Freitag, 18. November 2016

CŒUR FIDÈLE: Jean Epstein, der Impressionismus und die entsittlichende Wirkung

CŒUR FIDÈLE
Frankreich 1923
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Gina Manès (Marie), Léon Mathot (Jean), Edmond van Daële (Petit Paul), Marie Epstein (Nachbarin), Claude Benedict (Hochon), Mme. Maufroy (Mme. Hochon), Madeleine Erickson (Hure)

Marie; rechts oben Jean; Petit Paul; rechts unten die Hochons mit Marie
Die Filmhistoriker sind gespalten über die Frage, ob es im französischen Film der 1920er Jahre die Bewegung des "Impressionismus" (die natürlich nicht mit der gleichnamigen Richtung in der Malerei verwechselt werden darf) gegeben hat. Während die einen, etwa David Bordwell und Kristin Thompson, mit meiner Meinung nach guten Gründen die Realität dieser Bewegung oder Stilrichtung bejahen und Regisseure wie Abel Gance, Marcel L'Herbier, Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff dazu zählen, streiten einige andere die Existenz einer geschlossenen Bewegung rundweg ab. Die Charakteristika, die die Befürworter des Impressionismus anführen, treffen geradezu exemplarisch auf CŒUR FIDÈLE zu, und so wird auch Jean Epstein zu den Hauptvertretern des Impressionismus gezählt - wenn es ihn denn gab (was ich im Folgenden aber voraussetze). Wie diese Charakteristika denn nun aussahen, darüber unten mehr. Zunächst zur Handlung.

Hafenkneipe mit Tiefenschärfe; Petit Paul betritt die Szene
Die junge Marie wurde als Findelkind von Monsieur und Madame Hochon in Marseille aufgezogen. Doch die beiden sind lieblose Rabeneltern. Marie muss als Bedienung in der schäbigen Hafenkneipe der Hochons schuften, eigene Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Und es kommt noch schlimmer: Sie soll mit dem Ganoven Petit Paul verkuppelt werden, mit dem die Hochons durch irgendwelche krummen Geschäfte verbunden sind. Doch Marie liebt den stillen Hafenarbeiter Jean. Als der in der Kneipe vorstellig wird, um seine Ansprüche auf Marie anzumelden, wird er aber von den Hochons und Petit Paul nur abgebügelt. Und Petit Paul verschwindet daraufhin mit Marie, der keine Wahl gelassen wird, in eine Kleinstadt im Hinterland von Marseille. (Gedreht wurde die Kleinstadt-Sequenz in Manosque, aber der Name der Stadt wird im Film nicht genannt und spielt keine Rolle.) Dort ist gerade ein Rummelplatz in Betrieb, den Petit Paul mit der jetzt völlig apathischen Marie besucht. Jean hat mittlerweile von Maries Verschwinden Wind bekommen und ist Petit Paul auf der Spur. Tatsächlich findet er ihn bald, und mitten auf der Straße der Kleinstadt kommt es zu einem wilden Kampf der beiden Kontrahenten. Petit Paul zückt ein Messer, doch statt Jean trifft er einen Polizisten, der die beiden trennen wollte. Während Petit Paul daraufhin das Weite sucht, wird Jean verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Marie, die wie gelähmt den Kampf verfolgt hat und für Jean aussagen will, wird von der Polizei nur abgewimmelt.

Am Hafen von Marseille
Jeans Verurteilung ungefähr in der Mitte des Films bildet eine Zäsur. Es geht dann ein Jahr später mit Jeans Freilassung weiter, und die zweite Hälfte des Films spielt wieder in Marseille. Jean arbeitet jetzt als Kohlenschaufler im Hafen, und nebenbei sucht er nach Marie. Zunächst ohne Erfolg, doch dann läuft er ihr zufällig über den Weg. Und zu seinem Schreck muss er erfahren, dass Marie mit Petit Paul zusammenlebt und ein Baby von ihm hat. Doch Petit Paul hat sich nicht zum Besseren gewendet - ganz im Gegenteil. Er trinkt regelmäßig, und wenn er betrunken ist, schikaniert und tyrannisiert er Marie, die obendrein kaum Geld für sich und das Baby hat, weil Petit Paul alles versäuft oder verzockt. Jean besucht jetzt regelmäßig Marie in ihrer Wohnung, wenn Petit Paul auf Sauftour ist. Unterstützt wird das Liebespaar von einer freundlichen jungen Nachbarin mit verkrüppeltem Fuß (gespielt von Epsteins Schwester Marie, die auch am Drehbuch mitschrieb). Doch eine geschwätzige Hafenhure, die bei Jean abgeblitzt ist, hinterträgt Petit Paul das Treiben in seiner Abwesenheit. So macht er sich zu ungewohnt früher Stunde auf zu seiner Wohnung, ertappt Jean und Marie, und es kommt zum Showdown - diesmal hat er kein Messer, sondern eine Pistole dabei. Aber anders als beim ersten Kampf bleibt Petit Paul auf der Strecke, und Jean und Marie sehen einer gemeinsamen Zukunft ohne Angst vor dem Strolch entgegen.

Jean macht schwere Zeiten durch
Es ist keine freundliche Welt, die Jean Epstein uns zeigt. So wie ungefähr das erste Viertel von CŒUR FIDÈLE, spielt auch Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (verfilmt 1931-36 als MARIUS, FANNY und CÉSAR) in einer Hafenspelunke in Marseille und ihrer näheren Umgebung (in einer der deutschen Zensurentscheidungen, auf die ich unten eingehe, als "Apachenviertel einer französischen Hafenstadt" bezeichnet). Doch von der Atmosphäre gegenseitiger Sympathie und Respekts, die diesen Mikrokosmos der "kleinen Leute" bei Pagnol prägt, findet sich in CŒUR FIDÈLE fast nichts (einziger Lichtblick ist die empathische, selbst vom Leben gebeutelte Nachbarin von Marie). Eher fühlt man sich, um einen weiteren Vergleich mit dem Film der 30er Jahre zu bemühen, an das triste Le Havre von Carnés LE QUAI DES BRUMES erinnert. Überhaupt wirkt manches schon wie eine Vorwegnahme des Poetischen Realismus, der 15 Jahre später seinen Höhepunkt erreichen sollte. Was die Handlung betrifft, so hatte sich Epstein selbst Zurückhaltung und Schlichtheit auferlegt - er wollte ein auf seine Grundmuster reduziertes Melodram erzählen. Das ist - auch nach Auffassung seiner Zeitgenossen - gelungen. "Seine Handlung ist banal", schrieb René Clair im Februar 1924 (seinen ersten Film hatte er da schon abgedreht, aber noch nicht veröffentlicht), "eine Art von BROKEN BLOSSOMS, durch französische Augen gesehen." Doch das sei nicht wichtig, beeilt er sich hinzuzufügen: "Das Thema eines Films ist nicht wichtiger als das Thema einer Symphonie. [...] Monsieur Jean Epstein, der Regisseur von CŒUR FIDÈLE, ist offensichtlich mit der Frage des Rhythmus befasst. [...] Ich fordere diese Leser nochmals auf, sich CŒUR FIDÈLE und seinen Karneval [gemeint ist der Rummelplatz] anzusehen, eine schöne Szene von visueller Berauschung, ein emotionaler Tanz in der Dimension des Raums, in der das Antlitz der Dionysischen Poesie wiedergeboren wird."

Rummelplatz
In der Tat bildet die Sequenz auf dem Rummelplatz den Höhepunkt des Films, gerade weil der Plot hier mehr oder weniger pausiert (denn Jean ist noch auf der Suche nach Marie und Petit Paul). Karussell, Kettenkarussell und Schiffschaukeln werden mit Hilfe von ungewöhnlichen Kamerapositionen, mehrfacher Bildüberlagerung, rasantem Schnitt und gezielter Bewegungsunschärfe zu einem sehr dynamischen und modern wirkenden Gebilde aus Bewegung und Geschwindigkeit verwoben. Aber auch sonst bildet die Kameraarbeit den zentralen Bestandteil von CŒUR FIDÈLE, ebenso wie im Impressionismus insgesamt. Fast alle Szenen des Films sind mit sehr großer Tiefenschärfe gefilmt (was damals nichts Besonderes war - als deep focus cinematography mit Filmen wie DIE SPIELREGEL und CITIZEN KANE wieder in Mode kam, war das eigentlich schon ein alter Hut). Die hohe Tiefenschärfe ermöglicht es Epstein und seinen drei Kameramännern, gezielt partielle Unschärfe (nicht nur Bewegungsunschärfe) als Stilmittel einzusetzen. Es gibt auch ausgiebig Doppel- und Dreifachbelichtungen. Viele Szenenübergänge sind nicht als normale Schnitte, sondern als Überblendungen realisiert, auch andere weiche Übergänge wie Iris- und Wischblenden kommen zum Einsatz. Fast alle diese kameratechnischen Mittel dienen dazu, innere Zustände der Protagonisten zu visualisieren - Gedanken, Träume, Visionen, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen. Auch das ein allgemeines Charakteristikum der impressionistischen Filme. Verzerrende Spiegel oder Linsen dienen dazu, Petit Pauls subjektiven Blick im betrunkenen Zustand zu vermitteln (und in Epsteins FINIS TERRAE von 1929 den Blick eines an Blutvergiftung mit hohem Fieber Erkrankten). In anderen impressionistischen Filmen kommt auch Zeitlupe zum Einsatz. Die Betonung des Innenlebens korrespondiert mit einer hohen Zahl von Großaufnahmen in CŒUR FIDÈLE.

