Midnight - Enthüllung um Mitternacht
(Midnight, USA 1939)
Regie: Mitchell Leisen
Darsteller: Claudette Colbert, Don Ameche, John Barrymore, Francis Lederer, Mary Astor, Hedda Hopper u.a.
1939 gilt als das “Goldene Jahr” der amerikanischen Filmindustrie, das Jahr, in dem die Traumfabrik am Vorabend einer durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Zeitenwende in verschiedenen Genres Höchstleistungen hervorbrachte, von denen wir noch heute sprechen und die in ihrer Art nie wieder auch nur annähernd überboten wurden. Darf man es deshalb einem Film als Schande anrechnen, weil er - obwohl damals finanziell erfolgreich - zwischen “Gone With the Wind”, “Wuthering Heights”, “Destry Rides Again”, “Ninotchka”, “The Wizard of Oz”, “Stagecoach” und anderen Meisterwerken etwas unterging, mittlerweile sogar weitgehend in Vergessenheit geraten ist? Dies insbesondere, wenn er in jedem anderen Jahr als glanzvoller Höhepunkt der Screwball-Comedy gefeiert worden wäre?
Letzteres behaupten zumindest Fans von “Midnight”, dessen Regisseur Mitchell Leisen in diesem Zusammenhang auch als der am meisten unterschätzte Regisseur seiner Zeit bezeichnet wird. - Billy Wilder, der zusammen mit Charles Bracket das Drehbuch zum Film geschrieben hatte, sah die Sache allerdings ein wenig anders: Er war überzeugt, eine perfekte Vorlage geliefert zu haben, die Leisen, der offenbar einer schön arrangierten Vase mit weissen Lilien grössere Aufmerksamkeit schenkte als dem Dialog, regelrecht zerstörte. Mitchell Leisen, der Aesthet, der, den Launen seiner Hauptdarstellerinnen gehorchend, ganze Seiten aus einem Script herauszureissen pflegte, blieb für ihn denn auch zeit seines Lebens nichts anderes als “a window dresser”. Ähnlich äusserte sich Steven Bach, ein intimer Kenner der Filmwelt: “Leisen ... could always make a picture look better than it was, but never play better, for he had no sense of material.” Ein hartes Urteil, das da über einen Mann gefällt wurde, der seine Karriere als Dekorateur und Kostümdesigner unter dem Despoten Cecil B. DeMille begonnen hatte und Mitte der 30er Jahre langsam zum gefragten Frauenregisseur (ein Etikett, das er mit anderen schwulen* Regisseuren wie George Cukor und Vincent Sherman teilte) aufstieg, Filme wie “Frenchman’s Creek” (1944) oder “To Each His Own” (1946) drehte - und vielleicht berechtigterweise nur als Mann der alten Schule, der seinen Schauspielerinnen jeden Wunsch von den Augen ablas, sie aber nicht zu führen verstand, in Erinnerung bleibt.
“Midnight”, der ursprüngliche Titel lautete - die Essenz von “Screwball” betonend - “Careless Rapture”, erzählt tatsächlich eine Geschichte, von der man annehmen darf, sie sei in den Händen von Wilder und Bracket gut aufgehoben gewesen: Eve Peabody, ein abgebranntes amerikanisches Showgirl, landet mitten in einer regnerischen Nacht mit dem Zug aus Monte Carlo in Paris, wo sie eine “Karriere” beginnen, sprich: einen reichen Mann finden will. Der freundliche Taxifahrer Tibor Czerny erklärt sich bereit, das Mädchen, das nichts ausser seinem Abendkleid bei sich hat, von einem Nachtclub zum anderen zu fahren, um ihm ein Vorsingen zu ermöglichen. Als er ihr sogar anbietet, sie bei sich übernachten zu lassen, ergreift die nach mehr dürstende Eve die Flucht und landet mithilfe eines Pfandscheins in einer Veranstaltung der gehobenen Gesellschaft, wo sie sich als Baronin Czerny ausgibt. Der exzentrische Millionär Flammarion entdeckt rasch, dass sie eine Hochstaplerin ist, bringt sie jedoch im Ritz unter und bietet ihr eine beachtliche Belohnung, wenn es ihr gelingt, seiner Frau den Liebhaber, einen stadtbekannten Playboy, auszuspannen. Eve lässt sich auf den Deal ein, und das Cinderella-Abenteuer, auf das der endgültige Titel anspielt (“Don’t forget, every Cinderella has her midnight.”), nimmt seinen Lauf. - Als die Millionärsgattin Helene bemerkt, dass ihr Liebhaber tatsächlich der angeblichen Baronin verfällt, überkommt sie die Eifersucht und es gelingt ihr beinahe, Eve als Betrügerin zu entlarven. Doch dann erscheint Eves Gatte, Baron Czerni, unter der Tür. Es handelt sich natürlich um den Taxifahrer, der sich in das undankbare Wesen verliebt und sie zusammen mit seinen Freunden unaufhörlich gesucht hat...
