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Samstag, 19. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 1

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

DAS STAHLTIER
Deutschland 1935/1954
Regie: Willy Zielke
Darsteller: Aribert Mog (Claaßen), Max Schreck (Cugnot), Laiendarsteller

ANN-KATHRIN KRAMER HAT NACH AHNENFORSCHUNG HERAUSGEFUNDEN
Leni Riefenstahl ließ meinen Onkel zwangssterilisieren
SCHAUSPIELERIN ANN-KATHRIN KRAMER ERFORSCHTE DAS LEBEN IHRES ONKELS, DER TEILTE EIN DUNKLES GEHEIMNIS MIT HITLERS LIEBLINGSREGISSEURIN

So vermeldeten Bild am Sonntag und Bild.de im März 2010. Besagter "Onkel" (der in Wirklichkeit Ann-Kathrin Kramers Großonkel war) hieß Willy Zielke, und er war der Regisseur des Films, um den es hier auch (aber nicht nur) gehen soll. Was war geschehen?

Das Stahltier

Zurück ins Jahr 1934: Willy Zielke unterzeichnet einen ungewöhnlichen Vertrag mit der Deutschen Reichsbahn. Im Dezember 1835 war die 6 km lange Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth mit der Jungfernfahrt der "Adler" eröffnet worden. Aufgrund des bevorstehenden hundertjährigen Jubiläums waren für 1935 umfangreiche Feierlichkeiten geplant. Neben einer Ausstellung und einer Parade sollte es auch einen künstlerisch anspruchsvollen Jubiläumsfilm geben, der am Tag der Eröffnung der Ausstellung in einer Gala-Premiere vor geladenen Gästen in Nürnberg gezeigt werden sollte. Die Durchführung der Jubiläumsfeierlichkeiten, und damit auch die Herstellung des Films, wurde von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn an die Gruppenverwaltung Bayern übertragen, die eine gewisse föderale Selbständigkeit genoss. Mit der Regie des Films wurde Willy Zielke betraut.

Claaßen erhält einen Anruf

Zielke wurde 1902 als Sohn deutscher Eltern in Łódź geboren, das damals zum Zarenreich gehörte. Er studierte zwei Jahre Eisenbahn-Ingenieurwesen an der Universität Taschkent im heutigen Usbekistan, aber Anfang der 20er Jahre musste er die Sowjetunion verlassen und zog nach München. Dort studierte er Fotografie, beeindruckt von der avantgardistischen sowjetischen Fotokunst, und nachdem er die Meisterklasse absolviert hatte, wurde er schnell selbst Dozent an der Münchner Foto-Akademie und ein gefragter künstlerischer Fotograf im Stil der Neuen Sachlichkeit. Zu seinen Spezialitäten zählten kunstvoll arrangierte und fotografierte Glasobjekte, aber er beschäftigte sich auch mit Portrait- und Aktfotografie. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn als Fotograf zählt die Teilnahme an der Werkbund-Ausstellung "FiFo 1929" in Stuttgart. 1931/32 experimentiert er mit einer 16mm-Kamera, die der Foto-Akademie zur Verfügung gestellt wurde, und dreht in Eigenregie drei Kurzdokumentationen, die alle verschollen sind. Sein erster Auftragsfilm ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN entstand 1933 für ein Arbeitslosenheim der Firma Maffei. Der Film war zunächst sozialkritisch ausgerichtet und prangerte die Arbeitslosigkeit an, doch 1933 änderten sich bekanntlich die Zeiten. Das Arbeitslosenheim unterstand jetzt der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, und die wünschte eine andere Tendenz des Films, nämlich eine, die die "Errungenschaften" der Nazis bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herausstellte. Zielke willigt ein - er stand dem Nationalsozialismus positiv gegenüber. Wie weit seine Sympathien dafür genau gingen, weiß ich nicht, aber man darf aus dem späteren Verbot von DAS STAHLTIER und Zielkes Zwangsunterbringung in der Psychiatrie keinesfalls den Schluss ziehen, er sei ein Gegner der Nazis gewesen. Zielke schneidet also ARBEITSLOS um, ändert den Schluss und verpasst dem Film den neuen Titel DIE WAHRHEIT. In den Schluss fügt Zielke ein dynamisch in Großaufnahme gefilmtes Treibrad einer Lokomotive ein. Bei den Dreharbeiten dazu lernt er Albert Gollwitzer kennen, den neuen Präsidenten der Reichsbahndirektion München. Gollwitzer, seit Oktober 1933 in seinem neuen Amt, war ein überzeugter Nazi - in seiner Antrittsrede ließ er verlauten, er "werde im Sinne Adolf Hitlers arbeiten und nicht rasten, bis nationalsozialistischer Geist die Reichsbahn in ihre letzten Winkel durchdringt". Gollwitzer war von der Szene mit dem Treibrad in DIE WAHRHEIT angetan, und er war es, der Zielke den Auftrag zum Jubiläumsfilm verschaffte.

Abstraktion durch mehrfache Überblendung

Zielke reichte ein Exposé ein, das von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn genehmigt wurde, und im Juli 1934 wurde der Vertrag unterzeichnet. Das Exposé sah für den Film drei thematische Teile vor: Geschichte der Eisenbahn, Herstellung einer Lokomotive, und eine "Fahrtsymphonie". Letzteres klingt an Walther (seit 1929 Walter) Ruttmanns Klassiker BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT von 1927 an, der das Genre der "Großstadtsymphonien" prägte. Tatsächlich gibt es darin auch schon eine "Fahrtsymphonie". Am Anfang dieses Films werden grafische balkenförmige Elemente in sich schließende Bahnschranken überblendet, dann braust ein Zug heran und fährt in einer dreiminütigen Sequenz durch Vorstädte in die Hauptstadt ein, wobei Ruttmann eine äußerst dynamische Montage einsetzt, unterstützt von der schnittgenauen, stakkatohaften Musik von Edmund Meisel (die seinerzeit zu polemischen Kontroversen führte). Mit der Geschwindigkeit des Zuges verlangsamt sich auch die Schnittfolge, aber zumindest die erste Minute dieser Sequenz kann als Prototyp dafür dienen, was Zielke für seine Fahrtsymphonie vorschwebte. Im Exposé wandte sich Zielke ausdrücklich gegen "die korrekten belehrenden Kulturfilme", stattdessen wollte er einen "absoluten Film" drehen. Das schien sich mit den Intentionen der Reichsbahn zu treffen, die einen künstlerischen Film wünschte. "Absoluter Film" war seit den 20er Jahren in etwa ein Synonym für das, was man heute als abstrakten Film bezeichnen würde. Dazu zählten grafisch-abstrakte Filme wie OPUS I bis OPUS IV von Ruttmann, RHYTHMUS 21 (aka FILM IST RHYTHMUS) von Hans Richter und DIAGONAL-SYMPHONIE von Viking Eggeling, aber auch Filme mit bis zur Abstraktion verfremdeten Realaufnahmen, wie BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger in Frankreich drehten, und selbst Filme, die man heute eher als dadaistisch oder surrealistisch bezeichnen würde, wie René Clairs ENTR'ACTE. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass die Bewegung an sich als Quintessenz der Kunstform Film verstanden wird. Die Herren von der Reichsbahn hätten eigentlich ahnen können, dass sich Zielkes Vorstellungen vielleicht doch nicht ganz mit ihren eigenen deckten.