Kettenkarussell: Die Kamera fixiert Petit Paul und Marie, während der Hintergrund verschwimmt
Was den rasanten Schnitt betrifft, so hatte Abel Gance in seinem viereinhalbstündigen Eisenbahnepos LA ROUE neue Maßstäbe gesetzt. Zwar war das durchschnitliche Schnitttempo nicht übermaßig hoch, doch gab es wahre Ausbrüche, in denen das Tempo rasant anzog. Beispielsweise eine Sequenz, in der die Einstellungen nacheinander 11, 14, 7, 6, 5 und 6 Frames lang sind (die Zahlen entstammen dem profunden Film History. An Introduction von Bordwell & Thompson). Bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 oder 20 Bildern pro Sekunde, wie damals meist üblich, dauern die kürzesten dieser Einstellungen nur ungefähr eine Viertelsekunde. In einer Szene, in der ein Protagonist über einem Abgrund hängt und gleich in den Tod stürzen wird, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei - und jeder dieser Erinnerungsfetzen besteht aus nur einem einzigen Frame! Das war unerhört und ging über alles hinaus, was frühere Meister der Montage wie D.W. Griffith veranstaltet hatten. LA ROUE wurde denn auch neben Griffith zum wichtigsten Einfluss der sowjetischen Montage-Schule (und auch BORDERLINE mit seiner clatter montage wurde davon beeinflusst). Doch während die sowjetischen Meister um Eisenstein mit ihrer "intellektuellen Montage" Erkenntnisse über die äußere Welt vermitteln wollten, ging es Gance und seinen französischen Kollegen wiederum um das Innenleben der Protagonisten. CŒUR FIDÈLE war nun nach LA ROUE der zweite Film des Impressionismus, der sich der ultraschnellen Montage befleißigte. Zwar treibt es Epstein nicht ganz so wild wie Gance, aber in der Rummelplatzsequenz sind etliche Einstellungen auch gerade mal zwei Frames lang, und früher im Film gibt es in der Hafenkneipe auch schon einen wenn auch etwas gemäßigteren Ausbruch so eines Schnittgewitters. Nach diesen beiden Wegbereitern beinhalteten zwar nicht alle, aber doch recht viele weitere impressionistische Filme sehr dynamisch geschnittene Sequenzen, siehe etwa den ganz erstaunlichen Anfang von Kirsanoffs MÉNILMONTANT.

Der erste Kampf um Marie
Die Impressionisten bevorzugten einen zurückgenommenen, naturalistischen Schauspielstil, und der findet sich auch in CŒUR FIDÈLE. Nur Léon Mathot, der Darsteller von Jean, zeigt gelegentlich leichte Anflüge von Overacting, es hält sich aber immer in Grenzen. Dennoch scheint mir Mathot im Trio der Hauptdarsteller der Schwächste zu sein. Er wird allerdings auch ein bisschen vom Drehbuch benachteiligt. Petit Paul ist ein Widerling, aber auch ein dynamischer Charakter, und solange er nicht betrunken ist, strahlt er sogar ein gewisses Charisma aus. Im Vergleich zu ihm ist Jean fast ein Phlegmatiker, auch wenn er zweimal (in der Mitte und am Ende des Films) aus sich herausgeht. Trotzdem - 15 Jahre später hätte vielleicht Jean Gabin diese Rolle gespielt, und der hätte wesentlich mehr daraus machen können. Mathot (1885 [verschiedene Quellen nennen fälschlich 1886]-1968) war aber zu seiner Zeit ein populärer Darsteller, z.B. spielte er den Grafen von Monte Cristo in einem Serial von 1917/18. Später wechselte er ins Regiefach. - Edmond van Daële (1884-1960) alias Petit Paul war trotz seines holländisch klingenden Namens Franzose - eigentlich hieß er Edmond Jean Adolphe Minckwitz. Er spielte noch in zwei weiteren Filmen von Epstein, und in Gances NAPOLÉON gab er den Robespierre. Auch mit weiteren namhaften Regisseuren wie Maurice Tourneur und mehrfach Julien Duvivier und Marcel L'Herbier hat van Daële zusammengearbeitet. In der deutsch-französischen Coproduktion CAGLIOSTRO von Richard Oswald spielte er Ludwig XVI. - Gina Manès (1893-1989) schließlich kam in ihrer 50-jährigen Filmkarriere von 1916 bis 1966 auf rund 90 Filme. In NAPOLÉON spielte sie Kaiserin Joséphine de Beauharnais. In den späten 20er Jahren machte sie einige Abstecher in den deutschen Stummfilm, u.a. THÉRÈSE RAQUIN aka DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN! von Jacques Feyder, DIE TODESSCHLEIFE von Arthur Robison und DIE HEILIGE UND IHR NARR von und mit William Dieterle. Im Tonfilm wurden ihre Rollen kleiner, aber sie blieb im Geschäft. Unter ihren Auftritten waren etliche Filme von namhaften Exilanten wie DIVINE (Max Ophüls), MAYERLING (Anatole Litvak) und MOLLENARD (Robert Siodmak). 1955 hatte sie einen Auftritt im letzten Film von Preston Sturges, dessen Karriere da eigentlich schon längst vorbei war.

Jean schippt Kohlen und denkt dabei an Marie
Der 1897 in Warschau als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter geborene Jean Epstein war nicht nur Regisseur, sondern neben dem jung verstorbenen Louis Delluc auch der wichtigste Theoretiker der Impressionisten. Etliche Schriften der beiden drehten sich um den etwas schwammigen Begriff photogénie. Mit seiner wilden Künstlertolle, die auch Grafiker und Bildhauer inspiriert hat, war Epstein in den 20er Jahren eine markante Erscheinung. In seinen Filmen ging er mehrfach neue Wege. Im Gegensatz zu den Verfechtern des cinéma pur hielten die Vertreter des Impressionismus am narrativen Kino fest, aber mit seinem Kurzfilm LA GLACE À TROIS FACES entfernte er sich weiter von klassischen Erzählmustern als die meisten seiner Kollegen. Epsteins heute bekanntester Film (zumindest bei uns) ist wohl LA CHUTE DE LA MAISON USHER, entstanden im selben Jahr wie die Version von Watson & Webber dieses Werks von E.A. Poe. Mit USHER hat sich Epstein dem Surrealismus angenähert, und manche Szenen erinnern an den vier Jahre später entstandenen VAMPYR von C.T. Dreyer. Regieassistent und Mitautor des Drehbuchs war Luis Buñuel, doch Buñuel und Epstein zerstritten sich, und ihre Wege trennten sich schnell. Aber Buñuel hatte dabei soviel über das Filmhandwerk gelernt, dass er daraufhin mit Salvador Dalí zu seiner ersten Großtat UN CHIEN ANDALOU schreiten konnte.

Klatschweiber in Marseille
Epstein dagegen trieb das Konzept von USHER nicht weiter auf die Spitze, sondern machte eine radikale Kehrtwende. In seinem nächsten Film FINIS TERRAE verzichtet er bis auf die schon erwähnte Szene mit dem verzerrten Blick eines Fieberkranken komplett auf die gewohnten Kameratricks. Vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein proto-neorealistisches Drama, in der hintersten Bretagne (finis terrae = "Ende der Welt") mit einheimischen Laiendarstellern gedreht. Danach drehte Epstein noch mehrfach in der Bretagne. Seit den 30er Jahren konnte er nur mehr wenige Spielfilme realisieren, aber er drehte noch eine Reihe von Kurzfilmen, viele davon dokumentarisch. - Heute ist von den Impressionisten wahrscheinlich Abel Gance am bekanntesten, der nach den Großwerken J'ACCUSE! (keine Zola-Verfilmung, sondern eine Anklage des Ersten Weltkriegs) und LA ROUE mit dem Übergroßwerk NAPOLÉON noch eins draufsetzte. Aber die anderen Impressionisten, auch Epstein, sind außerhalb Frankreichs weniger bekannt, weil ihre Filme im Ausland wenig Erfolg hatten, und weil sie in den 30er Jahren von den Vertretern des Poetischen Realismus an Popularität weit übertroffen wurden. Aber CŒUR FIDÈLE kann man durchaus zu den Klassikern des französischen Kinos zählen.

Eine gesprächige Dame aus dem Hafenviertel
Weniger glorios verlief die Karriere von CŒUR FIDÈLE in Deutschland: Da wurde der Film nämlich verboten.

Entsittlichende Wirkung


Im November 1918 wurde mit dem Ende des Kaiserreichs auch die Zensur in Deutschland abgeschafft - jedenfalls auf dem Papier. Untergeordnete Behörden wie Polizeidirektionen konnten nach wie vor Filme verbieten (und taten es auch), aber einheitliche landesweite Verbote gab es nun nicht mehr, und das eröffnete einladende Schlupflöcher für "Sittenfilme" und "Aufklärungsfilme". Tatsächlich war die Zeit von Ende 1918 bis Mitte 1920 und nicht etwa die 60er und 70er Jahre die erste Blütezeit dieses Genres in Deutschland. Manche dieser Filme wollten tatsächlich aufklären oder eine progressive Sexualmoral (und eine entsprechende Gesetzgebung) propagieren (am bekanntesten wohl Richard Oswalds Homosexuellendrama ANDERS ALS DIE ANDERN), während die meisten eher spekulativ waren. So oder so - diese Filme waren natürlich den Konservativen in Gesellschaft und Politik (und auch dem einen oder anderen linken Kulturpessimisten) ein Dorn im Auge, und der Ruf nach einer speziellen Filmzensur wurde laut. So wurde auf Betreiben der Mitte-Rechts-Parteien von der Verfassunggebenden Nationalversammlung die Möglichkeit eines Zensurgesetzes in der Weimarer Verfassung verankert, und dieses Gesetz wurde dann als Reichslichtspielgesetz im Mai 1920 verabschiedet. Neben der Verbannung der "Schund- und Schmutzfilme" wurde damit auch eine politische Filmzensur etabliert, die im Verlauf der 20er Jahre immer rechtslastiger wurde.

Während Petit Paul keinen klaren Blick mehr hat, kümmert sich Marie um ihr Baby
Artikel 118 der Weimarer Verfassung (Fassung vom August 1919):
Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

§ 1 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz (Fassung vom Mai 1920):
Die Zulassung eines Bildstreifens erfolgt auf Antrag. Sie ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, daß die Vorführung eines Bildstreifens geeignet ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden. Die Zulassung darf wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher nicht versagt werden. Die Zulassung darf nicht versagt werden aus Gründen, die außerhalb des Inhalts der Bildstreifen liegen.

§ 3 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz:
Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist.

Die Nachbarin von Marie und Petit Paul
Nun musste also jeder Film (deutsche ebenso wie importierte ausländische) vor der Veröffentlichung einer der beiden in München und Berlin ansässigen Filmprüfstellen zur Genehmigung vorgelegt werden, als Revisionsinstanz gab es die Oberprüfstelle in Berlin. Diese Prüfstellen waren dem Reichsinnenministerium zugeordnet, und das Ministerium bestimmte auch über die personelle Besetzung. Die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle waren endgültig, der Gerichtsweg war nicht vorgesehen. Ein nicht zugelassener Film konnte jedoch gekürzt oder sonstwie verändert erneut zur Prüfung vorgelegt werden.

