Dienstag, 6. März 2012

LA PASSION DE JEANNE D'ARC

Dies ist die stark gekürzte Fassung eines Textes, der 2006 als PDF in der Filmzentrale erschien.

LA PASSION DE JEANNE D'ARC (dt. DIE PASSION DER JEANNE D'ARC, DIE PASSION DER JUNGFRAU VON ORLEANS)
Frankreich 1928
Regie: Carl Theoder Dreyer
Darsteller: Maria Falconetti (Jeanne d'Arc), Eugène Silvain (Pierre Cauchon), Maurice Schutz (Nicolas Loyseleur), Gilbert Dalleu (Jean Lemaître), André Berley (Jean d'Estivet), Louis Ravet (Jean Beaupère), Antonin Artaud (Jean Massieu), Paul Delauzac (Martin Ladvenu)


Das Leben der Jeanne d'Arc gehört wohl zu den am häufigsten verfilmten historischen Begebenheiten. Bekannte und weniger bekannte Regisseure und Darstellerinnen versuchten sich daran - hier nur eine Auswahl: Georges Méliès mit Jeanne d'Alcy (1899), Cecil B. DeMille mit Geraldine Farrar (1917), Victor Fleming mit Ingrid Bergman (1948), Roberto Rossellini ebenfalls mit Ingrid Bergman (1954), Jean Delannoy mit Michèle Morgan (1954), Otto Preminger mit Jean Seberg (1957), Robert Bresson mit Florence Carrez (1962), Jacques Rivette mit Sandrine Bonnaire (1994), zuletzt Luc Besson mit Milla Jovovich (1999). Aber Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC nimmt in der Filmgeschichte einen besonderen Rang ein.


In den Jahrhunderten nach ihrer Hinrichtung wurde Jeanne d'Arc zur inoffiziellen Nationalheiligen Frankreichs. Im 20. Jahrhundert kam neue Bewegung in die Angelegenheit. Jeanne wurde 1909 selig- und 1920 heiliggesprochen. Im selben Jahr wurde sie vom französischen Parlament zur Schutzpatronin Frankreichs erklärt, und ein jährlicher nationaler Feiertag ihr zu Ehren wurde eingeführt. Da sich obendrein der 500. Jahrestag ihres Todes näherte, besaß das Thema Jeanne d'Arc damals also eine besondere Aktualität in Frankreich. Journalisten, Schriftsteller und Historiker verfassten Bühnenstücke, Romane und Biographien über Jeanne.


In dieser Situation erhielt Carl Theodor Dreyer 1927 von der Produktionsgesellschaft Société Générale de Films (SGF) das Angebot, einen biographischen Spielfilm zu drehen. Er konnte als Thema zwischen Katharina von Medici, Marie Antoinette und Jeanne d'Arc wählen und entschied sich für letzteres (nach einigen Quellen wurde diese Frage durch das Ziehen von Losen entschieden).

Pierre Cauchon (l.o.), Nicolas Loyseleur (r.o.), Jean Lemaître (l.u.), Jean Beaupère
Zunächst war geplant, ein Drehbuch von Joseph Delteil zu verwenden. Dieser hatte 1925 einen Roman mit dem Titel "Vie de Jeanne d'Arc" veröffentlicht, dessen Erfolg ihm den Auftrag von SGF eintrug. Kurzzeitig arbeitete Dreyer gemeinsam mit Delteil, doch dann traf er eine radikale Entscheidung. Er verwarf das Drehbuch von Delteil und beschloss, ein neues zu schreiben, das sich sehr eng an die Prozessakten von 1431 halten sollte. Wie schon zuvor Delteil, beschränkte sich Dreyer auf den Prozess und die Hinrichtung und ließ all die Schlachten und malerischen Episoden beiseite. Delteil hatte im Vorwort seines Jeanne-Romans die Parole "Nieder mit dem Dokument!" ausgegeben. Dreyers Hinwendung zum historischen Dokument stellte demgegenüber eine Kehrtwendung dar. Als wissenschaftlicher Berater wurde der Historiker Pierre Champion engagiert, einer der führenden Jeanne-Experten Frankreichs. Von Delteils ursprünglichem Drehbuch blieben nur wenige Elemente in Dreyers endgültiger Fassung erhalten. Die Dialoge zwischen Jeanne und den Richtern, die in den Zwischentiteln zu lesen sind, entstammen tatsächlich zum größten Teil wörtlich den Prozessakten. Für die Dialoge der anderen Protagonisten untereinander gilt das nur in eingeschränktem Maß, aber diese stellen sowieso nur einen kleinen Teil der Zwischentitel dar. Das alles bedeutet aber nicht, dass sich Dreyer keine Freiheiten herausnahm - er tat es sehr wohl. Die bedeutendste bestand darin, dass er das Geschehen, das sich in der Realität über viele Wochen hinzog, auf einen einzigen Tag komprimierte.

Der Earl of Warwick
In der ursprünglichen, von Dreyer intendierten Form hatte der Film keine Anfangs- und Endcredits. Nichts sollte die Illusion schmälern, wie durch ein Schlüsselloch die Realität zu beobachten, so sagte Dreyer. Und tatsächlich schrieben einige Kritiker seinerzeit, man habe das Gefühl, wie in einer Wochenschau realen Ereignissen beizuwohnen. Von späteren Restauratoren des Films wurden allerdings Anfangscredits hinzugefügt. Leider wurde dabei nicht besonders sorgfältig vorgegangen. Nicht nur wurden Namen falsch geschrieben, es wurde auch bei der Zuordnung von Darstellern und ihren Rollen gepatzt.


Der eigentliche Film beginnt dann mit einem Blick auf ein aufgeschlagenes Buch, das einen Ausschnitt der Akten von 1431 enthält. Auch dieser Kniff dient dazu, beim Publikum das Gefühl der Authentizität zu erhöhen. Als drittes Stilmittel, das diesem Zweck dient, wird über den ganzen Film hinweg immer wieder einer der Schreiber ins Bild gebracht, die das Geschehen für die Nachwelt festhalten.


Der erste Abschnitt des Prozesses findet vor großer Besetzung in einer Kapelle im Kastell von Rouen statt. Im Hintergrund sind englische Soldaten als Wachen postiert. Die Engländer sind leicht zu erkennen an ihren Waffen und an den schüsselförmigen Helmen, die an diejenigen der englischen Truppen im ersten Weltkrieg erinnern. Etwas abgesetzt von den Beisitzern sind die Hauptankläger und -richter postiert. Da ist zunächst Bischof Pierre Cauchon, der Chef des Verfahrens. Er wird dargestellt von Eugène Silvain, dem Doyen der Comédie-Française. Silvain war einst einer von Maria Falconettis Lehrern am Pariser Konservatorium. Ihm zur Seite steht Jean Lemaître, gespielt von Gilbert Dalleu. Er hat seinen spärlichen Haarkranz über den Ohren hochgezwirbelt, so dass er von vorne aussieht, als hätte er zwei Hörner. Nicolas Loyseleur, gespielt von Maurice Schutz, ist der gerissenste der Richter. Wo der machtbewusste und polternde Cauchon die direkte Konfrontation sucht, greift Loyseleur lieber auf eine Hinterlist zurück. Die beiden letzten der wichtigeren Richter sind Jean d'Estivet und Jean Beaupère, gespielt von André Berley und Louis Ravet. Alle genannten Darsteller waren angesehene Theater- und Filmschauspieler. Maurice Schutz taucht auch in Dreyers nächstem Film VAMPYR wieder auf.


Nicht nur Jeanne, sondern auch die Richter werden argwöhnisch beäugt vom feisten Earl of Warwick, dem Kommandanten der Engländer in Rouen. Sein Darsteller war ein Exilrusse, der einst in St. Petersburg ein Restaurant besaß, in dessen Hinterzimmern Rasputin seine Orgien abzuhalten pflegte. Nach dem Schwenk über die Richter wird Jeanne in den Saal geführt; die Männerkleidung und ihr kurzer Haarschnitt verleihen ihr ein burschikoses Aussehen, aber ihr Blick ist skeptisch und ängstlich. Nach Jeannes Vereidigung beginnt die Befragung. Die Richter versuchen, sie mit ihren Fragen in die Falle zu locken, aber Jeanne verteidigt sich geschickt. Die Engländer sind über ihre Antworten aufgebracht, aber die Richter sind eher ratlos, weil Jeanne den theologischen Fallstricken der Fragen geschickt entronnen ist. Maria Falconettis Darstellung macht jedoch unmißverständlich klar, dass Jeannes Antworten nie spitzfindig sind, sondern ihrem schlichten, um nicht zu sagen naiven Glauben entspringen.


Da der bisherige Prozess wenig erbracht hat, erschleicht sich der schlaue Loyseleur mit Hilfe eines gefälschten Briefs von König Karl VII. Jeannes Vertrauen, um sie zu manipulieren. Danach beginnt die zweite Befragungsrunde. Ein junger Mönch namens Jean Massieu warnt Jeanne besorgt vor Loyseleurs Fangfragen. Er und ein weiterer Mönch, Martin Ladvenu, sind Jeannes einzige verbliebene Unterstützer unter den Richtern und Beisitzern. Massieus Darsteller Antonin Artaud gehört zu den interessantesten Namen auf der Besetzungsliste. Der Schriftsteller, Bühnenschauspieler und Theatertheoretiker entwarf in den 20er und 30er Jahren sein Konzept des "Theaters der Grausamkeit". Durch Aufhebung der Distanz zwischen Schauspielern und Publikum, durch grelle Bühneneffekte, die alle Sinne ansprachen, und durch Rückbesinnung auf kultische, rituelle Wurzeln des Theaters wie in der griechischen Tragödie, wollte er eine Überwindung des gepflegt-bürgerlichen Literaturtheaters herbeiführen und bei den Zuschauern einen quasireligiösen Reinigungs- und Läuterungsprozess bewirken. Artauds Versuche, sein Konzept als Autor, Regisseur und Theaterleiter umzusetzen, waren beim zeitgenössischen Publikum von wenig Erfolg gekrönt, aber durch seine Schriften beeinflusste er viele nach ihm kommende Autoren und Regisseure, so dass er auf lange Sicht zu einem der einflussreichsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts wurde. Seine gelegentlichen Ausflüge zum Film waren demgegenüber von untergeordneter Bedeutung.