Rangierarbeiter

Wie schon erwähnt, war es ein ungewöhnlicher Vertrag, den Zielke abschloss. Er war Produzent, Regisseur, Kameramann und Cutter in Personalunion, und er besaß volle künstlerische Freiheit, sogar das Recht auf den final cut. Wörtlich hieß es im Vertrag: "An dem Film darf ohne eine Zustimmung des Herrn Zielke eine Änderung nicht vorgenommen werden." Das bewilligte Budget betrug zunächst 50.000 Reichsmark, zuzüglich Sach- und Personalleistungen durch die Reichsbahn. Eine dieser Leistungen bestand darin, dass Zielke einen eigenen Aufnahmezug zur Verfügung gestellt bekam. Dieser bestand aus fünf Waggons: Ein Wohnwagen für Zielke und seinen Aufnahmeleiter Hubs Flöter (einer von Zielkes Schülern an der Münchner Foto-Akademie), ein weiterer für das restliche Personal, ein Waggon für die Filmgerätschaften, einer mit einem benzingetriebenen Stromgenerator für die Scheinwerfer, und schließlich ein offener Tieflader als "rollendes Stativ", mit dem Zielke weitgehend erschütterungsfreie Fahrtaufnahmen von einem tiefen Standpunkt aus machen konnte. Der Zug war weiß gestrichen und in Rot auf allen Waggons mit "TONFILM: DAS STAHLTIER" beschriftet. Auf seinen beiden größeren Fahrten von München aus (die erste nach Köln, Oberhausen und Kassel, die zweite nach Berlin) diente der Zug so auch als PR-Vehikel für die Dreharbeiten. Ein weiteres Privileg Zielkes war es, dass er für die eisenbahngeschichtlichen Episoden auf fahrtüchtige originalgetreue Nachbauten der historischen Lokomotiven zurückgreifen konnte, z.B. einen Nachbau der "Puffing Billy" aus dem Deutschen Museum in München.

Claaßen packt mit an und macht sich dreckig

Zielke gliederte seinen Film in eine Rahmenhandlung, in die sechs historische Episoden eingebettet sind, sowie in mehrere furiose Montage-Sequenzen. Nach der ruhigen Anfangssequenz, in der Aufnahmen von Schienen, Leitungen und sonstigem Bahngerät durch vielfache Überblendung zu quasi-abstrakten grafischen Mustern verschwimmen, geht es danach mit der ersten Montage-Sequenz so richtig los. Gewidmet ist sie der Herstellung einer Dampflokomotive - Punkt zwei in Zielkes Exposé. Es gibt keinen wohlgeordneten Ablauf zu sehen, sondern einzelne Stufen werden herausgegriffen - von der Stahlherstellung (gefilmt in einer Stahlhütte in Oberhausen) bis zur Endmontage einer Lok (gefilmt in den Henschel-Werken in Kassel) - und in geradezu dramatisch wirkenden Schnittfolgen montiert, akustisch untermalt durch die in diesem Abschnitt ziemlich brachiale Musik von Peter Kreuder, den Zielke als Komponisten für seinen Film gewinnen konnte. Heute kennt man Kreuder als Schöpfer von Schlagern ("Ich brauche keine Millionen"), Operetten- und leichter Filmmusik, aber damals war er auch in Jazz und Avantgardeklängen bewandert, und davon machte er im STAHLTIER gekonnt Gebrauch.

Rangierarbeiten: ENTHUSIASMUS (links oben), DAS STAHLTIER

Dann setzt die Rahmenhandlung ein. In seinem kleinen Büro auf einem Bahngelände in München brütet der junge Ingenieur Claaßen über technischen Zeichnungen, Formeln und Logarithmentafeln, hantiert mit Zirkel und Rechenschieber. Gespielt wird er von Aribert Mog, der heute nur noch wenig bekannt ist, obwohl er in durchaus erwähnenswerten Filmen Hauptrollen spielte, wie in Gustav Machatýs EKSTASE, seinerzeit ein Skandalfilm (wegen Nacktszenen von Hedy Lamarr, damals noch Hedy Kiesler), oder Frank Wisbars FÄHRMANN MARIA mit Sybille Schmitz. (Gustav Machatý war übrigens neben René Clair Zielkes Vorbild als Regisseur, wie er 1935 in einem Interview für eine Filmzeitschrift erzählte.) Mog war schon vor der Machtergreifung der Nazis Mitglied im antisemitischen "Kampfbund für deutsche Kultur" und in der gewerkschaftsähnlichen "Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation". Er fiel 1941 in Russland. - Claaßen erhält einen Anruf: Er wird zu einem mehrtägigen Praktikum auf einem Rangierbahnhof abkommandiert. Er freut sich über die Abwechslung und die frische Luft, und als krönender Abschluss winkt die Fahrprüfung auf einer Lokomotive. Claaßen gibt sich den Arbeitern gegenüber, mit denen er es jetzt zu tun hat, leutselig, doch die zeigen ihm zunächst die kalte Schulter. Aber er packt unaufgefordert mit an, und obwohl (oder vielleicht weil) er sich dabei ungeschickt anstellt, bricht er das Eis und wird in ihre Runde aufgenommen. Es gibt hier wieder eine kleinere Montage-Sequenz: Güterwaggons prallen beim Rangieren spektakulär aufeinander, wiederum eindrucksvoll akustisch untermalt, während die Arbeiter behände dazwischen herumspringen und die nötigen Handgriffe mit traumwandlerischer Sicherheit ausführen (umso schwerfälliger wirken die Darsteller bei ihren Dialogen). Gespielt werden die Arbeiter von Laiendarstellern, Arbeitern eines Bahnausbesserungswerks in München-Freimann, und in diesen Szenen sieht man, dass sie "vom Fach" sind. Für Bahnfremde wäre die Aufnahme dieser Szenen wohl lebensgefährlich gewesen.