Der Schurke und seine Spießgesellen
Wenn die verschiedentlich zu findende Angabe stimmt, dass die Originallänge von CŒUR FIDÈLE 1990 Meter beträgt, dann war die für Deutschland bestimmte Fassung bereits stark gekürzt, denn deren Länge betrug zunächst 1577 Meter. Die fehlenden 413 Meter entsprechen bei der für den Film laut Booklet der Blu-ray vermutlich vorgesehenen Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde einer Dauer von etwas mehr als 20 Minuten. Diese Fassung von CŒUR FIDÈLE wurde nun unter dem vorgesehenen Titel HERZENSTREUE von einem Berliner Verleih am 7. März 1925 der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt und daraufhin auf Antrag eines der Beisitzer mit der Begründung "Exemplarischer Schundfilm, und daher seelisch verrohend" verboten. Gegen diese Entscheidung der Kammer legte der Vorsitzende Beschwerde ein (wie es wörtlich im Protokoll heißt), sowohl aus formalen wie auch aus inhaltlichen Gründen. Formal, weil der Begriff "Schundfilm" im Reichslichtspielgesetz nicht erwähnt war und deshalb kein gültiger Ablehnungsgrund sein konnte. Inhaltlich, weil die seelisch verrohende Wirkung nicht gegeben sei, u.a. weil "... das gute Prinzip am Ende siegt und das elende Leben Petit Pauls endet". Allerdings hielt der Vorsitzende, ein Regierungsrat Goetz, Schnitte für angebracht, "... besonders im letzten Akt jene Scenen, die das blutüberströmte Gesicht Petit Pauls zeigen".

Das hat dem Regierungsrat Goetz nicht gefallen
Am 12. März beriet die Film-Oberprüfstelle über die Beschwerde, wies diese jedoch ab. Zwar wurde dem formalen Teil stattgegeben: "Nach geltendem Recht bildet die Schundfilmeigenschaft eines Bildstreifens keinen Verbotsgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Mai 1920. Zu diesem Teil ist die Beschwerde begründet." Inhaltlich schloss man sich der Vorinstanz aber an, was folgendermaßen zusammengefasst (und jetzt formal korrekt formuliert) wurde: "Der Bildstreifen ist in hohem Masse [sic] geeignet, entsittlichend zu wirken. Das hat wohl auch die Prüfstelle zum Ausdruck bringen wollen, als sie ihn für geeignet erklärte, "seelisch verrohend" zu wirken." Und das wird dann noch ausführlich begründet. Folgende Formulierung ließ dem Verleih wenig Hoffnung: "Diese Wirkung geht von dem g e s a m t e n Bildstreifen [Hervorhebung im Protokoll der Sitzung], nicht nur von einzelnen Bildfolgen aus, von denen Teile der Kampfscenen, insbesondere das Ende Petit Pauls geeignet sind, verrohend zu wirken, sodass ein Teilverbot nach § 1 Abs. 3 [also eine Freigabe mit Schnittauflagen] nicht in Frage kommt."

Unschärfe - kein handwerklicher Fehler, sondern ein Stilmittel

Die im Beschauer schlummernden rohen Instinkte


Trotzdem machte der Verleih tapfer einen zweiten Versuch, kürzte CŒUR FIDÈLE um weitere 23 Meter (was bei einer Abspielgeschwindigkeit von 18 fps einer Dauer von 1:07 min entspricht) und legte ihn am 15. April erneut der Filmprüfstelle Berlin vor. Zwei der vier Beisitzer waren schon beim ersten Durchgang dabei gewesen (was anscheinend ungewöhnlich war, denn sie wurden vom Vorsitzenden ausdrücklich befragt, ob sie nicht befangen seien), die anderen beiden und der Vorsitzende der Kammer waren neu. Doch auch die gekürzte Fassung fiel durch und wurde verboten: "Der Gesamteindruck ist so verrohend, dass durch die Beseitigung einzelner roher Handlungen in der Wirkung nichts wesentliches geändert wird. Aus diesem Grunde sind die inzwischen vorgenommenen Kürzungen belanglos, wie auch weitere Ausschnitte die verrohende Wirkung nicht aufheben können, weil diese hervorgerufen wird durch den Gesamtinhalt der Handlung, durch die sich, wie ein roter Faden, die nackte brutale Gewalt hindurchzieht. [...] Es besteht die Gefahr, dass im Beschauer schlummernde rohe Instinkte ausgelöst werden, die andererseits durch die Geschehnisse keinerlei Dämpfung finden. [...] so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das allgemeine sittliche Niveau durch das Zeigen des Martyriums, das eine wehrlose Frau durch das brutale Verhalten eines gewissenlosen Mannes erleidet, herabgemindert und gesenkt wird."


Der bei der Sitzung anwesende Vertreter des Verleihs legte wiederum Beschwerde ein, so dass es am 22. April 1925 vor der Oberprüfstelle zur vierten und letzten Verhandlung über CŒUR FIDÈLE kam. Die Besetzung war identisch mit der vom 12. März (ob das üblich war, ist mir nicht bekannt). Und neuerlich wurde die Beschwerde abgeschmettert: "Das Verbot des Bildstreifens durch die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 12. März 1925 tat [sic] auf den Verbotsgrund der entsittlichenden Wirkung gegründet, die die Oberprüfstelle darin gesehen hat, dass der Gesamtinhalt des Bildstreifens derart herabziehend und auf das Gefühl des Beschauers abstumpfend wirke, dass von seiner Vorführung eine Verschlechterung des sittlichen Fühlens und Denkens zu besorgen sei. An dieser Feststellung wird durch die von dem Beschwerdeführer vor der Widervorlage [sic] des Bildstreifens gemachten wenigen Ausschnitte nicht [sic] geändert."

Überblendung
Während gemäß der zum Reichslichtspielgesetz erlassenen Gebührenordnung die erste Verbotsentscheidung samt Berufung gebührenfrei erfolgte, trug nach der zweiten Runde der Antragsteller (also der Verleih) die Kosten. Und damit war dann die Karriere von CŒUR FIDÈLE bzw. HERZENSTREUE in Deutschland beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Lexikon des internationalen Films kennt CŒUR FIDÈLE nicht, er lief also anscheinend auch nie in der Bundesrepublik und der DDR. Auf der Website des Österreichischen Filmmuseums in Wien wird CŒUR FIDÈLE als TREUES HERZ erwähnt. Ich weiß aber nicht, wann er diesen Titel verpasst bekam, und ob er zeitnah zu seiner Entstehung in Österreich lief.

Noch eine Überblendung
Die so ausgiebig bemühte "verrohende" und "entsittlichende" Wirkung eines Films war eine Universalkeule des Reichslichtspielgesetzes. Das Schöne daran (aus Sicht der Zensoren) war, dass man diese Wirkung gar nicht schlüssig nachweisen, sondern nur vermuten bzw. behaupten musste (darin der "sozialethischen Desorientierung" nicht unähnlich, vor der die heutige Bundesprüfstelle und weitere Gremien seit den 50er Jahren die gefährdungsgeneigte Jugend schützen zu müssen glauben). Das war auch so gewollt. Leiter der Oberprüfstelle war seit 1924 ein Oberregierungsrat Dr. Ernst Seeger, der auch die beiden Berufungsverhandlungen HERZENSTREUE betreffend als Vorsitzender leitete. Dr. Seeger war auch an der Abfassung des Reichslichtspielgesetzes beteiligt, und in einem 1923 von ihm verfassten Kommentar zum Gesetz kann man lesen: "Der Inhalt des Bildstreifens ist nur insoweit Gegenstand der Prüfung, als von ihm aus Schlüsse auf die mutmaßliche Wirkung bei der Vorführung auf den Beschauer zu ziehen sind" (Hervorhebung von mir). 1933 konnte Dr. Seeger, inzwischen zum Ministerialrat befördert, seine Laufbahn nahtlos im Propagandaministerium fortsetzen - "Die Lücke, die sein Tod im Reichspropagandaministerium gerissen hat, wird schwer auszufüllen sein", hieß es in einem Nachruf im Film-Kurier vom 18. August 1937. - Aus heutiger Sicht ist das Verbot von CŒUR FIDÈLE natürlich ein schlechter Witz, aber damals war das ein ganz normaler Vorgang, und meist ging sowas sang- und klanglos über die Bühne. Öffentlich ausgetragene Zensurskandale wie bei DIE FREUDLOSE GASSE, PANZERKREUZER POTEMKIN oder KUHLE WAMPE blieben die Ausnahme. - Wer sich die erbauliche Lektüre der famosen Filmprüfer gönnen will, findet hier die Sitzungsprotokolle verlinkt.

Links Dreifachbelichtung, rechts ein natürlicher Schleier im Bild
CŒUR FIDÈLE ist in England bei Masters of Cinema als Blu-ray/DVD-Combo mit ausgezeichneter Bildqualität erschienen. Eine französische DVD gibt es auch. Und für die, die mehr von Epstein sehen wollen, gibt es ebenfalls in Frankreich drei DVD-Boxen: "Jean Epstein - Première Vague" mit vier Filmen auf zwei DVDs, "Jean Epstein - Poème Bretons" mit seinen sieben bretonischen Filmen auf drei DVDs sowie (zu einem sehr gehobenen Preis) den "Coffret Jean Epstein" mit 14 Filmen auf acht Scheiben sowie einem beigelegten Buch.

