Dienstag, 20. Dezember 2011

Kommt, ihr Christen all, und hört!

Die rote Herberge (Alternativtitel: Die unheimliche Herberge)
(L'auberge rouge, Frankreich 1951)

Regie: Claude Autant-Lara
Darsteller: Fernandel, Françoise Rosay, Julien Carette, Lud Germain, Marie-Claire Olivia, Didier d'Yd, Grégoire Aslan u.a.

Im Jahre 1989 hielt ein in Vergessenheit geratener Regisseur, der sich aus Verbitterung für Le Pens rechtsextremistischen “Front National” ins Europäische Parlament hatte wählen lassen, seine Eröffnungsrede als Alterspräsident. Diese war derart von rassistischen Äusserungen durchzogen, bezeichnete sogar die Existenz der Gaskammern als Lüge, dass er seine letzten Bewunderer verlor, während Politiker jeder Couleur den Saal verliessen. Nach dem Tod des alten Mannes hiess es denn auch, er gehöre zwar zur Filmgeschichte wie Leni Riefenstahl oder Veit Harlan; es gebe aber keinen Grund, ihm Träne nachzuweinen. -   Tatsächlich war die  Rede wohl der letzte Versuch des - ich spiele auf den Titel seiner Autobiographie an -  den Schmerz in seinem Herzen spürenden Claude Autant-Lara (1901-2000)  das zu tun, was er ein Leben lang getan hatte: anzuecken. Ursprünglich kämpferischer Pazifist, war er mit seinem Filmschaffen früher vor allem von der rechten Presse attackiert worden. Sein Film “Le diable au corps” (1947) mit dem unvergessenen Gérard Philipe in der Hauptrolle sollte, dies wurde gefordert, von der Leinwand verschwinden,  “Tu ne tueras point” (1961), die Geschichte eines Kriegsdienstverweigerers, rief sogar die Zensurbehörde auf den Plan. Doch der Mann, der sich  “bürgerlicher Anarchist” nannte, blieb bei seiner Devise, wonach ein Film, der nicht boshaft sei, langweile - und er hetzte munter weiter gegen seine liebsten Feinde: die Armee, die Bourgeoisie und den Klerus. Selbst gegen  Godard und Truffaut begehrte er auf; doch die Nouvelle Vague tat ihn, sich auf etwas schwülstige Literaturverfilmungen wie "Le rouge et le noir", 1954, oder "Le comte de Monte Christo", 1961, berufend, schlicht als typischen Vertreter des alten französischen Kinos ab, als Mann, der Glanz ohne Substanz produzierte. Das musste den agent provocateur, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, verletzen.


Es gibt nichts, was das traurige Ende des Franzosen rechtfertigen könnte. Seine unbequemen Filme, die eine ganz andere Sprache sprechen,  sollten aber nicht zusammen mit ihm abgetan werden, erinnern sie doch auf meisterhafte Weise an das, was einst die braven Gaullisten das Fürchten lehrte. - Insbesondere “L’auberge rouge”, eine der schwärzesten Komödien, die wir dem französischen Kino verdanken, gibt die lächerliche Hilflosigkeit des real existierenden Katholizismus in einer kritischen Situation auf derart boshafte Weise dem Gelächter des Publikums preis, dass er auch nach vielen Jahren nichts von seiner Wirkung verloren hat: In einer Winternacht des frühen 19. Jahrhunderts sucht eine Kutsche mit vornehmen Gästen Unterschlupf in einer abgelegenen Herberge in der Ardèche  im südlichen Frankreich. Kurz darauf finden sich auch ein Mönch und sein Novize ein, die auf dem Weg zu ihrem Kloster sind und dem Schneetreiben entkommen wollten. Das geschwätzige Mönchlein mit seinem himmelschreienden Dialekt freut sich jedoch vergeblich auf die aufgetischte Suppe, da die Herrin des Hauses plötzlich das Bedürfnis überkommt, die Beichte abzulegen. Und was sie zu erzählen hat, verschlägt ihm den Appetit endgültig: Das Wirtepaar hat zusammen mit seiner hinterhältigen Tochter Mathilde im Laufe der Jahre bereits 102 Gäste umgebracht und ausgeraubt, bevor es sie in der Umgebung des Hauses begrub. Ein gerade kaltblütig ermordeter Spielmann wurde mit Hilfe des schwarzen Dieners (“Un nègre? Mais ce sont des sauvages! Vous n'avez pas peur?”, lässt der hämische Regisseur eine dicke Frau in der Kutsche die  mitreisende Mathilde ankreischend fragen, ohne zu ahnen, dass er eines Tages selber ein Rassist werden sollte) zum Schneemann umfunktioniert. Man möchte den unerwarteten Gästen - sie sollen, man wolle sich langsam zur Ruhe setzen, die letzten Herbergsleichen werden - schliesslich keinen Grund zur Besorgnis geben. - Von nun an sieht sich der an das Beichtgeheimnis gebundene Mönch in der misslichen Lage, das Leben der ahnungslos Essenden und sich Spässchen Hingebenden retten zu müssen, ohne etwas zu verraten. Doch je weniger er die nebensächlichen Gebote seiner katholischen Kirche verletzen will, beim Essentiellen aber auch mal fünfe gerade sein lässt (er erklärt sich sogar einverstanden, seinen verliebten Novizen mit der Wirtstochter zu verheiraten), desto mehr reitet er sich in  - man verzeihe mir oder geniesse den Ausdruck! - Gottes heilige Scheisse hinein...

“L’auberge rouge” beginnt zwar mit dem zu an den expressionistischen Film erinnernden Aufnahmen von kahlen Bäumen, Felsen und Schluchten erklingenden unheilvollen Gesang von Yves Montand (“Chrétiens, venez tous écouter!”) wie eine Schauermär, entpuppt sich jedoch bald als respektlose Farce, in deren Mittelpunkt der heuchlerische Katholizismus und der nicht minder heuchlerische Umgang der Bourgeoisie mit ihm stehen. Dies zeigt sich schon an dem sich anbiedernden Getue, mit dem der Mönch dem wohlhabenden Klüngel, der diverse Untugenden (Völlerei, Spielsucht, aussereheliche Liebe) verkörpert, das Geld für die Unterkunft abbettelt. Für die makabre Beichte muss, damit Schein und gebührender Abstand gewahrt bleiben, ein Grillgitter herhalten. Es hält das Gesicht des Mönchs  nicht davon ab, sich immer panischere Grimassen zu gönnen, ermöglicht es dem Geistlichen  aber doch, der mordenden Wirtin am Ende - wie es sich gehört - die Absolution zu erteilen. Es ist ja alles nicht so schlimm... - Die vor einer schnarchenden Hochzeitsgesellschaft (man hatte die Gäste bereits betäubt) gehaltene Predigt zur Vermählung des Novizen und der Mördertochter - der Mönch darf sogar die passenden Ringe aus der Beute der früheren Opfer aussuchen -  artet mit ihrem stotternden Scheinlatein und ihren Anspielungen derart ins Lächerliche aus, dass sie Autant-Lara seinerzeit das bescherte, wonach er eigentlich gierte: den entschiedenen Einspruch der Kirche und eine Kampagne gegen den Film. - Am Morgen findet dann noch eine Schneeballschlacht um die “Entblössung” der Leiche im Schneemann statt. Doch während der Zuschauer sich langsam auf ein Happy End einstellt, kommt es noch schlimmer. Das letzte Bild, das ein wegen seines Versagens mit allen Gliedmassen  fuchtelndes Mönchlein durch den hohen Schnee rennen und das Kreuz hinter sich lassend zeigt,  ist mehr als das Ende einer makabren Komödie. Es enthält vielmehr eine gnadenlose Aufdeckung des Wesens der Heuchelei und dessen, wozu sie führt, und es sucht seinesgleichen in der Geschichte des französischen Films.

Fernandel, damals langsam zum Star herangewachsen, hasste “L’auberge rouge” und wechselte angeblich nie wieder ein Wort mit dem Regisseur. Über die Gründe für sein Verhalten gibt es nur Mutmassungen: Es ist denkbar, dass er das Gefühl hatte, trotz seiner Glanzrolle, die es ihm als lächerlichem “Patois”-Geistlichen ermöglichte, den ganzen Film mit herrlich verharmlosendem Geschwätz und sinnlosen Gesten zu füllen, sich neben dem von zwei Veteranen des französischen Kinos gespielten Mörderpaar nicht immer ausreichend hervorheben zu können. Vielleicht reagierte auch der als Tyrann verrufene Regisseur (ich bin mir nicht sicher, ob Jean Gabin der einzige Schauspieler war, der von ihm eine Ohrfeige in Empfang nehmen durfte) unwirsch auf die Versuche des Hauptdarstellers, sich in jeder Szene in den Vordergrund zu drängen. - Auf jeden Fall, und dies scheint mir den Sachverhalt am ehesten zu erklären, war Fernandel ein konservativer  und gottesfürchtiger Mann, der keineswegs Gefallen daran fand, einen ständig herumfuchtelnden heuchlerischen Mönch, der sich zum Esel machte, zu spielen - obwohl er darauf bei Autant-Lara hätte gefasst sein müssen. Die Rolle im ersten “Don Camillo”-Film (ebenfalls 1951), in dem er zu Gott Junior höchstpersönlich Kontakt haben sollte, wird ihm eher zugesagt haben. Sie reicht meines Erachtens aber nicht an seine perfekt übersteigerte Figur des Mönchleins in Gewissensnot - vielleicht seine beste Leistung - heran.


