlangen. Er nimmt als kickboxender Sänger an Talent Castings teil, sitzt in den Shows in den vordersten Reihen - und weiss genau, was seiner Karriere im Weg steht: Die wunderschönen vollbusigen Mädchen, die die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen und nur dürftig bekleidet als “veline” vom meist in die Jahre gekommenen, widerlich grinsenden Moderator ablenken. - Sie sind es, nach denen Berlusconis Unterhaltungsmaschinerie sucht, und ihnen kommt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: zu lächeln, nichts zu sagen und gut auszusehen. Sie dürfen sich überdies mit einem “eigenen” 30 Sekunden dauernden Tanz (einem Stacchetto) Aufmerksamkeit verschaffen. Und ein solcher Job kann durchaus Folgen haben: Berlusconi ernannte eine frühere “velina” zur Ministerin für Gleichberechtigung. Ist es da nicht verständlich, dass viele junge Frauen alles dafür täten, um eine “velina” zu werden?


Lele Mora ist einer jener einflussreichen Agenten, durch dessen Bett  die Karrieren vieler weiblicher und vermutlich die der meisten männlichen Fernseh-Berühmtheiten geführt haben dürften. Er brüstet sich damit, seine Villa an der Costa Smeralda in Sardinien, wo sich die “Glanzvollen” tummeln, vollkommen in Weiss eingerichtet zu haben; und er erweckt den Eindruck eines kleinen selbstgefälligen Jungen, wenn er einem der muskulösen Männer, die  um seinen Pool herumlungern, einen Klaps gibt oder stolz darauf hinweist, ein persönlicher Freund Berlusconis und ein Bewunderer von Mussolini zu sein (Berlusconi ist für ihn ein Mann, der zwar nicht ganz an die “Methoden” des Duce anzuknüpfen vermag, aber dennoch als grosser “Führer” gelten darf).

Mora weist auch auf die Parties hin, die im Milliardärsclub an der Costa Smeralda Nacht für Nacht geschmissen werden und die eher den Eindruck von Orgien erwecken. Geile alte Böcke starren auf tanzende Mädchen, von denen sich jedes einen Job als Wetterfee für zwei Wochen in einem Sender von Berlusconi erhofft. - Auf diesen Parties trifft man die Fotografin Morella, die zwar mit Leuten wie Mora nichts zu tun haben will, als Nachbarin von Berlusconi den Ministerpräsidenten aber für authentisch, weil natürlich, hält (er ist ein Mann, der Spass haben will und ihn sich eben “kaufen“ kann). Sie bietet die Bilder, die sie von den Prominenten an den Parties macht, im Internet zum Kauf an. Diese Bilder zeigen italienische Promis, deren lachende Mäuler über mindestens 64 Zähne zu verfügen scheinen - und plötzlich sieht man auch Zähne, die nicht zu einem Italiener gehören, sondern zu Tony Blair. - Spätestens in dem Moment fragt sich der Zuschauer: Haben wir es überhaupt mit einem rein italienischen Phänomen zu tun?  Trifft sich hier nicht alles, was sich für die “Elite” der Welt hält? Und  erhält man vielleicht nur Einblick in eine der vielen Vergnügungsveranstaltungen jener “Supermenschen”, die über wahrhafte Macht verfügen? -  Man mag vielleicht den Pauschalisierungen eines Filmemachers auf den Leim gegangen sein; aber es  könnte  hinter den Kulissen einer scheinbar braven Bambi-Verleihung  ähnlich zugehen wie auf den Parties an der Costa Smeralda. Und womöglich zeigen uns unsere Illustrierten  auch nur das, was Berlusconis Illustrierten den Italienern zeigen.


Sogar die scheinbare Opposition, die Berlusconi in Form der Paparazzi erwächst, unterliegt dem System. Die Leute von  Fabrizio Corona sorgen zwar für Schnappschüsse von Prominenten in misslichen Situationen, verkaufen diese jedoch anschliessend wiederum den Opfern oder dem Ministerpräsidenten, der sie nach Lust und Laune in den Zeitungen, die er kontrolliert, veröffentlicht.  Corona selber, der “Chef” der Paparazzi, ein eitler Macho, der dem Zuschauer  minutenlang vorführt, wie er sich zwischen den Beinen eincremt, will auch nur eines: möglichst oft im Fernsehen auftreten. Selbst seine Entlassung aus dem Gefängnis (man hatte ihn wegen Erpressung zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt) inszeniert er vor den Reportern als Ereignis, das unweigerlich zu einer Einladung in eine Talk Show führen muss.  Er selber betrachtet sich als modernen Robin Hood, der das Geld von den Reichen nimmt und  für sich behält. - Was er dabei akzeptiert: dass er es von Berlusconi nimmt, der es versteht, auch seine Gegenspieler zu integrieren.