Massieus Einmischung lässt Cauchon außer sich geraten. Wütend brüllt er Massieu an, wobei ihm im wahrsten Sinn des Wortes der Geifer aus dem Mund rinnt, und Massieu weicht erschrocken zurück. Es folgen weitere verfängliche Fragen an Jeanne, doch ihre geschickten Antworten hinterlassen die Richter verblüfft und konsterniert. Diese Runde ging an Jeanne. Loyseleur - ausgerechnet Jeannes vorgeblicher Freund - gibt nun die Anweisung, die Folterkammer vorzubereiten. Unterdessen ist Jeanne in der Zelle allein mit den Wachen. Diese treiben ihren Schabernack mit ihr, indem sie ihr eine Krone aus Stroh, die sie geflochten hat, auf den Kopf setzen, und ihr einen Pfeil wie ein Zepter in die Hand drücken. "Sie sieht wirklich wie eine Tochter Gottes aus, ha?", scherzen sie. Die Parallelen zur Verspottung Christi durch die römischen Soldaten sind unverkennbar. Der herbeigekommene Massieu beendet schließlich das unwürdige Schauspiel und tröstet Jeanne.


Dritter Akt: In der Folterkammer. Jeanne wird hereingeführt, "um ihr die Instrumente zu zeigen", wie es so schön heißt. Und die Instrumente sind eindrucksvoll - vor allem eine Trommel mit über zwei Metern Durchmesser, die wie ein überdimensionales Laufrad eines Hamsters aussieht, nur dass aus der Außenseite der "Lauffläche" Dutzende von haifischflossenförmigen Messern hervorragen. Jeanne wird jetzt aufgefordert einzugestehen, dass ihre Visionen nicht von Gott kamen, sondern ihr vom Teufel eingeflüstert wurden. Eine vorbereitete Erklärung wird ihr vorgelegt, die sie nur unterschreiben muss, doch sie lehnt natürlich ab. Die Instrumente werden von den Folterknechten jetzt in Bewegung gesetzt. Insbesondere wird das große Rad mit den Messern durch eine Kurbel in Drehung versetzt, zuerst nur langsam, doch dann immer schneller, bis das Auge der rasenden Bewegung der Messer nicht mehr zu folgen vermag. Die Vorstellung verfehlt ihre Wirkung auf Jeanne nicht - sie ist sichtlich schockiert. Aufgewühlt gibt sie eine Erklärung ab: "Auch wenn ihr meine Seele vom Körper trennt, werde ich nichts gestehen. Und wenn ich doch etwas gestehe, werde ich später aussagen, dass es mir abgezwungen wurde!" Dann sind die psychischen Strapazen zuviel für sie, und sie bricht ohnmächtig zusammen. Doch ihre Ankündigung führt dazu, dass die Richter (wie auch im echten Prozess) eine Folterung für sinnlos erachten und davon absehen. Die ohnmächtige Jeanne wird wieder in ihre Zelle gebracht. Die Ärzte beschließen, Jeanne zur Ader zu lassen. Mit einem Tuch wird ihr Oberarm abgebunden, dann wird mit einem spitzen Stilett eine Ader in der Armbeuge angestochen, so das das Blut in einem kräftigen Bogen herausschießt. Es ist echtes menschliches Blut, das da aus einem echten Arm hervorschießt (allerdings gehörte der Arm nicht Falconetti, sondern einem Double).


Nachdem Jeanne bei einer weiteren Befragung nicht nur nicht gesteht, sondern sagar die Richter beschuldigt, vom Teufel gesandt zu sein, beschließt Cauchon, sie dem Henker zu übergeben. Der nächste Akt spielt auf dem Friedhof - zum erstenmal gibt es Außenaufnahmen zu sehen. Die immer noch geschwächte Jeanne wird auf einer Trage hinausgetragen. Auf dem symbolträchtigen Ort wird Jeanne von einem Priester eine Strafpredigt gehalten, die als letzte Chance zur Umkehr gedacht ist, aber die jetzt apathisch wirkende Jeanne nimmt seine Worte kaum noch wahr. Jeannes Gesichtsausdruck macht klar, dass sie mit sich kämpft: Sie hängt am Leben, sie will noch nicht sterben. Die Stimme des Predigers dringt wieder zu ihr durch: "Wenn Du nicht unterschreibst, wirst Du lebendig verbrannt werden ... der Scheiterhaufen wartet auf dich!" Jeannes Augen weiten sich vor Schreck. Loyseleur greift auch wieder ein und beschwatzt sie, und auch Massieu und Ladvenu reden auf sie ein. Da hält sie dem psychischen Druck nicht mehr stand - sie unterschreibt die Erklärung, dass sie nicht im göttlichen Auftrag unterwegs war, sondern Einflüsterungen des Teufels erlegen war. Damit ist das Todesurteil aufgehoben, aber wegen ihrer "großen Sünden" wird sie zu lebenslänglicher Haft verurteilt, wo sie "das Brot des Leidens essen und das Wasser der Qualen trinken" soll, wie sich Cauchon ausdrückt. Jeanne nimmt es resigniert, aber gefasst zur Kenntnis. Als ihr Loyseleur gratuliert, quittiert sie es mit einem gequälten, bitteren Lächeln. Für die Richter ist Jeannes Erklärung und die damit verbundene Unterwerfung unter die Autorität der Kirche ein größerer Triumph, als es ihre Hinrichtung gewesen wäre. Der Earl of Warwick sieht das jedoch anders. "Sie hat nur Narren aus euch gemacht", herrscht er Loyseleur an. Unter dem anwesenden Volk gibt es inzwischen erste Sympathiebekundungen für Jeanne. "Lang lebe Jeanne!" ruft einer. Es bekommt ihm schlecht - englische Soldaten ergreifen ihn und werfen ihn gefesselt in einen Teich.


Als Zeichen ihres Status als Büßerin werden der weinenden Jeanne die ohnehin schon kurzen Haare geschoren, so dass kaum mehr als Stoppeln übrig bleiben. Gleichzeitig findet auf dem Platz der abgesagten Hinrichtung ein Volksfest statt, auf dem Gaukler und Artisten ihre Kunststücke zum besten geben. Während Jeanne sieht, wie ihre Haare auf dem Boden zusammengekehrt werden, scheint sie über etwas nachzudenken, und als auch ihre Strohkrone vom Besen auf die Schaufel befördert wird, fasst sie einen plötzlichen Entschluss: Sie verlangt, die Richter herbeizurufen, weil sie ihren Widerruf zurücknehmen will. "Ich habe eine große Sünde begangen", erklärt sie Cauchon und den anderen Richtern, "ich habe Gott verleugnet, um mein Leben zu retten." Das aber ist ihr unverrückbares Todesurteil. Selbst die meisten Richter scheinen jetzt bedrückt oder gar bestürzt zu sein, nicht einmal Cauchon freut sich. "Hast Du uns nichts mehr zu sagen?" fragt er, und er blickt nachdenklich, als Jeanne den Kopf schüttelt. Jeanne dagegen scheint erleichtert zu sein, dass sie sich zu diesem Schritt durchgerungen hat - obwohl sie weiß, dass sie der Tod erwartet.


Damit beginnt der letzte Abschnitt des Films. Massieu und Ladvenu bereiten Jeanne auf ihre letzte Stunde vor. Der Respekt vor Jeannes Entscheidung hat einen ungewöhnlichen Vorgang zur Folge (der sein Gegenstück im echten Prozess hatte): Obwohl sie als "rückfällige Ketzerin" eigentlich exkommuniziert ist, erhält sie die Erlaubnis, die Beichte abzulegen und die Kommunion zu empfangen, und Jeanne ist überglücklich darüber. Während auf dem Pfahl am Scheiterhaufen eine Tafel mit dem Schuldspruch angebracht wird: Heretique Relapse - Apostate - Idolatre (rückfällige Ketzerin - Abtrünnige - Götzendienerin) - währenddessen findet in der Zelle ein kleiner Gottesdienst mit Jeanne statt. Einer der dabei Anwesenden trägt eine Brille, die man auch heute tragen könnte, ohne aufzufallen. Über diesen vermeintlichen Anachronismus gab es manche Spekulation. Allerdings gab es Brillen in Europa schon seit dem 13. Jahrhundert, wenn sie auch anders aussahen als heute. Es handelt sich bei dieser modern anmutenden Brille eher um eine ähnlich starke Stilisierung wie bei den Kulissen (auf die ich noch zu sprechen komme), als um einen echten Anachronismus.


Nach der Messe ist es soweit. Während die Bevölkerung von Rouen zur Hinrichtungsstätte im Kastell strömt, wird Jeanne barfuß und im Büßergewand zum Scheiterhaufen geführt. Als der Scheiterhaufen entzündet wird, erhebt sich von der Kuppel der nahegelegenen Kirche ein Schwarm Tauben in den Himmel. Während die Flammen langsam höher schlagen, hält ihr Massieu das an einer Stange befestigte Kruzifix vor das Gesicht. Unterdessen braut sich in der Bevölkerung etwas zusammen. Viele weinen, und als Jeanne das Bewusstsein verliert, ruft einer "Ihr habt eine Heilige verbrannt!". Das ist das Fanal zu einem Aufruhr. (Hier hat sich Dreyer eine künstlerische Freiheit herausgenommen - in Wirklichkeit fand dieser Aufruhr nicht statt.) Der Earl of Warwick hatte derartiges schon kommen sehen und Morgensterne an die Soldaten ausgeben lassen. Die revoltierende Bevölkerung wird jetzt mit brutaler Gewalt aus dem Kastell geknüppelt. Diese Sequenz ist ungeheuer dynamisch und turbulent im Stil eines der russischen Revolutionsfilme der 20er Jahre inszeniert und geschnitten. Von den Mauern des Kastells werden Speere auf die Bevölkerung geschleudert, und sogar ein Zwillingsgeschütz wird in Stellung gebracht und abgefeuert. Mit diesem Geschütz verhält es sich ähnlich wie mit der Brille: In der Phase des Hundertjährigen Krieges, die den Ereignissen im Film vorausging, wurden durchaus Kanonen eingesetzt. Diese dürften aber kaum Zwillingsgeschütze gewesen sein, und vermutlich ließen sie sich auch nicht so schnell und elegant auf ein Ziel ausrichten wie bei Dreyer. Also auch hier eine starke Stilisierung, aber kein wirklicher Anachronismus. Casper Tybjerg (ein Dreyer-Experte von der Universität Kopenhagen) deutet in einem Audiokommentar die Kanonen als Dreyers Referenz an Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN, und da mag er recht haben. Dreyer hatte POTEMKIN 1927 gesehen und sehr bewundert.


