Samstag, 18. August 2012

Ein Senator sieht rot: durch Western-Genre und zeitgeschichtliche Paranoia in sechs Kostümen

JOHNNY GUITAR
USA 1954
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Joan Crawford (Vienna), Mercedes McCambridge (Emma), Sterling Hayden (Johnny Guitar), Scott Brady (Dancing Kid), Ward Bond (John McIvers)


Emma steht total auf den Dancing Kid. Der wiederum hat nur Augen für Vienna, die sich nur auf Johnny einlassen möchte. Johnny fährt ebenso auf Vienna ab, aber die beiden brauchen noch ein bisschen Zeit, um zueinander zu finden. Das Problem ist, dass Vienna dermaßen sexy ist, dass alle am liebsten mit ihr schlafen möchten. So zum Beispiel auch Turkey, der jüngste Kumpel des Dancing Kids. Möglicherweise könnte auch Emma eine gewisse Anziehung zu Vienna verspüren. Da jedoch niemand positive Gefühle oder geschlechtliche Neigungen ihr gegenüber hat, entwickelt sie sich zu einer verbitterten Intrigantin, die mithilfe ihrer düsteren und humorlosen Kumpels dafür sorgen möchte, dass gar niemand sich mit niemanden vergnügen kann.

Was bestenfalls wie eine schlechte Sitcom, schlimmstenfalls wie das Drehbuch zu einer albernen Softerotik-Komödie klingt, ist eigentlich einer der großartigsten (Anti-)Westerns aller Zeiten, ein kühnes farbdramaturgisches Filmexperiment, eine radikale Infragestellung des Western-Genres im allgemeinen und traditioneller Gender-Rollen im speziellen, und eine mächtige Anklage gegen die antikommunistische Hexenjagd McCarthy‘ischer Art. 

„Johnny Guitar“ wurde von der zeitgenössischen US-amerikanischen Kritik regelrecht verrissen: als inkonsistenter Film ohne jegliche spannende Handlung und mit grässlichen Darstellern. Besonders Joan Crawford bekam dabei ihr Fett weg. Französische Filmkritiker hingegen konnten sich vor lauter überschäumender Begeisterung für „Johnny Guitar“ kaum halten. Für die späteren nouvelle vague-Regisseure François Truffaut und Jean-Luc Godard war Nicholas Rays Western ein ikonischer Kultfilm, den man unbedingt in den eigenen Filmen augenzwinkernd zitieren musste. Während Truffaut von einem filmischen „Delirium“ sprach, von einem „Die Schöne und das Biest des Westerns“, erklärte Godard Nicholas Ray geradezu zum Filmgott. Amerikanischen Filmkritiker (und auch Regisseure) zogen, wenngleich ohne große Superlative, später nach und würdigten „Johnny Guitar“ als eines der außergewöhnlichsten Werke der Filmgeschichte. Truffauts „Delirium“-Metapher sowie ähnliche Bezeichnungen werden immer wieder gerne verwendet: „weird“, „bizzare“, „madhouse“, ...

Auch wenn François und Jean-Luc nicht immer überall recht hatten, so demonstriert Rays Werk, wie Stil und Subtext einen trivialen Genre-Film mit einer banalen Handlung zu großer Kunst erheben können. Das Drehbuch ist in der Tat scheinbar banal: Vienna (Joan Crawford) hat sich am Rande einer Kleinstadt mit ihren Ersparnissen ein Saloon aufgebaut. Sie wartet darauf, dass eine geplante Eisenbahnstrecke vor ihrer Tür gebaut wird und mehr Kunden bringt. Mit ihrer unabhängigen Art ist die Wirtin ein Dorn im Auge der Stadtnotablen. Besonders Emma Small (Mercedes McCambridge) hasst die starke und selbstbewusste Vienna und will sie aus der Stadt drängen. Als eine Postkutsche überfallen wird, beschuldigt Emma die Gang um den Dancing Kid (Scott Brady), die regelmäßig bei Vienna einkehrt. Sie überzeugt Marschall McIvers (Ward Bond), den Dancing Kid und seine Bande zu verbannen und den Saloon zu schließen. Als Vienna am nächsten morgen in der Stadt ihr Sparkonto schließen möchte, wird die Bank vom Dancing Kid und co. überfallen: sie wollen sich mit einem wirklichen Verbrechen für die unrechtmäßig ausgesprochene Verbannung rächen. Emma sieht nun die Gelegenheit, um mit Vienna endgültig abzurechnen und versammelt einen Lynch-Mob zu ihrem Saloon...

Und der von Sterling Hayden gespielte Titelgeber selbst? Die Johnny Guitar-Figur ist dramaturgisch (wenngleich nicht symbolisch) relativ unbedeutend, genauso wie alle anderen männlichen Figuren. Nicht umsonst ging der Kultfilm in die Geschichte ein als „revisionistischer“ Frauen-Western, der mit großer Freude traditionelle Gender-Rollen brachial ins Umgekehrte drehte. Vienna ist eine „paternalistische“ Matriarchin: eine selbstbewusste Kleinunternehmerin, die ihre größtenteils männliche Umgebung vollends im Griff hat - angefangen bei ihren Angestellten, von denen einer zu Beginn beichtet: „Never seen a woman who was more of a man. She thinks like one, acts like one, and sometimes makes me feel like I‘m not.“ Manch zeitgenössischer Filmkritiker warf Joan Crawford völlig zu unrecht vor, asexuiert zu spielen. Der gute Mann ging wohl eher von seinen eigenen Problemen aus, denn Vienna ist Sex-Appeal in reiner Form. Roger Ebert traf den Punkt schon eher, wenn er andeutete, dass die Vienna-Figur im ersten Akt, mit ihren engen dunklen Hosen und Lederstiefeln und der umgegurteten Pistole wie eine Domina aus einem zeitgenössischen Fetisch-Pornoheft aussah, die sich in einen Western verirrt habe. Das erklärt auch, warum mindestens drei männliche Film-Figuren Vienna begehren, ganz besonders, wenn sie im wörtlichen Sinne „die Hosen anhat“. Gerade wenn sie „Männer“-Kleidung trägt, ist ihr Sex-Appeal völlig ungezügelt. Vienna ist sich sehr wohl der Gender-Problematik bewusst, wenn sie Johnny aufgebracht mitteilt: „A man can lie, steal, and even kill. But as long as he hangs on to his pride, he‘s still a man. All a woman has to do is slip once. And she‘s a tramp. Must be a great comfort to you to be a man.“

Emma ist hingegen in vielerlei Hinsicht das Gegenteil: eine verbitterte und verklemmte „alte“ Jungfer, die keiner begehren will. Sie ist ohne jeglichen Sex-Appeal: kreischt ununterbrochen hysterisch, geifert Verachtung und Hass. Außerdem versagt ihr Ray das Tragen von sexy Hosen: nur im ersten Akt darf sie sich ein wenig farbig gekleidet zeigen. Während des restlichen Films versprüht sie ihr Gift in einem Kleid, dessen schwarze Farbe und weiter Schnitt alle Körperformen verhüllt.

Und ganz offensichtlich ist Emma zutiefst sadistisch veranlagt - sowohl metaphorisch wie auch in einem ganz wörtlichen, sexuellen Sinne. Erregt ist sie im Zusammenhang mit graphischen Gewaltandrohungen und tatsächlich ausgeübter physischer Gewalt, sei es gegen den Dancing Kid, gegen seine Kumpanen oder gegen Vienna. Zum Flirten ist sie  hingegen gänzlich unfähig. In einem der zahlreichen unglaublichen Momente des Films beweist Johnny Guitar dem Dancing Kid, dass er tatsächlich spielen kann, indem er ein Lied anstimmt. Der Dancing Kid zeigt dem „Guitar Man“, dass er wirklich tanzen kann, indem er sich kurzerhand Emma schnappt und mit ihr einige Runden durch Viennas Saloon dreht. Emma ist dermaßen fassungslos, dass sie darauf nicht reagieren kann und nach dem Tänzchen blickt sie, als hätte der Dancing Kid sie vor der ganzen Versammlung vergewaltigt, mindestens aber unsittlich angefasst. Sie erholt sich aber rasch und keift anschließend Vienna und Johnny Guitar umso aggressiver an.

Worin sie Vienna durchaus gleicht ist, hingegen ihre autoritäre Dominanz gegenüber der rein männlichen Umgebung: es ist ihr extremistischer Aktivismus, der sie zur unumstrittenen Chefin des Lynch-Mobs macht, genauso wie Vienna sich mit ihrem resoluten Auftreten als geistige Führerin der sozialen Außenseiter behauptet. Manch Filmkritiker sieht auch eine noch engere Verbindung zwischen Emma und Vienna und interpretieren die Figur Mercedes McCambridges als „closet lesbian“. Eine durchaus diskutable These, die zumindest durch die obsessive Fixierung Emmas auf Vienna (und ihre Zerstörung) eine gewisse Grundlage hat.

Viel eindeutiger ist jedoch was anderes. Emma ist eigentlich ein Senator aus Wisconsin. Emma Small ist Joseph McCarthy! Denn mehr als eine Gender-Groteske ist „Johnny Guitar“ auch ein politisches Manifest. Diese Beschäftigung mit den antikommunistischen Hexenjagden der späten 1940er und frühen 1950er Jahre ist aufgrund ihrer Offensichtlichkeit schon gar nicht mehr als Subtext zu bezeichnen, sondern bildet den eigentlichen Kern des Films. Noch einmal zur Story: eine Gruppe „respektabler“ Bürger, die sich auf Seite des Gesetzes wähnt, tritt eine geradezu irrationale und rücksichtslose Hetzjagd gegen soziale Außenseiter los, denen man im rechtsstaatlichen Sinne nichts vorzuwerfen hat.