Großaufnahmen ...
... und noch mehr Großaufnahmen

Mittwoch, 2. November 2016

Frühling in einem kleinen Haus

XIAO CHENG ZHI CHUN („Spring In A Small Town“)
China 1948
Regie. Fei Mu
Darsteller: Wei Wei (Yuwen, die Ehefrau), Li Wei (Zhang Zhichen, der Gast), Shi Yu (Liyan, der Ehemann), Zhang Hongmei (Xiu, die kleine Schwester), Cui Chaoming (Laohuang, der Diener)



Irgendwo in der chinesischen Provinz, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (bzw. des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs). Der ehemals reiche Bürger Dai Liyan ist finanziell wie auch gesundheitlich ruiniert: sein einst schönes Haus ist größtenteils zerstört, so dass er mit seiner Familie in noch intakten Nebengebäuden wohnen muss, er selbst leidet an Tuberkulose sowie an „Neurose“ (man würde das wohl heute „Burn-Out“ oder schlicht Depressionen nennen). Mit ihm wohnt seine Ehefrau Yuwen, seine quirlig-fröhliche 15-jährige Schwester Xiu sowie der alte, bedächtig-ruhige Hausdiener Laohuang. Yuwens und Liyans Ehe kriselt. Die Ehefrau muss sich um alles im Haushalt kümmern, geht jeden Tag ins Dorf, um Essen für die Familie sowie Medikamente für ihren Ehemann einzukaufen, während Liyan stundenlang apathisch im Garten herumsitzt und oft abweisend und launig ist. So wirft er etwa das Päckchen mit den Medikamenten, das ihm Yuwen überreicht, gleich zu Beginn – eher resigniert als wütend – weg. Von häuslicher Gewalt (ob physisch oder psychologisch) kann zwar in keiner Weise die Rede sein, und der Umgang zwischen den Eheleuten ist stets respektvoll, aber eben auch ohne jegliche Wärme oder spürbare Zuneigung.

dramatis personae:






Eines Tages kommt ein Mann zu Besuch: der Arzt Zhang Zhichen ist ein ehemaliger Schulkamerad Liyans, und tatsächlich kommt in dem resignierten Hausherrn ein bisschen Freude über den Besuch auf. Was Liyan nicht weiß und der Zuschauer erst im weiteren Verlauf von XIAO CHENG ZHI CHUN nach und nach erfährt: Zhichen war auch Yuwens Geliebter, bevor diese Liyan heiratete. Und so liegt gleich zu Beginn von Zhichens mehrtägigem Aufenthalt eine gewisse Spannung in der Luft. Am ersten Abend gehen die beiden ehemaligen Liebhaber noch recht verstohlen miteinander um: sie kommt mehrmals in sein Gästeraum, um nach dem Rechten zu sehen und zusätzliche Decken zu bringen.

Am nächsten Tag gehen der Hausherr, die Ehefrau, die kleine Schwester und der Gast zusammen spazieren. Zunächst auf der Stadtmauer, wo Zhichen für kurze Zeit Yuwens Hand ergreift. Dann geht es mit dem Boot weiter, wo sich beide sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Am nächsten Tag gehen beide, diesmal alleine, auf der Stadtmauer spazieren. Die Stadtmauer ist der Ort, wo Yuwen gerne alleine schlendern geht, wenn sie nach dem Einkauf vor der Rückkehr in ihr unglückliches Zuhause noch einmal Ruhe tanken möchte. Dort unterhalten sie sich, erwägen implizit, zusammen ein neues Leben zu beginnen und schlendern dann weiter. Später, wieder zuhause, sagt Yuwen, dass alles einfacher wäre, wenn Liyan sterben würde – was sie sofort bereut und sowohl ihr wie auch Zhichen ein sehr schlechtes Gefühl gibt.

Eine entfremdete Ehe...
...bildet die Grundlage für Annäherungen zwischen zwei ehemaligen Liebhabern.
Das linke untere Bild: vielleicht eine Inspiration für die ikonischste Einstellung in Wong Kar-wais IN THE MOOD FOR LOVE?

Bevor das alles zu trübsinnig wird, kommt Xiu dazwischen, die nun am nächsten Tag mit dem „Großen Bruder Zhichen“ zur Stadtmauer geht, dort zu seinem Gesang etwas tanzt und sich dann milde beschwert, dass ihr Bruder Liyan immer so unlustig und schwermütig sei. Nachdem Xiu ihrer Schwägerin gesagt hat, wie schön der Spaziergang mit Zhichen war, spielt Yuwen ihrem Ex-Geliebten eine kleine Eifersuchtsszene, weil er offensichtlich Xiu lieber möge als sie – sagt ihm aber kurz vor ihrem Abgang, dass das nicht ernst gemeint war. Den gleichen Gedanken spinnt jedoch Liyan völlig ernsthaft weiter: Zhichen sei möglicherweise für Xiu die richtige Partie, und da müsse man mit den beiden mal drüber sprechen. Yuwen redet ihm den Gedanken aber erst einmal aus. Xiu werde ja morgen erst 16 Jahre alt.

Auf der Geburtstagsfeier am nächsten Abend wird dann fröhlich gesungen, gespielt und getrunken. Aus Hände- und Fingerspielen à la Schere-Stein-Papier entwickeln sich bald Trinkspiele. Yuwen, offensichtlich in trüber Laune, trinkt mehr als alle anderen, und taut erst auf, als sie mit Zhichen ein Trinksspiel spielt – an dieser Stelle merkt Liyan auch zum ersten Mal, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist. Später, als alle schon im Bett sind, schleicht sich Yuwen zu Zhichen ins Zimmer. Beide werden von ihrer Leidenschaft zueinander fast überwältigt, stoßen sich aber mehrmals im letzten Moment wieder voneinander. Zhichen eilt danach zu Liyan ins Zimmer, um sich eine Schlaftablette zu borgen. Wenig später wiederum sucht Yuwen ihren Ehemann auf. Dieser fragt sie offen, ob sie immer noch Zhichen liebe, gibt sich aber auch selbst die Schuld an der zerrütteten Ehe.

Bei den Trinkspielen zu Xius Geburtstag ereilt Liyan eine Erkenntnis
Am nächsten Tag will Zhichen weiterziehen. Liyan bittet ihn verzweifelt, zu bleiben, weil Yuwen in seiner Anwesenheit glücklicher sei. Später versucht er, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen – Zhichen hatte jedoch in der Nacht zuvor die Tabletten mit Vitaminpillen ausgetauscht. Trotzdem geht es dem Ehemann schlechter und er ringt kurzzeitig mit dem Tod. Sein Zustand bessert sich jedoch dank der raschen medizinischen Intervention Zhichens, und allen Mitgliedern des Haushalts fällt ein Stein vom Herzen. Der Arzt verlässt den Haushalt am nächsten Tag, verspricht, zum nächsten Frühling wieder vorbeizukommen. Später, wohl am selben Tag, geht Yuwen wieder wie so oft auf der Stadtmauer spazieren, mit dem Unterschied, dass ihr Ehemann sich zu ihr gesellt. Die Eheleute blicken Arm in Arm in den Horizont – und offenbar auch in eine etwas hoffnungsvollere und fröhlichere Zukunft.

XIAO CHENG ZHI CHUN / SPRING IN A SMALL TOWN gilt als lange Zeit verschollene Perle des chinesischen Kinos. Er ist, so Noah Cowan, ein Höhepunkt im „Goldenen Zeitalters“ des chinesischen Films der 1930er und 1940er Jahre und verbindet dieses zugleich mit dem chinesischen Autorenkino der 1990er und 2000er Jahre, als maßgeblicher und erklärter Einfluss für Filmemacher wie Zhang Yimou, Wong Kar-wai und Stanley Kwan. Über Jahrzehnte war XIAO CHENG ZHI CHUN in China verschmäht und vergessen. Der Film entstand ein Jahr vor der Ausrufung der Volksrepublik und Regisseur Fei Mu gehörte nicht zu den Gewinnern des politischen Umbruchs. Fei, geboren 1906 in Shanghai, aufgewachsen in Peking, war in den 1920er Jahren Filmkritiker und wurde später auch Herausgeber einer Filmzeitschrift. Seinen ersten eigenen Film (der heute verschollen ist), drehte er 1935. Der gebürtige Shanghaier, der seinen Schulabschluss in einer französischsprachigen Schule gemacht hatte, war ein echter Kosmopolit und sprach wohl nicht nur fließend Französisch, sondern auch Deutsch, Englisch, Italienisch und Russisch – offenbar der richtige Mann, um als Ko-Regiseur mit den Emigranten Jacob und Luise Fleck den Film SÖHNE UND TÖCHTER DER DER WELT (Originaltitel) zu drehen: die erste Koproduktion zwischen österreichischen und chinesischen Filmkünstlern. Mit der Opernverfilmung SHENG SI HEN („Remorse at Death“) drehte Fei 1948 den ersten chinesischen Farbfilm. XIAO CHENG ZHI CHUN aus dem selben Jahr blieb Feis letzter Film. Nach dem Sieg der Kommunisten floh er nach Hongkong. Der Regisseur, der lebenslang an chronischen Gesundheitsproblemen litt, starb dort 1951 mit nur 44 Jahren. Von den Kommunisten wurde XIAO CHENG ZHI CHUN jahrelang als bourgeois verurteilt und unter Verschluss gehalten. Erst in den 1980er Jahren änderte sich diese Haltung, und das Pekinger Filmarchiv brachte eine neue Kopie des Films im Umlauf. XIAO CHENG ZHI CHUN gewann rasch eine große Popularität in China, Hongkong sowie international und brachte auch seinen Regisseur wieder ins Gespräch. Tian Zhuangzhuang drehte 2001 ein Remake des Films mit dem gleichen Titel (und dies war paradoxerweise nach mehreren Jahren Exil sein „Rückkehrfilm“).

David Bordwell schreibt, dass XIAO CHENG ZHI CHUN mit seiner langsamen Entwicklung einer erotischen Geschichte in karger Umgebung Michelangelo Antonioni vorwegnimmt. Die flüssigen Kamerabewegungen und die gekonnte Nutzung der Raumtiefe, die bereits in Feis Filmen der 1930er Jahre sichtbar seien, erinnern Bordwell an Jean Renoir. Ganz anders inszenierte Fei sein Konfuzius-Biopic KONG FUZI von 1940, der größtenteils in statischen Tableaus mit stilisierten, dezidiert artifiziellen und gemalten Bühnenbildern gefilmt ist, was Bordwell als sehr modern wertet. Der Hongkonger Filmkritiker Wong Ain-ling vergleicht Feis Konfuzius-Biopic mit Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D‘ARC sowie mit Eric Rohmers über 35 Jahre später gedrehten PERCEVAL LE GALLOIS (der als der experimentellste Film des nouvelle-vague-Filmemachers gilt).