“L’auberge rouge” beruht trotz eines sich hartnäckig haltenden Gerüchts nicht auf einer Erzählung von Honoré de Balzac, in der es ebenfalls um einen (!) Mord geht. Und obwohl Herbergen in Literatur, Film und Musik ein beliebter Ort sind, um Leute zusammenzubringen, die einander Geschichten erzählen (Chaucer’s “The Canterbury Tales”, Hauffs “Das Wirtshaus im Spessart") oder eben "seltsamere" Geschäfte  erledigen (“Psycho“, 1960, und der Eagles-Song “Hotel California“), haben wir es auch nicht mit einer fiktiven Angelegenheit zu tun: Der Film beruht vielmehr auf einer wahren Begebenheit, die 1833 mit der Exekution eines Ehepaars endete, das in einer abgelegenen Herberge in der Ardèche über fünfzig Gäste umgebracht hatte. - Die Geschichte wäre eine ideale Vorlage für einen Horror-Film gewesen; der provozierende Regisseur erkannte jedoch rasch ihr Potential für eine rabenschwarze Komödie, die es ihm ermöglichen würde, seine boshaften Pfeile auf meisterhafte Weise und treffsicher abzuschiessen. Oder, um ihn noch einmal zu bemühen: “Wenn ein Film kein Gift enthält, taugt er nichts.” Diese Überzeugung sollte ihm im Falle von “L’auberge rouge” zum Erfolg verhelfen. Dass sie sich nicht oder nur bedingt auf Reden im wahren Leben übertragen lässt,  sah der alte Narr wohl nicht mehr ein. Dies ist aber kein Grund, sein grandioses filmisches Schaffen aus unserem Gedächtnis zu verbannen.


2007 wagte sich Gérard Krawczyk an ein Remake des Meisterwerks. Ich habe es nicht gesehen. Kenner empfehlen jedoch, den gnädigen Mantel des Vergessens lieber darüber als über die 1951er Version zu legen.

***
Der dieser Besprechung beigefügte Titel dürfte Kennern eine Ahnung vermittelt haben: Dies war mein Weihnachtsfilm 2011. Dank Fernandel und götllicher Eingebung ist es mir nach dem letztjährigen Soldatenengel aus Courgenay bereits zum zweiten Mal gelungen, die üblichen weihnachtlichen Tränenerzeuger zu umschiffen. - Ob Manfred Polak in den nächsten Tagen noch etwas bringt, weiss ich nicht. Für mich war dies die letzte Belästigung des Jahres via Blog, da ich mich jetzt mit Taschentüchern bewaffnet all diesen Hollywood-Schnulzen widme, über die ich nie schreiben würde. Ich wünsche unseren Lesern schniefend



Mittwoch, 14. Dezember 2011

Independent-Kleinod: NOTHING BUT A MAN

NOTHING BUT A MAN
USA 1964
Regie: Michael Roemer
Darsteller: Ivan Dixon (Duff), Abbey Lincoln (Josie), Julius Harris (Duffs Vater), Gloria Foster (Lee), Stanley Greene (Reverend Dawson), Leonard Parker, Yaphet Kotto (Duffs Kollegen)

Kann etwas Gescheites dabei herauskommen, wenn ein intellektueller jüdischer Regisseur aus Neuengland, geboren in Deutschland, einen Film über das Lebensgefühl der Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten der 60er Jahre dreht? Es kann - Michael Roemer hat es bewiesen.


Duff Anderson ist Streckenarbeiter bei der Bahn in Alabama - obwohl traditionell von Demokraten regiert, seinerzeit einer der reaktionärsten US-Bundesstaaten. Duff und seine Kollegen, allesamt Schwarze, verrichten die anstrengende, aber ordentlich bezahlte Arbeit immer dort, wo gerade Schienen verlegt werden, und hausen dabei gemeinsam in Baracken. Ihre Freizeit verbringen sie in Spelunken mit Billard, Alkohol und leichten Mädchen. Aber Duff hat das unstete Leben langsam satt. In einer Kleinstadt lernt er die Lehrerin Josie Dawson kennen, Tochter eines Baptistenpfarrers, und die beiden verlieben sich. Josie und ihre Eltern gehören zur schwarzen Mittelschicht des Städtchens und pflegen einen gutbürgerlichen, um nicht zu sagen spießbürgerlichen Lebensstil. Etwas polemisch könnte man sagen, sie möchten weißer sein als die Weißen. Doch der übertriebene Anpassungswille, den Duff scharf kritisiert, ist nicht ohne Grund: Der letzte Lynchmord in der Gegend liegt erst acht Jahre zurück. Duff als einfacher Arbeiter mit unsolidem Lebenswandel bekommt zu spüren, dass er nicht in dieses Milieu passt. Bei seinem ersten Besuch im Haus von Josies Eltern wird er höflich behandelt, aber die latente Ablehnung durch Josies Vater ist sofort spürbar.


Bei einem Besuch in Birmingham, der größten Stadt des Bundesstaats, besucht Duff seinen vierjährigen unehelichen Sohn. Dessen Mutter hat sich mit einem anderen Mann aus dem Staub gemacht, und das Kindermädchen, das sich um den Jungen kümmert, hat kein Geld mehr von ihr erhalten. Eigentlich sollte Duff das Kind jetzt zu sich nehmen, aber er drückt sich davor. Duff trifft in Birmingham auch seinen Vater, einen kranken und alkoholsüchtigen Taugenichts, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. Die beiden erkennen sich gegenseitig kaum wieder und haben sich wenig zu sagen. Duffs zaghafter Versuch einer Wiederannäherung wird vom Vater schroff abgewiesen. Er gibt seinem Sohn nur noch den Ratschlag mit auf den Weg, sich von der Ehe fernzuhalten. Vielleicht gerade deshalb heiraten Duff und Josie bald darauf, den Widerständen zum Trotz. Sie beziehen ein eigenes Häuschen, das aber zunächst nur eine baufällige Bruchbude ist und erst in Schuss gebracht werden muss.


Um Josie näher sein zu können, tauscht Duff den Job bei der Bahn gegen einen in einem Sägewerk, doch das erweist sich als Fehler. Er verdient nicht nur viel weniger, er verliert auch die Arbeit bald wieder, als er seine neuen Kollegen überreden will, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die nun folgende Arbeitssuche gestaltet sich zermürbend. Stellen als livrierter Lakai oder als Baumwollpflücker für einen Hungerlohn nimmt Duff gar nicht erst an, einen Job an einer Tankstelle verliert er gleich wieder, als er von ein paar Rednecks provoziert wird. Eigentlich verdient Josie als Lehrerin genug für beide, aber das verträgt Duffs Ego nicht. Außerdem wird Josie schwanger, so dass sie in ein paar Monaten nicht mehr arbeiten können wird. Duff wird zunehmend unleidlich, sogar gewalttätig, und die Ehe gerät in eine Krise. Schließlich packt Duff die Koffer und geht allein nach Birmingham. Doch als sein Vater im Suff stirbt, packt ihn die Erkenntnis, dass er eines Tages auch so enden könnte, wenn er nicht gegensteuert. Er holt seinen Sohn ab und geht mit ihm zurück zu Josie. Ausgang offen - doch der gute Wille zu einem Neuanfang ist auf beiden Seiten vorhanden.


NOTHING BUT A MAN ist ein unspektakulärer Independent-Film mit semidokumentarischem Touch. Roemer und sein Kameramann, Co-Autor und Co-Produzent Robert M. Young hatten auch ein Standbein im Dokumentarfilm. Die beiden waren Studienkollegen und hatten schon 1949 an der Harvard-Universität gemeinsam einen Studentenfilm gedreht. Für NOTHING BUT A MAN recherchierten sie intensiv in den Südstaaten: Fast im Stil von Ethnologen ließen sie sich drei Monate lang von einer Gemeinde oder Gastfamilie zur nächsten weiterreichen und sammelten Eindrücke, bis sich ihre Vorstellungen so weit verdichtet hatten, dass sie ein Drehbuch daraus machen konnten. Den Kontakt zu ihren Hauptdarstellern vermittelte der schwarze Schriftsteller Charles Gordone. Ivan Dixon war bereits professioneller Schauspieler; später fand er sein Auskommen vor allem durch eine Serienrolle in "Hogan's Heroes". Seine letzte nennenswerte Filmrolle war in CAR WASH (1976), schon vorher hatte er sich auf eine Laufbahn als Fernsehregisseur verlegt. Die Jazzsängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln dagegen spielte ihre erste Rolle, abgesehen von einem Auftritt als sie selbst in Frank Tashlins THE GIRL CAN'T HELP IT. Nicht nur für eine Debütantin macht sie ihre Sache außerordentlich gut. Auch Julius Harris, der Darsteller von Duffs Vater, hatte hier seinen ersten Auftritt - zuvor war er Krankenpfleger. Später war er hauptsächlich in Blaxploitation-Filmen zu sehen. Generell zeigt NOTHING BUT A MAN sehr gute, immer authentisch wirkende Darstellerleistungen.


Der Soundtrack des Films stammt von Motown-Künstlern wie Martha and the Vandellas, Mary Wells und Stevie Wonder (damals, mit 14 Jahren, noch "Little Stevie Wonder"). Er verleiht zusätzliches authentisches Flair, ohne in den Vordergrund gerückt zu werden. NOTHING BUT A MAN ist kein Film über die Swingin' Sixties - dazu wäre Alabama auch der falsche Ort. Gedreht wurde übrigens gar nicht in Alabama, was durchaus riskant hätte werden können, sondern in New Jersey. Auch die gesellschaftspolitischen Umbrüche der Zeit, insbesondere das Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung, bilden nur den latenten Hintergrund des Films, ohne offen angesprochen zu werden (was sich durchaus angeboten hätte - die Darsteller nahmen sich im August 1963 Urlaub von den Dreharbeiten, um an Martin Luther Kings Marsch nach Washington teilzunehmen). Aber Roemer und Young wollten keinen vordergründig politischen Film drehen: "We thought that the most powerful, useful political statement would be a human one" (Roemer). Letztlich ist NOTHING BUT A MAN ein Film über Selbstachtung, Respekt und einen sinnvollen Platz im Leben. Dennoch wird der alltägliche Rassismus unverblümt gezeigt - die Standardanrede der weißen Rednecks für Schwarze ist etwa immer noch "Boy".