Während der Aufruhr tobt, gibt es einige Zwischenschnitte auf Jeannes am Pfahl zusammengesunkenen Körper, der ein Raub der Flammen wird. Sie ist durch das Feuer und den Qualm nur noch schemenhaft zu erkennen, aber gerade das lässt diese Szenen beklemmend echt und geradezu erschütternd wirken. Nachdem die Engländer die Bevölkerung aus dem Kastell getrieben haben und die Zugbrücke hochziehen, ist als letztes Bild des Films das obere Ende des Pfahls und daneben ein auf dem Dach der Kirche befindliches Kreuz zu sehen - nebeneinander sozusagen das Symbol von Jeannes Tod und das Symbol ihres Weiterlebens. Danach wird noch eine Texttafel eingeblendet: "Die Flammen beschützten Jeannes Seele, als sie sich zum Himmel erhob - Jeanne, deren Herz zum Herzen Frankreichs wurde, Jeanne, deren Andenken immer gehütet werden wird vom französischen Volk." Dieser schwülstige Text will irgendwie nicht so recht zu Dreyer passen. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich von ihm stammt, oder von den Leuten, die die Anfangscredits verbrochen haben.


LA PASSION DE JEANNE D'ARC ist kein Historiendrama, sondern ein menschliches und spirituelles Drama - eine "Hymne auf den Triumph der Seele über das Leben", wie Dreyer das einmal ausgedrückt hat; es ist aber vor allem eine Leidensgeschichte - nicht umsonst steht das Wort "Passion" im Titel. Von der Gestaltung her ist es ein Film der Gesichter, und zwar der Gesichter als Seelenlandschaften. Dreyer hat seine Gedanken darüber einmal folgendermaßen formuliert: "Nichts in der Welt kann mit dem menschlichen Gesicht verglichen werden. Es ist eine Landschaft, die zu erforschen man niemals müde wird. Es gibt keine größere Erfahrung in einem Studio, als Zeuge zu sein beim Ausdruck eines empfindsamen Gesichts unter der geheimnisvollen Kraft der Inspiration. Zu sehen, wie es von innen heraus beseelt wird und sich in Poesie verwandelt." Hierzu werden so ausgiebig Großaufnahmen verwendet wie in kaum irgendeinem anderen Film. Viele zeitgenössische Kritiken erwähnten diesen Punkt, und manche, die dem Film grundsätzlich positiv gegenüberstanden, beschwerten sich über das vermeintliche Übermaß.


Eine weitere Maßnahme, um Dreyers Vorstellungen vom menschlichen Gesicht adäquat umzusetzen, war der vollständige Verzicht auf jegliches Make-up bei den Darstellern. Das war so ungewöhnlich, dass es in den Kritiken seinerzeit vielleicht noch häufiger herausgestellt wurde als die Zahl der Großaufnahmen. Und das Ergebnis war bemerkenswert: Jedes Detail ist in den klaren, kontrastreichen Aufnahmen von Kameramann Rudolph Maté zu erkennen: Die drei dicken Warzen im grobschlächtigen Gesicht von Cauchon, die vielen Falten und Fältchen im Gesicht von Loyseleur, wenn er verschlagen lächelt, die Poren auf Jeannes Haut, die Fliege, die sich einmal auf ihrem Gesicht niederlässt - und immer wieder ihre Tränen. So werden die im doppelten Wortsinn ungeschminkten Gesichter zu Spiegeln der Seele. Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs hat das einmal so umschrieben: "Die Kamera penetriert jede Schicht der Physiognomie. Zusätzlich zum Gesichtsausdruck, den man trägt, enthüllt die Kamera das wahre Gesicht. Aus so nächster Nähe gesehen, wird das menschliche Gesicht zum Dokument." Dreyer profitierte dabei erheblich von der Entwicklung des panchromatischen Films, der seit etwa 1926 allgemein zugänglich war. Dieser war im ganzen Wellenlängenbereich des sichtbaren Lichts in etwa gleich empfindlich. Dagegen war der zuvor übliche orthochromatische Film im roten Spektralbereich unempfindlich. Diese Eigenschaft erforderte üblicherweise aufwendige Schminkprozeduren, um menschlichen Gesichtern ein natürliches Aussehen zu verleihen. Dreyers Konzept von LA PASSION DE JEANNE D'ARC wäre mit orthochromatischem Film völlig unmöglich gewesen.


Der eindrucksvollste Aspekt an LA PASSION DE JEANNE D'ARC ist zweifellos die Leistung von Maria Falconetti. Ihre Vorstellung wird seit Jahrzehnten zu Recht mit Superlativen belegt. Und in der Tat: Wie sie mit ihrer Mimik die tiefsten Gefühle und gleichzeitig subtile Nuancen ausdrückt, das ist einfach sagenhaft und lässt einem den Mund offen stehen. Natürlich sind es vorwiegend negative Gefühle: Unsicherheit, Angst, Trauer, Schmerz, bis hin zu tiefster Verzweiflung. Aber auch vorübergehend aufkeimende Hoffnung, ein bisschen Freude über kleine Dinge, und die Zuversicht, richtig zu handeln. All das wird so glaubwürdig vermittelt, ohne die geringste Spur von Overacting, dass Dreyer Falconetti in einem kleinen Aufsatz von 1929 zu Recht als die "Reinkarnation der Märtyrerin" bezeichnen konnte.


Falconetti wurde 1892 in einer Kleinstadt an der Seine als Renée Jeanne Falconetti geboren (die lange verbreitete Version, sie sei 1893 auf Korsika geboren, hat sich als falsch erwiesen); Maria Falconetti war ihr Künstlername auf Pariser Bühnen, wo sie vorwiegend in Boulevardstücken spielte. Seinerzeit wurde sie auch oft einfach nur Falconetti oder La Falconetti genannt; in heutigen Quellen findet man sie sowohl unter ihrem richtigen als auch unter ihrem Künstlernamen, oder auch in einer Kombination aus beidem. Schon 1917 spielte sie in zwei unbedeutenden Filmen mit den Titeln LE CLOWN und LA COMTESSE DE SOMERIVE, doch diese sind längst verschollen. So kommt es, dass in vielen Quellen behauptet wird, die Jeanne sei Falconettis einzige Filmrolle überhaupt gewesen - nicht ganz exakt, aber im Kern richtig. Dreyer hatte während der Vorbereitungszeit zum Film von Falconetti gehört und besuchte eine ihrer Vorstellungen. Daraufhin lud er sie zu einem Casting ein, das wie die Dreharbeiten ohne Make-up stattfand, und danach war er überzeugt, dass er die einzig wahre Jeanne vor sich hatte. Falconetti ihrerseits war sofort bereit, die Herausforderung anzunehmen. Aber Film war und blieb für sie etwas Nebensächliches, ihre Welt war das Theater.


Dreyer galt als ein Regisseur, der seinen Darstellern große Strapazen auferlegte, wenn er es für die Gestaltung der Rolle für erforderlich hielt. Gelegentlich hat ihm das sogar den Vorwurf des Sadismus eingetragen (andererseits wird berichtet, dass er abseits der Dreharbeiten ein überaus bescheidener und höflicher Mensch war). Von LA PASSION DE JEANNE D'ARC wird behauptet, dass er Falconetti einmal stundenlang auf dem Boden knien ließ, um sie in die richtige Stimmung für eine Szene zu versetzen. Allerdings scheint viel von diesen Geschichten von der Presse erfunden oder zumindest aufgebauscht worden zu sein. Lisbeth Movin und Birgitte Federspiel, die Hauptdarstellerinnen von VREDENS DAG bzw. ORDET, berichten übereinstimmend, dass sie von Dreyer sehr zuvorkommend und liebenswürdig behandelt wurden, und Hélène Falconetti bestätigt das in Bezug auf ihre Mutter. Trotzdem waren die Dreharbeiten für Falconetti sehr anstrengend. Psychisch besonders belastend für sie war der radikale Haarschnitt. Obwohl sie aus dem Drehbuch wusste, was da auf sie zukommt, hoffte sie die ganze Zeit, Dreyer umstimmen zu können, und als es soweit war, sträubte sie sich heftig. Erst nach langem Zureden von Dreyer willigte sie in die Prozedur ein.


Dreyer wusste sehr subtile Methoden einzusetzen. Er ging schon beim Casting sorgfältig vor und besetzte Schauspieler, die möglichst nicht nur oberflächlich, sondern vom Typ her zur Rolle passten, damit sie sich dann so weit wie möglich mit ihrer Rolle identifizieren konnten. Er ermunterte Falconetti und die anderen Darsteller auch, in ihrer Erinnerung und in ihrem Unterbewussten nach Emotionen zu suchen, die sie beim Spiel auf ihre Rolle projizieren konnten, um so ihre Ausdruckskraft zu steigern. Diese Methode wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem russischen Theaterregisseur und Schauspieltheoretiker Konstantin Stanislawskij entwickelt und an seinem Moskauer Art-Theater praktiziert. Von dort aus erregte die Stanislawskij-Methode in der Theaterwelt weltweite Aufmerksamkeit, wenn auch nicht ungeteilte Zustimmung, und auch der Film wurde darauf aufmerksam. Dreyer kam spätestens 1921 damit in Berührung, als er DIE GEZEICHNETEN drehte. Darin spielen einige russische Exilanten, die zuvor am Art-Theater tätig waren, allen voran Richard Boleslawski. Boleslawski war auch einer derjenigen, die die Methode in den USA heimisch machten. Er war ins Regiefach gewechselt und wirkte in den 20er Jahren am Broadway und in den 30ern in Hollywood. In den USA wurde die Stanislawskij-Methode als method acting bekannt und erfolgreich. Wenn man so will, ist Falconettis Vorstellung also ein frühes und gelungenes Beispiel für method acting.


Dreyer verließ sich jedoch nicht auf Falconettis Intuition, ganz im Gegenteil. Vielmehr führte er lange Gespräche mit ihr, in denen er jedes Detail einer Szene besprach. Nach dem Dreh betrachtete er mit Falconetti die Takes und erläuterte seine Änderungswünsche. So ließ er so gut wie jede Szene immer und immer wieder durchspielen, bis alles wirklich perfekt passte. (Die Unmengen an Outtakes wurden auch nach Ende der Dreharbeiten aufbewahrt, was Dreyer noch zugute kommen sollte.) Bei einigen von Falconettis schwierigsten Szenen mussten alle nicht benötigten Darsteller und Techniker den Drehort verlassen, ganz so, als ob es sich um Nacktaufnahmen handeln würde. Und Falconettis Seelenstriptease hat ja in der Tat etwas Entblößendes an sich. Falconetti besaß die nötige Auffassungsgabe, um Dreyers Vorstellungen perfekt umsetzen zu können. Dreyer hat sich später überschwänglich über die Zusammenarbeit mit ihr geäußert, so wie er überhaupt große Stücke auf seine Schauspieler hielt. Für ihn waren es die Schauspieler, die die eigentliche künstlerische Leistung erbringen, nicht der Regisseur. Er bezeichnete sich einmal als "Hebamme", die nur dafür sorgt, dass die Darsteller die in ihnen verborgenen Fähigkeiten freilegen können.