Die Produktion war von Anfang an vom Pech verfolgt (ich übernehme die folgenden Informationen von Wikipedia und anderen Seiten, die sich mit dem Film beschäftigen): Ursprünglich sollte “Midnight” als Vehikel für Marlene Dietrich dienen, als Regisseur war Fritz Lang vorgesehen, für die männliche Hauptrolle Ray Milland. Später kam Barbara Stanwyck ins Gespräch; sie musste aber wegen anderer Verpflichtungen absagen. - Als nach schier endlosem Hin und Her Mitchell Leisen, der sich mit “Easy Living” (1937) als Komödien-Regisseur empfohlen hatte, verpflichtet wurde, sah er sich mit einem regelrechten Problemhaufen konfrontiert: Ein als Taxifahrer Czerny erstaunlich blass agierender Don Ameche stand nur gelegentlich zur Verfügung, weil er neben “Midnight” noch “The Story of Alexander Graham Bell” drehen musste; Mary Astor, die die Helene spielte, war unübersehbar schwanger, was man auf alle möglichen Arten verbergen musste (sie trägt stets weite Kleider und versteckt den Unterleib hinter Requisiten; dies ändert freilich nichts daran, dass sie eher schwanger als eifersüchtig oder gewohnt “bitchy” wirkt); und letztlich hatte das Alkoholproblem des berühmten “Saufkopps” John Barrymore mittlerweile dazu geführt, dass er seinen Text als Georges Flammarion nicht mehr beherrschte und so genannte Cue Cards benötigte. Francis Lederer, einst eine nicht unbedeutende Hoffnung des deutschen Stummfilms, wiederum erweckt den Eindruck, er sei nur als dümmlich vor sich hingrinsender Schönling (ein Vorgänger von Louis Jourdan), nicht als sich glaubhaft verliebender Playboy zu gebrauchen gewesen. - Mit Claudette Colbert, der Neurotikerin, die nur ihre linke Gesichtshälfte in Profilaufnahmen zeigen wollte, soll Leisen hingegen vorzüglich ausgekommen sein: Manche behaupten, er habe ihr zu einer der besten Leistungen in ihrer Karriere verholfen; meines Erachtens gab er ihren eigenartigen Wünschen so sehr nach, dass der Zuschauer gelegentlich den Eindruck erhält, er bekomme über weite Strecken vor allem eine Wange in Grossaufnahme zu sehen - und dem schrecklichen Akzent nach zu schliessen handle es sich um die Wange einer Kuh aus einem billigen Western. Welch ein Abfall nach “It Happened One Night” (1934) oder “Bluebeard’s Eighth Wife” (1938)!
Was aber macht Leisen aus der reizvollen Geschichte? - Nach einem charmanten Anfang im nächtlichen Paris hangelt sich “Midnight” von einem seltenen Höhepunkt zum nächsten. Wirkliche Lacher verdanken wir Tratschtante und Teilzeit-Schauspielerin Hedda Hopper, die als unterbrochene Gastgeberin des Galaabends, in den sich Eve einschleicht, mehrmals das vom Pianisten erwartete elfte Prelude von Chopin ankündigt, bis dieser - völlig in Rage geraten - ein “It is the twelth, and it is an etude!” brüllt. Ein weiterer kleiner Glanzpunkt: Tibor versammelt sich mit sämtlichen Taxis seiner Freunde vor dem Ritz, und als man dort die Adresse von Eve nicht preisgeben will, beginnen diese gnadenlos zu hupen. - Vor allem aber reisst noch immer der grosse John Barrymore einen seiner letzten Filme an sich: Schon die Blicke, mit denen er jede Bewegung einer sich verunsichert gebenden Eve kommentiert, zeugen von dem Witz, der "Midnight" zustünde, sein hinterhältig-freundliches Auftreten in jeder Szene ist ein Genuss - und zum wahrhaften Brüller wird sein “Fake”-Telefonanruf, der ihm Gelegenheit bietet, sowohl die angebliche Mutter von Baron Czerny als auch dessen an Masern erkranktes Töchterchen zu mimen. --- Dies sind sie, die wenigen Szenen, die eine Sichtung überhaupt lohnen, wenn man sich nicht gerade mit wunderschönen Dekors und Abendkleidern (die Leisen natürlich selber entwarf) zufrieden geben mag. Denn der aufmüpfige Humor, den man von einer Screwball-Comedy erwartet, verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes hinter den - erschlagenden! - Kulissen: Pointen, aus denen sich etwas machen liesse, sind eine Rarität (etwa Colberts offensichtlich sexuelle Anspielung, sie sei “certainly not looking for needlework at this time at night”, oder ihre Bemerkung, als Flammarion ihr sein Anwesen zeigt: “Nice little bungalow you’ve got here. I wish I’d brought my rollerskates.”). - Vor allem artet der Schluss zum billigen Schwank aus. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Drehbuchautoren von “Ninotchka” und “
Ball of Fire” (1941) tatsächlich einen solchen Mist geliefert haben sollten.
Verteidiger von “Midnight” haben - was ihr gutes Recht ist - eine Begründung für ihre Begeisterung: Allein schon die Änderung des Titels zeige, dass der Film das Ende jener durch die Depressionszeit hervorgerufenen eskapistischen Phase ankündige, welche die Screwball-Comedy erst möglich und nötig gemacht habe. “Midnight” nehme sogar den Skeptizismus vorweg, der die Nachkriegszeit prägen sollte. - Nun bin ich - vermutlich wiederhole ich mich - wirklich für jede nicht allzu abwegige Interpretation zu haben. Aber ein Regisseur, der vor lauter Interesse an Nebensächlichkeiten die Bedeutung des Dialogs für eine Screwball-Comedy gar nicht erkannte, als Wegbereiter einer neuen Ära, einer Ära, die aus der Komödie erst noch für längere Zeit ein oft gezähmtes, biederes Lustspielchen machte? Begegnen wir da nicht einigen - Lobhudeleien gar nicht rechtfertigenden - Ungereimtheiten? Und hätte Billy Wilder, zwar berühmt für seine giftigen Bemerkungen, aber doch offensichtlich das nie vergessend, was aus einem nahezu perfekten Drehbuch gemacht worden war, dann Worte für Mitchell Leisen gefunden wie: “He didn’t know a sh-t about construction”?
*Was Vincnet Sherman anbelangt: möglicherweise ein Irrtum meinerseits (siehe Kommentar von Manfred Polak!)