NOTHING BUT A MAN lief auf einigen internationalen Festivals und gewann zwei Preise in Venedig, aber der kommerzielle Erfolg in den USA war sehr bescheiden. Immerhin kursierten ausleihbare 16mm-Kopien lange in schwarzen Gemeinden. Dass Roemer heute als Regisseur nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt in erster Linie an seinem nächsten Film THE PLOT AGAINST HARRY, wieder mit Young als Partner realisiert. Es handelt sich um eine Gaunerkomödie, wiederum nach ausgiebigen Milieustudien mit semidokumentarischem Anstrich gedreht, und stilistisch irgendwo zwischen Woody Allen und John Cassavetes angesiedelt. Harry, ein jüdischer Ganove in New York, hat nach einem Gefängnisaufenthalt Schwierigkeiten, wieder ins Berufsleben als Verbrecher einzusteigen, und wird schließlich von seinen Verwandten mit Tricks und Schlichen (dem "Plot") wieder auf den Pfad der Tugend und des spießigen Familienlebens geführt. Der Film wurde 1969 gedreht, aber die kleine Firma aus Seattle, die ihn finanzierte, hielt ihn für einen kompletten Fehlschlag, und nach einer desaströsen Probevorführung, bei der niemand lachte, schloss sich Roemer resigniert dieser Meinung an. Abgesehen von einem kurzen Lauf in einem einzelnen Kino in Seattle kam THE PLOT AGAINST HARRY gar nicht erst in den Verleih. Doch 1989 nahm Roemer einen neuen Anlauf. Er reichte zwei Kopien bei den Filmfestivals von Toronto und New York ein, wurde in beiden Fällen angenommen, und THE PLOT AGAINST HARRY geriet zum Überraschungserfolg. Er kam jetzt endlich in die Kinos und lief auf weiteren Festivals, so auf dem Münchner Filmfest 1990 (in einem Programm mit den weiteren Independent-Wiederentdeckungen BLAST OF SILENCE, CARNIVAL OF SOULS und THE HONEYMOON KILLERS). Im Gefolge dieser Wiederauferstehung kam 1993 auch NOTHING BUT A MAN wieder in den Verleih, diesmal mit größerem Erfolg an der Kasse, und 1994 wurde er von der Kongressbibliothek in die National Film Registry aufgenommen. Roemer nahm den neuen Erfolg in den 90er Jahren erfreut, aber gelassen zur Kenntnis. Er lehrt seit 1966 als Professor für Film an der Yale University und drehte nach der vermeintlichen Pleite mit THE PLOT AGAINST HARRY nur noch sehr sporadisch weitere Filme. "I don't think I've made a film that isn't as alive today as it was when we made it", sagte er 2004 in einem Interview. "I feel good about that. Everything still looks like it happened yesterday rather than 40 years ago."


NOTHING BUT A MAN und THE PLOT AGAINST HARRY sind in den USA auf DVD erschienen, ersterer auch in England. In den USA gibt es auch eine DVD-R-Box mit sieben Filmen Roemers.

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Das Jahr, das uns die Alten brachte

Lina Braake (Alternativtitel: Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat)
(Lina Braake, Deutschland 1975)

Regie: Bernhard Sinkel
Darsteller: Lina Carstens, Fritz Rasp, Ellen Mahlke, Herbert Bötticher, Benno Hoffmann, Rainer Basedow, Erica Schramm, Wilfried Klaus, Teseo Tavernese u.a.

Der sich vom reinen Unterhaltungsfilm abgrenzende deutsche Autorenfilm der 70er Jahre zeichnete sich durch eine bemerkenswert vielfältige, oft beinahe dokumentarische Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen und zeitgeschichtlichen Themen aus, die uns heute noch beeindruckt, mochten wir ihn und seine utopische Forderung nach einer besseren Welt vielleicht gelegentlich auch in künstlerischer Hinsicht ein wenig überschätzen.  Denn nicht zuletzt wegen des Heranwachsens immer neuer Regisseure benötigte er eine intensive Förderung; und die erhielt er spätestens seit dem zum Markstein gewordenen Abkommen zwischen der Filmförderungsanstalt und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Jahre 1974 vom Fernsehen, das sich wiederum eine rasche Übernahme  der Produktionen nach der Kinoauswertung sicherte. Eine Zweckehe war geboren, die den deutschen Film nachhaltig veränderte: Zwar gab es immer noch die international erfolgreichen Werke der "bedeutenden" Figuren des “Neuen Deutschen Films”; gerade Jungregisseure sahen sich jedoch veranlasst, sich in ihrer Ästhetik dem Medium Fernsehen anzupassen, sozusagen für den Bildschirm statt für die grosse Leinwand zu inszenieren. - Und so waren einige der Streifen, die wir in dieser Zeit als epochemachende Produkte eines fortschrittlichen Denkens verherrlichten, in erster Linie kleine für den Tag geschriebene Fernsehfilme mit verzeihlichen Schwächen, die bei  einer Sichtung nach vielen Jahren aber doch ins Gewicht fallen.


Dies trifft sicher nicht auf alle geförderten Werke jener Jahre zu. Gerade der von mir bei früherer Gelegenheit besprochene und leider noch immer nicht auf DVD erhältliche Erstling von  Erwin Keusch, “Das Brot des Bäckers” (1977), setzt seine Geschichte vom Niedergang des Kleingewerbes in jeder Hinsicht tadellos und zeitlos ins Medium Film um. Es beruhigte mich jedoch, dass mein Blogger-Kollege von "Sieben Berge" anlässlich einer Besprechung von Hark Bohms “Moritz, lieber Moritz” (1978) von einem historischen Abstand zur Welt der 70er Jahre schrieb, der sich unter anderem in einem betulich wirkenden Erzählton bemerkbar mache, aber auch in einem Optimismus, der den heutigen Zuschauer befremdet. Denn ich hatte kurz zuvor ähnlich zwiespältige Erfahrungen gemacht - mit einem Film, der uns seinerzeit vorbehaltlos begeisterte und die Presse zu kollektiven Lobgesängen hinriss.

Mit seinem sozialkritischen Schelmenstück “Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat” betrat der Debütant Bernhard Sinkel in zweierlei Hinsicht Neuland: Er entdeckte die Komödie für den “Neuen Deutschen Film” der 70er Jahre, und er besetzte sie mit Senioren. Der Publikumserfolg veranlasste den SPIEGEL gleich zu einem Artikel, in dem ein “Altenkult” beschworen wurde:  1975 sei das Jahr, das uns die Alten wieder ins Bewusstsein bringe, im Film, Fernsehen und Theater. Rainer Werner Fassbinder habe mit “Angst essen Seele auf” (1974) den Anstoss gegeben; jetzt würden mit Serien wie “Rest des Lebens”, Theaterstücken wie Karl Otto Mühls “Rheinpromenade” oder Tankred Dorsts “Eiszeit” - ja gar mit Curd Jürgens’ “60 Jahre und kein bisschen weise” Greise zum Thema der Saison. “Ade, süsser Vogel Jugend, willkommen, ihr Mühseligen und Bejahrten”. Willkommen aber vor allem auch Lina Braake, die zeigt, dass man selbst im Alter noch einen übermächtigen Gegner zu überlisten vermag!

Die Presse neigt bekanntlich zu Übertreibungen und Pauschalisierungen. Eine Kriminalkomödie, die sich für die Rechte alter Menschen stark machte, den Zuschauer  sogar Sympathie für die kriminellen Alten empfinden liess, weil sie gegen einen Goliath antraten, fuhr aber schon ein: Obwohl der 81-jährigen Lina Braake von ihrem verstorbenen Vermieter schriftlich ein Wohnrecht auf Lebenszeit zugesichert wurde, kündigt ihr die Bank, die den Altbau übernommen hat und abreissen will, gnadenlos und schiebt sie in ein idyllisch gelegenes, jedoch völlig verlottertes Altenheim ab. Dort leidet Lina nicht nur unter der ungewohnten Umgebung und den Marotten der anderen Bewohner; die früher selbständige Frau muss auch erkennen, dass ihre Hilfe nicht mehr gefragt ist. Sie lässt sich in eine Lethargie fallen, verbringt den ganzen Tag nur noch im Bett. Erst der ihr zunächst kauzig vorkommende entmündigte ehemalige Bankfachmann und Betrüger Gustaf Härtlein weckt ihre Lebensgeister wieder. Er erinnert Lina daran, dass sie noch eine Rechnung begleichen möchte und er ihr dabei helfen kann. So kommt es, dass nach längerem gemeinsamem Monopoly-Spielen und vielen Lektionen zum Thema Geldzirkulation eines Tages eine distinguiert wirkende ältere Dame die Deutsche Boden- und Kreditbank betritt, um dort 20'000 Mark abzuheben, die ihr nicht gehören. Mit dem erschwindelten Geld kauft sie für den Friseur-Gehilfen Ettore einen Hof in Sardinien, wo sie selber noch einmal die ihrem Alter angemessene Wärme spüren will. Am Ende wird Lina von der Polizei zurück ins Heim gebracht. Aber sie hat einen Trumpf in der Tasche...

Ein Thema, wie es von bleibenderer Aktualität nicht sein könnte. Da lebt ein Mensch sein bescheidenes Leben, ist zufrieden damit und denkt, wenigstens an ihm seien die gesichtslosen Mächtigen nicht interessiert  (zu Beginn betritt Lina den Salon ihres Friseurs und meint zu den laut tönenden Sirenen des Krankenautos, es habe sich wieder einer aus dem Fenster gestürzt, weil man ihm die Wohnung wegnahm - was ihr ja nie passieren könne). Man passt sich sogar den unbequemen Veränderungen der Moderne an (eine Szene, die Lina vor zwei Aufzügen zeigt, deren Türen sich gleichzeitig öffnen und gleich darauf wieder schliessen, wirkt wie eine Reverenz an Jacques Tatis “Playtime”, 1967). --- Doch dann tauchen sie auf, die legalen Abzocker, reissen diesen Menschen aus seinem kleinen Dasein und führen sich sogar als die eigentlichen Opfer auf (“Aber wir sind doch eine Bank! Wir handeln mit Geld...”). Wünscht man sich da nicht ein Märchen, in dem mit dem Pack abgerechnet wird? Ist es nicht das, was sich die heute weltweit Sympathien erntende “Occupy"-Bewegung ebenfalls als utopisches Ziel setzt?