Wie intensiv der Ministerpräsident das Fernsehen für den Ausbau seines "Vierten Reiches" benutzt, zeigt etwa eine Hymne auf ihn, die im Hinblick auf seine Wahl mit Untertiteln zum Mitsingen ständig ausgestrahlt wird. Will er eine politische Ansprache auf einem Sender halten, muss die Show auf einem anderen Sender entsprechend früher beendet werden. Alles um ihn herum ist Werbung, Effekthascherei und Ablenkung.   Die Macht bestimmt, was gezeigt werden darf und was nicht. Es versteht sich von selber, dass im italienischen Fernsehen für “Videocracy” nicht geworben werden durfte. - Man fühlt sich an dunkelste Zeiten erinnert.

Und dennoch: Möchte man die in “Videocracy” angeschnittenen Themen, nicht augenblicklich  auch auf die USA übertragen? Hatten wir zu Beginn des Privatfernsehens (Leo Kirchs Sat.1, RTL, das mit Hugo Egon Balders Nackedei-Show “Tutti Frutti“ konterte) nicht Ähnliches zu befürchten? Und können wir uns so sicher sein, dass wir von einem von den “Mächtigen” gelenkten  Fernsehen nicht auch bis zu einem gewissen Grad am Gängelband geführt werden, bloss naiverweise an die gelobte Pressefreiheit glauben? - Dies waren in etwa die früher gekonnt verdrängten Fragen, die mich während der Sichtung des teilweise tatsächlich pauschalisierenden und polemischen Films, dem eine Prise beissende Satire gut getan hätte, beschäftigten; und sie sorgten dafür, dass mir stellenweise beinahe übel wurde, als ich Einblick in den gezielten Einsatz der wackelnden Brüste und Ärsche, der primitiven Unterhaltung, schlicht des Oberflächlichen erhielt. Ich möchte mir “Videocracy” nicht noch einmal ansehen, bin jedoch froh, mich ihm ausgesetzt zu haben, als ihn der ORF, was ich dem Sender hoch anrechne, ausstrahlte.

Die DVD ist ab September in Deutschland erhältlich. Man sollte sich “Videocracy” - im wahrsten Sinne des Wortes - antun!

Montag, 28. Juni 2010

Zorniger junger Taugenichts


Samstagnacht bis Sonntagmorgen
(Saturday Night and Sunday Morning, Grossbritannien 1960)
Regie: Karel Reisz
Darsteller: Albert Finney, Shirley Ann Field, Rachel Roberts, Norman Hossington, Hylda Baker u.a.

Im Gegensatz zur noch immer heiss diskutierten und umstrittenen französischen "Nouvelle Vague" samt Ausläufern (François Truffaut scheint als Frühverstorbener wohl der einzige Regisseur dieser Stilrichtung zu sein, der allgemeine Anerkennung geniesst) ist das etwa zeitgleich entstandene britische "Free Cinema" ziemlich in Vergessenheit geraten - zu Unrecht, wie ich meine. Die Filme, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren von jungen Regisseuren gedreht wurden, sind kaum mehr im Fernsehen zu sehen; nicht einmal Programmkinos kämen auf die Idee, eine Retrospektive auf die Beine zu stellen.

Man muss vielleicht zuerst betonen, dass das "Free Cinema" (dummerweise auch "New Wave" genannt) so gut wie nichts mit der "Nouvelle Vague" gemeinsam hat: Während sich die Franzosen gegen eine eingefahrene Bildsprache und einen vorhersehbaren Erzählfluss wandten, stattdessen dem Individualismus des schöpferischen Filmemachers huldigten, ging es den Briten um eine beinahe dokumentarische Nachzeichnung des Alltags (vor allem der Arbeiterklasse in Nordengland), welche  schon   die Literatur, die den Filmen oft zugrunde lag, vorweggenommen hatte. - Die englische Literatur der 50er Jahre hatte sich bewusst gegen einen internationalen Modernismus gewandt, der etwa mit dem späten Joyce und Pound an einem Endpunkt angelangt war. Sie tat dies durch Rückbesinnung auf traditionelle Formen, die die kleinen Menschen mit ihren aufbegehrenden Plänen und ihrem oft unausweichlichen Scheitern schildern sollten. Die Regisseure des "Free Cinema" erkannten in diesen Vorlagen eine Gelegenheit, sich endlich mit einem eigenen Profil gegen die biederen Ealing-Comedies und das übermächtige Hollywood zu behaupten, das es den Engländern schon wegen der fehlenden Sprachbarriere immer schwer gemacht hatte, ein eigenständiges Kino zu entwickeln. So entstanden in einem Zeitraum von wenigen Jahren meist in Schwarzweiss gedrehte Meisterwerke über das Banale, die Schilderung der sozialen Realität letztlich gestrandeter Existenzen, die an Originalschauplätzen gedreht wurden und sich durch ihre Umgangsprache auszeichneten. Es waren etwa Verfilmungen der Werke von Kingsley Amis, John Osborne oder Keith Waterhouse: "Lucky Jim" (John Boulding, 1957), "Look Back in Anger" (Tony Richardson, 1959), "Billy Liar" (John Schlesinger, 1963) - und vor allem "The Loneliness of the Long Distance Runner" (Tony Richardson, 1962) nach einer Erzählung des am 25. April dieses Jahres verstorbenen Alan Sillitoe.