Arbeitspause à la MENSCHEN AM SONNTAG

Aber der überwiegende Teil der Rahmenhandlung läuft ganz unspektakulär ab. Es werden alltägliche Aufgaben verrichtet, aber es wird auch ausgiebig Pause gemacht. Die Arbeiter sind keine arischen Helden der Arbeit, sondern Alltagstypen, die meisten nicht mehr ganz jung, mit Durchschnittsgesichtern, der eine ein dürrer Spargeltarzan, der nächste mit Zahnlücken, ein anderer mit Blumenkohlnase. Das Faulenzen, Brotzeitmachen und Herumjuxen an einem Teich wird von Zielke im Geist der Neuen Sachlichkeit dargestellt - Martin Loiperdinger, der einen lesenswerten Text über DAS STAHLTIER geschrieben hat (Quellen siehe Ende des zweiten Teils), vergleicht diese Szenen mit MENSCHEN AM SONNTAG (1930), wo man sich am Wannsee dem Nichtstun hingibt. Der "nationalsozialistische Geist", den Albert Gollwitzer in jedem Winkel der Reichsbahn walten lassen wollte, ist hierhin noch nicht vorgedrungen, und gerade deshalb vermitteln diese Szenen wohl einen realistischen Eindruck vom Alltag der Arbeiter. Überhaupt gibt es im ganzen Film außer einem "Heil Hitler!", als Claaßen zum erstenmal die Arbeiter begrüßt, keine Symbole des Nationalsozialismus zu sehen oder zu hören. Nun, einen kleinen "Ausrutscher" leistet sich Zielke aber doch: In einer Szene, in der Schienen verlegt werden, ist Claaßen mit nacktem Oberkörper und in heroisierender Untersicht gefilmt zu sehen - hier ist er plötzlich doch, der "arische Typus", wie er auch aus einem Film von Leni Riefenstahl stammen könnte, wenn auch nur für einige Sekunden. DAS STAHLTIER lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog, Aufnahme W. Zielke, links), DAS STAHLTIER

Bei verschiedenen Gelegenheiten erzählt Claaßen den Arbeitern Episoden aus der Frühzeit der Eisenbahn, und damit sind wir bei der Eisenbahngeschichte, Punkt eins in Zielkes Exposé. Es handelt sich um folgende Episoden:
Bauernaufstand von Caston Hill
1813 rotten sich abergläubische Bauern zusammen, um drei Landvermesser der Eisenbahn zu verjagen, weil sie fürchten, dass das neumodische "Teufelswerk" die Ernte und das Vieh bedroht. Zwei der Landvermesser suchen das Weite, der dritte bleibt standhaft, aber er wird verprügelt und muss versprechen, nie mehr Land zu vermessen.

James/John Waters
Der Ingenieur James Waters (bei Zielke, in Wirklichkeit John Waters) baut 1812 eine Lokomotive mit einem riesigen Schwungrad und einem komplizierten Zahnradantrieb. Doch die Konstruktion klemmt, das Gefährt will sich nicht in Bewegung setzen. Durch den eigenen Ehrgeiz und hämische Zuschauer unvorsichtig geworden, hantiert Waters so lange daran herum, bis es zur Explosion kommt. Obwohl ihm das Ding aus unmittelbarer Nähe um die Ohren fliegt, erleidet Waters in der Manier einer Slapstick- oder Comicfigur nur leichte Blessuren.

Puffing Billy
Die 1814 von William Hedley gebaute Lokomotive "Puffing Billy" verkehrte Jahrzehnte zuverlässig zwischen einer Kohlegrube und einem Hafen in Nordengland. Sie ist die älteste erhaltene Lokomotive überhaupt.

Cugnot
Der französische Artillerie-Offizier Nicolas-Joseph Cugnot konstruierte 1769 (bei Zielke 1770) einen mit Dampf betriebenen Wagen - eigentlich keine Lokomotive, sondern ein frühes Automobil. Das merkwürdige Gefährt setzt sich tatsächlich in Bewegung, doch eine Probefahrt endet im Debakel: Der schwer lenkbare Wagen rammt schnurstracks eine Kasernenmauer.

Rocket
Die von George und Robert Stephenson (bei Zielke einfach nur ein "Stephenson") konstruierte Lokomotive "Rocket" fuhr ab 1830 für die Liverpool and Manchester Railway, nachdem sie 1829 das Rennen von Rainhill gegen vier Konkurrenten für sich entschied. Doch der Triumph wurde von einer Tragödie überschattet: Bei der feierlichen Eröffnung der Strecke wurde ein Parlamentsabgeordneter aus Liverpool von der Rocket erfasst und tödlich verletzt.

Adler
Der Anlass des Films, und die einzige Episode, die in Deutschland angesiedelt ist. Doch auch die "Adler" ist eine englische Konstruktion von Vater und Sohn Stephenson, und der "Dampfwagenlenker" war ein Mr. William Wilson. Diese Episode endet nicht in einer kleineren oder größeren Katastrophe, sondern in allgemeinem Wohlgefallen.
Die Landvermesser von Caston Hill (l.o.), J. Waters (r.o.), Puffing Billy (mitte),
die Adler und ihr "Dampfwagenlenker" Mr. Wilson (unten)


An diesen Episoden, die ebenso wie die Rahmenhandlung im Norden Münchens gefilmt wurden, gibt es manches auszusetzen. Die Handlung ist jedesmal schlicht (was bei der Kürze von jeweils wenigen Minuten nicht verwundert), die Darsteller agieren entweder steif oder übertrieben, die Dialoge sind meist gestelzt, und ein Teil der Kulissen sieht schon sehr nach Sperrholz aus. Fast schon peinlich und unfreiwillig komisch wirkt es, wenn die Darsteller von Waters und Cugnot mit aufgesetztem englischen bzw. französischen Akzent sprechen. Cugnot wird übrigens von keinem Geringeren als Max Schreck gespielt, der sich durch die Hauptrolle in F.W. Murnaus NOSFERATU unsterblich machte. In den mir bekannten Filmographien Schrecks kommt DAS STAHLTIER nicht vor, er ist es aber wirklich. In den Credits am Anfang des Films wird von den Darstellern nur Aribert Mog genannt, aber in Zielkes Nachlass, der im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt wird, findet sich ein Foto von den Dreharbeiten, das Zielke und Cugnot auf einer Lokomotive zeigt, und das mit "Führerstand 18 507 mit Zielke und Max Schreck (Cugnot)" beschriftet ist. Somit ist DAS STAHLTIER einer der letzten Filme von Schreck, der im Februar 1936 starb. - Die historischen Episoden sind keineswegs durchgehend schlecht. Sobald keine Dialoge zu meistern sind, sondern die historischen Lokomotiven oder größere Menschenmassen bewegt werden, gelingen Zielke auch hier flüssige Sequenzen, und Kreuders Musik setzt einige eigenwillige Akzente. Dennoch sind dies die am wenigsten gelungenen Teile des Films. - Die historischen Szenen wurden Ende 1934 in einer Probevorführung vor Reichsbahn-Führungspersonal gezeigt, und Generaldirektor Julius Dorpmüller war davon beeindruckt. Das nutzte Zielkes Mentor Albert Gollwitzer zu einem Vorstoß: Auf seinen Vorschlag hin wurde Zielkes Budget von 50.000 auf 100.000 RM verdoppelt, und auch die vorgesehene Laufzeit verlängerte sich beträchtlich. Das wurde im Januar 1935 in einem Zusatzvertrag festgehalten.