Das Problem ist dabei nicht nur, dass die Beschuldigungen irrational, absurd und durchweg paranoid sind: ob der Dancing Kid und seine Gang-Kollegen tatsächlich zu Beginn des Films die Postkutsche ausgeraubt haben, bleibt unklar und ist letztlich irrelevant. Vielmehr ist das Urteil schon à priori festgelegt worden: Die Unschuldsvermutung wird aufgehoben und Indizien kann man mit viel Phantasie in „Beweise“ uminterpretieren. So hat der offensichtlich noch unter Schock stehende Fuhrmann der ausgeraubten Kutsche aufgrund des Sonnenstands die Räuber nicht genau sehen können. Emma und McIvers brüllen ihn so lange an, bis er „zugibt“, dass es vier Männer waren: es „musste“ sich also um den Dancing Kid und seine drei Kollegen handeln.

Vienna hingegen macht sich nur durch die Tatsache verdächtig, dass die Dancing-Kid-Bande jeden Freitag Abend in ihr Lokal einkehrt. Das ist der Grund, warum die unentschlossenen „respektablen“ Männer Emma folgen. Johnny Guitar ist hingegen per se verdächtig, weil er ein unbekannter Fremder ist. Dass er keine Waffe trägt, macht ihn noch verdächtiger (vielleicht habe er die Kutsche ja überfallen und dann die Waffen beseitigt). Seine Begründung für die Waffenlosigkeit - „Because I‘m not the fastest draw West of the Pecos“ - bringt Vienna und Dancing Kid & Co. zum lachen. Das wiederum bringt Emma auf die Palme: die Gesetzeslosen würden McIvers auslachen.

In nicht einmal einer Viertelstunde entlarven Nicholas Ray und Drehbuchautor Ben Maddow die Mechanismen der Kommunistenjagd. Das „House Committee on Un-American Activities“ (HCUA), ursprünglich zur Untersuchung faschistischer Gruppierungen gegründet, wurde ab Ende des Weltkriegs von rechten Republikanern zum Hauptorgan der Kommunistenjagd umfunktioniert. Sie diente vor allem der radikalen Abrechnung mit der New-Deal-Ära. Hollywood war dabei eine besonders öffentlichkeitswirksame Zielscheibe. Der HCUA arbeitete mit wilden Beschuldigungen, Anprangerungen und Beweisumkehrungen. Geladene Zeugen, die sich als „unfreundlich“ erwiesen und sich auf die Verfassung beriefen, wurden wegen Missachtung („Auslachen“) des Abgeordnetenhauses zu Gefängnisstrafen verurteilt, darunter die berühmten „Hollywood Ten“. Und wenn das Komitee selbst keine Strafen aussprach: „respektable“ Bürgerversammlungen (die Studios und „freundliche“ Zeugen) konnten dank schwarzer Listen faktische Berufsverbote aussprechen oder die Angeklagten noch etwas mehr durch den Dreck ziehen.
Das Komitee für unamerikanische Umtriebe (als Lynch-Mob getarnt)
McIvers verbannt den Dancing Kid und seine Bande administrativ und schließt Viennas Saloon. Für Emma ist dies jedoch nicht genug. Der Lynch-Mob versammelt sich am nächsten Abend wieder bei Vienna, die in der Zwischenzeit den Jüngsten der Dancing-Kid-Bande, Turkey, bei sich versteckt hält. Vienna weigert sich, über den Aufenthaltsort der anderen auszusagen. Als Turkey entdeckt wird, zwingen ihn Emma und McIvers dazu, gegen Vienna auszusagen. Von der Aussicht gelockt, nicht an den Galgen zu kommen, schwärzt er sie als Anstifterin an. Emma brennt das Saloon nieder und der Mob macht sich auf, um Turkey und Vienna unter der nächsten Brücke zu erhängen.
Dieser Höhepunkt des zweiten Akts macht dem Ruf des Films als „halluzinatorisches“, „bizarres“ Werk alle Ehre (siehe einen Teil dieser atemberaubend inszenierten Szene hier), thematisiert aber auch eines der meist diskutierten Komplexe der antikommunistischen Hexenjagd Hollywoods: das Denunzieren von Kollegen („naming names“). Da der HCUA die Namen aktueller oder ehemaliger Mitglieder der Kommunistischen Partei so oder so schon kannte, hatten die Denunziationen oberflächlich keinen Zweck, schafften es aber erfolgreich, die Solidarität progressiver und linker Kreise zu untergraben. Die Bandbreite an persönlichen Motivationen für die Aussagen vor dem HCUA ist groß: zwischen fanatischen, begeisterten Kommunistenjägern auf der einen und verzweifelten „blacklistees“, die durch Denunziation hofften, wieder Arbeit in Hollywood zu bekommen, auf der anderen Seite. Turkey gehört zweifelsohne zu den letzteren: schließlich ist er auf fast schwärmerische Weise in Vienna verliebt.

Auch Sterling Hayden gehört tendenziell in die letztere Kategorie. Hayden war kurzfristig Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Beigetreten war er aus Bewunderung für die jugoslawischen Partisanen, an deren Seite er als US-Soldat im Weltkrieg gekämpft hatte. Als nach „The Asphalt Jungle“ Angebote ausblieben, vermutete er, dass er auf eine schwarze Liste geraten war. Er bot sich daraufhin als „freundlicher“ Zeuge an und „nannte Namen“. Diese Tat bereute Hayden fortan. Sie trieb ihn in lebenslangen Selbsthass (und wahrscheinlich auch in den Alkoholismus). Auch sein Filmcharakter nennt einen Namen: seinen eigenen (Johnny Logan). Dass Namen wie „Johnny Guitar“ oder „Dancing Kid“ eigentlich völlig bescheuert sind, darin sind sich bis auf die zwei Betroffenen alle einig. Die symbolische Bedeutung liegt jedoch auf der Hand.

Der eigentliche (!) Drehbuchautor von „Johnny Guitar“, Ben Maddow, blieb hingegen jahrelang auf der schwarzen Liste. Der offizielle Szenarist Philip Yordan hatte lediglich seinen Namen zu den Credits beigetragen. Als engagierter Linker hätte eigentlich auch Nicholas Ray „geschwarzlistet“ werden müssen, zumal er schon - freilich etwas untergründiger und subtiler - in früheren Filmen die Kommunistenjagd thematisiert hatte. Die persönliche Protektion des RKO-Chefs Howard Hughes (ironischerweise ein paranoider Anti-Kommunist) bewahrte ihn wohl vor der Knochenmühle.

Außerordentlich merkwürdig war jedoch die Beteiligung von Ward Bond, einem Mitglied der „Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals“. Dieser 1944 gegründete Verband rechter konservativer Hollywood-Leute unterstützte voll und ganz die Hexenjagd des HCUA, und stellte gerne „freundliche“ Zeugen zur Verfügung, um Hollywood vor der kommunistischen Infiltration zu retten. Selbst sein bester Kumpel John Wayne hielt Bond für einen radikalen Fanatiker. Dass er ausgerechnet den Marschall McIvers spielt, der dem Lynch-Mob einen Schein von Legitimität verleiht, lässt einen ziemlich sprachlos. Trotz des „halluzinatorischen“ Charakters von „Johnny Guitar“ war die Realität hier fast noch unglaublicher als die Fiktion selbst - wenngleich nicht in solch exquisiten Bildern festgehalten.

Gerade die Farbdramaturgie ist ein dermaßen zentrales Element des Films, dass sie ihn sogar präzise gliedert. Sechs Kostüme in ganz bestimmten Farbgebungen teilen „Johnny Guitar“ in genau sechs Abschnitte, die paarweise jeweils einen Akt darstellen. Hier die Einteilung, nach den sechs (sichtbaren) Facetten der Vienna-Figur benannt.

I. Akt
Autorität (Schwarze Lederstiefeln, dunkelbraune Hose und schwarzes Hemd mit türkis-farbener Hals-Schleife): Einführung der Charaktere und ihrer Konflikte. Vienna als matriarchalische, dominante Saloon-Besitzerin.
Begierde (Purpurnes Kleid mit dunkelrotem Umhang): Neben-Story um die vergangene und künftige Liebe zwischen Vienna und Johnny. Vienna als liebende Frau.
II. Akt
Sehnsucht (Graues Alltags-Kleid mit roter Hals-Schleife): Vienna sehnt sich nach einem bürgerlichen Leben mit Johnny und fährt zur Bank, um ihr Konto aufzulösen (wo der Überfall des Dancing Kid stattfindet). Vienna als respektable Bürgerin.
Unschuld (Weißes, teils durchsichtiges Ball-Kleid mit dünner schwarzer Hals-Schleife): Vienna hofft darauf, ihren Saloon zumindest als Wohnung beizubehalten und wird von Emmas Lynch-Mob (ganz in schwarz gekleidet) überfallen. Vienna als unschuldige Kulturbürgerin und Mutter Pieta.
III. Akt
Flucht (Knallrotes Hemd mit blauer Hose): Vienna ist dem Lynch-Mob entkommen. Ihr Saloon und ihr weißes Kleid sind verbrannt und sie flieht zusammen mit Johnny zum Versteck des Dancing Kid. Vienna als Flüchtling.
Rache (Knallgelbes Hemd mit roter Schleife und schwarzer Hose): Vienna bereitet sich mit Johnny und dem Dancing Kid auf den Showdown gegen Emma und ihrem Mob vor. Vienna als zorniger Rache-Engel.
Das Setdesign von „Johnny Guitar“ meistert hingegen eine Gratwanderung zwischen kargem Minimalismus, barocker Überfrachtung und überdrehter Stilisierung. Spuren von„Realismus“ findet man nicht einmal mit der Lupe. Teilweise wirkt das Set geradezu schäbig und sieht nicht wie das Innere eines Saloons, einer Bank oder einer Berghütte aus, sondern eben wie eine billige Kulisse. Was teilweise noch heute bemängelt wird, verstärkt jedoch gerade auch die surreale Stimmung des Films. Viennas Saloon ähnelt auch schon vor der „offiziellen“ Schließung mehr einer Berghöhle, in der ein Eisenbahn- und Kutschenmodell-Fetischist seinen Hobbyraum eingerichtet hat. Natürlich versinnbildlicht dies Viennas Hoffnung auf jene Verkehrsmittel, die mehr Kunden an die permanent leeren Roulettentische bringen soll. Es ist jedoch nicht logisch erklärbar, warum der Saloon so aussieht, als wäre er an einem Stück Fels angebaut worden, so dass ein Teil der Wand keine Wand ist, sondern braune Gestein-Struktur. Wenn Vienna davor in ihrem weißen Ball-Kleid am Klavier sitzt, sieht es auf jeden Fall umso surrealer aus, während Johnny mit seiner Wildlederjacke in dieser Umgebung fast verschwindet.