Von nun an gehört der Film ganz den beiden alten Menschen, die dieses Märchen frech und aufmüpfig Realität werden lassen wollen. Man sieht Lina förmlich an den unter einem “Wie gehts uns denn heute” des Heimleiters noch depressiven Augen an, wie das Leben in sie zurückkehrt, als Härtlein sie in die Geheimnisse des Betrugs einzuweisen beginnt (herrlich: die Szene, in der die beiden den korrekten Auftritt der Dame von Welt am Bankschalter einüben). Die traurige alte Frau, die zu der Bemerkung “Schaden kanns nix. Aber obs hilft?” in der Kirche eine Kerze anzündete, wird wieder zum selbständigen Wesen, das auf seinem mit der Unterstützung des Hausmeisters zusammengebastelten Fahrrad herumfährt - und als dann im Friseursalon zum Tango-Leitmotiv des Jazz-Pädagogen Joe Haider die Worte “Bella Lina” erklingen, weiss der Zuschauer, dass das bescheidene Märchen auf Zeit in Erfüllung gehen wird. - Es ermöglicht sogar Lina Carstens, die ab 1935 schon unter Douglas Sirk gespielt hatte, und Fritz Rasp, wegen seiner eng zusammenliegenden Augen immer wieder zu Rollen in Krimis verurteilt, als Gaunerpärchen selber noch einen späten Triumph zu feiern, nachdem man sie schon weitgehend abgeschrieben hatte.

Dieser Triumph der beiden Altstars ist jedoch auch dafür verantwortlich, dass man als Betrachter des Films den zeitlichen Abstand zu den 70er Jahren heute so stark empfindet. Denn nur Lina und Gustaf werden als Menschen gezeichnet, alle anderen Figuren um sie herum sind lediglich Typen, als seien sie als Nebenfiguren der “Lindenstrasse” entsprungen, hätte es diese damals schon gegeben. Der Heimleiter Körner ist nicht mehr als ein spiessiger Emporkömmling, wie man ihn sich damals eben vorstellte: nach oben wegen des kleinen Etats jammernd, nach unten tyrannisierend - und dann noch staunend, weil man ihn offenbar nicht liebt (“Manchmal habe ich das Gefühl, dass die mich hassen”). Jawlonsky, der Hausmeister, wird zum schon beinahe unerträglich stereotypen harten Kerl mit weicher Schale. Und dann beschwört man natürlich noch den Antiquitätenhändler herauf, der die Alten ausnehmen will. - Dass im Zusammenhang mit dem italienischen Friseurgehilfen Ettore sogar die Situation der italienischen Gastarbeiter in Deutschland thematisiert werden muss, zeigt, dass eine 70er Jahre-Komödie eben nicht nur eine Komödie sein kann, sondern sich zusätzlich mit weiteren gesellschaftlichen Problemen überladen muss.


Wer jedoch in den “Genuss” von “Dinosaurier - Gegen uns seht ihr alt aus!” (2009) kam, muss zugeben:  man jammert als Kritiker von “Lina Braake” auf einem hohen Niveau. Selbst die teilweise etwas einfallslosen Dialoge (lediglich Härtling darf sich Bonmots wie “Schwarze Kleider. Geeignet für Beerdigungen und Bankgeschäfte” leisten) wirken im Vergleich zum Remake direkt inspiriert. Und das scheinbar gelegentlich zu lange Verharren der Kamera an einer Stelle im ersten Teil geht vergessen, wenn man die nicht weniger langen Einstellungen geniesst, die Lina unter der Sonne Italiens am Strand sitzend oder in die Landschaft blickend zeigen. Diese Aufnahmen dienen nicht touristischen Zwecken; sie widerspiegeln einfach den Gemütszustand einer alten Frau, der List und Tücke noch zur Möglichkeit verhalfen, nicht nur eine offene Rechnung zu begleichen, sondern einen Traum für sich zu verwirklichen. - Und in solchen Augenblicken sehnt man sich - ich berufe mich noch einmal auf  "Sieben Berge" - zurück nach der tief versunkenen Welt der 70er Jahre mit ihren optimistischen Vorstellungen. Denn trotz aller Bewegungen gegen die Mächtigen vermag man heute nicht mehr die Kraft aufzubringen, an kleine Wunder zu glauben, zu deren Verwirklichung uns das Jahr, das uns die Alten brachte, auf der Leinwand oder am Bildschirm beinahe anspornte.

Mittwoch, 30. November 2011

Waking Ned Devine


Lang lebe Ned Devine!
(Waking Ned Devine, Grossbritannien, Frankreich, USA  1998)

Regie: Kirk Jones

Man bezeichnet sie als Topoi, diese seltsamen Motive, die lange Zeit lediglich als Versatzstücke ein Schattendasein führen, auf etwas verweisen (zum Beispiel auf ein: “Hey Leute, ihr habt es mit einer Wohlfühlangelegenheit zu tun!”), urplötzlich aber doch Sinn und Bedeutsamkeit anzunehmen vermögen. Und es gibt sie natürlich auch im Film. Ein solcher Topos, man könnte ihn als “Schwierige Einzelgestalten raffen sich zum Wohle aller zusammen”-Motiv bezeichnen, geisterte ab Mitte der 90er Jahre durch das englische Kino. Er erwachte in “The Full Monty” (1997) zu blühendem Leben, weil der Männer-Striptease-Geschichte daran lag, auch die sozialen Umstände, die ein solches Sich-Zusammenraffen nötig machten, miteinzubeziehen. Weitere Filme, in denen der Topos mehr oder weniger glücklich eingesetzt wurde, waren “Still Crazy” (1998), “Saving Grace” (2000), “Blow Dry” (2001) und “Calendar Girls” (2003). Von einer gegenseitigen Beeinflussung ist kaum auszugehen, eher von einer Befindlichkeit, die die Sehnsucht nach einer erfolgreichen Gemeinschaft förderte.

Auch “Waking Ned Devine”, der Erstling von Kirk Jones, bedient sich des Topos  und setzt ihn für eine recht ungewöhnliche und wenig wahrscheinliche Geschichte ein: Der ganz dem Lotto ergebene Rentner Jackie ist überzeugt, dass jemand in seinem irischen 52-Einwohner-Dorf Tullymore den Jackpot geknackt hat, und er macht es zu seiner zweifelhaften Lebensaufgabe,  den glücklichen Gewinner zu ermitteln. Als er und sein Freund Michael feststellen, dass nur einer der regelmässigen Lottospieler zu einer speziell der Informationsbeschaffung dienenden Party nicht auftauchte, steht fest: Es war Ned Devine! - Dieser hat allerdings ein kleines Problem: Der Schreck über den unerwarteten Sechser liess ihn das Zeitliche segnen. Soll, so fragt sich Jackie nun, der Gewinn wegen einer solchen Kleinigkeit verfallen, ohne dass er etwas davon hätte?  Und er lässt sich einen hinterhältigen Plan einfallen, wie man die paar Millionen der Lottogesellschaft doch noch abjagen könnte. Bald steht das ganze Dorf hinter ihm. Dann taucht die “Hexe” Lizzy Quinn am Horizont auf. Sie hat herausgefunden, wie sie selber an einen beträchtlichen Anteil des Geldes zu kommen vermag...

“Waking Ned Devine”, auf der Isle of Man gedreht, wurde zum grossen Erfolg bei den Kritikern. Tatsächlich wartet der Film mit herb-schönen Landschaften auf, zeichnet sich auch durch hervorragende Darsteller aus, die uns in kleinen Nebensträngen weitere Bewohner des abgeschiedenen Dorfes näherbringen. Im Grunde genommen ist die Geschichte jedoch banal, hat kaum Überraschungen zu bieten. Sie taugt vielleicht als belanglose kleine Komödie, die vom typischen britischen Humor Gebrauch zu machen versucht (ein kleines Beispiel: als Jackie und Michael Neds Gesichtszüge zu verschönern versuchen, fällt dessen Prothese aus dem Mund). Selbst dieser Humor ist jedoch nicht schwarz genug, um britisch zu sein. Und der an den Haaren herbeigezogene Schluss, der offenbar noch für ein wenig Spannung sorgen soll, wirkt geradezu peinlich. - Der Film mag für einen locker-bedeutungslosen Abend sorgen, reicht jedoch nicht ansatzweise an den erwähnten “The Full Monty” heran, weil es ihm an Substanz fehlt. Wer freilich - um doch noch einen Teaser zu hinterlassen - an alten Knackern, die nackt auf einem Motorrad durch die Gegend tuckern, seine Freude hat, wird von “Waking Ned Devine" nicht enttäuscht sein.


Freitag, 25. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 2

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

Am 13. Juli 1935 begannen in Nürnberg die Jubiläumsfeiern der Bahn, doch DAS STAHLTIER wurde nicht gezeigt. Nachdem zuvor monatelang in der Presse über den Fortgang der Dreharbeiten berichtet worden war, fiel die Premiere sang- und klanglos aus. Wenig später, am 25. Juli, wurde DAS STAHLTIER von der Filmprüfstelle Berlin verboten, und zwar auf Betreiben der Reichsbahn. Wie konnte es dazu kommen, wo doch die Reichsbahn alles für das Zustandekommen des Films getan hatte, und noch im Januar Zielkes Budget verdoppelt worden war?