Jean Massieu
Doch in Wirklichkeit war Dreyer weit mehr als das. Das zeigt sich beispielsweise beim Einsatz von Kamerapositionen und -bewegungen als filmsprachliche Mittel. Es gibt jede Menge Aufnahmen aus ungewöhnlichen Kamerawinkeln, die jedoch keine selbstverliebten Gimmicks darstellen, sondern zur Charakterisierung der Situation und der handelnden Personen dienen. So werden die Richter fast immer, wenn sie das Wort an Jeanne richten, von unten gefilmt, oft regelrecht aus der Froschperspektive, um ihre übermächtige Position zu verdeutlichen. (Ein Teil der Belegschaft nannte Dreyer scherzhaft Gruyère, weil er so viele Kameragräben anlegen ließ, dass der Boden an einigen Stellen durchlöchert war wie ein Schweizer Käse.) Und auf der anderen Seite wird Jeanne oft von oben herab ins Bild gebracht, um ihre Opferrolle zu betonen. Kamerabewegungen nutzte Dreyer in ähnlicher Weise. So erfolgt etwa an einer Stelle, wo Jeanne die Richter mit einer unerwarteten Antwort verblüfft und gegen sich aufbringt, eine Kombination von zwei Schwenks in entgegengesetzter Richtung, die die Verwirrung der Herren mit einer visuell verwirrenden Einstellung korrespondieren lässt.

Jeanne wird von den Wachen verspottet
Der Schnitt des Films, der von Dreyer selbst und einer Marguerite Beaugé besorgt wurde, ist virtuos. Das Tempo ist schnell, aber nicht hektisch. Man hat sich die Mühe gemacht und die Zahl der einzelnen Einstellungen gezählt - einschließlich Zwischentitel sind es 1500. Dagegen betrug die Zahl in den meisten anderen Filmen dieser Zeit zwischen 500 und 1000. Nur die russischen Montage-Meister um Eisenstein kamen auf Zahlen von 2000 und mehr. Beim Schnitt der Dialoge zwischen Jeanne und den Richtern verletzte Dreyer bewusst die Regeln der Kontinuität, die bewirken sollen, dass beim Zuschauer der Eindruck zweier Gesprächspartner entsteht, die sich gegenüberstehen und sich gegenseitig ansehen. Wenn also etwa Jeanne bei einem Dialogfetzen von links gefilmt wird und der Richter bei der Antwort von rechts, dann hätte Jeanne bei ihrer Erwiderung laut Regel wieder von links gezeigt werden müssen - stattdessen sieht man sie aber von rechts oder von vorne. Und vom Richter wird dann in der nächsten Einstellung vielleicht nur die Mundpartie mit den sabbernden Lippen gezeigt. Durch solche optischen Kniffe erzeugt Dreyer ein gewisses Gefühl der Desorientierung, das jedoch durch den ausgewogenen Bildrhythmus nicht wirklich dissonant oder ermüdend wird, sondern im Gegenteil die visuelle Spannung steigert.

Jeanne wird zur Ader gelassen
Sozusagen den ruhenden Gegenpol zur dynamischen Kameraarbeit bilden die von Hermann Warm und Jean Hugo entworfenen Kulissen. Hermann Warm besaß in der Filmwelt einen ausgezeichneten Namen. Er gehörte zu dem Team, das 1919 die Dekoration für Robert Wienes Klassiker DAS CABINET DES DR. CALIGARI entwarf. Damit war er an entscheidender Stelle daran beteiligt, den expressionistischen Film aus der Taufe zu heben. In der Folge arbeitete er u.a. mit Fritz Lang und F.W. Murnau. Insgesamt war er in seiner langen Laufbahn an über 150 Filmen als Art Director oder Filmarchitekt beteiligt. Dreyer griff auch bei VAMPYR auf seine Dienste zurück. Sein Mitstreiter Jean Hugo, ein Urenkel von Victor Hugo, war im Hauptberuf Kunstmaler. Seine Frau Valentine Hugo, ebenfalls Malerin (und zeitweilig Muse und Geliebte der surrealistischen Dichter Paul Éluard und André Breton), entwarf die Kostüme.


Warm und Hugo orientierten sich bei ihren Entwürfen für die Bauten an mittelalterlichen Miniaturen. Die Maler dieser Buchillustrationen kannten die Gesetze der Zentralperspektive noch nicht, wodurch sich schiefe Winkel und falsche Proportionen ergaben, und so verhält es sich auch mit den Bauten im Film. Es handelt sich dabei zugleich um einen allerdings stark gemäßigten Nachklang des filmischen Expressionismus, was sich konkret etwa in schiefen Fensterkreuzen in der Kapelle und in Jeannes Zelle äußert. Sowohl die Außenfassaden als auch die Innendekoration werden geprägt von großen, glatten weißen Flächen. Es gibt nur wenige, sparsam applizierte Details in der Ausstattung. Das war eine bewusste Entscheidung Dreyers - er wollte nicht, dass pittoreske Details der Dekoration den Blick des Zusehers vom menschlichen Drama ablenken. So ergibt sich insgesamt ein sparsames, stark stilisiertes Set. Die großen, hellen Flächen der Innendekoration haben den Effekt, dass davor platzierte Schauspieler fast wie in Großaufnahme erscheinen, selbst wenn sie aus etwas größerer Entfernung gefilmt werden, weil nichts den Blick von den Gesichtern ablenkt.


Die angefertigten Außendekorationen des Films waren durchaus eindrucksvoll. Dreyer ließ das komplette Kastell von Rouen mit Mauern, Türmen, Zugbrücke, Kapelle und weiteren Gebäuden nachbauen. Die Außenmauern wurden so massiv ausgelegt, dass sie Männer und schweres Beleuchtungsgerät tragen konnten, ein Teil der inneren Mauern wurde beweglich auf Schienen montiert, um flexiblere Kamera-Blickwinkel zu ermöglichen. All das hat jede Menge Geld gekostet - LA PASSION DE JEANNE D'ARC wurde einer der teuersten französischen Stummfilme überhaupt. Das Budget war auf 7 Mio. Franc veranschlagt, am Ende beliefen sich die Kosten auf 9 Mio. Franc. Zum Vergleich: Fast zur gleichen Zeit entstand als Konkurrenzprodukt LA MERVEILLEUSE VIE DE JEANNE D'ARC unter der Regie von Marco de Gastyne. Anders als Dreyers Film, zeigt dieses zweistündige Werk eine heroische Jeanne, und es wird das volle Programm abgespult - aufwendige Schlachten mit Unmengen an Komparsen, usw. - und das alles hat nur 8 Mio. Franc gekostet. (Dreyer hat diesen Film übrigens durchaus gewürdigt. "Er hat recht, und ich habe auch recht", hat er zu Artaud einmal gesagt.)


Dreyers Auftraggeber von SGF machten keinen Versuch, die Ausgaben einzuschränken. Tatsächlich besaß Dreyer während der gesamten Dreharbeiten volle künstlerische Freiheit. Was die Produzenten am Ende aber erzürnte, war die Tatsache, dass von all den teuren Bauten im fertigen Film ziemlich wenig zu sehen ist. Nur ein kleiner Teil der errichteten Gebäude erscheinen im Bild, und auch das nur kurz. Vermutlich hatte Dreyer auch von Anfang an nichts anderes vor. Er verfolgte einen ganz anderen Zweck: Die Umgebung sollte den Schauspielern dazu verhelfen, so weit wie möglich in die Atmosphäre des 15. Jahrhunderts eintauchen zu können, um sich optimal in ihre Rollen hineinversetzen zu können. Diesem Zweck diente auch die Tatsache, dass der Film vom Anfang bis zum Ende in chronologischer Reihenfolge gedreht wurde - auch damals schon eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Das bedingte, dass alle Schauspieler mit größeren Rollen für mehrere Monate anwesend sein mussten. (Die Dreharbeiten fanden von Mai bis November 1927 bei Billancourt vor den Toren von Paris statt.) Mehr als das: Alle Darsteller von Mönchen oder Priestern mit Tonsur mussten sich diese über den ganzen Zeitraum hinweg regelmäßig scheren lassen - sogar diejenigen, bei denen die Tonsur überhaupt nicht zu sehen ist, weil sie als höhere Würdenträger ständig ein Käppchen tragen! Dreyers an Pedanterie grenzender Perfektionismus hat ihm natürlich nicht nur Freunde gemacht. So bezeichnete ihn etwa Michel Simon im Nachhinein als Verrückten. Simon stieg in den 30er Jahren zu einem Star des französischen Kinos auf, doch 1927 war er noch unbekannt, und er ist nur in zwei kurzen Einstellungen von zusammen vielleicht ein oder zwei Sekunden Dauer zu sehen. Deshalb ist es auch unverständlich, dass er in manchen Besetzungslisten des Films an prominenter Stelle platziert wird.


Dreyer hätte am liebsten auf jede Musikbegleitung des Films verzichtet. Er war zu Recht der Meinung, dass die Bilder allein den Film tragen können. Eine eigens komponierte Musik gab es nicht, vielmehr wurde der Film mit ganz verschiedenen Musiken vorgeführt. 1988 ließ sich der amerikanische Komponist Richard Einhorn von LA PASSION DE JEANNE D'ARC zu einem Oratorium mit dem Titel Voices of Light inspirieren. Dieses Werk mit biblischen und mittelalterlichen Texten hatte 1994 Premiere, und es ist sowohl als Begleitmusik zum Film als auch als eigenständiges Werk gedacht. Es findet sich auch als optionaler Soundtrack auf der DVD des Films von Criterion. Voices of Light ist durchaus gelungen, ich empfehle aber, sich den Film zunächst ohne Ton anzusehen, um sich nicht vom Rhythmus der Bilder ablenken zu lassen.


LA PASSION DE JEANNE D'ARC hatte am 21. April 1928 Weltpremiere in Kopenhagen; die Premiere in Paris fand erst im Oktober 1928 statt. Die Kritiken waren fast überall zum größten Teil begeistert, der Erfolg beim Publikum blieb jedoch aus. Das lag zu einem großen Teil daran, dass der Film schnell als ein Avantgarde-Werk galt, das nur für Cineasten interessant sei. Dreyer wehrte sich heftig gegen dieses Diktum. Für ihn war LA PASSION DE JEANNE D'ARC ein Film, dessen menschliche Aussage für jedermann verständlich sei. Ein empirischer Test schien ihm Recht zu geben: Auf Anregung eines Politikers gab der Besitzer des Premierenkinos in Kopenhagen eine kostenlose Sondervorstellung für 1800 Arbeitslose, und Dreyer ließ dabei Antwortkarten verteilen, mit denen man seine Meinung zum Film kundtun konnte. Die Begeisterung dieses besonderen Testpublikum war überwältigend. Aber es half nichts: Das breite Publikum blieb dem Film fern. Natürlich war auch der Zeitpunkt ungünstig: 1928 neigte sich die Stummfilmzeit ihrem Ende entgegen.