Diese magische „halluzinatorische“ Wirkung könnte der Film selbstverständlich nicht entwickeln, wenn irgendeine der Figuren auch nur annähernd wie ein normaler Mensch spräche oder sich verhielte. Das völlig überdrehte Overacting, besonders der beiden Hauptdarstellerinnen, aber auch die stilisierten und geradezu poetischen Dialoge würden in einem anderen Kontext lächerlich wirken. Für Leute, die den Film nicht mögen, wirken diese Elemente tatsächlich lächerlich.

„Johnny Guitar“ ist also mehr als nur die Summe seiner Teile. Aber wie magisch sind schon die Teile an sich! Wenn Vienna ohne mit der Wimper zu zucken Rühreier zubereitet, während Dancing Kid und Johnny nur ganz kurz davor sind, sich gegenseitig umzubringen. Wenn Johnny und Vienna sich über die Gefährlichkeit Emmas und ihrer Kumpanen vor einem Sonnenuntergang unterhalten, der wie gemalt aussieht (weil er es vielleicht auch ist!). Wenn man merkt, dass der Lynchmob auf der Suche nach dem Dancing Kid sich beim Reiten die schwarze Kleidung mit braunem Schmutz eingesaut hat. Vienna am Piano. Und dieser Shootdown zwischen Vienna und Emma...

Hinweis:
Mit den bescheuerten Verleihtitel-Zusätzen à la „Wenn Frauen hassen“ oder „Gehasst, gejagt, gefürchtet“ ist „Johnny Guitar“ auch in Deutschland relativ kostengünstig zu erwerben. Üblicherweise noch kostengünstiger ist die UK-DVD, auf deren Sichtung sich die Besprechung stützt.

Dienstag, 7. August 2012

Norman McLaren: Minimalismus mit Linien und Kugeln

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

LINES HORIZONTAL
Kanada 1962
Regie: Norman McLaren und Evelyn Lambart

SPHERES
Kanada 1946/1969
Regie: Norman McLaren und René Jodoin

1960 schufen McLaren und Evelyn Lambart LINES VERTICAL (den Kollege gabelingeber ebenso wie BLINKITY BLANK in seinem inzwischen eingestellten Blog Trickfilmzeit vorgestellt hat), indem sie vertikale Linien in schwarzen Film ritzten (um die Linien möglichst gerade hinzubekommen, wurde eigens ein spezielles Lineal für technische Zeichner aus rostfreiem Stahl aus England geordert). Eine zunächst einzelne weiße Linie beginnt, sich quer zu bewegen, und spaltet sich dabei in vielfältiger Weise auf. Nachdem der Film fertig war, fragten sich Lambart und McLaren, wie er wohl aussehen würde, wenn sich stattdessen horizontale Linien auf und ab bewegen würden. Ein erster Test mit quergelegtem Kopf verlief vielversprechend, und so wurde die Idee in die Tat umgesetzt. Das Ergebnis ist LINES HORIZONTAL:



Es handelt sich tatsächlich um denselben Film wie LINES VERTICAL, abgesehen davon, dass das Bild um 90° gedreht (und danach natürlich wieder in das richtige Bildformat gebracht) wurde, dass aus weißen nun dunkle Linien und auch die Farben des Hintergrunds geändert wurden, und dass der ursprüngliche Soundtrack von Maurice Blackburn durch einen neuen von Pete Seeger ersetzt wurde.

Seeger, damals schon eine Folk-Legende, spielte alle Instrumente selbst. Dazu richtete er sich in seiner eigenen Scheune ein improvisiertes Aufnahmestudio samt Filmprojektor und Leinwand ein. Ähnlich wie Ravi Shankar und Chatur Lal fünf Jahre zuvor, sah er sich den Film dutzende Male an, aber eine komplizierte Schemazeichnung gab es diesmal nicht, weil Seeger mehr nach Gefühl arbeitete. Er zerlegte schließlich den Film in vier Teile, die er jeweils in einer Endlosschleife ansah und dazu nacheinander die einzelnen Instrumente einspielte. Beispielsweise begann er beim ersten Teil mit einer Flöte, ließ sich dann diese Aufnahme von einem Tonband auf seine Kopfhörer übertragen und spielte eine Gitarrenbegleitung dazu, und so weiter. Am Ende hatte er neun separate Tonspuren, die dann am NFB zusammengemischt wurden. In seinen technischen Anmerkungen zur Enststehung zog er folgendes bescheidene Fazit: "If my music is good, credit should be shared three ways: between the visual inspiration of the film, the technical staff and the instrumentalist."

1965 setzten McLaren und Lambart noch einen drauf. Sie überlagerten Schwarzweiß-Kopien von LINES VERTICAL und LINES HORIZONTAL derart, dass sich jetzt nur noch die Schnittpunkte (genauer gesagt die kleinen, annähernd quadratischen Schnittflächen) der Linien bewegen. In dem Maß, wie sich in den LINES-Filmen die Linien aufspalten, entstehen in MOSAIC ganze Schwärme von kleinen Quadraten, die sich vorwiegend diagonal durch das Bild bewegen. Zur Auflockerung setzt McLaren selbst die Bewegung in Gang, und am Ende fängt er die Quadrate wieder ein. Einen neuen Soundtrack gab es natürlich auch wieder.



1946 animierten McLaren und René Jodoin die "Kugeln" aus SPHERES (bei denen es sich in Wirklichkeit um ausgestanzte Blechscheiben handelte), aber beide fanden das Ergebnis langweilig, und so wurde der Film unveröffentlicht eingemottet. Doch in den 60er Jahren, als sich der Minimalismus einen Platz in der Musik und anderen Künsten erobert hatte, holte ihn McLaren wieder hervor und fand ihn überhaupt nicht mehr langweilig. Mit einem Hintergrund und Musik versehen, wurde SPHERES schließlich 1969 veröffentlicht. Die Stücke aus J.S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier" spielte Kanadas damaliger Star-Pianist Glenn Gould.

Die Animation des Hintergrunds ist technisch interessanter als die der Kugeln. McLaren verwendete Pastellzeichnungen, die er mit Hilfe von Techniken, die er Mix of Chains und Travelling Zoom nannte, und die er selbst erfunden hatte, ineinander überführte. Beim Mix of Chains wird eine Zeichnung als Einzelbild aufgenommen, dann in einigen Details verändert, wieder aufgenommen, wieder etwas verändert, und so weiter. Dann werden die Bilder in einem optischen Printer gemischt. Zunächst stellt Bild A 100%. Dann wird der Anteil von A linear gesenkt und im selben Ausmaß der von Bild B gesteigert, bis nach beispielsweise 50 Frames das Bild zu 100% aus B besteht. In diesem Augenblick wird der Anteil von B wieder gesenkt und dafür Bild C eingeblendet, und so weiter. So ergibt sich eine endlose Kette von weichen Metamorphosen im Bild ohne erkennbare Brüche oder Schnittstellen. Für eine mehrminütige Sequenz braucht man zwar eine ganze Reihe von Einzelbildern, aber viel weniger, als wenn man für jeden Frame des Films ein eigenes Bild anfertigen müsste. Beim Travelling Zoom (nicht zu verwechseln mit dem Dolly Zoom, der manchmal ebenfalls Travelling Zoom genannt wird) zoomt die Kamera zunächst auf ein Bild zu (ob tatsächlich ein Zoom-Objektiv benutzt wird oder die Kamera selbst auf das Bild zufährt, ist dabei zweitrangig). Beim minimalen Abstand wird die Kamera zurückgesetzt und gleichzeitig das Bild durch eine vergrößerte Version des Innenbereichs des ursprünglichen Bilds ersetzt, und dann wird wieder herangefahren, dann gibt es wieder ein vergrößertes Bild, usw. Der Clou: Da die Bilder Zeichnungen sind, können bei jeder Vergrößerung problemlos neue Details hinzugefügt werden, und das ohne Begrenzung. So kann endlos in das Bild "hineingezoomt" werden, und selbst bei "Vergrößerungsstufen", bei denen man in der Realität bei einzelnen Atomen angekommen wäre, gibt es hier keine Grenze. Indem man die einzelnen Abschnitte sanft überblendet, sind auch hier keine Brüche sichtbar. McLaren erfand diese Technik bereits Ende der 30er Jahre. Erwähnte ich schon, dass er ein Genie war?

Damit ist die kleine McLaren-Reihe zu Ende. Ich hätte noch weitere Themen ansprechen können, z.B. McLarens surrealistische Filme wie A PHANTASY (er begeisterte sich schon früh für surrealistische Maler, insbesondere Yves Tanguy), aber man soll ja aufhören, bevor die ersten zu gähnen beginnen.