Antonioni, Renoir, Rohmer, Dreyer – ich selbst werde gleich noch Fritz Lang und sogar Jean-Pierre Melville dazu holen: dass so viele Vergleiche bei der Bewertung von Feis Filmen herangezogen werden (müssen), weist sicherlich darauf hin, dass er als eigener Name (noch) nicht etabliert ist und zugleich dass da offenbar sehr vieles Interessantes zu entdecken ist. Nun also zu „Frühling in einer kleinen Stadt“. Sicherlich würde „Frühling in einem kleinen Haus“ besser als Titel passen, weil es zwar in Feis Film einen Frühling gibt, allerdings keine „kleine Stadt“. Im gesamten Film sind tatsächlich nur 5 Figuren zu sehen, und „Stadt“ taucht als geografisches Konzept nur sehr peripher auf (wir erfahren, dass Yuwen in der kleinen Stadt einkaufen geht, sehen sie aber nicht), als soziales Konzept überhaupt nicht. Der zentrale Ort des Films ist das semi-zerstörte Haus, in dem die Familie mit ihrem Gast wohnt. Das trägt dazu bei, dass XIAO CHENG ZHI CHUN wie ein extrem konzentriertes und intimes Kammerspiel wirkt, eher von Charakteren als von Plot getrieben. Diese Abgeschiedenheit verleiht dem Film aber auch einen Hauch verzweifelter Weltabgewandtheit – was mich etwas an Jean-Pierre Melville erinnert hat, minus die Gangsterfiguren und die Gewalt.

In der Ausstattung wirkt XIAO CHENG ZHI CHUN recht karg und minimalistisch, dabei ist er sehr konzise inszeniert. In seinen ersten Bildern schwenkt eine Kamera mit verblüffend hoher Geschwindigkeit über provinzielle Landschaften, und der Rest des Films ist von flüssigen, eleganten Kamerabewegungen und tatsächlich einer meisterhaften Nutzung der Raumtiefe gekennzeichnet – der Film führt etwa den Hausherrn ein, indem die Kamera durch den Garten und eine löcherige Mauer nach ihn „sucht“. Die Bildkompositionen sind wie die Bewegungen der Kamera auf unaufdringliche Weise elegant. Es gibt nur wenige Nahaufnahmen, die dann umso auffälliger sind: etwa auf die Gesichter Zhichens und Yuwans, als sie sich wieder erkennen, oder – besonders hervorgehoben – eine Nahaufnahme einer Pflanze, die Yuwen Zhichen schenkt.

Sehr auffällig ist, dass Fei immer wieder Überblendungen einsetzt, und zwar nicht, um das Ende einer Szene mit dem Beginn der nächsten zu verbinden (das manchmal auch), und auch nicht in „Montage-Impressionen“ (wie am Anfang von CITIZEN KANE), sondern mitten in normalen Szenen – statt eines Schnitts. Das wirkt leicht desorientierend, weil nebenbei oft die 180-Grad-Regel gebrochen wird und einmal die Figuren zugleich ihre Position im Raum auf „falsche“ Weise ändern. Fast wie ein jump-cut, nur eben mit den Mitteln einer Überblendung. Wäre der Film bekannter, könnte man letzteres bestimmt schon beim IMDb-Eintrag in den Goofs zu lesen. Ich sehe darin keinen „Fehler“, sondern vielmehr ein faszinierendes Stilelement, das dem Film eine leicht träumerische, schwelgerische und fließende Note gibt und ihn zwischendurch ungemein modern aussehen lässt.

Experimentelle Überblendungen in einem eigentlich klassischen Melodrama
Vielleicht noch faszinierender ist die Nutzung des Tons, oder besser gesagt der Stille. Zwei Mal während des Films „fällt“ der Ton „aus“. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass das tatsächlich mit der überlieferten Kopie des Films zu tun hat, also damit, dass an diesen Stellen die Tonspur verschollen oder teils verschollen ist, aber das glaube ich nicht. Der erste Tonausfall erfolgt, als die beiden Ex-Liebhaber zusammen alleine spazieren gehen. Auf der Stadtmauer sprechen die beiden darüber, wie sie sich über die Jahre geändert haben. Als sie zusammen waren, soll Yuwen wohl immer einer Meinung mit Zhichen gewesen sein. „Wenn ich dich bitte, mit mir wegzugehen, würdest du dann immer noch sagen ‚Was du auch immer sagst‘?“, fragt Zhichen seine ehemalige Geliebte. „Meinst du das ernsthaft?“, erwidert Yuwen. Hier fällt der Ton aus, beide gehen ein Stück weiter, Zhichen wirft einen Ziegelstein in den nahegelegenen Fluss (das Geräusch hört man folglich nicht), und dann gehen die beiden auf einem kleinen Waldweg spazieren: während Yuwen und Zhichen zusammen gehen, sich immer mehr von der fixen Kamera entfernen und schließlich übermütig zusammen ein Stückchen rennen, herrscht vollkommene Stille. Diese knapp 50 Sekunden lange, statische Einstellung ist ein entscheidender Moment, denn hier wird eine Art Harmonie zwischen den beiden gezeigt, die keiner Erklärung (und auch keines Tons) mehr bedarf.


Der zweite Tonausfall begleitet die leidenschaftlichste und emotionalste Szene von XIAO CHENG ZHI CHUN – also der Moment, als Yuwen zu Zhichen ins Zimmer geht mit der unsicheren Absicht, ihn zu verführen. Nachdem sie sich zu ihm geschlichen hat, tauschen sie wenige Worte aus, dann herrscht vollkommene Stille, während sie zunächst ein Licht anzündet, er es wieder ausmacht, beide sich umarmen, er sie in die Arme hebt, sie dann wieder hinstellt, schnell rausgeht und sie einsperrt, damit sie ihm nicht folgt. Mit wenigen Schlägen zerschlägt sie das Türglas – das Zerschmettern des Glases und ihr leiser Schmerzensschrei sind kurz zu hören. Er eilt zu ihr, verbindet ihre Verletzung und fängt dann an, leidenschaftlich ihre Hand zu küssen. Sie hat sich wieder gefangen, erhebt sich, und durchbricht wieder die Stille mit einem schroffen und kalten „Danke“.  Wie gesagt handelt es sich um die emotionalste Szene in XIAO CHENG ZHI CHUN. Wo sich in den meisten Filmen klassischerweise die schweren Orchesterklängen überstürzen würden, herrscht hier in dieser wundervoll „low key“ fotografierten Sequenz totale, nur punktuell durchbrochene Stille. Ihre emotionale Wirkung ist dadurch vielleicht noch stärker.
Diese Nutzung des Tons erinnert an eines der großen Pionierwerke in Sachen experimenteller Tonmontage, nämlich Fritz Langs M, in dem immer wieder totale Stille eingesetzt wird. In Feis Film belebt dieses Verfahren keine Polizeiprozeduren, keine Verbrechen und keine urbanen Milieus, sondern Momente intimer Leidenschaft. Großes „drama“ ohne „melos“.

Der emotionalste Moment des ganzen Films...
...fast komplett ohne Ton gefilmt.
Weitaus weniger experimentell und interessant, sondern manchmal etwas entnervend, wirkt der leicht penetrante Voice-Over Yuwens, die nicht nur knappe Expositionen gibt, sondern teils fast schon pedantisch übererklärt – und manchmal sogar triviale Handlungen „doppelt“, die der Zuschauer eigentlich in den Bildern sieht. „Wir fahren dann Boot auf dem Fluss. Xiu singt ein Lied.“ – während der Zuschauer sieht, dass die Gruppe Boot fährt und Xiu ein Lied anstimmt. Im weiteren Verlauf des Films könnte man vielleicht denken, dass Yuwen ständig über Selbstverständlichkeiten und Trivialitäten spricht, damit sie nicht über den Kern der Dinge reden muss, aber so richtig davon überzeugt bin ich nicht.

Das bleibt aber mein vielleicht einziger größerer Kritikpunkt an diesem schönen ländlichen Melodrama, das nicht nur in der Kameraführung ein wenig an Renoir erinnert. Fei ist wie sein berühmterer Kollege ein klassischer humanistischer Erzähler, der keine Guten oder Bösen präsentiert, sondern nur Figuren, die „ihre Gründe haben“. Des weiteren fühlt sich XIAO CHENG ZHI CHUN sehr universell an – nicht nur wegen der sehr „europäisch“ wirkenden Inszenierung, sondern weil die gleiche Geschichte sich ebenso gut in Italien, Deutschland, Frankreich oder den USA abspielen könnte.

Ein hoffnungsvolles Ende


XIAO CHENG ZHI CHUN ist als „Spring In A Small Town“ in einer schönen DVD-Edition des British Film Institute erschienen, und dies ist wohl die einzige Edition mit der restaurierten Filmfassung – bei anderen DVD-Editionen soll die Sichtung wohl aufgrund der scheusslichen Bild- und Tonqualität eine recht anstrengende Herausforderung sein. 1A ist die Qualität auch bei der BFI-Edition nicht, und besonders der Ton ist immer wieder etwas scheppernd: das Bild wurde anhand des 35mm-Original-Nitratnegativs restauriert, das offenbar aber keinen Ton hatte; der Ton wurde von einer 35mm-Kopie transferiert.
Die BFI-Edition enthält zwei Bonus-Filme. Nein, leider keine weiteren Filme von Fei Mu, sondern zwei britische Filme aus dem Archivfundus des British Film Institute. A SMALL TOWN IN CHINA von 1933 ist ein neunminütiger, stummer Kurzfilm eines namentlich nicht bekannten Amateur-Filmers der Methodist Missionary Society, der in einer ungenannten chinesischen Stadt Straßenszenen filmt und später Alltagsmomente in offenbar methodistischen Schulen und Krankenhäusern auf Film festhält. Der Film hat eigentlich keinen Titel: er bekam ihn lediglich bei der Katalogisierung in den 1990er Jahren, wie im Booklet der DVD zu erfahren ist. Dieser bezeichnet A SMALL TOWN IN CHINA als „home movie“, und tatsächlich wirkt er wie ein frühes Heimvideo, das damals wahrscheinlich die Schüler, Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte und Patienten zu sehen bekamen, die darin gezeigt werden.
THIS IS CHINA von 1946 ist ein 8-minütiger Dokumentarfilm, der vom britischen Informationsministerium produziert wurde. Dafür wurde kein Originalmaterial gedreht, sondern bereits gefilmtes „stock footage“ montiert und mit einem narrativen Kommentar versehen. Einen nominellen Regisseur hat der Film nicht, das Booklet nennt den Schnittmeister John Krish als entscheidende kreative Kraft des Films – Krish drehte später als Regisseur vor allem Dokumentarfilme. THIS IS CHINA zeichnet China als rückständiges Land, das eine Tausende Jahre alte Geschichte nun mit westlicher Technologie in Richtung Moderne bringt. Der Unterton des Narrativs ist stellenweise latent eurozentrisch und orientalistisch, die Agenda des Films aber (dem Einführungstext des Booklets würde ich da zustimmen) durchaus nicht antihumanistisch: „westlicher“ Fortschritt soll nicht sich selbst, sondern schlussendlich dem Wohl der Chinesen selbst nützen. So ambivalent der Inhalt, so dynamisch ist die Form dieses schnell geschnittenen Kurzfilms, der aus nicht selbst gedrehtem Material durch die Montage viel rausholt.