DAS STAHLTIER

Der erste Querschuss kam im März 1935. Die "Reichsvereinigung Deutscher Lichtspielstellen, Kultur- und Werbefilmhersteller e.V.", der innerhalb der Reichsfilmkammer für Kultur- und Dokumentarfilme zuständige Fachverband, schreibt an den Stellvertretenden Generaldirektor der Reichsbahn in Berlin und drückt sein Befremden darüber aus, dass ein so unerfahrener Regisseur wie Zielke, der noch keine "größeren Kulturfilme" abgeliefert habe, mit dem wichtigen Jubiläumsfilm betraut wurde, und dass die Reichsbahn-Filmstelle Berlin (die Mitglied in jener Reichsvereinigung war) nicht in die Herstellung involviert sei. Die Hauptverwaltung der Reichsbahn, die bisher München weitgehend freie Hand gelassen hatte, bekam nun kalte Füße. In einem Spitzengespräch zwischen Berlin und München Ende April wurde entschieden, dass die Reichsbahn-Filmstelle von nun an beteiligt sein soll, und es wurde für den 22. Mai eine Probevorführung des bisher gedrehten Materials angesetzt. Diese wurde jedoch von Zielke wegen technischer Gründe abgesagt. Ob diese Gründe echt oder von Zielke nur vorgeschoben waren, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls bat Zielke, sich zu einem späteren Zeitpunkt den fertigen Film anzusehen.

DAS STAHLTIER

Dazu kam es im Juni in Berlin. Anwesend waren außer Zielke und den Reichsbahn-Oberen auch Leni Riefenstahl und einige weitere Filmleute, darunter Hans Ertl. Der Bergsteiger und Kameramann Ertl war 1932 bei den Dreharbeiten zu S.O.S. EISBERG in Grönland mit Riefenstahl in Berührung gekommen (im wahrsten Sinn des Wortes, denn sie hatten eine kurze Affäre). Später war er einer der wichtigsten Kameramänner bei Riefenstahls zweiteiligem Olympiafilm. Insbesondere filmte er das Turmspringen, den Höhepunkt des ganzen Films. - Die Reaktionen auf die Probevorführung waren zweigeteilt: Die Leute von der Reichsbahn waren entsetzt, Riefenstahl und ihr Anhang waren begeistert. Hans Ertl erinnert sich in seinen 1982 erschienen Memoiren "Meine wilden dreißiger Jahre": "Mit rückhaltloser Bewunderung gratulierten wir Willy Zielke zu diesem Kunstwerk, während der damalige Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, Herr Dr. Julius Dorpmüller, sich stumm erhob, seine Melone aufsetzte und - zusammen mit diversen Reichsbahnräten - kopfschüttelnd den Raum verließ."

DAS STAHLTIER

Und das war es dann - die Reichsbahn-Führung entscheidet, dass der Film "zur Aufführung nicht geeignet" sei. Zielkes Fürsprecher Albert Gollwitzer versucht, durch Änderungsvorschläge zu retten, was noch zu retten ist, aber diese werden sowohl von Berlin als auch von Zielke abgelehnt. Gollwitzer gegenüber wird das Verbot damit begründet, dass bei den historischen Episoden zuviel aus England und zuwenig aus Deutschland behandelt wurde. Aber das ist offensichtlich ein Vorwand, weil ja gerade die historischen Episoden bei der ersten Probevorführung im Dezember 1934 Generaldirektor Dorpmüller gut gefallen hatten. Warum wurde gerade dieser Vorwand gewählt? Martin Loiperdinger vermutet in seinem Artikel über den Film, dass es zur rechtlichen Absicherung geschah. Wenn Zielke gegen das Verbot vorgegangen wäre, hätte die ungenügende Repräsentation deutscher Belange mit Hilfe von Zielkes Vertrag und des Reichslichtspielgesetzes eine (wenn auch an den Haaren herbeigezogene) Handhabe für die Bahn geboten. Auch der zusätzlich genannte Verbotsgrund, dass Zielke für seine Aufnahmen den in Bayern gefertigten Lok-Typ S 3/6 statt der von Berlin favorisierten Baureihe 01 verwendete, ist wenig glaubwürdig. Woran lag es dann? Letztlich erwartete die Reichsbahn trotz der Bekundungen, einen künstlerischen Film zu wollen, einen langen und handwerklich perfekten Werbefilm - und den hat Zielke nicht geliefert. Die Bahn sah den Zuschauer als potenziellen Kunden, der zum Kauf von Bahntickets animiert werden sollte. Aber Zielkes Film vermittelte keine Eindrücke behaglichen und sicheren Reisens - eher im Gegenteil. Die teilweise brachialen Montage-Sequenzen waren geeignet, empfindliche Gemüter in Angst und Schrecken zu versetzen. Das bemerkte auch schon Hans Ertl bei der Probevorführung. "Zugegeben, ein Werbefilm im üblichen Sinn, mit fröhlichen Schaffnern, zufriedenen Gästen im Speisewagen, Postkarten-Fensterblicken auf weidende Kühe, winkende Kinder sowie Fluss- und Gebirgslandschaften war das nicht", schreibt er in seinen Memoiren, und weiter: "Was zuletzt in unnachahmlichen Montagen und Überblendungen von glitzernden Schienenschlangen, fauchenden Dampflokomotiven, gefährlichen Rangiermanövern in einem optisch-akustischen Furioso über die Leinwand donnerte, war Filmkunst in höchster Vollendung. Schweißgebadet erhob sich mancher Zuschauer aus den Tiefen seines Sessels, in den er - Deckung suchend - gerutscht war, wenn ein ›Stahltier‹ nach dem anderen über die zwischen den Schienen eingegrabenen Kameras - und damit gewissermaßen auch über die biederen Kinobesucher - hinwegbrauste." Und Ertl ergänzt als Verbotsbegründung, dass "kein normaler Mensch mehr Eisenbahn fahren würde, der diese zermalmende Wirkung im Wechselspiel von Schienen, Puffern und Dampfsirenen auf der Leinwand erlebt habe." Und das war der Punkt. Letztlich ist Zielke wohl auch daran gescheitert, dass er nicht nur die Absichten seiner Auftraggeber, sondern auch den Rahmen seiner eigenen Freiheiten falsch einschätzte, vielleicht verführt durch die Vorbilder Riefenstahl und Ruttmann, die auch unter den Nazis noch Avantgarde produzieren durften. Aber diese beiden kannten die Wünsche ihrer Auftraggeber genau und bedienten sie auch, im Gegensatz zu Zielke.

DAS STAHLTIER

Leni Riefenstahl wollte das Verbot rückgängig machen lassen und sprach deshalb bei Goebbels vor. In einer Privatvorführung beim Minister, die je nach Quelle im Juli (Stefan Vockrodt) oder erst im Oktober 1935 (Loiperdinger) stattfand, sah sich Goebbels in Anwesenheit Riefenstahls den Film an, aber er fand ihn schlecht und weigerte sich, das Verbot zu revidieren. Goebbels oder sein Ministerium haben den Film also nicht verboten (wie gelegentlich behauptet wurde), er hat nur das Verbot nicht aufgehoben (was er jederzeit gekonnt hätte, weil er gegenüber den Filmbewertungsstellen natürlich weisungsbefugt war). Walter Frentz, in den 30er Jahren einer von Riefenstahls regelmäßig beschäftigten Kameraleuten, und danach sowas wie Hitlers persönlicher Kameramann, hielt im Februar 1938 im Filmseminar einer Berliner Hochschule einen Vortrag über den "filmischen Film", womit weitgehend das gleiche wie mit "absoluter Film" gemeint war, und zeigte - mit einer Sondergenehmigung - die erste und die vierte Rolle von DAS STAHLTIER als Anschauungsmaterial. Dies war wohl die einzige (halb-)öffentliche Vorführung von Teilen des Films im Dritten Reich.

DAS STAHLTIER

Für Zielke war das Verbot natürlich ein Debakel. Er wusste es noch nicht, aber seine Laufbahn als eigenständiger Produzent und Regisseur war damit so gut wie beendet. Um ihm über die Runden zu helfen (und natürlich auch, um sich seine Fähigkeiten zu sichern), verpflichtete ihn Riefenstahl als Kameramann für ihren dritten Parteitagsfilm TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT. Bei TRIUMPH DES WILLENS, dem zweiten und mit Abstand aufwendigsten Parteitagsfilm, war die Wehrmacht zu kurz gekommen. Bei den Aufnahmen hatte es geregnet, und Riefenstahl, die immer auf "schöne Bilder" aus war, ließ diese Sequenzen konsequent weg, sehr zum Verdruß der Wehrmachtsführung. Da Hitler die Wehrmacht für seine Kriegspläne brauchte (u.a. deshalb hatte er 1934 die SA-Führung liquidiert), drängte er Riefenstahl zu einer Lösung. Diese machte den Kompromissvorschlag, einen kurzen dritten Parteitagsfilm zu drehen, der ausschließlich der Wehrmacht gewidmet sein sollte. Hitler, Goebbels und die Generäle waren zufrieden, und so wurde im September 1935 das Material für TAG DER FREIHEIT gedreht. Riefenstahls Arbeitsprinzip bei ihren dokumentarischen Propagandafilmen war es, das Geschehen von möglichst vielen Kameraleuten aus allen möglichen Perspektiven filmen zu lassen und dann aus der Überfülle des Materials einen organisch wirkenden und in den Höhepunkten spektakulären Ablauf zusammenzuschneiden, ohne auf die tatsächliche Chronologie der Ereignisse allzuviel Rücksicht zu nehmen. Bei dieser Arbeitsweise konnte ein begabter Kameramann wie Zielke jederzeit ins Team integriert werden. Es traf sich gut für alle Beteiligten, dass beim Parteitag 1935 erstmals auch ein größeres Manöver stattfand, bei dem die Wehrmacht schon mal Krieg spielen durfte. Die Aufnahmen davon bilden die letzten acht Minuten und den Höhepunkt des 28-minütigen Films. Beispielsweise ließ sich Ertl, der auch mit dabei war, in einem Erdloch mit seiner Kamera eingraben und darin von Panzern überrollen - vielleicht inspiriert von Zielkes zwischen den Schienen vergrabener Kamera. Laut Martin Loiperdinger war Zielke bei TAG DER FREIHEIT nicht nur einer der Kameramänner, sondern er arbeitete gemeinsam mit Peter Kreuder, der auch hier als Komponist engagiert war, an der Nachvertonung des Films. Der Originalton vom Manöver war zu einem unbrauchbaren Soundbrei geronnen, und so wurden Fahrgeräusche, Geschützfeuer etc. nochmal separat aufgenommen und abgemischt.

TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT (Aufnahme Hans Ertl)

Zielkes nächster Auftrag kam wieder von Riefenstahl, und er war noch weit bedeutender. Für FEST DER VÖLKER, den ersten Teil des zweiteiligen Olympiafilms, sollte Zielke den Prolog drehen, und zwar nicht nur als Kameramann, sondern auch als Regisseur und Cutter. Vorgegeben war zunächst nur ein grobes Gerüst: Es sollte ein Bogen von der Antike zur Gegenwart gespannt werden, und die Entzündung des olympischen Feuers und der Staffellauf sollte integriert werden. Im Vertrag, den Zielke abschloss, war festgehalten, dass er den Prolog eigenverantwortlich gestalten und zwei verschiedene Schnittfassungen abliefern sollte. Wörtlich hieß es:
Die Arbeit muss am 31. Oktober [1936] vollkommen geschnitten und vertont sein, und zwar in 2 Versionen:
1) Ihre eigene Auffassung auf Grund des vorliegenden Manuskriptes,
2) 1 Version nach Auffassung von Fräulein Riefenstahl.
     (Das Manuskript hierfür wird noch nachgereicht).
Für Ihre Arbeit erhalten Sie eine Pauschale von RM 10.000.-- brutto
Zielke reiste zunächst mit ein paar Technikern im Juni 1936 nach Griechenland und nahm auf der Akropolis in Athen und anderswo antike Tempel und Statuen auf - gemäß der Riefenstahl'schen Arbeitsweise mehr, als er selbst für sinnvoll hielt, aber Zeit und Kosten spielten für Riefenstahl keine Rolle. Nach Zielkes Rückkehr fuhr Riefenstahl mit anderen Kameramännern im Juli selbst nach Griechenland, um in Olympia die Entzündung des Feuers und den Beginn des Fackellaufs zu filmen. Doch was sie da sah und filmen ließ, entsprach nicht ihren Vorstellungen von "schönen Bildern", und sie verwarf das Material. Stattdessen erhielt Zielke den Auftrag, die Ereignisse nachzustellen, und zwar auf der Kurischen Nehrung, einer langgestreckten schmalen Halbinsel an der Ostsee, im damaligen Ostpreußen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Zielkes "Operation Ostsee" begann mit einer delikaten Mission. Der Plan für den Prolog sah junge griechische Tempeltänzerinnen vor, die splitternackt um einen Altar tanzen sollten. Zielke besuchte Schulen für Ausdruckstanz und Sportgymnastik, um geeignete Modelle auszuwählen. Für eine derartige Aufgabe war er durchaus prädestiniert, denn wie im ersten Teil schon erwähnt, hatte er sich bereits professionell mit Aktfotografie befasst. Nachdem er die Lehrer von der Seriosität seines Anliegens überzeugt hatte - wobei auch die Tatsache half, dass der geplante Film das besondere Wohlwollen Hitlers und Goebbels' genoss -, kamen von ca. 300 Bewerberinnen, die einzeln nackt vortanzen mussten, 30 in die engere Auswahl, und Zielke machte sich mit ihnen und einigen Sportlern auf zur Ostsee. Die Aufnahmen fanden dann offenbar in ungezwungener Atmosphäre statt. In den Drehpausen machte Zielke auch Aktfotos, und als er 1952 ein kleines Büchlein über Aktfotografie veröffentlichte, nahm er zwei dieser Fotos darin auf, und im Begleittext dazu heißt es:
"Einmal in meinem Leben habe ich mit allen Möglichkeiten der Aktaufnahme spielen können... Wir saßen in einem abgesperrten Revier an der Kurischen Nehrung, allein mit 30 ins Paradies zurückgekehrten Evas, einer unendlichen Stille und den letzten Elchen Europas, um den Prolog zum Olympiade-Film 1936 zu schaffen.
Wir hatten diese Evas aus 300 Sportstudentinnen wählen können, ein prachtvolles Menschenmaterial. Mit Anmut und Grazie führten sie alle Studien, Bewegungen und Übungen vor, die wir brauchten. In den Drehpausen standen, lagen oder liefen sie am Strand und freuten sich ihres jungen Lebens. Es berührte weder uns noch unsere Helfer, daß sie splitterfasernackt waren. Sie auch nicht. Die schöpferische Arbeit hatte uns alle viel zu sehr im Bann."
An anderer Stelle schrieb er: "Nur die sehr anstrengende Arbeit in dem tiefen Sand mit der umständlichen Filmapparatur und die ganze Verantwortung für das Gelingen zahlreicher Kameratricks, lenkte mich von dem erotischen Teil solcher Aufnahmen ab!"

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Auch die übrigen Arbeiten gingen gut vonstatten, beispielsweise die zu einer komplizierten Überblendung, bei der eine antike Statue - ein Diskuswerfer vom Bildhauer Myron - in den Zehnkämpfer Erwin Huber in identischer Körperhaltung übergeht, der daraufhin sozusagen zum Leben erwacht und den Diskus wirft. Im September 1936 - die Olympischen Spiele waren bereits vorbei - besuchte Riefenstahl Zielkes Team und war mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Heinz von Jaworsky, seit DAS BLAUE LICHT auch einer von Riefenstahls regelmäßigen Kameramännern, überliefert die Anekdote, Riefenstahl habe sich bei ihrem Besuch selbst nackt unter die Tempeltänzerinnen gemischt. Das wurde später dahingehend aufgebauscht, dass sich Riefenstahl tatsächlich nackt im Prolog sehen wollte, dass Zielke das aber abgelehnt habe, weil er sie zu "vollschlank" fand, und dass es deshalb zum Zerwürfnis zwischen den beiden gekommen sei. Das erscheint aber wenig glaubwürdig. Falls sich die Begebenheit tatsächlich so ereignete, war es wohl kaum mehr als ein übermütiger Scherz von Riefenstahl. In Zielkes eigener Erinnerung ließ Riefenstahl jedenfalls den Badeanzug an: "Und als sie sich kurz vor Beendigung der Aufnahmen am Grabschen Hacken in der Kurischen Nehrung selbst vor die Kamera posierte, sah ich diese Frau das erste Mal im Badetrikot und war enttäuscht. Ihre Figur konnte nicht an meine Modelle heran! Sie war außerdem viel zu vollschlank. So begnügte sie sich mit einer Grossaufnahme ihrer Hände, die den Tanz der Flammen interpretierten, was ihr sehr gut gelang!" Trotzdem war sein Verhältnis zu Riefenstahl nicht unbelastet. Riefenstahl ging mit ihren Mitarbeitern ziemlich fordernd und teilweise sogar rüde um, trotz ihrer Wertschätzung ihrer Fähigkeiten. Die meisten nahmen es gelassen hin, aber Zielke war ein sensibler Charakter, er litt darunter, dass er jetzt ökonomisch von Riefenstahl abhängig war, und er war wohl auch unglücklich in sie verliebt - das schreibt zumindest Hans Ertl in seinen Memoiren. Riefenstahl hatte damals einen recht hohen Männerverschleiß. Auch unter ihren Filmpartnern und Mitarbeitern hatte sie einige Liebhaber, neben Ertl etwa Luis Trenker, Hans Schneeberger und Peter Kreuder. Aber Zielke mit seiner "Falstaff-Figur" (Ertl) kam nicht zum Zug. Ab dem Besuch im September kam es zunehmend zu Unstimmigkeiten über die Gestaltung des Prologs, Zielke fühlte sich von Riefenstahl verfolgt, was diese mit einem mehrfach geäußerten "Du bist ja verrückt!" quittiert haben soll. In seiner späteren Krankenakte aus Haar hieß es: "Über seine psychotischen Inhalte ist vorläufig von anderer Seite nur in Erfahrung zu bringen, daß er seit Sept. 1936 voller Beziehungs- u. Verfolgungsideen steckt, in die er besonders die Filmschauspielerin Leni Riefenstahl einbezieht."

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Zielke lieferte seine fertig geschnittenen Versionen des Prologs bei Riefenstahl ab, doch die schnitt ihn noch einmal drastisch um. Das war wohl einer der Gründe, die das Fass zum Überlaufen brachten. Im Februar 1937 erlitt Zielke einen Nervenzusammenbruch und wurde in eine Münchner Klinik eingeliefert. Nach einigen weiteren Stationen landete er schließlich in der Heil- und Pflegeanstalt (der früheren "Kreisirrenanstalt") Haar bei München, wurde als "unheilbar schizophren" diagnostiziert und auf Beschluss des Amtsgerichts München im Juni 1937 zwangssterilisiert. Laut Zielkes späteren Bekundungen wurden auch medizinische Versuche an ihm durchgeführt. Auf jeden Fall war er als "unheilbar Geisteskranker" vom Tod bedroht. Aus Haar wurden mindestens 900 Patienten zur "Euthanasie" in andere Lager gebracht und dort ermordet, andere Tötungsaktionen forderten hunderte weitere Opfer. Doch Zielke wurde im August 1942, nach insgesamt fünfeinhalb Jahren in der Psychiatrie, aus Haar befreit. Und zwar ausgerechnet von Leni Riefenstahl, die ihn persönlich dort abholte. Sie konnte ihn dort loseisen, weil sie ihn als Kameramann für TIEFLAND anforderte.