1990 drehte Donald McWilliams den zweistündigen Dokumentarfilm CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN. McWilliams hatte McLaren 1968 kennengelernt und sich seitdem zu einem führenden McLaren-Experten entwickelt. Bis zu seinem Tod 1987 wirkte McLaren noch an den Vorbereitungen zum Film mit, und es sind Ausschnitte aus älteren Dokus und Interviews enthalten, außerdem natürlich Ausschnitte aus diversen Filmen von McLaren und Erläuterungen der dafür verwendeten Techniken. Das NFB stellt CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN lobenswerterweise online in voller Länge zur Verfügung:



Beim NFB gibt es auch noch weitere Filme McLarens online, aber bei weitem nicht alle, und bei YouTube findet man auch etwas.

McLaren auf DVD:

2006 veröffentlichte das NFB in Zusammenarbeit mit Image Entertainment die Box "Norman McLaren: The Master's Edition" mit sieben DVDs, die alle Filme McLarens digital restauriert enthält (auch die aus seiner Zeit vor dem NFB), selbst Vorstudien und unvollendete Filme sind enthalten. Auch für Komplettisten bleiben hier kaum Wünsche offen. Ebenfalls enthalten sind zwei ältere einstündige Fernseh-Dokus über McLaren, 15 neue Featurettes von jeweils ca. fünf Minuten und weiteres Doku-Material.

Schon 2003 hatte das NFB zusammen mit Milestone Film & Video das Set "Norman McLaren: The Collector's Edition" mit zwei DVDs veröffentlicht. Enthalten sind auf einer Scheibe McWilliams' CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN und auf der anderen eine Auswahl von McLarens wichtigsten Filmen, darunter fast alle hier besprochenen. Enthalten ist auch ein 106-seitiges Booklet, das neben allgemeineren Inhalten auch detaillierte technische Informationen zu den enthaltenen Filmen liefert, die von McLaren selbst (und in einigen Fällen zusätzlich von seinen Mitstreitern wie Maurice Blackburn und Pete Seeger) verfasst wurden. Ein beträchtlicher Teil der Infos für meine Artikel hier stammt daraus. Beide DVD-Sets sind leider nicht ganz billig.

Montag, 6. August 2012

Norman McLaren und Pixil(l)ation

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

NEIGHBOURS
Kanada 1952
Regie: Norman McLaren
Darsteller: Grant Munro, Jean Paul Ladouceur

A CHAIRY TALE
Kanada 1957
Regie: Norman McLaren, Claude Jutra
Darsteller: Claude Jutra

McLarens radikale politische Ansichten aus den 30er Jahren gingen ihm später zwar nicht vollends verloren, wurden aber von seinen künstlerischen Ambitionen in den Schatten gestellt. (Die Säuberungen in der Sowjetunion Ende der 30er Jahre hatten ihm zwar den Glauben an den orthodoxen Kommunismus ausgetrieben, aber als er 1949 im Auftrag der UNESCO für einige Monate als Instruktor in China lebte, waren ihm die Ideen und Maßnahmen der dort gerade an die Macht gekommenen Kommunisten nicht unsympathisch. Der wenig später ausgebrochene Koreakrieg bewirkte auch hier eine gewisse Ernüchterung. Später war McLaren im Auftrag der UNESCO auch in Indien tätig.) Der einzige seiner späteren Filme, der eine politische, und zwar eine pazifistische, Botschaft transportiert, ist NEIGHBOURS.


Die Variante der Stop-Motion-Technik mit menschlichen Darstellern, die hier an etlichen Stellen zum Einsatz kommt, heißt heute Pixilation. McLaren und sein Umfeld benutzten die Schreibweise Pixillation. Erfunden wurde der Ausdruck von Grant Munro für einen seiner eigenen Filme. Munro war einer derjenigen Nachwuchskräfte, die ab Mitte der 40er Jahre ans NFB unter die Fittiche von McLaren kamen, und er wurde dann neben Evelyn Lambart sein engster Mitarbeiter, sei es als Darsteller wie hier, sei es als Co-Regisseur und in anderen Funktionen. Munro wurde auch als Regisseur seiner eigenen Animationsfilme erfolgreich, später drehte er auch Dokumentationen, und er blieb mit McLaren befreundet.

Pixilation wurde in NEIGHBOURS beispielsweise benutzt, um die beiden Protagonisten auf dem Rücken über den Rasen gleiten zu lassen, sie wie Schlittschuhläufer wirken und schließlich schweben zu lassen. Letzteres war ziemlich anstrengend. Die beiden Darsteller mussten synchron auf der Stelle in die Höhe springen und dabei die Knie anziehen. Auf dem höchsten Punkt der Flugbahn wurden sie aufgenommen. Dann ein kleiner Schritt zur Seite, nächster Sprung und nächstes Einzelbild, und so weiter. Insgesamt musste jeder der beiden ca. 300 Sprünge absolvieren, wie sich Munro in einer Doku über McLaren erinnerte. Die meisten Sequenzen von NEIGHBOURS wurden aber weniger aufwendig mit einer Kamera mit variabler Geschwindigkeit aufgenommen, mit der sich gemäßigter bis extremer Zeitraffer-Effekt erzielen ließ. Doch nicht nur die Kamera lief mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sondern gleichzeitig bewegten sich oft auch die Darsteller in sehr kontrollierter Weise langsamer als bei natürlichen Bewegungen, was zusätzliche Effekte ermöglichte. Dieselbe Kombination von verschiedenen Techniken kam auch bei OPENING SPEECH, A CHAIRY TALE und einigen weiteren Filmen McLarens zum Einsatz. Erfunden wurde Pixilation aber schon lange bevor es den Ausdruck gab. Bereits Georges Méliès hat regelmäßig mit Stop-Motion-Tricks gearbeitet.

Schon 1939, in seiner New Yorker Zeit, begann McLaren damit, nicht nur Bilder, sondern auch Töne manuell auf Filmmaterial aufzubringen, indem er entweder mit Tusche schwarze Kleckse mit variierender Dicke, Höhe und Abstand voneinander auf klaren Film malte, oder entsprechende Figuren auf schwarzem Film einritzte, nur eben nicht im Bildbereich, sondern auf der Lichttonspur des Films. Später verfeinerte er das Verfahren, indem er schwarze Balken auf Papier druckte und dann, entsprechend verkleinert, photographisch auf die Tonspur des Films übertrug. Durch unterschiedliche Breite, Höhe und Abstand ergaben sich unterschiedliche Tonhöhe und Lautstärke, und durch weitere Maßnahmen, etwa Sägezahnkurven statt rechteckiger Balken, konnte auch zwischen relativ reinen und dissonanten Klängen unterschieden werden. Dadurch, dass die Tonmuster Frame für Frame aufgebracht wurden, ergab sich automatisch die ultimative Kontrolle über die Synchronizität von Bild und Ton. Auf diese komplizierte Weise entstand auch der Soundtrack von NEIGHBOURS. (McLaren trieb das Verfahren in SYNCHROMY auf die Spitze, indem die Balken, die den Ton erzeugen, auch Inhalt der Bilder sind, so dass man "den Ton sehen" und "die Bilder hören" kann - ein Ausdruck von McLarens Interesse für Synästhesie.)

NEIGHBOURS wurde einer von McLarens bekanntesten und erfolgreichsten Filmen, was auch daran lag, dass es sein einziger war, der einen Oscar gewann - und zwar merkwürdigerweise in der Kategorie Best Documentary (Short Subject). Später hat die Academy selbst eingestanden, dass das eigentlich die falsche Kategorie war.


"I have sympathy for things that are sat upon." (McLaren)

Die Musik zu A CHAIRY TALE schrieb kein Geringerer als Ravi Shankar, der sie mit seinem Tabla-Spieler Chatur Lal auch einspielte. Die beiden waren zu einem Fernseh-Auftritt in Montreal, als A CHAIRY TALE schon fertig geschnitten, aber noch ohne Sound war. McLaren war ratlos, welche Musik er verwenden sollte, da sah er Shankar im Fernsehen und hatte eine Erleuchtung. Die Übertragung der Bilder in Musik wurde ähnlich bewerkstelligt wie bei BEGONE DULL CARE, nur in umgekehrter Reihenfolge: Die Struktur des Films wurde in eine komplizierte Graphik auf Millimeterpapier mit schriftlichen Anmerkungen übertragen, ein Kästchen entsprach dabei einer Sekunde. Dann führte McLaren den beiden Musikern den Film ungefähr ein Dutzend Mal vor, wobei sie die Graphik zur Hand hatten, so dass sie am Ende beim Blick auf das Schema sofort jeder Stelle die entsprechende Sequenz des Films zuordnen konnten. Derart gewappnet, wurde dann in einer dreiwöchigen Sitzung die Musik geprobt und aufgenommen. McLaren wollte keine rein klassisch-indische Musik, sondern eine Mischung aus indischen und europäischen Elementen, und Shankar hat wunschgemäß geliefert (auch Opernmuffel werden wahrscheinlich "Carmen" erkannt haben).

McLarens Darsteller und Co-Regisseur Claude Jutra war damals als Einsteiger kurze Zeit beim NFB beschäftigt. Wenig später wurde er mit seinen eigenen Spiel- und Dokumentarfilmen einer der Mitbegründer eines eigenständigen franko-kanadischen Kinos und einer der wichtigsten kanadischen Regisseure überhaupt. Sein MON ONCLE ANTOINE von 1971 wurde gelegentlich als bester kanadischer Film überhaupt bezeichnet. McLaren und den französischen Cinéma-vérité-Pionier Jean Rouch (mit dem er ebenfalls zusammengearbeitet hatte) bezeichnete er als seine wichtigsten Einflüsse; seit einem längeren Frankreich-Aufenthalt Ende der 50er Jahre war er auch mit François Truffaut befreundet. Als bei Jutra eine beginnende Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert wurde, ertränkte er sich im St. Lawrence River - ein Ende, das er in gewisser Weise schon 1964 in seinem Film À TOUT PRENDRE vorweggenommen hatte.