Cugnots Wagen rammt eine Mauer

Am Ende der Rahmenhandlung steht Claaßens Fahrprüfung, und damit die "Fahrtsymphonie". Einen Fahrprüfer gibt es nicht zu sehen, und Claaßen selbst spielt eigentlich auch keine Rolle - im Mittelpunkt steht die Lokomotive (eine S 3/6 mit der Betriebsnummer 18 507, die Zielke zwei oder drei Monate zur Verfügung stand) und die Bewegung. Hier, im Bereich des "absoluten Films", war Zielke wieder voll in seinem Element. Die ca. fünfminütige Sequenz ist furios. Schon der Auftakt ist ein Knüller: Zielke montierte die Kamera direkt an einem Rad der Lokomotive, so dass sie sich zu drehen beginnt, sobald die Lok anfährt. So rotiert das Bild um die Sichtachse, immer schneller, denn die Lok nimmt schnell Fahrt auf, insgesamt ca. 15 mal, bevor umgeschnitten wird. Es gibt Nahaufnahmen der komplizierten und wuchtigen Antriebsmechanik der Dampflok, von Schienen und Weichen, über die die tief montierte Kamera hinweggleitet, und die schnell vorüberhuschende Landschaft, alles sehr dynamisch geschnitten. Im ersten Teil bilden reale Geräusche den Soundtrack, dann setzt wieder Kreuders Musik ein, rhythmisch stampfend die Dampfmaschine imitierend.

Cugnot (Max Schreck) und seine Frau, nochmals Cugnot - und ein Hauch NOSFERATU

Für den Film als das künstlerische Medium der Bewegung war die Eisenbahn schon immer ein dankbares Sujet. Während der in einen Bahnhof einfahrende Zug, den die Brüder Lumière 1895 filmten, kameratechnisch noch eine statische Angelegenheit war, montierte schon um 1898 Billy Bitzer, der spätere Kameramann von D.W. Griffith, seine Kamera auf den Kuhfänger an der Front einer Lokomotive. In Abel Gances monumentalem Epos LA ROUE von 1923 gibt es äußerst dynamisch geschnittene Eisenbahnszenen, einige Schnittfolgen dauern gar nur einen einzigen Frame. Nachdem dieser Film 1926 in Russland gezeigt wurde, beeinflusste er die sowjetischen Montagemeister um Eisenstein. Und dort - abgesehen von der erwähnten kurzen Sequenz am Anfang von Ruttmanns BERLIN - findet man am ehesten Vorbilder für die "absoluten" Teile von Zielkes Film, etwa bei Werken von Dsiga Wertow wie DER MANN MIT DER KAMERA und insbesondere DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS (1930), Wertows erstem Tonfilm. Darin gibt es Szenen aus einem Schwerindustrie-Revier, in denen Bild und Ton ähnlich auf den Zuschauer einprügeln wie Zielkes Sequenz der Stahlerzeugung in Oberhausen, es gibt Bilder, die durch mehrfache Überlagerung zu quasi-abstrakten Grafiken verschwimmen, und es gibt auch einige Eisenbahn-Szenen, die denen von Zielke ähneln, etwa Weichen, über die die knapp über dem Boden schwebende Kamera hinweggleitet. Insgesamt aber dürfte DAS STAHLTIER zumindest auf das Thema Eisenbahn bezogen bis dahin den Höhepunkt des absoluten Films dargestellt haben.

DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS

Gleichwertige Nachfolger sind ebenfalls dünn gesät. Der prominenteste dürfte Jean Mitrys PACIFIC 231 sein. Der zehnminütige Kurzfilm des Filmtheoretikers Mitry, eine seiner wenigen praktischen Arbeiten, zeigt die Fahrt eines von einer Dampflok gezogenen Zuges zwischen zwei Bahnhöfen in ähnlich "absoluter" Manier wie Zielkes "Fahrtsymphonie". In den Credits wird darauf hingewiesen, dass man den Film nicht als Dokumentation, sondern als Essay verstehen soll. Es gibt auch eine schnittgenaue Musik, ähnlich wie die von Edmund Meisel für Ruttmann und die von Kreuder für Zielke. Sie stammt vom schweizerisch-französischen Komponisten Arthur Honegger und trägt denselben Titel wie der Film. Allerdings wurde hier nicht die Musik zum Film geschrieben, sondern der Film zur Musik gedreht bzw. geschnitten, denn Honeggers Stück entstand bereits 1923 (kurz zuvor hatte Honegger auch die Originalmusik für Gances LA ROUE geschrieben).

Ein Bildmotiv, vier Filme: BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (l.o.), ENTHUSIASMUS
(r.o.), PACIFIC 231 (l.u.), DAS STAHLTIER