Auch Karel Reisz’s “Saturday Night and Sunday Morning”, ein Film, der als eines der Schlüsselwerke des “Free Cinema” gilt, beruht auf einer Vorlage von Alan Sillitoe. Erzählt wird die Geschichte des jungen Arthur Seaton, der die Woche über in der Industriestadt Nottingham als Akkordarbeiter in einer Fahrradfabrik malocht und nur für das Wochenende lebt, das ihm Gelegenheit bietet, sein hart verdientes Geld im Pub zu versaufen oder für weibliche Eroberungen auszugeben. Arthur, der sich damit brüstet, im Gegensatz zu seinen Kollegen nicht vor den Vorgesetzten zu kuschen, hat ein Verhältnis mit Brenda, der Frau eines älteren Arbeiters. Gleichzeitig lernt er die ungebundene Doreen kennen, die sich jedoch nicht mit gelegentlichem Sex begnügt, sondern von Heirat und einem bürgerlichen Leben im Einfamilienhaus träumt. - Als Brenda von Arthur schwanger wird, will er sie zu einer Abtreibung überreden und schleppt sie sogar zu einer Tante, deren “Anweisungen” (eine halbe Flasche Gin in der mit warmem Wasser gefüllten Badewanne) allerdings auch nicht helfen.  Brendas Mann erfährt, was hinter seinem Rücken getrieben wird und lässt  Arthur von zwei Soldaten heftig verprügeln. Am Ende erleben wir den jungen Mann, der sich während eines Sonntagsspaziergangs mit Doreen über eine gemeinsame Zukunft unterhält. Ob man ihm eine echte Veränderung seiner Vorstellungen von der Zukunft abnehmen kann, bleibt ungewiss: Er selber reagiert auf die Bitte seiner Freundin, nicht mit Steinen auf ein Plakat zu werfen, mit einem “It won’t be the last one I throw”.

Der Film mag dem heutigen Zuschauer auf den ersten Blick “veraltet” vorkommen, da man alle diese Geschichten über Figuren aus der Arbeiterklasse mittlerweile zur Genüge kennt. Seinerzeit war er (er gilt  als eines der ersten “Kitchen-Sink”-Dramas)  eine ganz neue Erfahrung für die Kinogänger, beinahe ein Schock - und er rief wegen seiner angeblichen Freizügigkeit sogar die Zensurbehörden auf den Plan. Man war zwar diesen aufbegehrenden jungen Männern in Hollywood-Filmen der 50er Jahre schon begegnet (“The Wild One”, 1953, “Rebel Without a Cause”, 1955); ihre Darstellung war damals jedoch eher etwas sensationalistisch und fernab von der Realität angelegt gewesen.  Arthur Seaton  hingegen benahm sich alles andere als sensationalistisch: er schien vielmehr dem Leben direkt entsprungen zu sein, wirkte bisweilen vulgär, war ein unsympathischer Kerl mit grossen Sprüchen (“Don’t let the bastards grind you down!”, “All I want is a good time. The rest is propaganda”), der es, dies verriet Albert Finney mit jeder seinen Charakter entlarvenden Bewegung, seiner primitiven Gier, einem Überlegenheitsgehabe und dem Ausweichen, wenn es wirklich darauf ankam (etwa im Gespräch mit Brenda über ihre Schwangerschaft), nie weiterbringen würde als seine Eltern, von denen er behauptete: “They have a TV set and a packet of fags, but they’re both dead from the neck up.” - Also ein Mann, mit dem man sich kaum identifizieren wollte.