Samstag, 4. August 2012

Norman McLaren - Genie mit Festanstellung

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

OPENING SPEECH
Kanada 1960
Regie und Darsteller: Norman McLaren

BEGONE DULL CARE
Kanada 1949
Regie: Norman McLaren und Evelyn Lambart

PAS DE DEUX
Kanada 1968
Regie: Norman McLaren
Tänzer: Margaret Mercier, Vincent Warren

Lassen wir zunächst Norman McLaren selbst einige Worte an das geschätzte Publikum richten:


Damit ist eigentlich schon alles Wesentliche gesagt - außer vielleicht, dass Norman McLaren (1914-87) einer der genialsten Animationsfilmer aller Zeiten war. Dazu verwendete er eine ganze Reihe von Techniken und Stilen, beispielsweise direkt auf das Filmmaterial gemalte oder eingeritzte abstrakte Filme wie BEGONE DULL CARE. Nachdem der gebürtige Schotte noch als Student Preise auf Amateurfilmfestivals in Glasgow gewonnen hatte, wurde John Grierson auf ihn aufmerksam und holte ihn nach London zur Filmabteilung der Britischen Post (GPO Film Unit). Grierson, der Pionier der britischen Dokumentarfilmbewegung, versammelte dort nicht nur reinrassige Dokumentarfilmer, sondern auch experimentierfreudige junge Leute wie McLaren und den Neuseeländer Len Lye, der wie McLaren zu einem der führenden Vertreter des abstrakten Films werden sollte. So arbeitete McLaren also in den 30er Jahren für das GPO, und er drehte in dieser Zeit als Kameramann auch einen Film über den spanischen Bürgerkrieg (Regie führte Ivor Montagu), der von seiner sozialistischen und pazifistischen Einstellung geprägt war, ebenso wie der ungestüme Antikriegs- und Antikapitalismusfilm HELL UNLIMITED, den er gemeinsam mit Helen Biggar realisierte. 1939 ging er dann in die USA und lebte fast zwei Jahre in New York, wo er als angestellter Mitarbeiter für Mary Ellen Bute und Ted Nemeth arbeitete, die seit 1934 gemeinsam abstrakte Filme drehten (seit 1940 waren sie auch miteinander verheiratet), und McLaren drehte in dieser Zeit auch einige kleinere eigene Filme. Eigentlich wollte er in New York bleiben, aber dann holte ihn John Grierson nach Kanada. Grierson hatte in einem Report für die kanadische Regierung die Einrichtung einer nationalen Filmbehörde empfohlen. Daraufhin wurde das National Film Board of Canada (NFB, bzw. auf Französisch Office national du film du Canada, ONF) ins Leben gerufen, und Grierson wurde der erste Vorsitzende. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, McLaren zum Leiter der Animationsabteilung des NFB zu berufen, wobei er nicht nur selbst Filme drehen, sondern auch die Ausbildung von Nachwuchskräften leiten sollte. Grierson konnte traumhafte Bedingungen bieten, so dass McLaren 1941 schließlich nach Kanada zog, wo er bis an sein Lebensende blieb. McLaren bekam eine feste Anstellung und gesicherte Finanzierung für seine Projekte - Bedingungen, von denen die meisten seiner Kollegen nur träumen konnten (beispielsweise konnte der in die USA emigrierte Oskar Fischinger in den letzten 20 Jahren seines Lebens keinen Film mehr realisieren, weil er das nötige Geld nicht auftreiben konnte). Da das NFB eine staatliche Einrichtung ist, besaß McLaren fast so etwas wie Beamtenstatus. Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte wurde er der wichtigste kanadische Animationsfilmer, und schließlich der Übervater des NFB - das Hauptquartier des NFB in Montreal heißt heute Norman McLaren Building. Eine Auswahl seiner zahlreichen Preise und Auszeichnungen (insgesamt über 200) kann man in Wikipedia nachlesen.

Sehen wir uns jetzt BEGONE DULL CARE an, einen abstrakten Film zu einer Musik vom Oscar Peterson Trio (bei entsprechender Bandbreite kann man die Qualität auf 1080p erhöhen):


Die Musik wurde vor dem Film aufgenommen, aber in enger Kooperation mit McLaren eigens für BEGONE DULL CARE geschrieben und in einer viertägigen Aufnahmesitzung, an der McLaren aktiv teilnahm, eingespielt. Dann wurde die exakte zeitliche Struktur der Musik mit sehr detaillierten Zeitangaben in ein Schema auf Papier übertragen, und damit wiederum wurden auf 35mm-Filmmaterial Zeitmarkierungen zwischen den Perforationslöchern angebracht, so dass letztendlich Musik und Bilder genau synchronisiert werden konnten. Wie oben schon erwähnt, wurde der Film ohne Zuhilfenahme einer Kamera manuell direkt auf Filmmaterial aufgebracht. Dazu wurden einzelne Filmstreifen auf ein mehr als vier Meter langes Brett gespannt. Im ersten und dritten Satz wurden die Bilder zum größten Teil in einem überaus komplizierten Prozess auf beide Seiten von Klarfilm gemalt. Um zu verdeutlichen, wie diffizil das war, lassen wir McLaren selbst (in einem Statement von 1949) zu Wort kommen:
In various ways, almost too many to list, we applied all kinds of transparent coloured dyes, and scratched or engraved on them. [...] We applied the dyes with big and little brushes, with stipple brushes, with sprayers, with finely crumpled paper, and with cloths of various textures. We pressed dry, textured fabrics into washes of still wet dye. Netting, mesh and fine lace were stretched out tightly in various ways against the celluloid, to act as stencils when dye was sprayed on the film. Different types of dust were sprinkled on wet dye, which formed circles as it recoiled from each dust speck. We found a black opaque paint which, as it dried, created a crackle pattern. And so on.
Und so geht das noch einige Absätze weiter. (Quelle: Booklet des DVD-Set Norman McLaren. The Collector's Edition. Mehr zu DVDs am Ende des dritten Teils der Artikelserie). Im langsamen Mittelteil (und an einigen wenigen kurzen Stellen im ersten und dritten Teil) wurden die Bilder mit Messern in Schwarzfilm (black leader) unter Zuhilfenahme einer Moviola eingeritzt.

Co-Regisseurin Evelyn Lambart war in den 40er Jahren eine von McLarens Schülerinnen in der Animations-Abteilung des NFB, und dann mehr als zehn Jahre lang seine engste Mitarbeiterin. (Sie hatten aber nichts miteinander, denn McLaren war schwul und lebte 50 Jahre lang mit dem Film- und Fernsehproduzenten Guy Glover zusammen.) BEGONE DULL CARE ist der schönste und komplizierteste Film, den McLaren auf die beschriebene Weise erschaffen hat. Ein weniger elaborierter Vorläufer ist beispielsweise BOOGIE-DOODLE von 1941; seine ersten Versuche mit handgemaltem Film machte McLaren bereits auf der Kunsthochschule in Glasgow. Der fertige Filmstreifen von BEGONE DULL CARE diente als Master-Positiv, von dem ein Negativ und davon schließlich die Vorführ-Kopien gezogen wurden.

Kommen wir jetzt zu PAS DE DEUX:


Um den Zeitlupeneffekt zu erzielen, wurde mit doppelter Geschwindigkeit (48fps) gefilmt, mit weiß gekleideten Tänzern in einem komplett schwarzen Studio (was für die Tänzer ziemlich schwierig war). Die Beleuchtung erfolgte von schräg hinten. Das war essentiell - nur dadurch, dass nur die Umrisse der Tänzer zu sehen sind, kommt die Überlagerung positiv zur Geltung. Bei Beleuchtung von vorn hätten sich damit nur verschwommene weiße Flecken ergeben. Die wirklich erstaunlichen Überlagerungseffekte wurden durch den virtuosen Einsatz eines optischen Printers erzielt. Dabei wurden bis zu elf einzelne Bilder übereinandergelegt. Der zeitliche Versatz der Einzelbilder - der dann den räumlichen Abstand im Gesamtbild bestimmt - betrug meist drei, vier oder fünf Frames, gelegentlich auch bis zu zwanzig Frames (bei weniger Frames ergibt sich eine dichte, bei mehr Frames eine räumlich weit auseinandergezogene Überlagerung). Am NFB wurde übrigens auch Pionierarbeit zur Computeranimation geleistet, McLaren selbst hat aber nie Computer für seine Filme verwendet.

Bei PAS DE DEUX entstanden erst die Bilder und dann der Soundtrack. Die Musik stammt in ihrer ursprünglichen Form vom rumänischen Panflötisten Constantin Dobre. Das Problem dabei war, dass das Stück nur drei Minuten dauert und der Film dreizehn. Die nötige Streckung übernahm Maurice Blackburn, ein am NFB fest angestellter experimentierfreudiger Komponist, der oft und intensiv mit McLaren zusammenarbeitete. Er zerlegte das Stück in sehr kurze Teile, die auf Magnetband gespeichert und dann nach einer elektronischen Bearbeitung mit Hilfe eines Toningenieurs in geeigneter Weise wieder zusammengesetzt wurden, so dass sich der nahtlos dahinfließende Soundtrack ergab.