Manches an PACIFIC 231 erinnert frappant an DAS STAHLTIER. Natürlich drängen sich bei solchen Filmen manche Bildideen auf, etwa, die Kamera unter einem der vorderen Puffer der Lok zu befestigen und sie so knapp über den Schienen hinweggleiten zu lassen, oder die Kamera zwischen oder knapp neben den Schienen einzugraben und den Zug darüber hinwegbrausen zu lassen. Dennoch frage ich mich, ob Mitry DAS STAHLTIER gekannt haben könnte, bevor er PACIFIC 231 drehte. Ausgeschlossen ist das nicht. Zielke wies Anfang der 50er Jahre darauf hin, dass eine Kopie von DAS STAHLTIER 1945 von französischem Militär bei Leni Riefenstahl in Kitzbühel beschlagnahmt und nach Paris gebracht worden sei (eine andere Kopie soll laut Zielke nach Russland gebracht worden sein). Das ist durchaus plausibel. Riefenstahl besaß in Kitzbühel ein Haus, das auch als Zweigstelle ihrer Riefenstahl Film GmbH diente. Es gab dort Räume mit Ausrüstung für Filmschnitt, -vertonung und -vorführung. Riefenstahl arbeitete dort 1945 an der Endfertigung von TIEFLAND, fernab vom Bombenhagel in Berlin (sie wurde aber bis Kriegsende nicht fertig, weshalb dieser Film erst 1954 herauskam). Im Sommer 1945 wurde das Anwesen mitsamt dem darin befindlichen Filmmaterial von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, Riefenstahl nach Deutschland ausgewiesen und die Filme 1946 nach Paris gebracht. Um 1953 wurde DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française aufgefunden, offenbar das bei Riefenstahl sichergestellte Exemplar. Jean Mitry wiederum war neben Henri Langlois und Georges Franju einer der Gründer der Cinémathèque. Er kannte sich dort also aus und könnte irgendwann zwischen 1946 und 1949 DAS STAHLTIER zu Gesicht bekommen haben. Belege dafür sind mir aber nicht bekannt. Neben PACIFIC 231 sind noch SNOW (1963), RAIL (1966) und LOCOMOTION (1975) erwähnenswert, die Geoffrey Jones für British Transport Films, die damalige Filmabteilung der britischen Eisenbahn, gedreht hat, und die ebenfalls sehr dynamisch und nach musikalischen Prinzipien geschnittene Eisenbahnaufnahmen zeigen. LOCOMOTION ist auch wie DAS STAHLTIER ein Jubiläumsfilm, entstanden zum 150. Jahrestag der Stockton and Darlington Railway, mit der 1825 die Passagierbeförderung per Eisenbahn begann.

Antriebsräder: BERLIN (l.o.), PACIFIC 231 (r.o.), DAS STAHLTIER (unten)

Aber DAS STAHLTIER in seiner Mischung aus Bestandteilen, die eigentlich nicht zusammenpassen, ist wohl einzigartig. Neue Sachlichkeit, "absoluter Film", historische Spielszenen, expressionistische Licht- und Schattenspiele mit verkanteter Kamera, eine fast surrealistisch anmutende Tagtraumsequenz Claaßens. Einige Autoren haben zu Recht Zielkes Montageprinzipien vom russischen Konstruktivismus abgeleitet, andererseits erinnert die Verherrlichung von Stahl ("Der Stahl, die Zukunft und die Kraft!" ruft Claaßen einmal fast hysterisch aus), von mechanisierter Bewegung und Geschwindigkeit auch an den italienischen Futurismus mit seiner Nähe zum Faschismus. Wie schon geschrieben, dieser Film lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen - "DAS STAHLTIER ist wohl der wundersamste Film, der im Dritten Reich gedreht wurde." (Martin Loiperdinger)

Claaßen hat ein fast erotisches Verhältnis zum Stahl

DAS STAHLTIER ist in einer Reihe mit dem Titel "Eisenbahn Nostalgie" auf DVD erschienen. Das weckte gewisse Befürchtungen bei mir, und die haben sich bewahrheitet. Die Herausgeber ließen es sich nicht nehmen, ein ca. 20-seitiges Booklet beizulegen - das ausschließlich Eigenwerbung, aber nichts über Zielke oder seinen Film enthält. Auch auf der DVD selbst findet sich kein Bonusmaterial, nur drei Minuten Trailer für andere Filme, also wieder Eigenwerbung. Und auch der Text auf der Cover-Rückseite lässt zu wünschen übrig. Da findet sich kein Wort über das Verbot des Films auf Betreiben der Reichsbahn - nur ein schwammiges "Und das, obwohl dieser Film seinerzeit gar nicht in die Kinos kam" -, über Zielkes Schicksal in der Psychiatrie oder über die spätere Verstümmelung des Films auf Betreiben der Deutschen Bundesbahn. Wollte man der Bahn als Lizenzgeber nicht auf die Füße treten? Unnötig zu erwähnen, dass auch eine Bildrestauration nicht stattfand, obwohl teilweise sehr starke Abnutzungsspuren dies nötig gemacht hätten. So erfreulich es ist, dass DAS STAHLTIER überhaupt auf DVD erhältlich ist, diese DVD ist eine kläglich vergebene Chance. BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS sind auf ausgezeichneten DVDs der Edition Filmmuseum erschienen (so macht man das richtig!), PACIFIC 231 ist beispielsweise auf dem US-DVD-Set "Avant-Garde 2: Experimental Cinema 1928-1954" enthalten, und die Filme von Geoffrey Jones sind beim British Film Institute auf der empfehlenswerten DVD "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" erschienen.

Fahrtsymphonie

Donnerstag, 29. September 2011

Ein Künstler in Auflösung: RYAN

RYAN
Kanada 2004
Regie: Chris Landreth
Sprecher: Ryan Larkin, Chris Landreth, Felicity Fanjoy, Derek Lamb


Der Kanadier Ryan Larkin (1943-2007) war vor über 40 Jahren ein Shooting Star, um nicht zu sagen ein Wunderkind, des Animationsfilms. Unter der Ägide des National Film Board of Canada (NFB) schuf er von 1966 bis 1972 vier Kurzfilme, außerdem ein paar kurze Clips, z.B. einen für die kanadische Forstverwaltung, in dem vor Waldbränden gewarnt wird. Norman McLaren, die geniale und über Jahrzehnte produktive Galionsfigur des NFB, nahm ihn unter seine persönlichen Fittiche. Nach der eineinhalbminütigen Talentprobe CITYSCAPES erregte schon sein zweiter Film SYRINX, der in impressionistischer Manier, mit Holzkohle gezeichnet, die griechische Sage von der Nymphe Syrinx interpretiert, Aufsehen. Der nächste Film, WALKING (franz. EN MARCHANT), der den menschlichen Gang zum Thema hat, wurde für einen Oscar nominiert und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, ebenso wie der darauf folgende STREET MUSIQUE, der Figuren in unablässiger surrealer Metamorphose zeigt. Mit WALKING und STREET MUSIQUE beeinflusste Larkin eine ganze Generation junger Animationsfilmer. Doch STREET MUSIQUE war für mehr als 30 Jahre sein letzter Film. Larkin, der schon seit seiner Kindheit psychische Probleme mit sich herumschleppte, wurde in den 70er Jahren alkohol- und kokainsüchtig. Er war nicht mehr zu kreativer Arbeit fähig, und schließlich ging sein Leben ganz in die Binsen - er landete als Bettler auf der Straße. In den letzten Jahren vor RYAN hatte Larkin immerhin einen ständigen Wohnplatz in einem Asyl in Montreal, aber er lebte weiterhin von der staatlichen Wohlfahrt und vom Betteln. Die Kokainsucht hatte er inzwischen überwunden, aber er trank immer noch zuviel.