LA PASSION DE JEANNE D'ARC wurde aber auch in anderer Hinsicht gebeutelt. Im Grunde begannen die Schwierigkeiten des Films schon vor Beginn der Dreharbeiten. Wie schon erwähnt, war Jeanne d'Arc in den 20er Jahren in Frankreich ein Thema von öffentlichem Interesse. Das schloss die Vereinnahmung durch verschiedene politische Gruppierungen mit ein. Insbesondere klerikale und nationalistische Gruppen okkupierten Jeanne als "ihr" Symbol. Als nun bekannt wurde, dass ein Ausländer, und ein Protestant obendrein, Jeannes Geschichte verfilmen soll, erhob sich Protest in einschlägigen Presseorganen. Nur jemand, der tief in der französischen Erde verwurzelt sei, dürfe dieses Thema in Angriff nehmen - so und so ähnlich wurde argumentiert. Die Aufregung steigerte sich noch, als in der Presse die Behauptung kursierte, dass Lillian Gish die Hauptrolle spielen sollte. Gish war durch ihre Rollen in D.W. Griffiths THE BIRTH OF A NATION und INTOLERANCE zu einer der größten Hollywood-Diven aufgestiegen. Eine Amerikanerin in der Rolle des französischen Nationalsymbols? Völlig undenkbar! Die Reaktionen reichten von besonnener Ablehnung bis zu wüster Polemik. Ich weiß nicht, ob Dreyer wirklich jemals vorhatte, Gish zu besetzen. Nach seiner Entdeckung Falconettis war dieses Thema jedenfalls vom Tisch.


Nach Fertigstellung des Films gingen die Angriffe weiter. Die Verzögerung der Pariser Premiere lag daran, dass sowohl die katholische Kirche in Frankreich, personifiziert durch den Pariser Erzbischof, als auch die staatliche Zensurbehörde Änderungen forderten und auch bekamen. Tatsächlich wurde der Film so heftig geschnitten, dass man von einer massiven Verfälschung und Verwässerung zugunsten der Kirche sprechen muss. Die Schnitte erfolgten zunächst ohne Dreyers Wissen, und natürlich gegen seinen Willen. Als er davon erfuhr, protestierte er heftig, aber erfolglos. Auch in vielen anderen Ländern erfolgten mehr oder weniger starke Eingriffe durch den Zensor. Besonders heftig reagierte man auch in Großbritannien: LA PASSION DE JEANNE D'ARC wurde von der Zensurbehörde als antibritische Propaganda eingestuft und kurzerhand verboten.

Jean Massieu und Martin Ladvenu
Aber es kam noch schlimmer. Wenn Jeanne ein Raub der Flammen wurde, aber eine Art von Wiederauferstehung erlebte, dann gilt das in gewissem Sinn auch für Dreyers Film. Das unzensierte Originalnegativ lagerte in Berlin in einem Studio der UFA. Dort aber wurde es im Dezember 1928 durch einen Brand zerstört. Dreyer war zunächst am Boden zerstört, dann aber ging er daran, das Beste aus der Situation zu machen. Wie erwähnt, gab es eine Unmenge an Outtakes, und diese wurden zum Glück an einem anderen Ort aufbewahrt. Aus diesem Material wählte Dreyer jeweils die Version der Szene, die der im Originalnegativ verwendeten am nächsten kam, und schnitt daraus ein neues Negativ. Weniger aufmerksame Zuseher konnten zwischen den beiden Versionen kaum Unterschiede erkennen, aber Dreyer war trotzdem nicht wirklich glücklich mit dieser Lösung. Und es war wie verhext: Auch dieses zweite Negativ schien verloren, als es in einem Studio in Boulogne-Billancourt 1929 zu einem weiteren Brand kam. Dreyer machte daraufhin keinen weiteren Rekonstruktionsversuch mehr.


Jetzt kursierten nur noch mehr oder weniger korrumpierte Positive des Films, die von Dreyer nicht als authentisch anerkannt wurden. Einige Versionen waren sogar aus Teilen des ersten und des zweiten Negativs zusammengeschnitten worden. Die vielleicht größte Schandtat wurde 1933 in den USA begangen. Dort entfernte ein Produzent alle Zwischentitel und fügte dafür eine Tonspur hinzu, auf der ein damals populärer Radiosprecher die Texte sprach. Die Zahl der vorhandenen Positive verringerte sich im Lauf der Jahre, und die Qualität wurde durch das Abspielen natürlich auch nicht besser. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis LA PASSION DE JEANNE D'ARC praktisch verloren sein würde. Doch 1951 wurde in den Gewölben der Filmfirma Gaumont ein Negativ in relativ guter Verfassung entdeckt. Es handelte sich offenbar um Dreyers zweites Negativ, das den Brand in Billancourt durch Abwesenheit überlebt hatte. Der Filmhistoriker Lo Duca machte sich an die Restaurierung dieser Version. Dabei schien es Lo Duca, einer der drei Gründer der einflussreichen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, nicht für nötig zu erachten, Dreyer zu konsultieren, und er fühlte sich zu zwei fragwürdigen Eingriffen bemüßigt. Zum einen fügte er eine Tonspur hinzu, auf der sich eine von dem Dirigenten Jean Witold aus Werken von Albinoni, Vivaldi und J.S. Bach zusammengestellte Musik befand. Es wird behauptet, dass dieser Soundtrack den Bildrhythmus mehr stört als unterstützt. Zum anderen ersetzte er die originalen Zwischentitel, die in einer schlichten weißen Schrift auf schwarzem Grund gehalten waren, teilweise durch Untertitel und teilweise durch Zwischentitel, die ornamentale Muster von Kirchenfenstern als Hintergrund enthielten. Dreyer war über diese Eigenmächtigkeit erbost. Er hatte einmal die Zwischentitel in ihrer Schwärze als "Pfeiler" seines Films bezeichnet, was durch die neuen überladenen Zwischentitel natürlich untergraben wurde. In einem Brief an Gaumont bezeichnete er Lo Ducas Änderungen als "Appell an den schlechten Geschmack des Publikums", und er beharrte darauf, dass ein Filmklassiker - der LA PASSION DE JEANNE D'ARC mittlerweile war - in seiner originalen Form restauriert werden sollte, während die "Modernisierung" eines solchen Films eine Absurdität sei.


Trotzdem war diese Version mittlerweile so gut wie die einzige noch vorzeigbare. Sie lief 1952 auf der Biennale in Venedig und wurde zum inoffiziellen Festivalsieger erklärt. Anschließend kam der Film wieder in die Kinos und erregte bei einem Publikum, das ihn fast nur noch vom Hörensagen kannte, Aufmerksamkeit und teilweise Begeisterung. Bei diversen Umfragen unter Regisseuren, Kritikern oder Filmhistorikern landete LA PASSION DE JEANNE D'ARC seit den 50er Jahren immer wieder mal unter den 10 besten Filmen der Welt. Es blieben aber Vorbehalte gegen Lo Ducas Eingriffe, außerdem war auch das von ihm bearbeitete Negativ verloren gegangen, diesmal anscheinend endgültig. Deshalb unternahm es ein Mitarbeiter des Dänischen Filminstituts, aus allen noch vorhandenen Kopien eine bestmögliche Version zusammenzuschneiden. Aber auch diese Version konnte nicht vollends überzeugen. Die Bildqualität konnte auch nicht besonders beeindrucken.


Insgesamt blieb die Situation also unbefriedigend. Doch wenn Heilige im Spiel sind, dann geschehen manchmal Wunder. Und an ein Wunder grenzt es, was sich 1981 in Norwegen zutrug. In einer Nervenheilanstalt vor den Toren Oslos wurde bei Aufräumarbeiten in einer Abstellkammer eine verschlossene Kiste entdeckt, die Filmrollen enthielt. Diese wurden ins Norwegische Filminstitut gebracht, wo sie ihren Dornröschenschlaf für weitere drei Jahre fortsetzten. Erst dann wurde der Schatz gesichtet und gehoben. Es waren Rollen einer Version des Films mit dänischen Zwischentiteln. Die Rollen waren noch in Packpapier eingewickelt, das einen Stempel des dänischen Zensors mit dem Datum 1928 enthielt. Das bedeutet nicht, dass diese Version geschnitten war - im Gegenteil, es ist gut dokumentiert, dass ungeschnittene Kopien nach Dänemark gelangten, und dass der Film die dänische Zensur ohne Schnittauflagen passierte. Das Datum 1928 belegte, dass es sich um eine Kopie von Dreyers erstem Negativ handelte. Es handelte sich also um eine Version, die Dreyers Original von 1928 höchstwahrscheinlich näher kam als irgendeine andere Fassung der letzten 50 Jahre.


Wie der Film nach Oslo kam, konnte nicht sicher geklärt werden. Der Direktor der Nervenklinik war ein Amateurhistoriker. Vielleicht ließ er sich den Film kommen, um einige Privatvorführungen für seine Belegschaft oder die Patienten zu geben. Jedenfalls gibt es keine Hinweise auf öffentliche Vorführungen in Oslo. Wie dem auch sein mag - offenbar wanderten die Rollen bald in die Kiste und wurden dort vergessen. Alles spricht dafür, dass sie für mehr als ein halbes Jahrhundert nicht angerührt wurden. Der Fund war noch in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: Die Bildqualität ist weit besser als bei allen anderen noch zirkulierenden Fassungen. Die Schärfe und der Kontrast sind für einen Film von 1928 ausgezeichnet. Das bedeutet nicht, dass das Bild perfekt war. Ganz im Gegenteil: Es gab eine Unzahl von Kratzern, Wasserflecken und ähnlichen Fehlern. Doch diese konnten mit den Mitteln der digitalen Bildrestauration weitgehend entfernt werden. Insgesamt wurden rund 20.000 einzelne Fehler beseitigt. Die Restauration wurde vom Dänischen Filmmuseum in Kopenhagen in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque Française in Paris durchgeführt. Aus den dänischen Zwischentiteln und erhaltenen Aufzeichnungen wurden die originalen französischen Zwischentitel so getreu wie möglich wiederhergestellt.