Freitag, 27. Juli 2012

Doppelselbstmord mit Puppenspielern

DOUBLE SUICIDE (SHINJŪ: TEN NO AMIJIMA)
Japan 1969
Regie: Masahiro Shinoda
Darsteller: Kichiemon Nakamura (Jihei), Shima Iwashita (Koharu/Osan), Hōsei Komatsu (Tahei), Yūsuke Takita (Mogoemon), Yoshi Katō (Osans Vater), Shizue Kawarazaki (Osans Mutter)


Bunraku, das klassische japanische Figurentheater, ist eine ehrwürdige Literatur- und Aufführungsform für Erwachsene. Die Puppen sind ungefähr ein bis eineinhalb Meter groß, und die Stücke werden auf einer ebenen, flächigen Bühne aufgeführt. Die Puppenspieler, meist drei pro Puppe, sind also nicht wie im europäischen Handpuppen- oder Marionettentheater verborgen, sondern für die Zuschauer zu sehen. Damit man sie sich leichter wegdenken kann, sind sie schwarz verhüllt, meist einschließlich des Kopfs, und sie sprechen kein Wort (stattdessen gibt es einen Rezitator). Chikamatsu Monzaemon, der bedeutendste japanische Bühnendichter überhaupt, schrieb sowohl für Kabuki als auch für Bunraku, und von ihm stammt die Vorlage des hier besprochenen Films (der keinen deutschen Titel hat, weshalb ich den englischen verwende): "Der Freitod aus Liebe, die himmlische Strafe in Amijima" von 1720. Bunraku-Verfilmungen gab es schon vor DOUBLE SUICIDE, z.B. Kenji Mizoguchis CHIKAMATSU MONOGATARI (DIE LEGENDE VOM MEISTER DER ROLLBILDER). Wie der Originaltitel schon andeutet, stammt auch hier die Vorlage von Chikamatsu. Dessen erstes Bunraku-Drama über einen Doppelselbstmord, "Der Freitod aus Liebe in Sonezaki" von 1703, wurde 1978 von Yasuzo Masumura verfilmt. 2002 verwendete Takeshi Kitano für DOLLS eine Bunraku-Aufführung als Rahmenhandlung. Masahiro Shinoda kam jedoch auf die kühne und faszinierende Idee, ein Bunraku-Stück zwar mit Schauspielern zu inszenieren, die Puppenspieler aber beizubehalten. Was unter einem weniger begabten Regisseur ein prätentiöser Schmarrn hätte werden können, geriet Shinoda zu einem Meisterwerk.

Eine Aufführung wird vorbereitet
Der Film beginnt mit einem Prolog in einem modernen Puppentheater in Osaka. Die Puppenspieler bereiten sich und ihre Puppen auf den Auftritt vor. Gleichzeitig ist die Verfilmung dieses Stücks im Gang - jemand, offenbar Shinoda selbst, telefoniert mit Taeko Tomioka, der Hauptautorin des Drehbuchs von DOUBLE SUICIDE (eine Schriftstellerin, die öfters mit Shinoda zusammenarbeitete), und bespricht mit ihr einen passenden Schauplatz und Details der Selbstmordszene, mit der das Stück und der Film enden werden. Nach den Credits beginnt die Handlung, die im frühen 18. Jahrhundert angesiedelt ist: Jihei, der tragische Held, geht über eine Brücke, und er sieht unter sich zwei Leichen wie aufgebahrt am Boden liegen. Am Ende werden er selbst und seine Geliebte Koharu, eine Prostituierte, auf dieselbe Art unter derselben Brücke liegen. Jihei ist Papierhändler, er und Koharu sind schon seit Jahren ein Liebespaar, und er hat schon lange versprochen, sie aus ihrem Bordell freizukaufen, damit sie zusammen leben können. Doch die Geschäfte gehen schlecht, und seit er regelmäßig Koharu besucht, vernachlässigt er zunehmend seinen Laden, so dass er das nötige Geld nie zusammenkratzen kann. Für den Fall, dass es ihm nicht gelingt, Koharu auszulösen, haben die beiden ihren gemeinsamen Selbstmord vereinbart. Nun drängt die Zeit, denn Tahei, ein arroganter älterer Kaufmann, den Koharu nicht ausstehen kann, hat angekündigt, sie freikaufen zu wollen, und im Gegensatz zu Jihei hat er das nötige Kleingeld dazu.

Kichiemon Nakamura und Shima Iwashita (links Koharu, rechts Osan)
Jihei hat noch ein weiteres Problem: Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Osan, seine Frau, erduldet das Verhältnis, das ein offenes Geheimnis ist, schweigend, doch ihre Eltern intervenieren bei Jihei. Mehr noch als Osans persönliches Unglück erzürnt sie die Tatsache, dass Jiheis Finanzen durch seine Eskapaden den Bach runter gehen und dass Osan dadurch verarmen und Schande über die ganze Familie bringen könnte. Als sich Jihei gerade im Bordell aufhält, erscheint dort ein vermummter Samurai, der Koharu treffen will. Er verwickelt sie in ein Gespräch und entlockt ihr vor dem heimlich mithörenden Jihei das Geständnis, dass sie sich gar nicht umbringen will, und sie bittet den Samurai, ihr dabei zu helfen, sich davor zu drücken. Jihei ist entsetzt und tief verletzt, dass Koharu den Pakt brechen und ihn damit verraten will, und er versucht, Koharu zu erstechen, was der Samurai verhindert. Dieser enthüllt nun seine Identität: Er ist gar kein Samurai, sondern Jiheis älterer und seriöserer Bruder Mogoemon. Er hat den ganzen Mummenschanz nur aufgeführt, um Jihei vor Augen zu führen, wie treulos und minderwertig eine Kurtisane wie Koharu ist, und er nimmt dem völlig aufgelösten Jihei das Versprechen ab, sich von ihr loszusagen und sich wieder um Osan und sein Geschäft zu kümmern. Mogoemon glaubt sein Ziel erreicht, und er verachtet jetzt Koharu, weil sie sich so leicht und schnell von ihm beschwatzen ließ.

Jihei und Koharu im Bordell
Doch weder Jihei noch Mogoemon kennen den wahren Grund für Koharus Verhalten: Osan hatte Koharu einen Brief geschrieben, in dem sie sie bittet, Jihei aufzugeben - nicht um ihn wieder für sich zu haben, sondern nur um sein Leben zu retten, denn sie weiß oder ahnt, dass sich das Liebespaar töten will. Und Koharu hat in einem Akt von Edelmut und Verzicht Osans Bitte erfüllt, indem sie auf Mogoemons Spiel einging. Am Ende des ersten Akts (der Film lässt sich klar in drei Akte einteilen) erhält Mogoemon den Brief und liest ihn, doch er sagt Jihei nichts davon, um seinen Erfolg nicht zunichte zu machen. Der zweite Akt spielt in Jiheis Wohnung. Osan ist froh, dass er wieder bei ihr ist. Doch dann erscheint Mogoemon mit Osans Mutter, und sie machen Jihei heftige Vorwürfe: Ein Gerücht macht die Runde, dass ein Kaufmann direkt davor steht, Koharu freizukaufen, und sie sind überzeugt, dass nur Jihei dieser jemand sein kann. Jihei ist entsetzt und kann die anderen nur mit großer Mühe davon überzeugen, dass er nicht derjenige ist, und dass nur sein alter Widersacher Tahei dafür in Frage kommt. Als Jihei und Osan wieder allein sind, überfällt Osan jäh die Erkenntnis, dass sich Koharu jetzt, wo sie Tahei ausgeliefert sein wird, wahrscheinlich das Leben nehmen will, und jetzt ist sie es, die in einem Anflug von Edelmut und Mitleid die frühere Konkurrentin retten will. Um Jihei die Situation zu verdeutlichen, erzählt sie ihm nun von ihrem Brief, und sie drängt ihn, Tahei zuvorzukommen und Koharu selbst freizukaufen.


Jihei ist hin- und hergerissen. Wie soll es weitergehen, wenn er Koharu tatsächlich freikauft? Und woher soll er überhaupt die dafür nötigen 150 Goldstücke nehmen? Osan löst dieses Problem teilweise, indem sie heimlich angesparte 80 Goldstücke hervorholt, und sie will den Rest aufbringen, indem sie ihre sämtlichen Kimonos versetzen und notfalls noch ihr Haar verkaufen will. Die beiden verpacken die Kimonos, doch ausgerechnet jetzt, im denkbar schlechtesten Moment, erscheint Osans Vater. Er erkennt sofort, dass das geschnürte Paket für den Pfandleiher bestimmt ist, doch er glaubt natürlich, dass das Geld wieder für Jiheis übliche Bordellbesuche gedacht ist. Obwohl Jihei und Osan verzweifelt protestieren, zwingt der Vater seine Tochter, sich auf der Stelle von Jihei zu trennen. Im dritten Akt sind Jihei und Koharu wieder vereint. Nach der erzwungenen Scheidung ist Jihei, abgesehen von seiner wieder aufgeflammten Liebe zu Koharu, ohne jegliche soziale Bindung. Und Tahei hat inzwischen das Geld für Koharu bezahlt. Sie wäre somit gezwungen, ihn zu heiraten, was sie keinesfalls akzeptieren kann und will. So wird der ursprüngliche Plan eines Doppelselbstmords aus Liebe wieder aufgegriffen und in die Tat umgesetzt. Ausgerechnet auf einem Friedhof verbringen Jihei und Koharu ihre letzte Nacht und schlafen miteinander. Im Morgengrauen lässt sich Koharu von Jihei mit dem Schwert töten, dieser erhängt sich daraufhin - unter Beihilfe gleich einer ganzen Schar von Puppenspielern. Die letzte Einstellung zeigt Jihei und Koharu, wie sie nebeneinander unter der Brücke liegen - diesmal nicht von Jihei, sondern nur noch von der Kamera beobachtet.