Vor gut zehn Jahren lernte Chris Landreth, seinerseits ein Shooting Star des (computergenerierten) Animationsfilms, Larkin kennen und befreundete sich mit ihm. Mit Larkins Einverständnis beschloss er, eine animierte Dokumentation über dessen Karriere und Abstieg zu drehen. Akustische Grundlage des 14-minütigen RYAN bilden aufgezeichnete Gespräche zwischen Larkin und Landreth, zu denen Landreth mit seinem Team dann die Bilder schuf. Und was für Bilder! Ausgangspunkt sind realistische 3D-Animationen, die aber bei Chris - im Film werden die Figuren nur beim Vornamen genannt - von farbigen Strähnen und Fasern, die etwas an Arnulf Rainers Übermalungen erinnern, überlagert werden, und die die Brüche und Verletzungen der Person symbolisieren. Noch krasser ist die Darstellung von Ryan. Die jahrelange Sucht hatte ihre Spuren hinterlassen: Zwar sah er noch ganz gut aus, aber die Bewegungen waren fahrig, die Sprechweise oft stockend. Landreth visualisiert Ryans schlechten Zustand durch die Weglassung ganzer Körperteile und findet dabei schrecklich schöne Bilder, die etwas an David Cronenberg, an Salvador Dali und an Gunther von Hagens' "Körperwelten" erinnern. Landreth nennt den sich aus solchen Mitteln ergebenden Stil "Psycho-Realismus".


Die Figuren des Films werden komplettiert durch den langjährigen NFB-Produzenten Derek Lamb und Ryans frühere Lebensgefährtin Felicity, die ihre Sicht auf Ryans Weg beisteuern. Beim Gespräch mit Felicity kommt es zu einem gleichermaßen bewegenden wie befremdlichen Moment: Ryan sagt zu Felicity, dass er sie immer noch liebt, und dass sie hätten Kinder haben sollen. Hätte das seinen Abstieg verhindert? Das weiß natürlich niemand, aber Ryan glaubte es offenbar in diesem Moment. Im nächsten Abschnitt spricht Chris Ryans Alkoholismus an und will ihn überreden, auf den Alkohol zu verzichten, um wieder kreativ tätig werden zu können - was mit einem Wutausbruch Ryans endet. Weil sich Landreth in dieser Szene nachträglich wie ein Prediger vorkam, visualisiert er das mit grandioser Selbstironie, indem er Chris eine als Heiligenschein gestaltete Neonröhre aufsetzt und im passenden Moment anknipst. Der Heiligenschein brennt durch und fällt ab, als Chris auch in Bezug auf sich selbst persönlich wird: Indem er nämlich seine an den Folgen ihres Alkoholismus verstorbene Mutter Barbara (der der Film gewidmet ist) in die Erzählung einbezieht. Den Schluss des Films bildet eine Szene, die Ryan beim Betteln in seinem Viertel in Montreal zeigt.


RYAN gewann den Oscar für den besten animierten Kurzfilm, drei Preise in Cannes und diverse weitere Auszeichnungen. Parallel zur Entstehung des Films und darüber hinaus drehte der Dokumentarist Laurence Green die 52-minütige Doku ALTER EGOS, die das Verhältnis von Landreth und Larkin beleuchtet, weiteren Aufschluss über Larkins Vergangenheit bietet und dabei Aspekte anschneidet, die im kurzen RYAN fehlen mussten. Emotionaler Höhepunkt von ALTER EGOS ist die Szene, in der Larkin zusammen mit Landreth zum ersten Mal RYAN gesehen hat. Er ringt sich ein "I'm not very fond of my skeleton image!" ab und ist ansonsten ziemlich sprachlos - er muss erst verdauen, was er da gesehen hat. (Später soll er sich beschwert haben, dass er von Landreth zu grotesk dargestellt wurde.) Obwohl RYAN fast komplett in ALTER EGOS enthalten ist, ist Greens Film alles andere als ein übliches Making Of. Tatsächlich lässt Green kritische Distanz zu Landreth erkennen: Sowohl im Film selbst als auch in seinem Audiokommentar dazu lässt er durchblicken, dass er das, was Landreth mit Larkin gemacht hat, für eine Art von Ausbeutung hält. Landreth selbst sagt auch in ALTER EGOS, dass er das Projekt als Künstler und nicht als Sozialarbeiter anging. Doch da trifft er sich mit Larkin, für den ebenfalls die Kunst die einzige Motivation für seine Filme war.


Für Ryan Larkin schien es nach RYAN ein Happy End zu geben. Er bekämpfte seinen Alkoholismus, wurde wieder kreativ tätig und begann die Arbeit an einem neuen Film mit dem Titel SPARE CHANGE. Landreth, Green und das durch RYAN erzeugte neue Interesse mögen zu dieser Wende beigetragen haben, aber die wichtigste Motivation bestand in dem Ehepaar Laurie Gordon und Krassy Halatchev, die zusammen das Elektropop-Duo Chiwawa bilden. Tatsächlich begann Larkins Freundschaft und Zusammenarbeit mit Chiwawa schon 2002. Aus Skizzen für ein Albumcover entstand der Plan zu SPARE CHANGE, Larkin übernahm auch andere kleine Aufträge, z.B. gestaltete er Bumpers für MTV Canada, und er hatte wieder ein eigenes Einkommen und ein Bankkonto. Als er wegen schlechten Betragens aus dem Asyl flog, zog er bei Gordon und Halatchev ein. SPARE CHANGE behandelt zunächst selbstironisch Larkins bisherige Existenz als Straßenbettler und bricht von diesem Ausgangspunkt zu einem Trip in den Himmel und die Hölle auf. Der Soundtrack wird von Chiwawa beigesteuert. Larkin war also auf einem guten Weg, doch im Februar 2007 starb er an Krebs. Die einzelnen Szenen von SPARE CHANGE waren schon weitgehend animiert. Der Film wurde von Laurie Gordon als Produzentin und Co-Regisseurin gemäß Larkins Anweisungen fertiggestellt und 2008 herausgebracht.


RYAN ist in den USA auf einer Special Edition DVD erschienen, die auch ALTER EGOS, Larkins SYRINX, WALKING und STREET MUSIQUE sowie THE END und BINGO, die ersten beiden Filme von Landreth, enthält. Alle sieben Filme sind auch mit einem Audiokommentar des jeweiligen Regisseurs versehen.

RYAN:


ALTER EGOS:


Filme von Ryan Larkin:










Die Filme von Ryan Larkin und Chris Landreth und weiteres Material wie Interviews gibt es auch bei YouTube.