Was ist schuld an Arthur’s Situation? - Er selber führt sich zwar - etwa beim Angeln mit seinem besten Kumpel - als “Angry Young Man” auf und wälzt alles auf die Umgebung, die soziale Situation ab. Und tatsächlich: Wer die engen “terrace houses” sieht, in denen die Leute aufeinander wohnen, wer die Verhältnisse in der Fabrik (etwa den tyrannischen Vorgesetzten, der immer erzählt, früher sei alles viel schlimmer gewesen) miterlebt und darüber staunt, wie sich andere den tristen Umständen der Arbeiterklasse resigniert angepasst haben, wird schon ein gewisses Verständnis für den sich an allem Reibenden aufbringen. Was aber tut Arthur selber, um zu einem besseren Leben zu gelangen? - Er lässt sich vollaufen, bis er die Treppe hinunterstürzt, legt einer Arbeiterin eine tote Ratte vor die Nase - und verpasst mit seinem Luftgewehr einer fetten Tratschtante aus der Nachbarschaft eine Erinnerung in den Allerwertesten. Dies sind alles keine Heldentaten, auf die ein “Rebell” stolz sein kann - und der Prolet mit seinen kindischen Racheakten erweist sich sogar als vollendeter Feigling, als er auf einem Jahrmarkt die Flucht ergreift, nachdem Brendas Mann dem Verhältnis auf die Spur gekommen ist und seine Frau schlägt.

Albert Finney, der in “Saturday Night and Sunday Morning” seine erste Hauptrolle spielte und über Nacht zum Star wurde, verleiht seinem Arthur Seaton all jene trotzigen Züge, die die Figur zu einem lebensechten Antihelden machen, über den man sich oft regelrecht ärgert, weil er die Schuld an allem immer bei den anderen sucht und - dieser primitiv-“arrogante” Wesenszug ist ihm eigen - nicht den geringsten Versuch unternimmt, wirklich etwas zur Verbesserung seiner Situation beizutragen, weil sich die Situation seiner Meinung nach von selber ändern müsste. - Finney’s Darstellung allein (der Schauspieler sollte ja 1962 mit dem hierzulande zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratenen Meisterwerk “Tom Jones” Weltruhm erlangen und zu einer grossen, bis heute andauernden Karriere ansetzen), die den “Angry Young Man” auf einen - freilich durch die “Umstände” geprägten -  leeren Phrasendrescher gegen das Establishment reduziert,  macht den Film noch heute zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis. Hinzu kommen der bemerkenswerte Jazz Score von John Dankworth, der für das britische Kino neu gewesen sein dürfte und  jene die Geschichte durchziehende Zwiespältigkeit (soziale Situation / fehlender Wille, sich zu verbessern) unterstreicht. Dies alles wird ergänzt durch  die ungeschönten Aufnahmen von der Realität einer einstigen Industriestadt in den Midlands. - Mag vielleicht “Saturday Night and Sunday Morning” aus heutiger Sicht auch nicht ganz an Filme wie “The Loneliness of the Long Distance Runner” heranreichen: er ist mit  Sicherheit ein sensibles Alltagsprotokoll der 60er Jahre und prägte eine wichtige Figur des “Free Cinema” - jenen zornigen jungen Taugenichts, in dessen eigenen Händen es liegt, seine Zukunft zu gestalten.

Der gebürtige Tscheche Karel Reisz, dem nicht die Karriere eines John Schlesinger oder eines Tony Richardson vergönnt sein sollte, widmete sich auch in späteren Filmen, die von der Kritik gelobt wurden, aber an den Kinokassen scheiterten (“Morgan: A Suitable Case for Treatment”, 1967, “Isadora”, 1968, oder “The Gambler”, 1974), der Darstellung eines exzentrischen Individualismus. Mit der Verfilmung von John Fowles’ Roman “The French Lieutenant’s Woman” (1981) gelang ihm sein grösster Wurf. - Und ich komme als Fan der Country-Sängerin Patsy Cline natürlich nicht umhin, auf das von ihm gedrehte Biopic “Sweet Dreams” (1985) hinzuweisen...

Leider war das "Free Cinema" eine Sache, die Mitte der 60er Jahre recht schnell durch Grossproduktionen abgelöst wurde. Die Bewegung hatte jedoch einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf  Filme, wie sie seit den 80ern von Ken Loach oder Mike Leigh hervorgebracht werden. Man könnte - diesen Hinweis verdanke ich meinem Blogger-Freund "tschill" (Ockhams Axt)  - vielleicht behaupten, das mangelnde Interesse am "Free Cinema" ausserhalb Englands habe damit zu tun, dass die von ihm geprägten Formen erfolgreich tradiert wurden, während über die Vertreter der "Nouvelle Vague" zum Teil  Kübel der Häme ausgegossen werden. - Trotzdem wird jeder, der sich mit der Geschichte des englischen Films beschäftigt, auf kleine Perlen stossen, wenn er sich den vergessenen Vorläufern der heute aus Grossbritannien kommenden sozialrealistischen Filmen zuwendet.