Tod im Morgengrauen
Die Puppenspieler (kuroko) sind keineswegs ständig, aber immer wieder mal im Bild. Ihr Bewegungszustand ist dabei gegenläufig zu dem der Protagonisten: Wenn diese in Aktion sind, dann stehen oder kauern die kuroko bewegungslos im Hintergrund. Und wenn die kuroko in die Handlung eingreifen, dann verharren die Protagonisten oder führen rein passiv wirkende, von den kuroko gelenkte Bewegungen aus. Das verdeutlicht immer wieder, dass die Protagonisten Gefangene ihres Schicksals sind, dem sie nicht entkommen können, so sehr sie sich auch abstrampeln - ein Fatalismus, der bereits in Chikamatsus Stücken angelegt ist, und den Shinoda teilt. Aber auch die kuroko sind nicht die Herren des Schicksals. Sie sind keine Individuen, sondern anonyme Schemen, die allenfalls Mitleid mit den Protagonisten haben können, aber letztlich sind sie selbst auch nur Marionetten des Bühnenautors - und in diesem Fall des Filmregisseurs. Gelegentlich räumen die kuroko auch am Ende einer Szene die Utensilien beiseite, machen damit deutlich, dass sich das Geschehen auf einer Bühne abspielt, und unterstreichen damit ebenso wie der Prolog die "Theatralizität" der Ereignisse (der Rezitator mit seiner typischen, übermäßig betonten und etwas gepresst klingenden Sprechweise ist an wenigen Stellen im Film auch zu hören). Chikamatsus Stück beruht angeblich auf einem wahren Ereignis (allerdings konnten die Historiker wohl keine Belege für den Vorfall ausfindig machen), aber das Stück und seine Inszenierungen sind Kunstprodukte. Im Grenzbereich von Realität und Fiktion lassen sich Wahrheiten finden, so lautet eine von Shinodas Überzeugungen. Die genannten Interpretationen der Rolle der kuroko in DOUBLE SUICIDE drängen sich großteils beim Sehen des Films unmittelbar auf, wurden aber auch von Shinoda in Interviews bestätigt, z.B. im Interview-Buch von Joan Mellen:
Mellen: Let's speak for a moment about DOUBLE SUICIDE. Why did you use the kuroko, those stagehands in black who change the sets in the Kabuki theater [hier hätte sie statt "Kabuki" besser "Bunraku" sagen sollen], as part of the action of an otherwise realistic film? Why are they mixed into the action?
Shinoda: One of the reasons is that I believe that truth can be obtained somewhere between fiction and reality. The use of kuroko is also one way of expressing the author's will; the author is both Chikamatsu and myself, the director.
Mellen: Do the kuroko, like Chikamatsu, help the characters to fulfill their destiny?
Shinoda: Right. And the director's willingness keeps the kuroko on the scene. The kuroko then become fate itself. They become the hands of the authors.
Puppenspieler
Stark stilisiert sind auch die Sets. Sie werden dominiert von graphischen Elementen, vor allem ornamentalen und geometrischen Linienmustern. Die in der traditionellen japanischen Architektur verwendeten Latten- und Gitter-Roste, Muster auf Kimonos und sonstigen Kleidungsstücken, Muster auf den von Jihei hergestellten Papierbahnen - viele Szenen wurden von Shinoda und seinem Kameramann Toichiro Narushima geradezu vollgestopft damit. Riesenhaft vergrößerte Kalligraphie oder Tuschezeichnungen erinnern gleichzeitig an bei einem Gemetzel verspritztes Blut. Nach seiner erzwungenen Scheidung demoliert der verzweifelte Jihei seine Wohnung und reißt dabei ganze Wände ein. Natürlich sind die traditionellen japanischen Papierwände ohnehin nicht stabil, aber man hat den Eindruck, dass die Einrichtung hier besonders fragil gestaltet wurde, um wiederum darauf hinzuweisen, dass es sich letztlich nur um Bühnendekoration handelt.

Gitterstäbe
Einen weiteren Beitrag zur frappierenden Wirkung des Films leistet der Soundtrack des schlichtweg genialen Tōru Takemitsu, der sich hier wieder einmal selbst übertraf. Takemitsu arbeitete 16 Mal mit Shinoda zusammen, öfters als mit jedem anderen Regisseur (auf den nächsten Plätzen folgen Hiroshi Teshigahara und Masaki Kobayashi). Der Score wird sparsam eingesetzt, aber mit seinem phänomenalen Gespür für Timing und Instrumentierung setzt Takemitsu sehr wirkungsvolle Akzente.


Aller Verfremdung und Stilisierung zum Trotz ist DOUBLE SUICIDE ein emotional ungemein dichter Film, was vor allem den beiden hervorragenden Hauptdarstellern zu verdanken ist, die die zunehmende Verstrickung und Verzweiflung der drei Protagonisten eindrücklich verkörpern. Kichiemon Nakamura, eigentlich Kichiemon Nakamura II (es handelt sich dabei um seinen Bühnennamen), ist ein hoch geachteter und geehrter Kabuki-Schauspieler, der einer ganzen Dynastie von Kabuki-Darstellern entstammt (Kichiemon Nakamura I war sein Großvater). Er spielte nur in wenigen Filmen (bis 1962 unter seinem ersten Bühnennamen Mannosuke Nakamura), dann aber meist für arrivierte Regisseure wie Masahiro Makino, Tadashi Imai, Keisuke Kinoshita, Hiroshi Inagaki, Kaneto Shindō, Kei Kumai und Teshigahara. Shima Iwashita dagegen ist reinrassige Filmschauspielerin, sie ist seit 1967 mit Shinoda verheiratet, spielte in vielen seiner Filme die weibliche Hauptrolle, arbeitete aber auch für viele andere Regisseure. Mit Nakamura spielte sie schon 1960 gemeinsam in Kinoshitas DER FLUSS FUEFUKI. Zur Unterscheidung ihrer beiden Rollen in DOUBLE SUICIDE nahm sie nicht nur die Dienste des Maskenbildners in Anspruch, sondern sie benutzte auch unterschiedliche Stimmlagen - Koharu spricht mit höherer Stimme und schneller als Osan. Aber, wie sie in einem Interview verriet, am Ende des Films gleicht sie die Stimmen an, so dass der Unterschied zwischen den beiden Frauen schwindet. Wenn man die Handlung noch etwas abstrakter sieht, kann man schließlich Koharu und Osan als gegensätzliche Aspekte einer einzigen Persönlichkeit betrachten (ein Gedanke, den Claire Johnston schon 1970 in einem kurzen Text äußerte, der der DVD als Bonus beiliegt).


Shinoda, dem oft Nihilismus und ein Vorrang der ästhetischen Oberfläche vor inhaltlicher Tiefe vorgeworfen wurde, ist einer der Hauptvertreter der japanischen "neuen Welle" der 60er Jahre, aber er war auch in den Jahrzehnten danach aktiv und erfolgreich. Die genannten Vorwürfe mögen vielleicht insgesamt nicht unbegründet sein, aber mit Meisterwerken wie PALE FLOWER, ASSASSINATION oder DOUBLE SUICIDE lässt er sie als unerheblich erscheinen. DOUBLE SUICIDE ist in den USA bei Criterion auf DVD erschienen.

Kein Blut an der Wand, sondern nur Farbe

Sonntag, 22. Juli 2012

Ein Senator sieht rot: politische Unkultur in Washington

ADVISE & CONSENT
USA 1962
Regie: Otto Preminger
Darsteller: Charles Laughton (Senator Seab Cooley), Don Murray (Senator Brig Anderson), Walter Pidgeon (Senat-Mehrheitsführer Robert Munson), George Grizzard (Senator Fred Van Ackerman), Burgess Meredith (Herbert Gelman), Henry Fonda (Robert Leffingwell)

Von wegen mächtigster Mann der Welt! Der US-amerikanische Präsident muss die Amtsernennungen, die er vornimmt, vom Senat beraten und absegnen („advice and consent“) lassen. So sieht es der Artikel 2, Abschnitt 2, Paragraph 2 der US-Verfassung vor. Das gilt auch für die Ernennung seines Staatssekretärs — des Außenministers der USA.
Als der Präsident einen gewissen Robert Leffingwell (Henry Fonda) zu seinem Staatssekretär nominieren möchte, kommt es im Senat zu einer Kontroverse. Der designierte Kandidat ist ein selbstbewusster Vertreter einer Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock. Vielen Senatoren ist er zudem auch unbequem, da er als Universitätsprofessor kein Berufspolitiker ist, sondern ein Intellektueller mit eigensinnigen Ideen und Umgangsformen. Er ist die absolut ideale Projektionsfläche bzw. der ideale Sündenbock in einer politischen (Un-)Kultur, bei der sich politische Argumente mit persönlichen Egoismen, Machtphantasien und Rachegelüsten zu einer unappetitlichen Brühe vermischen. In „Advise & Consent“ geht es nicht so sehr um die „Person Leffingwell“ als um den „Diskurs Leffingwell“: daher ist seine Figur in Henry Fondas Verkörperung in 135 Minuten für gerade mal eine knappe halbe Stunde zu sehen.

Um sich Klarheit über den Kandidaten und seine Eignung oder Nicht-Eignung zu verschaffen, richtet die Senats-Abteilung für auswärtige Beziehungen ein Unterkomitee ein. Dieses soll für das Senats-Plenum eine Wahlempfehlung erarbeiten. Die Leffingwell-Unterstützer sind scheinbar in der Mehrheit: der Vize-Präsident (verfassungsmäßig auch der Senatsvorsitzende), und der Führer der Mehrheitspartei im Senat schaffen es schnell, einen freundlich gesinnten Unterkomitee-Vorstand zu bilden. An der Spitze steht der junge Senator Brig Anderson aus Utah, der eine neutrale Position einnimmt. Die schärfste Gegenposition zu Leffingwell nimmt der Senatsälteste aus Süd-Carolina Seab Cooley (Charles Laughton) ein: ein rechter Konservativer, den Leffingwell vor Jahren öffentlich als Lügner enttarnt und lächerlich gemacht hatte und der diesem heute vor allem deshalb eins auswischen möchte. Senator Van Ackerman, ein radikaler Befürworter Leffingwells, entwickelt schnell eine Abneigung gegen Anderson, der bei der Besetzung des Komitee-Vorsitzes bevorzugt worden ist.