Dienstag, 6. September 2011

Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 1: Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus
Teil 2: Publikumsbeschimpfung auf Japanisch

DER PROZESS (SHINPAN)
Japan 1975


Ein Mann schlägt einen ziemlich langen Nagel mitten in den Boden einer Straße. Ein anderer Mann schlägt einen Nagel in eine Wand, und im selben Moment krümmt sich ein Dritter vor Schmerz und bricht zusammen, als ob er den Nagel in den Unterleib bekommen hätte. Ein Liebespaar in einem Zimmer: Sie liegt nackt auf einem Bettgestell aus Metall ohne Matratze, er kniet daneben auf dem Boden und schlägt in regelmäßigen Abständen mit seinem Hammer auf einen Nagel; jedesmal, wenn er trifft, stöhnt die Frau auf und krümmt sich vor Lust. Ein hagerer nackter Mann, der einen riesigen gekrümmten Nagel geschultert hat, wankt damit durch eine Landschaft, die durch einen violetten Farbfilter verfremdet ist. Eine Frau im Kimono öffnet in einem Zimmer ein kleines Kästchen, das verpackt ist wie ein Geschenk; als sie sieht, dass die Innenwände des Kästchens mit kleinen Nägeln gespickt sind, erschrickt sie, als ob sie die Büchse der Pandora geöffnet hätte.


Und so geht es weiter: Nägel in allen Größen, in absurden, surreal anmutenden Situationen. Die Frau im Kimono muss hilflos und angsterfüllt zusehen, wie ein großer gekrümmter Nagel - vielleicht derselbe, den der Mann durch die Gegend trägt - scheinbar aus eigenem Antrieb in ihr Zimmer eindringt. Der zunehmend entkräftete Mann, der seinen Nagel zu tragen hat, kehrt mehrfach wieder; seine Szenen sind mit sehr schöner melodischer, aber auch etwas rätselhaft-beunruhigender Musik unterlegt - dies und die violett eingefärbte Szenerie verleihen den Sequenzen einen ungewöhnlichen ästhetischen Reiz. Ein Mann mit Vollbart und Brille, der wie ein Gelehrter wirkt, schlägt auf würdevolle Art große Nägel in ein aufgeschlagenes dickes Buch. Ein weiteres Liebespaar: Sie treiben es auf konventionelle Weise, doch dann lugt ein riesiger Nagel (wohl der größte im Film) durch das offene Fenster herein. Und noch einiges mehr - Nägel, immer wieder Nägel.


Was hat das alles zu bedeuten? Bedeutet es überhaupt irgendwas? Es ist zumindest offensichtlich, dass es eine enge Verbindung zur Sexualität gibt. Man könnte den Nagel als Phallussymbol interpretieren. In einigen Abschnitten wird diese Deutung forciert - neben den Szenen mit den beiden Liebespaaren vor allem ein Blowjob mit einem überdimensionalen Nagel (siehe fünften Screenshot). In anderen Szenen will sie nicht so recht passen, wäre zumindest recht bemüht. Ein Rezensent deutet die Nägel ähnlich, aber etwas allegorischer als Symbol der männlichen Libido - ein interessanter Gedanke, der etwas für sich hat. Aber muss es überhaupt eine geschlossene Deutung des Films geben? Eher nicht. Terayama war keiner, der seinem Publikum irgendwelche Interpretationen seiner Filme aufdrängte, sondern zu eigenem Nachdenken anregen wollte, so wie auch in seinen Theaterproduktionen das Publikum oft einbezogen wurde. "Für Terayama waren seine Arbeiten Fragen und keine Antworten", sagte Henriku (oder Henrikku) Morisaki, ein langjähriger Mitarbeiter und Freund, 2008 in einem Interview - "sie mussten durch das Publikum komplettiert werden."


So kann also jeder in den Film hineinlesen, was er will - eine "richtige" oder "wahre" Interpretation gibt es nicht. Der Titel DER PROZESS ist übrigens kein deutscher Verleih- oder Fernsehtitel, sondern ein Originaltitel, und er bezieht sich auf Franz Kafkas bekanntes Romanfragment. Der alternative Titel SHINPAN ist der übliche Titel japanischer Übersetzungen von Kafkas auch in Japan berühmtem Werk. Worin der Bezug des Films zu Kafka nun tatsächlich besteht, ist mir allerdings schleierhaft.


Unabhängig von möglichen Interpretationen ist DER PROZESS ein sehr schöner Film. Neben den ungewöhnlichen und fantasievollen Bildern trägt auch der gekonnte Soundtrack von Terayamas Haus- und Hofkomponisten J.A. Seazer (gelegentlich auch J.A. Caesar geschrieben) dazu bei. Einen dreisten Coup erlaubt sich Terayama mit dem Schluss. Elf Minuten vor Ende des 35-minütigen Films erreicht der nackte Mann mit dem geschulterten Nagel torkelnd bewohntes Gebiet, und das Bild verschwindet in einer Weißblende. Und dann passiert - nichts. Man lauscht der wunderschönen sanft-melodischen, fast elegischen Musik und blickt gebannt (zumindest beim ersten Sehen) auf die Leinwand oder den Monitor, weil ja noch etwas passieren muss. Aber das Bild bleibt zehn Minuten weiß, es passiert nichts, bis die End-Credits eingeblendet werden. Was soll das nun wieder? Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte ein Rückbezug auf Terayamas ersten Spielfilm WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE sein. Da ist am Anfang zunächst mal die Leinwand eine Minute lang schwarz. Dann wird ähnlich wie in LAURA die "vierte Wand" durchbrochen, und der Protagonist spricht zum Zuschauer: "Was tust Du hier? Durch herumhängen bewirkt man nichts. Die Leinwand ist komplett leer." Und dann, gegen Ende des Films: "Schaltet das Licht ein! Der Film endet hier. Jetzt bin ich an der Reihe zu reden. Wenn man darüber nachdenkt, kann ein Film nur im Dunkeln existieren. Wenn die Lichter angehen, wie jetzt, wird die Welt des Film ausgelöscht." Und ganz am Ende erscheint dann eine weiße Leinwand, wenn auch nur für eine knappe Minute, bevor die End-Credits beginnen (die in diesem faszinierenden Film auch eine ganz besondere Form haben, aber das ist ein anderes Thema). Es könnte also sein, dass Terayama dieses Motiv nochmal aufgreift und ausbaut. Auf jeden Fall gibt es einen Querbezug von DER PROZESS zu A TALE OF SMALLPOX (HŌSŌTAN), einen seiner beiden anderen Kurzfilme von 1975, denn darin kommen auch Nägel vor - etwa ein Mann mit vollständig bandagiertem Kopf, in den Nägel geschlagen werden.