Sonntag, 2. Oktober 2016

Intergalaktischer Klassenkampf mit Schlangen, Lederfetischisten und Acid aus der Sprühdose

Ein Produkt des VEB Halluzinogene für Weltraum-Trips Zünrow (made in GDR)



IM STAUB DER STERNE
Deutsche Demokratische Republik 1976
Regie: Gottfried Kolditz
Darsteller: Jana Brejchová (Akala), Alfred Struwe (Suko), Ekkehard Schall (der Chef), Milan Beli (Ronk), Leon Niemczyk (Thob), Violeta Andrei (Rall), Sylvia Popovici (Illic), Regine Heintze (My)


Ein Raumschiff vom Planeten Cynro ist auf dem Weg zum Planeten Tem, der einen Hilferuf versendet hat. Bei der Landung kommt es aufgrund von Störungen (oder sind es Angriffe?) fast zum Absturz. Die Kosmonauten unter der Leitung von Akala werden auf Tem vom Sicherheitsbeauftragten Ronk empfangen, der seinen Gästen sehr resolut, fast schon grob, versichert, dass es keinen Hilferuf gegeben habe und dass sie wieder nach Cynro zurückfliegen sollten. Vor ihrem Abflug werden sie aber auf eine Abendparty eingeladen, auf der auch alle außer Navigator Suko erscheinen, der gemäß Protokoll im Raumschiff bleibt und es überwacht. Nach der Feier leiden die Cynroer bis auf Suko allesamt an Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Gedächtnislücken und Ausbrüchen erratischen Verhaltens. Suko will sich den Planeten jetzt genauer ansehen, geht auf Entdeckungstour mit einem Minihelikopter und findet heraus, dass in unterirdischen Bergwerken Hunderte Zwangsarbeiter Kohle schippen: es sind die Turi, die Einheimischen Tems, die von den Besatzern (also den Personen, die die Cynro-Expedition empfangen haben) versklavt wurden. Suko wird bei seiner Entdeckungstour von den Sicherheitskräften Tems erwischt, gefangen genommen, anschließend befragt und gefoltert. Akala wird derweilen zum exzentrischen Chef von Tem gebeten, der sie mit Nachdruck bittet, zusammen mit ihrer Mannschaft Tem zu verlassen und ihr anschließend den mittlerweile gehirngewaschenen Suko zurückgibt. Auf dem Raumschiff erinnert ein Zufall die bewusstseinsgestörten Kosmonauten daran, dass sie eigentlich wegen eines Hilferufs hergekommen sind und dass dieser offenbar von den gefangenen Ureinwohnern des Planeten, den Zwangsarbeitern unter Tage, gesendet worden ist. Die Besucher aus Cynro sind sich unsicher, ob sie schleunigst verschwinden oder ob sie bleiben und den Turi (also den Ureinwohnern Tems) helfen sollten. Die Besatzer Tems sind sich unschlüssig, ob sie die unerwünschten Gäste ausweisen oder gefangen halten sollten. Beim Hin-und-Her kommt es zum Showdown. Die Mannschaft aus Cynro fliegt mit dem Raumschiff schließlich weg. Zurück bleiben Suko und Akala. Ersterer stirbt beim Absturz des Erkundungshelikopters und wird von den Turi würdevoll zu Grabe getragen. Akala bleibt, nachdem sie einem gefangenen Turi-Mädchen Mut zugesprochen hat, ratlos und einsam in der Wüstenlandschaft Tems zurück...

Klingt nicht gerade sehr spannend? Wem das etwas alles etwas trocken erscheint, sehe sich die folgenden Screenshots aus dem Film an:








Ein Science-Fiction-Film aus der DDR, einem Land, das im Gegensatz zur Sowjetunion oder auch zu Polen keine besonders ausgeprägte Science-Fiction-Tradition hatte... Nun, das alleine macht IM STAUB DER STERNE noch sicherlich nicht zu einem besonderen Film. Was ihn besonders macht, ist sein auffallender Hang zum Bizarren, zum Exzentrischen, zum Psychedelischen, zum Surrealistischen, zum blanken Irrsinn, der zwar nicht den kompletten Film durchherrscht, aber immer wieder in mehr oder weniger ausgedehnten Szenen hervorblitzt. Es sind eben diese Momente, die IM STAUB DER STERNE letztlich wahrhaftig faszinierend machen – ihm aber bislang auch einen sehr schweren Stand beschert haben. Es gibt im Internet nur wenige Texte, die ihn ernst nehmen. Wahlweise wird der Film als mieser Billig-Trash oder als lustiger Party-Biertrink-Trash mit ulkigen DDR-Akzenten bezeichnet. IM STAUB DER STERNE jegliches Camp-Potential abzusprechen dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein, und dass Cynro von allen Beteiligten ausgesprochen wird, als handle es sich um ein Dorf in Sachsen („Zünrow“) lässt sich auch nicht leugnen. Dennoch: Jim Morton, Betreiber des „East German Cinema Blog“ mit Sitz in San Francisco, lobt IM STAUB DER STERNE als ultimatives Beispiel dafür, dass experimentelles Filmemachen in der DDR auch im Rahmen des Mainstream- und Genre-Kinos möglich war.

In den ersten paar Minuten sieht IM STAUB DER STERNE tatsächlich so aus, wie man sich einen Science-Fiction-Film aus der DDR im allgemeinen so vorstellt: trotz eines Fast-Absturzes sehr mäßig actionreich oder zumindest holperig in der Actioninszenierung, mit Kostümen, die ein bisschen wie leicht umgenähte Trainingsanzüge einer osteuropäisch-sozialistischen Armee aussehen, mit Dekoren, die das Beste aus Mangelwirtschaft machen und mit einem fremden Planeten, der wie eine stillgelegte Salzmine im Osten Rumäniens aussieht (wahrscheinlich deshalb, weil der Film tatsächlich teilweise auf einer solchen gedreht wurde). Dass hier aber dennoch nicht alles mit „rechten“ bzw. „ostdeutsch-bieder-sozialistischen“ Dingen zugeht, wird klar, als die Kosmonauten nach ihrer Landung von einer Temerin begrüßt werden, die in ihrem Kleid wie eine Indianerin aussieht. Wird aus dem Film jetzt doch ein Western?

Bei dem Empfang durch den Sicherheitschef wird dann als erstes ein Tablett mit, nun ja, Mundsprays herumgereicht. Jeder sprüht sich etwas in den Mund. Thob, der Witzbold unter den Cynroer Kosmonauten, läuft rot an, verdreht die Augen und hustet so stark, dass zu befürchten ist, er würde gleich an einem Erstickungsanfall sterben. Ronk, der Temer Sicherheitschef, beruhigt die Anwesenden: „Blau ist süß, rot ein wenig scharf.“ Thob hatte einen roten Mundspray. Trotzdem: haben die sich eben gerade alle Drogen reingepfiffen?

Eine... Indianerin (?) begrüßt die Gäste aus Cynro,
doch statt Friedenspfeife gibt es Drogen aus der Sprühdose.

So richtig verneinen lässt sich die Frage wenige Minuten später nicht mehr, denn dann fängt die Party an. Leicht bekleidete Damen tanzen ekstatisch zu einer elektronischen Prog-Rock-Jazz-Fusion-Musik. Die Besucher aus Cynro haben sich mit ihren allerschicksten Party-Overalls aus knallrotem Leder aufgebretzelt und mischen sich unter den Einheimischen. Die Szene wird von mehreren Extremnahaufnahmen geschminkter Augen unterbrochen (die wohl den Temer Tänzerinnen gehören). Das Büffet mit den lokalen Köstlichkeiten – zu „trinken“ gibt es außerdem große Spray-Dosen, von hübschen Temerinnen auf Tabletts herumgereicht – hat eine recht interessante Deko: lebende Riesenschlagen, die nonchalant zwischen den Speisen umherkriechen. Offensichtlich ist es nicht verboten, mit der Deko zu spielen, denn einige Einheimische und auch eine Cynro-Kosmonautin tanzen später im Duett mit einer der Schlangen. Die Gäste aus Cynro bekommen dann sogar (unfreiwillig) ein Spezialprogramm: eine kleine ferngesteuerte Gehirnwäsche, die sich als strahlender Punkt auf ihrer Stirn sichtbar macht...

...und dafür sorgt, dass sie auf der Party nicht nur sehr viel Spaß haben, sondern danach so ziemlich alles wieder vergessen haben (vor allem, dass sie wegen eines Hilferufs gekommen waren) und sich etwas merkwürdig benehmen. Alle kommen recht betrunken zurück zum Raumschiff, wo sie ein stocknüchterner Suko tadelnd erwartet. Einige schlafen ein, Akala bleibt erstmal mit Kopfschmerzen wach und eine Crew-Frau geht nach dem Duschen in den Aufenthaltsraum, legt das Badetuch ab und beginnt, zur Radiomusik (Radio Tem sendet offenbar in Dauerschleife Prog-Rock-Jazz-Fusion-Mäßiges) nackt und in Trance zu tanzen. Das ist vielleicht der bemerkenswerteste Moment im ganzen Film: ein drogeninduzierter Nackttanz, wunderschön als Silhouette vor einer gelb beleuchteten Wand mit geometrischem Relief gefilmt.

Die Temer feiern wilde Parties mit Speis, Trank, Tanz, Drogen, Fetisch-Kleidung,
extravaganter Deko und telepathischen Spielchen.