Bei den Anhörungen wird schnell deutlich, wohin die Reise gehen soll: Senator Cooley beschuldigt Leffingwell der Sympathie gegenüber Linken und Kommunisten. Anfänglich geht es nur um die Frage nach seinem politischen Absichten: der designierte Staatssekretär will die Säbelrassel-Mentalität des Kalten Krieges überwinden und zu einer Verständigungspolitik mit der kommunistischen Welt finden (was in Deutschland knapp zehn Jahre später unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ ebenso umstritten sein sollte). Leffingwells Gegner geben sich aber nicht mit der Zukunft zufrieden, sondern klopfen mit der Kommunisten-Keule auch die Vergangenheit jenes Mannes ab, der es wagt, sie dank seiner scharfen Eloquenz während den Anhörungen öffentlich als intellektuelle Nullen zu entblössen.
Tatsächlich findet sich ein „freundlicher“ Zeuge, der Leffingwell als ehemaliges Mitglied einer kommunistischen Zelle anschwärzt. Anschuldigungen, die formell falsch (der offensichtlich geschmierte Zeuge hat Adressen und einige Namen erfunden), inhaltlich aber richtig sind. Der designierte Staatssekretär sieht sich nolens volens gezwungen, trotz eidesstaatlicher Erklärung zu lügen und beichtet dies dem engsten Kreis seiner Unterstützer. Der Präsident, der Vize-Präsident und der Mehrheitsführer des Senats wollen trotzdem an seiner Nominierung festhalten. Doch der Komitee-Vorsitzende Anderson entwickelt aufgrund dieser Situation Gewissenskonflikte. Seine eigene weit entfernte Vergangenheit in Form einer kurzweiligen homosexuellen Beziehung wird jedoch von seinem Rivalen Van Ackerman zur Erpressung ausgenutzt. 

Klingt verwirrend und hochkompliziert, ist es aber nicht: „komplex“ trifft es eher. Langweilig? Kaum! Mit „Advise & Consent“ ist Otto Preminger vielmehr ein faszinierendes und eindringliches Werk über politische Unkultur gelungen, dessen 135 Minuten wie im Fluge vergehen. Das liegt nicht zuletzt an der überaus gelungenen Inszenierung: das Politdrama wird in ruhigen Bildern mit fließenden, eleganten Kamera-Bewegungen erzählt. Preminger weiß das Breitbildformat exzellent auszunutzen, um etwa im Senat verschiedene Personen und Personengruppen ohne plötzliche Schnitte zu kontrastieren, oder um die Einsamkeit einzelner Figuren zu verdeutlichen. Eine kolorisierte Fassung im 4:3-Format, die im US-Fernsehen tatsächlich im Umlauf gebracht worden sein soll, dürfte daher wohl eher die Wirkung eines überlangen und latent öden Films entfalten.
Die komplexen Intrigen, die in „Advise & Consent“ entfaltet werden, sind von Anfang bis Ende fesselnd, setzen aber wahrscheinlich ein minimales Interesse am Themenkomplex der politischen Kultur voraus. Denn der Film ist tatsächlich sehr „politisch“ und gibt sich mit einfachen „Macht korrumpiert eben Menschen“-Erklärungen keineswegs zufrieden. Er ist eindeutig als Plädoyer für mehr politische Kultur zu lesen. Erwähnenswert ist, dass Otto Preminger als lebenslanger liberaler Demokrat seine (kritische) Sympathie für die gemäßigte Pro-Leffingwell-Fraktion kaum verhehlt und damit die Bestsellervorlage „Advise & Consent“ von Allen Drury aus dem Jahre 1959 offensichtlich uminterpretiert hat. Dem ehemaligen Senats-Korrespondenten und radikal antikommunistischen Konservativen Drury ging es eher darum, eine real existierende Gefährlichkeit (pro-)kommunistischer Unterwanderung aufzuzeigen und anzumahnen.


„Advise & Consent“ zeigt, vielleicht nur unterbewusst, die theoretische Diskrepanz zwischen dem „real existierenden“ Kommunismus in den USA und dem Diskurs über den Kommunismus. Zwischen einer Splitterpartei, die in ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit permanent an der Schwelle der Lächerlichkeit kratzte und einer „Red-Scare“-Massenhysterie, die heute befremdlich und fast lächerlich wirkt, hätte sie nicht zahlreiche Lebensläufe zerstört... und würden ihre Mechanismen nicht heute teilweise immer noch nachwirken. Premingers Werk ist daher auch eindeutig als Abrechnung mit der antikommunistischen Hexenjagd der frühen 1950er zu lesen, in der einfache Beschuldigungen à la „He‘s a communist!“, vorgestrige Parolen und einfache Verleumdungen die Debattenkultur aushöhlen und zerstören. Diese Unkultur — die heute in gewissen Teilen des politischen Spektrums immer noch quicklebendig ist — hatte gerade Hollywood mit voller Wucht getroffen. Hunderte Karrieren fielen den „black lists“ zum Opfer. Otto Preminger, der selbst verschont geblieben war, jedoch immer wieder gerne mit „heißen“ Themen aneckte, trug maßgeblich zur Aufweichung der „Listen“ bei, als er 1960 Dalton Trumbo (einer der berühmten „Hollywood Ten“) offiziell als Drehbuchautor für „Exodus“ ankündigte.

An „Advise & Consent“ wurden insbesondere zwei „blacklistees“ beteiligt. Der Komponist Jerry Fielding bekam hier seinen ersten Auftrag für einen Kinofilm, nachdem seine Karriere beim Radio vorzeitig beendet worden war. An bitterer Ironie jedoch kaum zu übertreffen ist die Besetzung des „freundlichen“ Zeugen Herbert Gelman, der Leffingwell anschwärzt, mit Burgess Meredith: nachdem er sich selbst bei Anhörungen im House Committee „unfreundlich“ verhalten hatte, kam in er in Hollywood auf die „schwarze Liste“ und erhielt jahrelang keinerlei Kinorolle. Die Zusammenarbeit mit Otto Preminger jedoch sollte auch nach „Advise & Consent“ andauern.

Eine besondere Beachtung bekam „Advise & Consent“ jedoch nicht aufgrund seiner politischen Sprengkraft und seiner Abrechnung mit dem „Red Scare“, sondern weil er der erste US-amerikanische Film war, der eine Schwulenkneipe zeigte! Der Senator Brig Anderson, von Senator Van Ackerman und seinem Kreis mit der Kopie eines alten Briefs an seinen früheren Liebhaber Ray erpresst, fliegt nach New York, um herauszufinden, wie das Dokument in die Hände seiner Rivalen gelangen konnte. Bei der alten Adresse trifft Anderson einen Mann, der ihm Rays Aufenthaltsort nur nach Überreichung eines üppigen Obolus verrät — eine Andeutung, dass der ehemalige Liebhaber sich gelegentlich an reiche Männer prostituiert. Anderson fährt zur angegebenen Adresse und findet dort die besagte Schwulenkneipe. Voller Abscheu flieht der Senator in die Hauptstadt zurück... seinem Verderben entgegen. Ein Moment des Films, der knapp fünf Minuten dauert. Die Kneipe selbst ist eine Minute zu sehen. In seiner vierstündigen Dokumentation zum US-amerikanischen Film würdigte Martin Scorsese Otto Preminger als jener Regisseur, der mehr als alle anderen Filmemacher zur Zerschlagung des Production Codes beigetragen hat... und „Advise & Consent“ als Premingers größten Schlag.
Sicher ist die Darstellung von Homosexualität ambivalent und gehört in eine Zeit, in der man besonders als Amtsperson erpressbar war. Dass Ray seinen ehemaligen Liebhaber im betrunkenen Zustand für Geld „verraten“ hat, macht ihn nicht gerade sympathisch. Die Schwulenkneipe wird klassisch expressionistisch inszeniert: als schlecht ausgeleuchteter Ort. Ob dies Homosexuelle als latente Bedrohung darstellt oder aber sie als Gruppe präsentiert, die aus gesellschaftlichen Gründen „im Dunklen“ leben muss, wird heute noch genauso kontrovers diskutiert wie die Frage, wie sehr man den Film im Kontext seiner Zeit sehen muss. Andererseits ist deutlich, dass „Advise & Consent“ den Erpresser Van Ackerman als verächtliche, durchtriebene und durchweg korrupte Figur und seine Erpressungsintrige als erbärmlich und unwürdig darstellt. Ironischerweise wurde er von George Grizzard dargestellt, der bis zu seinem Tod 2007 über 40 Jahre lang mit dem selben Mann zusammen gelebt hatte.


Auch Charles Laughtons Homosexualität war trotz seiner langjährigen Ehe ein „offenes Geheimnis“. Besonders erwähnenswert ist jedoch, dass er in „Advise & Consent“ seine allerletzte Filmrolle spielte und knapp sechs Monate nach der Premiere verstarb. Auch wenn alle beteiligten Schauspieler hervorragend sind, spielt sie Laughton alle an die Wand. Subtil ist er dabei sicherlich nicht, aber sein völlig übertriebenes Overacting passt hervorragend zu einer Figur, die ihre schwere narzisstische Störungen mit Hilfe unablässlicher Theatralik und geschwungener Worte als Altersweisheit zu verstecken versucht. Auch andere Zuschauer werden es bestimmt lieben, den ehrenwerten Senator von Süd-Carolina zu hassen.

Hinweis:
Auch mit „Advise & Consent“ steht meinerseits nach wie vor die Besprechung eines Films aus, der in Deutschland auf DVD veröffentlicht worden ist. Das genutzte Exemplar, aus dem auch die Screenshots erstellt wurden, ist eine französische Ausgabe (OmfU), hier erhältlich. Als US-Exemplar ist der Film gelegentlich für akzeptable Preise hier und drüben erhältlich, ansonsten auch in einer Kollektion kontroverser Klassiker. Ich meinerseits habe meine DVD bei einer gängigen Internet-Auktionsplattform für den Wert einer Münze mit Silberrand erworben. Glück gehabt, aber der Film kann dem gepflegten Cinephilen durchaus auch mehr wert sein...