Diese Fassung kursiert wieder in Kinos und ist auf DVD erhältlich. Die Qualität des restaurierten Bildes ist wirklich erfreulich. Erst jetzt sind die Gesichter wieder in allen ihren Details zu sehen, auf die Dreyer so viel Wert gelegt hatte. Wenn wir heute nur die vorher verfügbaren verwaschenen Fassungen zur Verfügung hätten, dann würden wir einen anderen Film kennen. Aber so hat LA PASSION DE JEANNE D'ARC tatsächlich eine Art von Wiederauferstehung erlebt.


LA PASSION DE JEANNE D'ARC ist in einigen Ländern auf DVD erhältlich. Das Maß der Dinge war bisher die schon erwähnte US-Ausgabe von Criterion. Im Februar ist der Film bei Arthaus/Studiocanal erstmals auch in Deutschland auf DVD erschienen. Eine nochmals stark gekürzte Fassung dieses Textes findet sich im Booklet. Zwischen den Versionen von Criterion und Arthaus gibt es deutliche Unterschiede, die darauf beruhen, dass der Film bei Arthaus langsamer läuft als bei Criterion (Criterion 24 fps, Laufzeit 82 min, Arthaus 20 fps und 97 min). Eine Bewertung dieses Umstands kann und will ich hier nicht vornehmen.

Dienstag, 28. Februar 2012

Mr In-Between

A Murder Ballad (Alternativtitel: Mr. In-Between)
(Mr In-Between, Grossbritannien 2001)

Regie: Paul Sarossy

Wir alle lassen uns gelegentlich zum Kauf eines angeblichen Geheimtipps verleiten, der gerade verdächtig günstig zu haben ist. Üblicherweise stellen wir dann rasch fest, dass wir unser Geld verschwendet haben. In seltenen Fällen hat man aber wirklich einen Geheimtipp entdeckt. Die einzige Regiearbeit des Kameramannes Paul Sarossy, der sich unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit Atom Egoyan einen Namen machte, buhlte - wie ich später herausfand - als “Geheimtipp des Fantasy Filmfests 2002” nicht nur in Deutschland, sondern auch im englischsprachigen Raum gleich mit zwei verschiedenen Titeln (“The Killing Kind”) vergeblich um Anerkennung, schien also eine meiner Fehlinvestitionen zu sein. - Und doch lässt der Film mich auch nach der dritten Sichtung verwirrt und unentschlossen zurück. Die beiden Seelen, die in meiner Brust um ihn kämpfen, tauchen freilich in Foren ebenfalls auf, scheinen sogar “Rotten Tomatoes” in Beschlag genommen zu haben - und aus diesem Grund ist die DVD wohl noch nicht längst im Müll gelandet, sondern darf sich auf weitere “Annäherungen” gefasst machen:


Jon ist ein eiskalter Auftragskiller, der seinen Beruf mit einer geradezu pedantischen Gewissenhaftigkeit ausübt und seinem Auftraggeber, der sich als sein Lehrer und zweiter Vater aufführt, vollkommen ergeben ist. Die einzige oberflächliche Verbindung zu einer Welt, die nicht mit Mord oder (Drogen-)Schlaf in seiner ebenfalls pedantisch gereinigten weissen Wohnung zu tun hat, sind zwei Kumpel, mit denen er sich wie ein harmloser Versicherungsvertreter gelegentlich im Pub trifft. Doch dann begegnet er eines Tages einem alten Klassenkameraden und dessen Frau, in die er einst verliebt war. Der Wunsch, seiner bizarren Welt wenigstens gelegentlich zu entkommen und mit normalen Menschen zusammen zu sein, nimmt überhand. Dies macht ihn aber zu einer Gefahr für seinen Boss, der die heile Welt, die seinem Killer Zuflucht gewährt, in seine Zerstörungswut miteinbezieht und Jon am Ende nur die Auswahl zwischen zwei Möglichkeiten lässt: gestossen zu werden oder selber zu springen.


Die Geschichte des Berufskillers, der aussteigen und seiner  Welt entkommen will, ist eigentlich banal und schon vielfach filmisch umgesetzt worden. Sarossy geht es bei seinem erstaunlich langsam erzählten “Mr In-Between“, der mit bemerkenswert wenig expliziter Gewalt auskommt (die Morde werden meist als bruchstückhafte Rückblenden des halluzinierenden Jon miterlebt) aber nicht um das Nachahmen eines Vorgängers, sondern um den Aufbau einer seltsamen Atmosphäre, die geradezu melancholisch wirkendes Reales mit absurd-komisch Irrealem verwischen will. Jon befindet sich zum Beispiel auch während seiner präzise durchgeführten Aufträge in einem “realen”, alltäglichen England, nimmt dieses aber nicht als solches wahr. Dies zeigt der Beginn des Films: Ein  in einem Strassenzug spielendes Mädchen entdeckt einen Mann, der scheinbar harmlos seine Fenster putzt; es ist jedoch der in einer fremden Welt "tätige" Killer, der Blutspritzer von den Scheiben entfernt. Dass dieses “normale” England nicht (mehr) seine gewohnte Welt ist, deutet neben seiner seltsam sterilen Wohnung das tropfende Kanalsystem unter den Strassen Londons an, wo sein “Lehrer”, ein Gourmet, einen Lammbraten für ihn zubereitet und ihm in der gediegenen Bibliothek die benötigten Drogen und Ratschläge (die ihr banales Leben fristenden Menschen  lassen Tausende verhungern) verabreicht. Dieser offenbar wohlhabende, der guten Gesellschaft angehörende Auftraggeber und väterliche Freund (warum haust er in einem solchen Rattenloch?) verwandelt sich wiederum in einer abgelegenen Villa in ein tätowiertes Tier, das mit kindischer Freude selber gierig mordet. Die Atmosphäre ist der Aufhänger; sie will den Zuschauer in ein seltsames "Dazwischensein" mit eigenartig-faszinierenden Bildern  locken.


Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, “Mr In-Between” erhebe den Anspruch, im Gegensatz zu “verwandten” Aussteigerfilmen nicht ein Psychodrama, sondern ein surrealistisches Kunstwerk zu sein; und man weiss nicht, ob man die diese Zwischenwelt begleitenden scheinbar tiefsinnigen Bilder und Phrasen als solche akzeptieren soll. Denn vielleicht, und auch dieser Gedanke drängt sich im Verlauf des Films auf, sind sie nur gewollt tiefsinnig, führen den Zuschauer an der Nase herum, indem sie ihm ein Universum vorgaukeln, das so hintergründig nun auch wieder nicht ist. - Dennoch: der britische Film ist hervorragend besetzt, man nimmt Andrew Howard den Soziopathen, der sich nach Normalität zu sehnen beginnt, durchaus ab. Einzelne Szenen wirken sogar auf eigenartige Weise äusserst glaubhaft, etwa die Beichte des Killers und die Reaktion des Priesters auf die Frage, ob er ihn trotz all seiner Verbrechen liebe. Dieser erteilt ihm nicht die Absolution, sondern - kotzt. --- Ein Film, über den ich kein Urteil zu fällen vermag, weil ich seine Geschichte verstehe, aber aus seiner Intention - falls er denn eine hat - nicht schlau werde. Das kommt manchmal vor, und dazu sollte man stehen. 

Montag, 20. Februar 2012

Leben, in denen man lernt - Leben, in denen man lebt

Weggehen und wiederkommen
(Partir, revenir, Frankreich 1985)

Regie: Claude Lelouch
Darsteller: Annie Girardot, Jean-Louis Trintignant, Françoise Fabian, Erik Berchot, Michel Piccoli, Evelyne Bouix, Richard Anconina, Monique Lange u.a.

“Claude Lelouch: Merkt euch diesen Namen! Ihr werdet ihn nie wieder hören”, schrieben “Cahiers du cinéma”, als der Sohn eines jüdischen Schneiders, der seit Mitte der 50er Jahre als “cinereporter” mit Kurzfilmen das Geschehen in aller Welt dokumentierte, seinen ersten abendfüllenden Film, “Le propre de l’homme” (1961), präsentierte. Der Erstling sollte tatsächlich nie in die Kinos kommen (Lelouch zerstörte die Kopien), und der Erfolg liess auf sich warten. Spätestens “Un homme et une femme” (1966), mit einem Oscar für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet, zeigte jedoch, dass man sehr wohl wieder von dem Mann, der sich trotz regelmässiger Kritiker-Attacken zu einem der fleissigsten Regisseure Frankreichs entwickelte, hören sollte. Es gelang ihm auch, sich im Fahrwasser der “Nouvelle Vague” im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Heute ist der in Frankreich vom Feuilleton oft geschmähte und auch sonst umstrittene, von seinen Schauspielern aber verehrte Lelouch, der seine Filme gerne selber schreibt und produziert, hierzulande allerdings etwas in Vergessenheit geraten.

Ich empfahl anlässlich einer früheren Besprechung den allgemein geschätzten “Il y a des jours ... et des lunes” (1990) als idealen Einstieg für Leute, die sich näher mit dem unterschätzten Poeten des französischen Kinos beschäftigen möchten.  Der Film zeichnet sich zwar auch durch die für Lelouch typische überbordende Spiellaune, eine virtuose Handhabung filmischer Techniken und dem Regisseur oft vorgeworfene “Hochglanzbilder” aus, überschreitet aber nie die Grenze zum Prätentiösen - und führt die Dinge auf eine bis ins letzte Detail durchdachte Weise zusammen, der man auch nicht einen Hauch von inszenatorischer Schwäche zu unterstellen vermag. --- Dies kann man von “Partir, revenir” nicht unbedingt behaupten. Er dürfte dem Einsteiger im Vergleich zum leichten “Mond”-Film sogar als eine eher spröde, eigenwillige und gewollt künstlerische Angelegenheit vorkommen. Dass ich diesen Film dennoch ausserordentlich schätze, hat nicht zuletzt mit dem sonst in französischen Streifen eher gemiedenen Thema zu tun: Er beschäftigt sich mit dem dunklen Kapitel  der Kollaberation mancher Franzosen mit den Besatzern während des Zweiten Weltkriegs, der Denunziation, die viele Juden in den Gaskammern umkommen liess. Dabei geht Lelouch sein Thema nicht reisserisch an, er vermeidet vielmehr all den Kitsch und die Gefühlsduselei, die manche sich dem Holocaust zuwendende Filmer bewusst einsetzen:


Während des Zweiten Weltkriegs muss die Familie des jüdischen Psychoanalytikers Simon Lerner aus dem besetzten Paris fliehen. Sie findet Zuflucht  bei Freunden, den Rivières, die auf einem Schloss in Burgund leben. Alles scheint trotz der Skepsis mancher Dorfbewohner (man sei zu viert und fresse doch wie acht) gut zu gehen - bis die Lerners 1943 unerwartet von der Gestapo abgeholt und in ein Lager verschleppt werden. --- Nach Kriegsende kehrt eine verhärmte, beinahe kahlgeschorene Salomé, die Tochter der Lerners, die wohl als einzige überlebt hat, ins Dorf zurück. Jemand muss sie damals denunziert haben; und Salomé will wissen, wer es war. Doch sie stösst auf eine Mauer des Misstrauens; nur die Schlossbewohner nehmen sie wieder bei sich auf und schützen sie vor Anfeindungen. - Vier Jahrzehnte später begegnet sie dem Pianisten Erik Berchot und glaubt, die Reinkarnation ihres verstorbenen Bruders Salomon (ebenfalls von Berchot verkörpert) vor sich zu haben...