DAS STAHLTIER

Die Dreharbeiten zu TIEFLAND begannen schon Anfang 1940, und der Kameramann war Albert Benitz, der wie Riefenstahl selbst und viele ihrer Kameraleute aus der Schule von Arnold Fanck kam. Aber wegen der vielen und langen Unterbrechungen (wie schon erwähnt, wurde TIEFLAND bis Kriegsende nicht fertig) suchte sich Benitz zwischenzeitlich andere Beschäftigung und unterschrieb einen Vertrag mit der Terra. Riefenstahl holte sich also Zielke als Ersatz oder zumindest Ergänzung für Benitz, aber anscheinend hatten seine Fähigkeiten gelitten, was nicht weiter verwunderlich wäre. Riefenstahl schrieb in ihren 1987 erschienenen "Memoiren", die freilich mit Vorsicht zu genießen sind: "Bemerkenswerterweise beherrschte er die Technik noch einwandfrei, aber die Motive, die er aufnahm, zeigten Symptome seiner Erkrankung - sie waren extrem verfremdet." Ob es wirklich Zielkes Erkrankung oder erst die Folgen seiner "Behandlung" waren, die ihn beeinträchtigten, sei dahingestellt. Jedenfalls trug Zielke sehr wenig, wenn überhaupt etwas, zu TIEFLAND bei. Es gab mit Franz Weihmayr einen weiteren Kameramann, und später hatte Riefenstahl auch wieder Benitz für sich allein. Auf ihre Intervention hin versetzte Reichsfilmintendant Hans Hinkel Benitz von der Terra wieder zu Riefenstahl, wodurch ein bei der Terra geplanter Farbfilm mit Benitz an der Kamera ersatzlos ausfiel. Aus Zielkes Aufzeichnungen geht auch hervor, dass er nicht sofort bei TIEFLAND eingesetzt wurde, sondern zunächst mal eine Reise mit seiner späteren zweiten Frau Ilse unternahm. Vielleicht war es von vornherein Riefenstahls Hauptabsicht, Zielke aus den Fängen der Psychiatrie zu retten, und sie benötigte ihn nicht unbedingt für TIEFLAND. Sie hätte wohl auch einen anderen ihrer Kameraleute wie Frentz, Ertl oder Guzzi Lantschner anfordern können, die zu der Zeit meist als Kriegsberichterstatter tätig waren. Solche Personalanforderungen Riefenstahls wurden fast immer erfüllt. Auf jeden Fall wusste sie genau, was Zielke in der Psychiatrie drohte, und sie scheint sich echte Sorgen um ihn gemacht zu haben. Das geht aus den Erinnerungen von Bernhard Grzimek hervor. In TIEFLAND wird ein Wolf von einem Schäfer erwürgt, und zu den Dreharbeiten dazu, die 1942 in den Dolomiten stattfanden, engagierte Riefenstahl den Zoologen und späteren Fernsehmoderator samt einem von ihm gezähmten Wolf. In den Drehpausen unterhielten sie sich auch über das Thema "Euthanasie" und Zwangssterilisation. Grzimek schreibt in seinen 1974 erschienenen Memoiren "Auf den Mensch gekommen: Erfahrungen mit Leuten": "Leni Riefenstahl war zum Beispiel durchaus gegen die Tötung von unheilbar Geisteskranken, die damals von den Nazis eingeführt wurde. Ich entsinne mich, daß sie einen überaus begabten Regisseur kannte, dessen Geist gestört war, und von dem sie immer hoffte, er werde noch einmal genesen oder in lichten Augenblicken künstlerisch Ungewöhnliches schaffen."

DAS STAHLTIER

Zielke sah Riefenstahls Rolle nach 1945 (und wohl auch schon 1942, vielleicht sogar schon 1937) jedoch ganz anders. In seinem Nachlass fand sich ein undatierter Text (laut Lutz Kinkels Riefenstahl-Biographie ist er vermutlich in den 70er Jahren entstanden) mit dem Titel "Kurze Beschreibung meiner Freiheitsberaubung im Dritten Reich". Darin schreibt Zielke: "Erst nach Jahren konnte ich die wahre Ursache meiner Freiheitsberaubung feststellen! Es war Frau Leni Riefenstahl! Diese Frau war meine Feindin! Sie engagierte mich 1935 mit der ganz nüchternen Berechnung: einen Todgeweihten für ihre ehrgeizigen Filmpläne völlig - bis zur Selbstaufgabe - zu gewinnen und dienstbar zu machen! Für diese "Filmpolitik" engagierte sie außer einem Stab junger Athleten aus den Kreisen weltbekannter Skiläufer und Bergsteiger, auch kriegsgefangene Russen und sogar Zigeuner aus dem Vernichtungslager. Nach Ablieferung des fertigen "Prologs" war ich dieser Frau im Wege! Da sie maßlos eitel und krankhaft ehrgeizig war, wollte sie nur allein glänzen, bewundert werden und als die einmalige Erscheinung im gesamten Deutschen Filmwesen gelten. Deshalb passte es ihr nicht, dass sie den Verdienst an diesem Film mit einem Zielke teilen sollte. Ihre Mitarbeiter waren nur Handlanger, Palladine und Kuli!" Seine Einlieferung im Februar 1937 schilderte Zielke als regelrechte Entführung, und nach seiner Freilassung 1942 fühlte er sich von Riefenstahl kontrolliert und manipuliert.

DAS STAHLTIER

Das war starker Tobak. Was ist davon zu halten? Die Charaktereigenschaften, die Zielke Leni Riefenstahl zuschreibt - maßloser Ehrgeiz und Geltungssucht -, sind gut belegt. In den Credits des Olympiafilms, wie man ihn heute auf DVD bekommt, wird außer Riefenstahl selbst nur Komponist Herbert Windt namentlich genannt - Zielke kommt nicht vor. Möglicherweise schwante ihm das bereits Anfang 1937, und er wollte dagegen vorgehen, denn im Januar ließ er seinen mit Riefenstahl geschlossenen Vertrag durch einen Notar beglaubigen. Seine Einlieferung im Februar verhinderte weitere Schritte, falls er sie denn vorgehabt hatte. Aufschlussreich ist auch die Geschichte der Credits von DAS BLAUE LICHT. Riefenstahls erste Regiearbeit war ein Gemeinschaftswerk. Riefenstahl, der ungarische Filmtheoretiker und Drehbuchautor Béla Balázs und Carl Mayer, der wichtigste Filmautor der Weimarer Republik, schrieben das Drehbuch (wobei Mayers Anteil ziemlich unklar ist), Riefenstahl und Kameramann Hans Schneeberger erprobten gemeinsam innovative Techniken, insbesondere den Einsatz von Infrarot-Filmmaterial in Verbindung mit diversen Filtern (die Anregung dazu kam laut Hanno Loewy von Balázs), bei Riefenstahls Szenen als Darstellerin übernahm Balázs die Co-Regie, den Schnitt übernahmen Riefenstahl und ihr Lehrmeister Arnold Fanck, der Hauptteil der Finanzierung kam von dem Bankkaufmann Henry R. Sokal (auch als Harry Sokal bekannt). Als der Film im März 1932 ins Kino kam, hieß es in den Credits noch "Eine Berglegende aus den Dolomiten. Nacherzählt in Bildern von Leni Riefenstahl, Béla Balázs, Hans Schneeberger", und "hergestellt vom Leni Riefenstahl-Studio der H.R. Sokal-Film". Fanck und Mayer fehlten bereits. Als es 1938 im Gefolge der Olympiafilme zur erneuten Kino-Auswertung kam, hieß es "Eine Berglegende, erzählt und ins Bild gesetzt von Leni Riefenstahl". Balázs und Produzent Sokal (beide Juden, und Balázs obendrein Kommunist) fehlten jetzt natürlich, aber auch der durchaus "arische" Schneeberger musste hinter Riefenstahls Ego zurücktreten. 1952 kam eine leicht gekürzte und bearbeitete Fassung in die Kinos der Bundesrepublik, und jetzt erfuhr man: "Leni Riefenstahl Produktion zeigt: DAS BLAUE LICHT / Eine Berglegende von Leni Riefenstahl / Mitarbeit am Drehbuch: Béla Balázs / Buch Regie Bildgestaltung Leni Riefenstahl". Balázs ist also wieder drin (im Gegensatz zu Sokal), aber nur mit einem Trostpreis. (Übrigens befinden sich auf der Arthaus-DVD des Films sowohl die längere als auch die etwas kürzere Fassung, und erstere wird ausdrücklich als "Premierenfassung" beworben. Diese enthält jedoch nicht die originalen Credits, sondern die von 1952, nur das "Leni Riefenstahl Produktion zeigt:" wurde weggelassen. Es ist ein Ärgernis, um nicht zu sagen ein Skandal, dass Arthaus die Riefenstahl'sche Geschichtsklitterung noch posthum unterstützt.) À propos "Berglegende": Riefenstahl hat im Lauf der Jahrzehnte diverse Versionen davon verbreitet, wo der Stoff für DAS BLAUE LICHT hergekommen sein soll. Mal war es die besagte "Legende", mal kam es als Eingebung oder Vision über sie. In Wirklichkeit beruhte die Handlung auf der 1930 erschienenen Novelle "Bergkristall" des österreichisch-schweizerischen Schriftstellers Gustav Renker, der ihr von Fanck empfohlen worden war. Natürlich kommt auch Renker in keiner Version der Credits vor.