Ein Nackttanz nach Ende der Feierlichkeiten 

Danach wird es wieder ein Tick ruhiger. Zeit, um ein bisschen Plot abzuarbeiten: Suko entdeckt die Zwangsarbeiter, wird erwischt, gefoltert, Akala wird als Kommandantin der Cynroer zum Chef gebeten. Hier nur ein kleiner Einschub: dass eine Frau Kommandantin einer Raumschiff-Expedition ist, wird hier nicht im geringsten thematisiert oder gar problematisiert, und zwar weder von den Mitgliedern der Mannschaft selbst (in der jede/r jede/n duzt und die Hierarchien zugegeben sehr flach sind), noch von den Besatzern Tems. Vielleicht das „unsichtbarste“ oder zumindest „unscheinbarste“ typische DDR-Element des Films?
Zurück: Wer also denkt, dass IM STAUB DER STERNE nun schon alles verpulvert hat, hat den Chef von Tem noch nicht kennen gelernt (er bleibt namenlos: man sieht ihn zwar mit einer Brosche in B-Form, doch vielleicht könnte das auch für „Boss“ stehen). Die Eingangstür zu seinem Empfangsraum wird von starken Männern in Lederstiefeln, Lederröckchen und Hemden mit offenen Maschen bewacht – als kämen sie gerade aus Londons extravagantester S&M-Fetisch-Boutique (und nicht aus der Kostümabteilung eines ostdeutschen Filmstudios). Im Eingang des Chef-Raums wird Akala von einer merkwürdigen Form der Installationskunst empfangen: Köpfe in Schaufenstern, die sich bewegen und sie dann auch grimmig anschauen. Dann folgt ein Spiegelkabinett und Akala stößt sich mehrmals an Glas, bevor sie dann den Salon findet, wo sich wieder lebende Deko (sprich: eine Schlange) tummelt. Der Chef ist nun auch da und empfängt Akala mit frisch in Blau eingesprühten Haaren (wir sahen ihn kurz vorher beim, ähm... „Friseurtermin“). Er schnappt sich die Schlange und spielt mit ihr. „Haben Sie keine Angst: sie ist giftig, aber sie gehorcht auf‘s Wort.“ – versichert er Akala. Na, da kann die Chefin der Cynro-Expedition aber beruhigt sein! Dann zeigt er ihr etwas anderes: eine komische Spielzeugkonsole mit vielen bunten Knöpfen. Er bedient sie, und schon tauchen im ganzen Spiegelkabinett leicht bekleidete Tänzerinnen auf. Ist das ein Projektionssystem, oder handelt es sich einfach nur um Tänzerinnen, die auf Knopfdruck erscheinen? Man weiß es nicht wirklich (wenngleich IM STAUB DER STERNE in plotreichen Sequenzen durchaus Expositionsdialog auffährt, so lässt er besonders die etwas irrsinnigeren Elemente ohne jegliche Erklärung – gut so!). Beim Druck bestimmter Knöpfe können die Tänzerinnen und die Musik offenbar schneller „abgespielt“ werden. Akala scheint davon nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Der Chef hat offensichtlich aber Vergnügen daran. Ja er scheint gar davon regelrecht sexuell erregt zu werden, und wie er schwer atmend die Knöpfe bedient sieht er auch ein bisschen so aus, als würde er zur Begrüßung mal eben vor seinem Gast masturbieren. Dann klinkt er sich wieder ein und erklärt Akala „Manchmal spiele ich damit viele Stunden lang“ – was die eben genannte Vermutung nicht gerade entkräftet. Da wir uns immer noch in einem Spiegelkabinett befinden, sind übrigens alle Bilder während der kompletten Szene permanent durch mehrfache Spiegelungen „zerbrochen“, so dass der Chef „normalen“ Dialog teilweise so bestreitet, als würde er nicht mit Akala, sondern mit seinem eigenen Spiegelbild sprechen – für eine so neurotische und offenbar auch schwer narzisstische Persönlichkeit wie ihn irgendwie passend. Später, im gleichen Spiegelkabinett, hat der Chef dann einen kleinen Anfall, dröhnt sich mit einem großen „Schluck“ aus einer Spraydose zu und vollführt dann eine Art Schamanentanz vor seinen eigenen Spiegelbildern und in Gesellschaft seiner lieben Giftschlangen. Am Schluss schließlich, als die Kosmonauten aus Cynro (bis auf zwei) fliehen, zerstört er in einem Wutanfall das Spiegelkabinett und starrt erschrocken in sein zerbrochenes Spiegelbild.

Merkwürdige Installationskunst, ein verwirrendes Spiegelkabinett,
wunderliche Haustiere und außergewöhnliche Hobbies: Akala lernt den exzentrischen Chef kennen

Wie gesagt: als rein narrativer Science-Fiction-Film ist IM STAUB DER STERNE kein überragender Wurf. Die Handlung ist nicht gerade besonders spannungs- oder überraschungsreich. Auf eine Geschichte von Imperialisten (Besatzer Tems), die Völker aus Entwicklungsländern (die versklavten Einwohner Tems) wirtschaftlich und kolonial unterdrücken und dann von einer revolutionären Avantgarde (die Kosmonauten aus Cynro) vertrieben werden, kann der Film aber auch nicht reduziert werden: dafür ist nicht nur die Inszenierung viel zu unkonventionell, sondern schlussendlich auch die Auflösung viel zu offen und zu pessimistisch. Am Ende ist der Status Quo auf Tem geblieben: nach der Beerdigung werden die Turi wahrscheinlich wieder Kohle schippen, der Chef der Besatzer wird sich weiterhin seiner Spielzeugkonsole erfreuen – nur Akala bleibt verwirrt und hilflos zurück.

Eine Kritik des Films beschrieb das so:
„Der Unterschied zwischen zwei historisch-sozialen Epochen müßte [...] für den Zuschauer in der Fabelführung, vor allem aber in den Haltungen der Figuren erlebbar gemacht werden; in der Begegnung von Persönlichkeiten unterschiedlicher historischer und sozialer Ordnungen, im Aufzeigen des Widerspruchs läge der Sinn der Geschichte, läge ihre besondere Spannung. Diese Spannung herzustellen, gelingt Gottfried Kolditz jedoch [...] kaum. Das Gleichnis [...] geht nicht auf.“

Was wie die völlig entgeisterte Reaktion eines provinziellen DDR-Filmkritikers klingt, der nachts mit seinem SED-Parteibuch unter dem Kopfkissen schläft (auf den ersten Blick las sich das so für mich auf der deutschen Wikipedia-Seite des Films), sind übrigens die Worte des Wuppertaler Science-Fiction-Schriftsteller Ronald M. Hahn. Das Gleichnis geht also nicht auf – aber wer braucht schon Gleichnisse, wenn es fetzige Nackttanzeinlagen auf LSD und Bösewichte mit blauen Haaren und Dracula-Capes gibt? Als „straighter“ Science-Fiction-Film wäre IM STAUB DER STERNE lediglich nur solide inszeniert, wahrscheinlich nach der Hälfte der Laufzeit schon etwas dröge – und würde wohl von mehr Zuschauern geschätzt und vor allem ernst genommen werden. Das selbe Schicksal ereilte später ja auch den wohl besten und vor allem bizarrsten und irrsinnigsten Teil von STAR WARS (RETURN OF THE JEDI). Mit 800.000 Zuschauern lief IM STAUB DER STERNE bei den ostdeutschen Zuschauern jedenfalls ganz gut (auf die heutige Bundesrepublik hochgerechnet wären das 3,75 Millionen Kinobesucher). Trotz seines Hangs zum Irrsinnigen blieb er trotz allem – ein Mainstream-Film für das breite Publikum.

Mit Gottfried Kolditz hatte IM STAUB DER STERNE tatsächlich einen der produktivsten Routiniers des Genre-Films in der DDR auf dem Regiestuhl sitzen. Kolditz begann in den 1950er Jahren als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Theatern, wechselte dann zur DEFA. Dort machte er sich rasch einen Namen als fähiger und dennoch durchaus experimentierfreudiger Regisseur von Märchen-Filmen und Musicals. Kolditz blieb Ende der 1960er Jahre weiterhin dem Genrefilm verpflichtet, nun als Spezialist für Science-Fiction und Westerns bzw. sogenannte „Indianerfilme“. Kurz vor dem Dreh eines neuen Indianerfilms starb der gebürtige Sachse 1982 mit nur 59 Jahren bei Drehvorbereitungen in Dubrovnik, IMDb meint alternativ Ljubljana – DER SCOUT wurde auf Grundlage von Kolditz' Drehbuch von Dshamjangijn Buntar und Konrad Petzold noch gedreht.
Jim Morton bezeichnet Kolditz als einen der besten Regisseure der DDR, als ein Filmemacher, der trotz der extremen Genre-Disparität zwischen seinen Filmen immer ein sehr gutes Gespür für Inszenierung, Farbdramaturgie und Musikuntermalung hatte. Bis auf die Westerns (bzw. „Indianerfilme“) enthalten gemäß Morton nicht nur die Musicals, sondern praktisch alle Kolditz-Filme eine Musical-Nummer oder zumindest ein musikalisches Intermezzo – so natürlich auch IM STAUB DER STERNE, wo es reichlich Musik bei der Party und beim Nackttanz gibt. Kolditz war in seiner Karriere mehrmals bei internationalen Filmprojekten beteiligt. Der Märchenfilm DIE GOLDENE JURTE von 1961, eine deutsch-mongolische Produktion, inszenierte Kolditz etwa in Co-Regie mit dem Mongolen Rawsha Dorshpalam, basierend auf einer Erzählung des mongolischen Autors Sengiin Erdene. Der Science-Fiction-Film SIGNALE – EIN WELTRAUMABENTEUER war eine deutsch-polnische Ko-Produktion, gefilmt auf 70mm in Polen mit einer deutsch-polnisch-sowjetisch-rumänischen Crew, ein Film, der wohl so etwas wie die osteuropäisch-sozialistische Antwort auf Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY sein sollte. Gemäß Morton ziehe SIGNALE gegenüber 2001 ganz klar den kürzeren im Bereich der Effekte und sei im direkten Vergleich zu IM STAUB DER STERNE weniger interessant, besteche aber mit einigen interessanten Szenen, so etwa ein verspieltes musikalisches Intermezzo in der Schwerelosigkeit. Seine Westerns drehte Kolditz hingegen größtenteils in Rumänien. Hier filmte Kolditz, nach seinem eigenen Drehbuch, auch IM STAUB DER STERNE, und zwar bei den Schlammvulkanen von Berca (beim englischen Wikipedia-Artikel finden sich einige Bilder, die nach der Sichtung des Films durchaus bekannt vorkommen) sowie in einer stillgelegten Salzmine in der Nähe. Die Innenszenen wurden in Babelsberg gedreht.