Wer nun glaubt, es mit einem geradlinigen, seine Geschichte chronologisch aufrollenden Werk zu tun zu haben, irrt sich gewaltig. Denn Lelouch, der sich allgemein gern der Musik anvertraut, bietet uns weniger eine filmische Erzählung als eine musikalische Phantasie, deren assoziative Rückblenden oft willkürlich erscheinen, einander aber bedingen. - Und nun folgt eine “Zusammenfassung”, die  mit der vorangegangenen zuerst gar nicht viel zu tun zu haben scheint: Die nicht mehr ganz junge Salomé Lerner hat nach der Begegnung mit dem Pianisten Berchot ihre Autobiographie geschrieben und stellt sie in einer Fernsehshow vor. Dort stimmt sie dem Moderator zu, dass sich aus dem Buch wohl ein ganz guter Film machen liesse (man unterhält sich sogar über die geeignete Besetzung). Dieser Film müsste allerdings die Musik von Sergej Rachmaninoff (ich übernehme hier die vom Komponisten bevorzugte Schreibweise seines Namens) in den Mittelpunkt stellen, sich ihr sozusagen unterwerfen. Denn Salomés Bruder verehrte den Russen, von dem er glaubte, er würde nie in der Lage sein, seine Stücke zu bewältigen; während Berchot wiederum Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert, dessen Bewegungen und heraufbeschworenen Emotionen sich die folgende Geschichte fügt, in Vollendung spielt. Und so erhält der Film, über den man erst als Möglichkeit spricht, die Bedeutung seiner Bestandteile in absteigender Reihenfolge aufzählend, den Untertitel “Histoire romanesque pour piano, orchestre & camera”.

Wir bewegen uns von nun an zwischen vier Zeitebenen hin und her, erfahren nach und nach Details, die uns die Ereignisse aus wechselnden Perspektiven betrachten lassen, ihnen Facetten hinzufügen - und doch, was besonders reizvoll ist, am Ende nicht alles aufzulösen scheinen. Diese Zeitebenen sind: der letzte scheinbar sorglose Sonntag vor dem Krieg, den die Lerners zusammen mit ihren Freunden an einem festlichen Sommertag verbringen, das nicht immer spannungslose und ungefährliche Leben auf dem Schloss, das ihnen als Refugium angeboten wurde, die Zeit nach Salomés Rückkehr und die filmische Gegenwart, die uns eine den Tränen nahe ältere Frau im Konzertsaal zeigt, wo sie dem Klavierkonzert zuhört. -  Jener “letzte” Sonntag ist erfüllt von jugendlicher Unbeschwertheit, lässt auch erkennen, welch enges Verhältnis Salomé zu ihrem Bruder hatte. Sogar die ältere Generation versucht den drohenden Krieg - nicht immer erfolgreich - zu verdrängen. Simon, der Psychoanalytiker, erweist sich als Anhänger der Reinkarnationslehre und berechnet das Alter der Menschen nicht nach Jahren, sondern nach Leben. Er glaubt - wie er betont - in aller Bescheidenheit, es gebe Leben, in denen man lerne, und Leben, in denen man lebe - eine für die Geschichte wichtige Vorstellung, die dem Titel des Films eine zusätzliche Bedeutung gibt  - und später die Frage aufwerfen wird, ob Berchot in einem früheren Leben etwa der “lernende” Salomon war. Es ist allerdings auch denkbar, dass die Lerners wie Salomé überlebten und der Pianist der Sohn ihres Bruders ist - ein Rätsel, das am Ende möglicherweise wortlos aufgelöst wird.

Neben dem uns vielleicht etwas seltsam vorkommenden Glauben an die Reinkarnation gibt es noch weitere dem “Aberglauben” zuzuordnende Elemente, die von den Protagonisten mit Bedeutung gefüllt werden: ein “Rad der Fortuna” auf dem Schloss, ein Medaillon, dessen Inhalt niemand kennt - und von dem Salomé am Ende vermutet, es beinhalte das Überleben. Gerade diese sich scheinbar ausschliesslich im Geistigen (bis ins Abergläubische ausufernde) wohlfühlende Welt  soll nun aber bald von einer grausamen Realität eingeholt werden, und das Kreisen um  die Problematik “Denunziation - Reinkarnation - Wiederkommen” wird das weitere Leben der Hauptfigur in mehrfacher Hinsicht bestimmen. Man kann sich am Ende sogar die Frage stellen, ob Salomé selber während des Kriegs und danach bereits ein "lernendes Leben" in diesem hinter sich gebracht habe. Schliesslich führte auch die Denunziation zu einem Weggehen, das in ein unerwartetes Wiederkommen mündete.


Nach Salomés Rückkehr führt  Schlossherr Rivière den Dorfbewohnern Henri Clouzots “Le Corbeau” (1943) vor und unterstellt ihnen, jemand aus ihrer Reihe habe den Film als Vorbild benutzt, sei der “Rabe”, der die Lerners verraten habe. Wir erfahren jedoch auch, dass sich die beiden Familien kennen lernten, weil Vincent, der der Hochseilakrobatik zugeneigte Sohn der Rivières, psychische Auffälligkeiten zeigte, die Simon als sein Analytiker zum Schluss kommen liessen, er sei sowohl zum Besten als auch zum Schlimmsten fähig. - War es etwa gar er, dessen Name Salomé in vielen anonymen Briefen genannt wird, der die jüdischen Freunde an die Gestapo verriet, weil sie als damals launisches junges Mädchen  seine Zuneigung abgewiesen hatte? --- So entwickelt sich im Rückblick eine Geschichte, von deren Einzelheiten man zu Beginn gar nichts ahnte, die jedoch, sich Rachmaninoffs Musik anpassend, nur folgerichtig erzählt und aufgeschlüsselt wird. Dass sich am Ende überraschend der “Rabe” zu erkennen gibt, ist nicht nur für den Abschluss der Handlung unumgänglich; sein Geständnis, das den Leser aus diesem Labyrinth der Zeiten hinausführt, zeigt auch, wie persönlich,  alles andere als ideologisch bedingt, eine solche Denunziation sein konnte.

Die eigenwillige "musikalische Phantasie" wartet mit wahrhaft poetischen Bildern auf; den berüchtigten Vorwurf der Hochglanzphotographie kann man ihr aber schon wegen der heraufbeschworenen Atmosphäre nicht machen. Freilich: Von inszenatorischen Schwächen darf "Partir, revenir" nicht ganz freigesprochen werden (ich denke zum Beispiel an eine Autofahrt zu Beginn, die möglicherweise den Transport auf einem Laster der Gestapo wiedergeben soll).  Es ist wohl so, dass Lelouch wie üblich einen “Larger than Life”-Streifen drehen wollte - und nicht ganz reüssierte. Er überlud ihn unnötig mit - gelegentlich geradezu ins Esoterische abgleitender - Bedeutsamkeit, vermochte auch der ein oder anderen Versuchung, sich arg dem Virtuosen hinzugeben, nicht zu widerstehen. Und das ist schade, wagte er sich doch an ein sonst gerne verdrängtes Thema und drehte einen ernsten, trotz einzelner Schwächen höchst sehenswerten und mit seinen Lieblingsschauspielern wie üblich glänzend besetzten Film - der es dem Zuschauer nicht ganz einfach macht, wenn er sich nicht voll und ganz Rachmaninoffs 2.Klavierkonzert hingibt, darauf bauend, dass der Regisseur schon etwas damit anzufangen wisse.

Noch ein Wort zu jenem eigenartigen Phänomen, dass eine regelrechte "Schauspielerfamilie" dem immer umstrittenen, von der Presse gern mit Häme überschütteten Kinomagier, der vereinzelt tatsächlich mit eher trivialer Kost aufwartet, über Jahrzehnte hinweg die Treue hält: Nach dem Tode von Annie Girardot im Februar 2011 war in vielen Nachrufen von der Nichtbeachtung die Rede, mit der das französische Kino-Establishment die grosse Schauspielerin lange Zeit bestraft habe. Tatsächlich wurde sie von den Herren der “Nouvelle Vague” nicht ein einziges Mal besetzt, weil François Truffaut sie einst als Vertreterin des “cinéma de qualité” abzustempeln beliebte. Als die “Aussätzige” 1985 beinahe ihr ganzes Vermögen verlor, bot ihr Claude Lelouch, der mit ihr 1969 schon “Un homme qui me plaît” gedreht hatte, an, die Hauptrolle in “Partir, revenir” zu übernehmen.  Wie die “Frankfurter Allgemeine” in einer Erinnerung an die Girardot schrieb, erhielt sie in einer Szene in diesem Film als Mme Rivière die Gelegenheit, all ihr Leid aus sich herauszuschreien. Es soll auch ein Herausschreien dessen gewesen sein, was sie unter der Nichtbeachtung des französischen Kinos durchmachen musste. Am Ende ihres Lebens sollte Annie Girardot in sechs Lelouch-Filmen mitgewirkt haben und erhielt als späte Genugtuung für ihre Nebenrolle in  “Les misérables” (ebenfalls von Lelouch) einen César. - Dies vermag vielleicht zu erklären, was Schauspieler an dem Regisseur haben, der sich wenig um Vorgaben eines Establishments kümmert, sondern schlicht Filme dreht, die er drehen will, und das mit Leuten, die ihm am Herzen liegen. Es erklärt vielleicht auch, weshalb es sich lohnt, an Claude Lelouch zu erinnern, Lesern im deutschsprachigen Raum sein vielfältiges und wirklich sehenswertes Werk ans Herz zu legen.