DAS BLAUE LICHT - Endpunkt einer Metamorphose

Da Riefenstahl bei der Produktion von DAS BLAUE LICHT ihren Beitrag zum Budget nur mit Mühe aufbringen konnte, hatte Balázs seine Honorarforderung zunächst zurückgestellt. Als der Film dann Geld einspielte, wollte Riefenstahl trotzdem nicht zahlen. Ende 1933 strengte Balázs einen Prozess an, doch Riefenstahl holte sich Hilfe bei ihren neuen Freunden. Ihr damals engster Vertrauter in der Nazi-Prominenz neben Hitler war Julius Streicher, Gauleiter von Franken und Herausgeber des Hetzblattes "Der Stürmer", selbst für Nazi-Verhältnisse ein besonders wüster Antisemit. Am 11. Dezember schrieb Riefenstahl einen handschriftlichen Brief an Streicher mit folgendem kurzen Inhalt: "Ich erteile Herrn Gauleiter Julius Streicher aus Nürnberg - Herausgeber des "Stürmer" Vollmacht in Sachen der Forderung des Juden Bela Balacs [sic] an mich. Leni Riefenstahl". Natürlich hatte Balázs keine Chance mehr, an sein Geld zu kommen. Auch nach dem Krieg sah der 1949 Verstorbene nichts davon. Dass Riefenstahl ziemlich unangenehm werden konnte, zeigt auch der Fall Schünemann. Als Riefenstahl 1934 ihre Kameramänner für TRIUMPH DES WILLENS zusammensuchte, forderte sie auch Emil Schünemann zur Mitarbeit auf, doch der lehnte telefonisch mit der Begründung, der Auftrag sei unter seiner Würde, ab. Darauf schwärzte ihn Riefenstahl in einem Brief an Carl Auen, den Leiter der Reichsfachschaft Film innerhalb der Reichsfilmkammer, an. Von Auen zur Stellungnahme aufgefordert, redete Schünemann sich damit heraus, es sei generell unter seiner Würde, unter einer Frau zu arbeiten. Damit ließ es Auen bewenden, aber Riefenstahl kartete in einem zweiten Brief an Auen nach: "[...] aber das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Äusserung von Herrn Schünemann ein Boykott gegen den Führer ist. [...] Wenn der Führer es nicht unter seiner Würde findet, mich mit der künstlerischen Oberleitung dieser Arbeit zu betrauen, so ist es zumindest eigenartig, wenn Herr Schünemann es unter seiner Würde findet, dies anzuerkennen. [...] Aus diesem Grunde habe ich es notwendig gefunden, Ihnen dies mitzuteilen." Anfang 1949 veröffentlichte Die Welt die beiden Briefe Riefenstahls, und Schünemann antwortete in einem Leserbrief mit der Überschrift "Flucht vor Leni". Darin schreibt er, "[...] Da für mich daraufhin sehr dicke Luft war, habe ich auf Veranlassung des Herrn Alberti, der damals Leiter der Kulturabteilung und Vorgesetzter des Herrn Auen war, die Angelegenheit dahin abgeändert, daß es unter meiner Würde sei, unter Leni Riefenstahl zu arbeiten [Schünemann hatte in mindestens einem Film mit dem früheren Schauspieler Fritz Alberti zusammengearbeitet]. [...] Mich hätte sie seinerzeit gern der Gestapo ausgeliefert, wenn Herr Alberti mich nicht gedeckt hätte."

DAS STAHLTIER

Aber wie steht es mit dem "Fall Zielke"? Hat Riefenstahl ihn wirklich in die Psychiatrie einweisen lassen? Das ist eher unwahrscheinlich. Sie besaß die besondere Protektion Hitlers und gute Beziehungen zu weiteren Nazi-Bonzen wie Streicher, Albert Speer und Martin Bormann. Ihre Manipulationen mit den Credits konnte sie gefahrlos durchführen, ohne jemanden ins Irrenhaus stecken zu müssen - spätestens seit TRIUMPH DES WILLENS war sie für jemanden wie Zielke juristisch unangreifbar. Seine Krankenakte ist zu unergiebig, um die Diagnose "Schizophrenie" zu belegen, aber Zielkes Verhalten legt den Verdacht nahe, dass er zumindest zeitweise an irgendeiner Form von Verfolgungswahn litt. Und im Anhang von Lutz Kinkels Riefenstahl-Biographie werden zwei Briefe erwähnt, die Zielkes erste Frau Elfriede 1937 und 1938 an Walter Traut, den Produktionsleiter von Riefenstahls Olympia-Film GmbH, bzw. einen "Carl Froehlich" (ich nehme an, Kinkel meint den Regisseur und Filmfunktionär Carl Froelich) schrieb, aus denen zweifelsfrei hervorgehen soll, dass Riefenstahl Zielkes Einweisung nicht veranlasst hat. Leider kenne ich den konkreten Inhalt dieser Briefe nicht, aber da Kinkel in seinem Buch insgesamt sehr kritisch mit Riefenstahl umgeht, darf man davon ausgehen, dass er sie in diesem Punkt nicht leichtfertig freispricht.

DAS STAHLTIER

Zielke hat sich körperlich nie vollständig von seiner Zeit in der Psychiatrie erholt. Nach dem Krieg stellte er einen Antrag auf Entschädigung für die Zwangssterilisation, der jedoch abgelehnt wurde, weil die Sterilisation nach dem damals geltenden Recht legal gewesen sei. Er arbeitete u.a. als Übersetzer für Russisch in den Filmstudios Babelsberg, 1952 veröffentlichte er das Büchlein über Aktfotografie mit dem Titel nakt, das antiquarisch noch zu haben ist. In den 50er Jahren konnte er wieder einige meist kurze Dokumentationen drehen. In VERZAUBERTER NIEDERRHEIN (1953) und VERLORENE FREIHEIT (1956) gibt es "weich gezeichnete Traumbilder und bedeutungsvolle Landschaften" (Gesine Haseloff) zu sehen, dann folgen mit SCHÖPFUNG OHNE ENDE (1956, nur Kamera) und ALUMINIUM - PORTRÄT EINES METALLES (1957) zwei Industriefilme. Für SCHÖPFUNG OHNE ENDE gewinnt Zielke 1957 beim Deutschen Filmpreis ein Filmband in Silber für die beste Farbfilmkameraführung, allerdings nicht er allein, sondern als Mitglied eines Teams von fünf Kameramännern, die diesen Film im Auftrag der chemischen Industrie filmten. Bei allen Nachkriegsfilmen Zielkes stammte die Musik von Oskar Sala, der mit seinem Mixturtrautonium auch den Soundtrack zu Hitchcocks DIE VÖGEL lieferte. Nachdem in den frühen 50er Jahren eine vollständige Kopie von DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française auftauchte und nach Deutschland gelangte, machte sich die Deutsche Bundesbahn an die Veröffentlichung. Doch die Bundesbahn als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn schien auch deren Bedenken geerbt zu haben. Der bei der Bahn versammelte Filmfachverstand entschied, dass DAS STAHLTIER in der vorliegenden Form nicht zur Veröffentlichung geeignet sei, und Zielke wurde gedrängt, den Film zu kürzen. So kam 1954 nur eine verstümmelte 43-minütige Version in die Kinos. Nur gelegentlich bekam ausgewähltes Publikum die Langfassung zu sehen. Erst 1985 wurde der vollständige Film in einigen Dritten Programmen im Fernsehen gezeigt, nachdem der Bayerische Rundfunk schon 1982 ein Portrait Zielkes ausstrahlte, in dem er selbst auftrat, das jedoch nur die Zeit bis Anfang 1937 behandelte. Ein übermäßiges Medienecho scheinen diese Sendungen nicht hervorgerufen zu haben, ich konnte jedenfalls nichts darüber finden. In seinen späten Jahren wurde der frühe Zielke als Fotograf wiederentdeckt. Es gab Ausstellungen seiner Werke aus den 20er Jahren, auch im Ausland, und in Frankreich wurde ihm dafür sogar eine Medaille zugesprochen. Zielke starb 1989 in Bad Pyrmont. Zwei Jahre zuvor hatte er von der Bundesrepublik doch noch eine Entschädigung für die Zwangssterilisation in Höhe von 5000 DM erhalten.

DAS STAHLTIER

Im März 2010 sendete das 3. Programm des WDR eine Folge der Serie "Vorfahren gesucht", in der sich Ann-Kathrin Kramer mit Hilfe eines Ahnenforschers auf die Spuren ihres Großonkels Willy Zielke begibt, den sie nicht persönlich kannte, und von dem sie bis dahin fast nichts wusste. Zwar werden manche etwa schon aus Kinkels Buch bekannte Tatsachen als neu präsentiert, und Riefenstahl entlastende Dokumente wie die Briefe von Elfriede Zielke werden nicht erwähnt, trotzdem ist die Sendung seriös gemacht, und Kramer agiert nachdenklich und zurückhaltend. Das plakative Zitat, das ihr von Bild am Sonntag in den Mund gelegt wurde, fällt im Film nicht. Als Reaktion auf den Film gab es einige Presseberichte, neben dem in Bild am Sonntag auch seriösere wie diesen in der Berliner Zeitung. Im Juni 2010 gab es im 3sat-Magazin "Kulturzeit" einen Beitrag über Zielke; im März und April 2011 griff eine Ausstellung in München, die sich der unrühmlichen Vergangenheit der Psychiatrischen Klinik Haar widmete, Zielkes Schicksal exemplarisch heraus, und in Verbindung damit wurden ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN und DAS STAHLTIER im Münchner Filmmuseum gezeigt. Es hat sich also etwas getan - aber der Obskurität entrissen, etwa im Vergleich zu Walter Ruttmann, ist Zielke noch lange nicht.


Quellen:

Martin Loiperdinger: Die Geschichte vom "Stahltier". Willy Zielke und die Reichsbahn (filmwärts, 2/1994, S. 50-55), online als PDF hier abrufbar

Stefan Vockrodt: Bewegung! Der Dampflokfilm schlechthin? Willy Zielkes "Das Stahltier" war und ist umstritten - aber zweifellos ein Höhepunkt der Avantgarde (Eisenbahn Geschichte 42, Okt./Nov. 2010, S. 70-76)

Hans-Jürgen Tast: Das Stahltier. Die Bahn im Schatten deutscher Geschichte (Philatelie 398, Aug. 2010, S. 31-34)

Hanno Loewy: Das Menschenbild des fanatischen Fatalisten oder: Leni Riefenstahl, Béla Balázs und DAS BLAUE LICHT (Universität Konstanz 1999), online hier abrufbar

Kurzbiographie Zielkes auf film-zeit.de von Gesine Haseloff

Lutz Kinkel: Die Scheinwerferin. Leni Riefenstahl und das "Dritte Reich" (Europa Verlag, 2002)

Rainer Rother: Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents (Henschel Verlag, 2000, als Taschenbuch Heyne Verlag, 2003)

Zielkes Nachlass (darunter Produktionsfotos von DAS STAHLTIER) wird im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt. Wenn man Zielkes Texte lesen will, muss man leider persönlich dort hinfahren.