Ein anderer großer Routinier des ostdeutschen Films, der an IM STAUB DER STERNE mitwirkte, war der Komponist Karl-Ernst Sasse. Der gebürtige Bremer war von Haus aus klassisch ausgebildeter Komponist und Dirigent und arbeitete in der DDR parallel im „klassischen“ Musikmilieu – so als Chefdirigent des Sinfonieorchesters Halle (heute Staatskapelle Halle) – und in der ostdeutschen Filmindustrie. Als Leiter des DEFA-Sinfonieorchesters in Potsdam-Babelsberg war er mit der Einspielung von Filmkompositionen beauftragt, komponierte aber rasch auch eigene Filmmusik. Seine 40-jährige Karriere als Filmkomponist umfasst fast 200 Filme für Kino und Fernsehen, darunter den 1965 verbotenen KARLA, unzählige Indianerfilme, Literaturverfilmungen wie DIE WAHLVERWANDTSCHAFTEN und LOTTE IN WEIMAR, mehrere POLIZEIRUF-Episoden bis hin zu – nach der deutschen Einheit – Rosa von Praunheims Hirschfeld-Biopic DER EINSTEIN DES SEX sowie mehrere Neukompositionen für Stummfilme (DER GOLEM, DER MÜDE TOD, DER LETZTE MANN, ASPHALT). Jim Morton betont auf seinem Blog, wie unglaublich vielfältig Sasse (nicht nur bei Kolditz-Filmen) war, dass er sich mühelos zwischen Jazz, Rock, Klassischem und Elektronisch-Avantgardistischem bewegte. Für IM STAUB DER STERNE hat er neben dem gediegenen Titellied für Gitarre und Frauenchor eine Musik komponiert, die sich wie bereits erwähnt im Grenzbereich zwischen Prog-Rock und Jazz-Fusion bewegt, mit einigen abstrakten, elektronischen Elementen – eine fetzige, mitreissende und stimmige Musik. Sasse und Kolditz verband bis zum Tod des letzteren eine lange Zusammenarbeit. Sasse dirigierte die Musik zu Kolditz‘ Musicals DIE SCHÖNE LURETTE, REVUE UM MITTERNACHT sowie GELIEBTE WEISSE MAUS. Später komponierte er die Musik zu Kolditz‘ Westerns BRENNENDE ZELTE IN DEN SCHWARZEN BERGEN und ULZANA (und für den von Kolditz geschriebenen DER SCOUT) sowie zu all seinen drei Science-Fiction-Filmen, neben dem hier besprochenen auch den bereits erwähnten SIGNALE – ABENTEUER IM WELTRAUM sowie DAS DING IM SCHLOSS.

Weder für den Produktionsdesigner Gerhard Helwig, noch für den Kameramann Peter Süring, noch für die Kostümdesignerin Katrin Johnsen, die drei Personen, die hinter der Kamera nebst Kolditz und Sasse wohl den größten Beitrag zum Gelingen von IM STAUB DER STERNE geleistet haben, finde ich in den jeweiligen Werkslisten viel Bekanntes. Süring und Johnsen arbeiteten mit Kolditz noch bei seinem letzten Science-Fiction-Film DAS DING IM SCHLOSS zusammen. Gerhard Helwig hat beim Set-Design von DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT mitgewirkt und ist der einzige der drei, dessen Karriere nicht sofort mit der Wende ein Ende fand.

Eine erstklassige internationale Besetzung:
Jana Brejchová, Leon Niemczyk,
Alfred Struwe, Milan Beli
Die fünf wichtigsten Figuren von IM STAUB DER STERNE werden von Darstellern aus vier verschiedenen Ländern gespielt. Jana Brejchová, die Hauptdarstellerin, war nicht nur die zeitweilig die Ehefrau des Neue-Welle-Regisseurs Miloš Forman und später des Schauspielers Vlastimil Brodský, sondern eines der berühmtesten Gesichter des tschechischen Kinos und Fernsehens. Sie war allerdings auch west- wie ostdeutschen Zuschauern bekannt, etwa in der Tucholsky-Verfilmung SCHLOSS GRIPSHOLM von 1963.
Der Pole Leon Niemczyk, ein Veteran des Warschauer Aufstands und zeitweilig Soldat der US-Armee im besetzten Deutschland, verbrachte in der stalinistischen Ära einige Zeit im Gefängnis für versuchte Republikflucht. Er begann als Schauspieler beim Arbeitertheater und wechselte dann zum Kino. Er spielte in vielen Filmen von Regisseuren, die im weitesten Sinne der „nouvelle vague polonaise“ zugerechnet werden können: CŁOWIEK NA TORZE und EROICA von Andrzej Munk, POCIĄG von Jerzy Kawalerowicz, international am berühmtesten dürfte aber seine Rolle als der Ehemann in Roman Polańskis NÓŻ W WODZIE sein. Auch ostdeutschen Zuschauern war er durch seine Beteiligung an Spielfilmen der DEFA ein bekanntes Gesicht – unter anderem als Nebenrolle in ostdeutschen Westerns, darunter Kolditz‘ APACHEN. Niemczyk starb im November 2006 – vier Tage nach der polnischen Premiere von David Lynchs INLAND EMPIRE, der teilweise in Polen gedreht worden war und in dem Niemczyk eine Nebenrolle spielte. Niemczyk, dessen Name übrigens so viel wie „Deutsch“/„Der Deutsche“ bedeutet, war auch im privaten Leben ein kosmopolitischer Mensch: er war sechs Mal verheiratet, doch keine einziges Mal mit einer polnischen Frau. 
Alfred Struwe, der den Navigator Suko spielt, war hingegen hauptsächlich in ostdeutschen TV-Filmen und TV-Serien zu sehen – die einzigen davon, die mir persönlich etwas sagen, ist der POLIZEIRUF 110. Kolditz und er kannten sich bereits von dem Indianerfilm ULZANA (1974 – ob der Film ein direkter Versuch ist, an Robert Aldrichs ULZANA‘S RAID von 1972 anzuknüpfen, kann ich nicht beurteilen). Milan Beli, der den Sicherheitschef Ronk spielt (er sieht aufgrund seines Kostüms nicht so furchterregend aus, wie er sollte – dafür knallt er zwischendurch mit einem Pistolenkugelschreiber zum Spaß Modellflugzeuge ab), war gebürtiger Serbe, arbeitete aber gar nicht in der jugoslawischen Filmindustrie. Abgesehen von einer Nebenrolle in Erwin Dietrichs Nazi-Sexploitation-Film EINE ARMEE GRETCHEN (der internationale Titel „She-Devils of the S.S.“ war markanter) spielte er nur in ostdeutschen Produktionen mit, unter anderem als Bösewicht in Indianerfilmen. Auch er war gewissermaßen ein Kolditz-„Regular“ und war in dessen ULZANA und DAS DING IM SCHLOSS zu sehen.
Üblicherweise weder im Fernsehen, noch im Kino, sondern im Theater war der größte Besetzungsstreich von IM STAUB DER STERNE zu sehen, nämlich Ekkehard Schall, der den exzentrischen, narzisstischen Chef der Tem-Besatzer mit seinen Neigungen zu merkwürdigen Haarfarben und Kostümen spielt. Schall war ein Urgestein des Berliner Ensembles, wo ihn Bertolt Brecht 1952 geholt hatte. Dort blieb er bis 1995 als Darsteller und Regisseur, lange Jahre auch als stellvertretender Intendant. Der vielfach in Ostdeutschland und auch international preisgekrönte Theaterschauspieler galt als einer der größten Brecht-Darsteller in der DDR (nicht nur auf den Bühnen, sondern auch bei Brecht-Verfilmungen für das Kino und das Fernsehen). Die Rolle des namenlosen Chefs der Tem-Besatzer war sicherlich eine schöne und interessante Abwechslung für Schall, und noch mehr als bei den anderen scheint man ihm anzumerken, dass er wohl beim Dreh Spaß gehabt haben muss. 

Vom Berliner Ensemble zum psychedelischen Planeten Tem:
der wunderbare Ekkehard Schall als exzentrischer Chef

IM STAUB DER STERNE gibt es in zwei, wahrscheinlich identischen Editionen auf DVD zu sehen, einmal als Einzelfilm, einmal als Teil der „Science-Fiction-Special-Edition“ zusammen mit EOLOMEA und DER SCHWEIGENDE STERN. Beide Editionen kommen vom Icestorm-Label, das exklusiv die Filme der DEFA-Stiftung auf DVD vertreibt.
In beiden Editionen gilt der Film gemäß OFDb als gekürzt, was folgenden Hintergrund haben könnte: offenbar wurde aus dem Vorspann und dem Nachspann das Logo gekürzt, das darauf hinweist, dass der Film von der Künstlerischen Arbeitsgruppe defa futurum produziert wurde. Allerdings fehlen mehr als nur ein paar Sekunden, die dieses Logo ausmachen würde. Es fehlt auch jegliche Spur von einem Nachspann: wie bei fast allen Filmen, die das Label Icestorm veröffentlicht, wird das Ende recht abrupt abgeschnitten und das unfassbar hässliche Banner „Bundesarchiv – Filmarchiv – DEFA-Stiftung“ zusammen mit einem Copyright-Vermerk eingeblendet. Und wie bei allen Editonen des Labels Icestorm wird auch IM STAUB DER STERNE nicht-anamorph präsentiert, wenngleich hoffentlich – aber vollkommen sicher bin ich mir da nicht – im richtigen Bildformat, zumindest aber mit halbwegs okayer Bildqualität.
Nun... über den Anlass der Deutschen Einheit in diesen Tagen wollte ich eigentlich keine großen Worte verlieren, aber vielleicht wäre es jetzt, immerhin 26 Jahre „danach“, mal an der Zeit, dass das Filmerbe der DDR nicht mehr einem vorgestrigen Ramsch-Label überlassen wird, das noch nie etwas von anamorpher Codierung gehört hat, oder von ästhetisch ansprechender Cover-Gestaltung, oder davon, dass man Abspänne vielleicht nicht durch hässliche Copyright-Vermerke ersetzen sollte oder, bei sowjetischen Filmen, davon, dass manche Leute heutzutage gerne auch die Originalsprachfassung sehen möchten, und wenn es geht vielleicht sogar auch noch im richtigen Bildformat. So ungnädig, unwürdig und schäbig wird wohl kaum irgendeine Gruppe von Filmen in Deutschland behandelt. Bis sich das allerdings geändert hat, bleibt die Icestorm-Edition von IM STAUB DER STERNE (und vieler anderer Filme) alternativlos – leider.