Von allen Kurzfilmen Terayamas ist DER PROZESS für mich der interessanteste. Seine sämtlichen Kurzfilme (bis auf den ersten von 1960, der verschollen ist) sind in einer Box mit vier DVDs in Japan erschienen, die jedoch nicht mehr erhältlich ist. Einige Kurzfilme und Ausschnitte aus den Spielfilmen findet man bei YouTube.

Samstag, 3. September 2011

Publikumsbeschimpfung auf Japanisch

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 1: Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus
Teil 3: Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

LAURA (alternativ ROLLER, jap. RŌRA)
Japan 1974


Drei leicht bekleidete Grazien (von denen eine ein Transvestit sein könnte) in einem abgedunkelten Bühnenraum fast ohne Einrichtungsgegenstände. Sie durchbrechen die "vierte Wand" und sprechen den Zuschauer vor der Leinwand direkt an:

"Du da, in der zweiten Reihe von vorne! Womit fummelst Du da herum? Wir sind genau vor dir. Wir können dich perfekt sehen. Hör auf damit! Warum kommst Du nicht her? Mach es nicht selbst! Es ist schlecht für dich. Was, wenn es den Kerl vor dir trifft? Er müsste dann so heimgehen. [Gelächter] Und was ist mit dir? Glotz nicht! Tu nicht so, als ob Du nicht würdest! [...] Wir sind nicht nur Licht und Schatten auf der Leinwand. Wir haben Augen genau wie Du. Wir kennen die Typen, die in Experimentalfilme kommen. [...] Andere Kerle glauben, "Avantgarde" bedeutet eine nackte Frau! [Lachen] Ich lass dich mal schauen, wenn Du willst. Das ist es, was manche von ihnen wollen. Wir haben auch Geschäftsleute als perverse Spanner. Und ehrgeizige Literaturkritiker. [...] All die Möchtegernkritiker in der Menge kommen in Filme wie diesen."

Und so weiter. Etwas später wird einer der Geschmähten auf unergründliche Weise durch die Leinwand zu den drei Vamps gezogen. Mit sanfter Gewalt ziehen sie ihn aus und verlustieren sich an ihm, seinen halbherzigen Protesten zum Trotz. Am Ende entschwindet der Gebeutelte auf die selbe Art, wie er gekommen ist, wieder in den Zuschauerraum. Und die drei Grazien kündigen für das nächste Mal ein Melodram an ...


Ich fühlte mich durch den Film etwas an Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" erinnert - um genau zu sein, an den Schluss dieses Sprechstücks, in dem das Publikum die meiste Zeit über gar nicht beschimpft wird. Das ist kein abwegiger Gedanke. Terayama war sehr an zeitgenössischer europäischer, auch deutschsprachiger, Literatur interessiert, und in der posthum veröffentlichten Essaysammlung "Hakaba made nan mairu?" (How Many Miles to the Graveyard) erwähnt er die "Publikumsbeschimpfung" ausdrücklich. Vielleicht kannten sich Terayama und Handke sogar persönlich, denn beide waren im Juni 1969 beim experimentellen Theaterfestival "experimenta 3" in Frankfurt am Main anwesend (Terayamas Theatertruppe Tenjō Sajiki führte zwei Stücke auf). Die "Publikumsbeschimpfung" war drei Jahre zuvor am selben Ort bei der "experimenta 1" uraufgeführt worden. Ich weiß aber nicht, ob sich Handke und Terayama tatsächlich kennenlernten - Handke schrieb nach der "experimenta 3" einen Artikel darüber in der Zeit, und darin wird Terayama gar nicht erwähnt. Wie dem auch sein mag - LAURA ist ohnehin ein eigenständiges Werk. Kein übermäßig tiefschürfendes, aber eine witzige und freche Auseinandersetzung mit Avantgardefilmen und ihren Zuschauern. Was übrigens die nackten Frauen (und auch Männer) betrifft: Die gab es in Terayamas Filmen tatsächlich immer wieder, einschließlich sichtbarer Genitalien und Schamhaare - im japanischen Film eigentlich ein Tabu. Shūji Terayama war eben ein Enfant terrible, ein Grenzgänger zwischen "Hochkultur" und anarchischem Underground.

Donnerstag, 1. September 2011

Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 2: Publikumsbeschimpfung auf Japanisch
Teil 3: Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

THE WAR OF JAN-KEN-PON (JANKEN SENSŌ)
Japan 1971


Zwei junge Männer in militärischen Uniform-Jacken und -Mützen - aber ohne Hosen - spielen das bekannte Schere-Stein-Papier-Spiel, das wohl jeder von uns als Kind schon mal gespielt hat. Aber bei dem Duell der beiden Jünglinge handelt es sich offenbar nicht um einen harmlosen Zeitvertreib, sondern um einen verbissenen Kampf. In einer leeren Lager- oder Fabrikhalle attackieren sie sich bald auch körperlich - und zwar in der Manier von Schimpansen. Und draußen an einem Fenster der Halle stehen Leute und schauen interessiert, aber auch distanziert herein - so wie man eben dem Treiben der Affen im Zoo zuschaut. Immer wilder kaspern die beiden herum, bis sie völlig verdreckt und derangiert sind. Als Soundtrack des zwölfminütigen Films erklingt wagnerianische Musik, phasenweise unterlegt mit Grunzlauten und mit Gegröle von Adolf Hitler.


Shūji Terayama, ein Avantgardist par excellence, hat neben seiner Arbeit als Gründer und Leiter der experimentellen Theatertruppe Tenjō Sajiki, als Dichter und Schriftsteller und in weiteren Aktivitäten, auch mehrere Spielfilme und ca. 15 Kurzfilme gedreht. THE WAR OF JAN-KEN-PON - der Titel bezieht sich auf den japanischen Namen des Schere-Stein-Papier-Spiels (das vermutlich aus China stammt und von Japan aus den Weg nach Europa fand) - wurde nicht als eigenständiger Film gedreht, sondern er ist ein Auszug aus der 72-minütigen Langfassung des wüsten und kontroversen EMPEROR TOMATO KETCHUP (TOMATO KECHAPPU KŌTEI) von 1970, in dem die Kinder in einer bewaffneten Revolte die Macht übernehmen und den Erwachsenen merkwürdige Gesetze aufoktroyieren. Lediglich der Soundtrack wurde für die zwölfminütige Version neu erstellt. Während die meisten Filme von Terayama vielschichtig und schwer zu entschlüsseln sind, drängt sich mir hier eine Interpretation geradezu auf: Terayama verhöhnt jeglichen Militarismus als Affenzirkus.