Dienstag, 14. Februar 2012

Das Filmtext-Register

Vor einiger Zeit, liebe Mit-Bloggerin, lieber Mit-Blogger, lenkte ich eure Aufmerksamkeit auf die OFDb als ideale Eintragsmöglichkeit für  Besprechungen. Heute möchte ich - einem Versprechen nachkommend -  auch auf das Filmtext-Register hinweisen.

bekay, der Admin von filmforen.de, ist nicht nur Bändiger der Möchtegern-Film-Intelligenzija und anderer staatsgefährdender Gruppen; er bastelt auch tagtäglich an Layouts und Dingen herum, die das Forum ergänzen (möglicherweise züchtet er sogar Viren und Trojaner).  Sein Filmtext-Register sollte ursprünglich den Mitgliedern des Forums die Einträge ihrer - oft durchaus lesenswerten - Filmtagebücher ermöglichen. Mittlerweile erkennen zunehmend Blogger und Online-Magazine mit Filmkritiken den Wert dieses Registers: Man kann sicher nicht jede Menge Klicks von dort erwarten, darf jedoch - wie ich belehrt wurde - dank diverser Einrichtungen, über die die OFDb nicht verfügt, nach Herzenslust darin stöbern und wühlen.

Der Nachteil: Wer seine Besprechungen im Filmtext-Register eintragen will, muss vorher Mitglied bei filmforen.de werden, über deren Qualität sich wie über die aller Foren streiten lässt. Dass ich unterhalb unserer Blogroll auf sie hinweise, liegt nicht zuletzt an Usern wie Splatter-Fanatic, Settembrini, Tommy The Cat, Gerngucker und weiteren (ich beschränke mich auf die Nennung einiger Leute, die nicht anderweitig bei uns auftauchen), die die Möglichkeit nutzen, ihr Filmtagebuch als Blog innerhalb des Forums anzulegen. Ihre Beiträge sind nicht weniger spannend als die der Blogosphäre, mit der wir vertraut sind. Sie verdienen es, zur Kenntnis genommen und von Mitgliedern mit gelegentlichen Kommentaren gewürdigt zu werden. - Abgesehen davon kann man nach seiner Registrierung auch einfach das Register nutzen und das Forum  nicht zur Kenntnis nehmen - oder sich auf die wenigen weiterführenden Bereiche beschränken, die etwa von Phibes und Nemo abgedeckt werden.

Das Filmtext-Register ist lohnenswert, vor allem aber selbsterklärend - und das ist erstaunlich, drückt bekay doch kopulationswilligen Damen seine berüchtigte 78 Seiten umfassende Anleitung in die Hand, ohne dass es sich lohnen würde. Ich habe dort (im Register, natürlich) jetzt meine hundert Titel hinterlegt und gedenke es weiterhin zu nutzen.  Bloggern, die die zwei, drei zusätzlichen Minuten für einen Eintrag ihrer Besprechung in Kauf zu nehmen bereit sind, sei hier ebenfalls das Filmtext-Register ans Herz gelegt. Warum nicht zu einem derartigen Projekt mit Zukunft beitragen?

Mittwoch, 8. Februar 2012

Vom Fließen und Stehen der Zeit: LEBEWOHL, ARCHE

LEBEWOHL, ARCHE (SARABA HAKOBUNE, engl. FAREWELL TO THE ARK)
Japan 1984
Regie: Shūji Terayama
Darsteller: Tsutomu Yamazaki (Sutekichi Tokito), Mayumi Ogawa (Sue Tokito), Yoshio Harada (Daisaki Tokito), Yōko Takahashi (Temari), Keiko Niitaka (Tsubana), Renji Ishibashi (Yonetaro Tokito), Hitomi Takahashi (Chigusa)
Alle Namen sind in der westlichen Reihenfolge Vorname - Familienname angegeben (im Japanischen ist es bekanntlich umgekehrt)


Ein alter Mann und ein Junge erscheinen mit einem Handkarren an einem einsamen Strand. Der Karren ist voll von altmodisch aussehenden Wanduhren, die, wie man wenig später erfährt, im nahen Dorf gestohlen wurden. Der Alte hebt im Sand ein Loch aus, und der Junge wirft die Uhren hinein. "Jetzt", sagt der Alte nach getaner Arbeit, "bist Du der einzige im Dorf, der eine Uhr besitzt". Was er damit eigentlich sagt: Jetzt bist Du im Dorf der alleinige Herrscher über die Zeit.

Prolog: Uhren werden verbuddelt
Shūji Terayamas letzter Film ist eine freie Bearbeitung von Motiven aus Gabriel García Márquez' nobelpreisgekröntem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit". Zugleich ist er so etwas wie sein Vermächtnis. Terayama, der seit seinen jungen Jahren an einer chronischen Nierenkrankheit litt, starb 1983 mit 47 Jahren, der Film erschien 1984 posthum. Bei den Dreharbeiten war Terayama schon schwer angeschlagen, und er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Es ist ein gemäßigter, ein gereifter Terayama, der uns hier entgegentritt. Es fehlt der ungestüme Impetus von WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE (1971), es gibt keine kühne Wendung, die einem vor Verblüffung den Mund offen stehen lässt wie in PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY (aka PASTORAL HIDE AND SEEK, 1974), es gibt auch weniger Nacktheit als in Terayamas früheren Filmen. Aber eine Reihe von Themen, Motiven und Stilmitteln aus den früheren Werken tritt wieder in Erscheinung, und vor allem gibt es noch einmal atemberaubend schöne Bilder zu sehen. Die weit überwiegende Zahl der Szenen ist in leuchtenden, gesättigten und bisweilen auch unwirklichen Farben gehalten, wie es auch schon in PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY und in GRASS LABYRINTH (1979/83) der Fall war.

Sutekichi (l.o.), Sue, Daisaki, die Greisin
Schauplatz der Handlung ist ein abgelegenes, rückständiges Dorf in der Nähe der Küste, der üppigen, fast subtropischen Vegetation nach im südlichen Japan (tatsächlich wurde der Film auf Okinawa gedreht), die Zeit ist das frühe 20. Jahrhundert, vielleicht die 1920er Jahre. Seit dem Prolog am Strand sind Jahre vergangen, der Junge, Daisaki Tokito, ist jetzt ein junger Mann, und in seinem Haus hängt immer noch die einzige Uhr in der Gegend. Im Dorf wohnt auch das Paar Sutekichi und Sue ("Suë" gesprochen). Sie heißen ebenfalls Tokito, und überhaupt scheinen viele im Dorf irgendwie miteinander verwandt zu sein. Sutekichi und Sue sind Cousin und Cousine, und aufgrund ihrer engen Verwandtschaft gilt ihre Ehe als anrüchig, wenn auch noch geduldet. Im Dorf reisst man Witze über die Mißgeburten, die aus der Verbindung hervorgehen könnten. Doch Sutekichi und Sue haben ein noch gravierenderes Problem. Sue wurde von ihrem inzwischen toten Vater ein Keuschheitsgürtel verpasst, der nun nicht mehr abgeht. Weder der Dorfschmied noch magisch-religiöse Rituale können helfen, und Sutekichi hat unter zusätzlichem Spott zu leiden, obwohl er überhaupt nichts für die Situation kann. Als bei einem Hahnenkampf im Dorf Sutekichis Hahn gegen den favorisierten von Daisaki gewinnt, reagiert sich letzterer ab, indem er Sutekichi wieder einmal verhöhnt. Da dreht dieser durch und ersticht Daisaki in rasendem Zorn.

Hahnenkampf
Überstürzt packen Sutekichi und Sue ihre Sachen auf einen Karren und verlassen das Dorf. Als sie nach dreitägiger Flucht nächtens auf eine leere Hütte stoßen, machen sie erschöpft Rast. Doch am nächsten Morgen müssen sie bestürzt feststellen, dass sie in ihrem eigenen Dorf, in der eigenen Hütte gelandet sind. Sie machen nun keinen Fluchtversuch mehr, doch es scheint sich auch niemand für den Totschlag zu interessieren. Plötzlich sitzt Sutekichi Daisaki gegenüber, der immer noch ständig blutet, aber sonst quicklebendig erscheint. Doch Sue kann außer Sutekichi niemand erkennen. Daisaki spricht Sutekichi an, und der antwortet - doch aus Sues Sicht führt er nur sinnlose Selbstgespräche. Existiert Daisaki nur in Sutekichis Einbildung? Oder handelt es sich um Daisakis Geist, der nur dem Mörder erscheint? Die Interpretation bleibt, wie vieles in dem Film, dem Zuschauer überlassen.

Nächtliche Flucht
Denn auch sonst gehen merkwürdige Dinge vor. Das reicht von einem Herdfeuer, das nicht ausgehen will, obwohl Sue reichlich Wasser darüber gießt, über eine Art von Exorzismus, den ein Priester an einer gelähmten Verwandten von Daisaki ausführt, bis zu einem Loch, das eines Tages ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund auf der Dorfstraße erscheint. Zunächst ist es eng, vielleicht einen halben Meter weit, aber schon unergründlich tief. Doch jedesmal, wenn der Film zum Loch zurückkehrt, hat es sich geweitet, bis es am Ende einen Durchmesser von mehreren Metern hat. Die Dorfbewohner spekulieren, dass es sich um einen Zugang zum Totenreich handelt, und schreiben Briefe an die Verstorbenen, mit denen der Postbote hinabgelassen wird. Doch wird er wirklich hinabgelassen? Es sieht aus, als fahre er in einem unsichtbaren Paternoster hinab in die Unterwelt. Auch einige der Dorfbewohner geben Rätsel auf. Da ist beispielsweise eine uralte Frau, die offenbar zu Daisakis Familie gehört, und die immer nur schweigend dasitzt. Sie tut nichts, sie sagt nichts, sie scheint nicht einmal ihre Umgebung zu beobachten - sie sitzt nur da. Umso aktiver ist ein alter Mann, anscheinend derselbe, der anfangs die Uhren vergrub - man kann es aber schlecht erkennen, weil er nun ein merkwürdiges weißes Gewand mit einem breitkrempigen Hut trägt. Er taucht immer wieder unvermittelt auf, manchmal mit seinem Karren, und obwohl er selten aktiv in die Handlung eingreift, scheint er irgendeinen Einfluss auszuüben. So ist er beim verhängnisvollen Hahnenkampf ebenso anwesend, wie auf Sues und Sutekichis nächtlicher Flucht, und als der Briefträger ins Loch hinabfährt ebenfalls.

Der Mann in Weiß
Ein rätselhaftes Wesen ist auch das Mädchen Chigusa, das allein in der Nähe des Dorfes im Wald lebt. Sie besitzt eine Art Doppelnatur: Einerseits scheint sie ein normales Mädchen zu sein, das nur aus irgendwelchen Gründen abseits der Dorfgemeinschaft lebt - so wird sie etwa einmal beim Aufhängen von Wäsche zum Trocknen gezeigt -, und dann wieder wird sie als eine Art Elfe oder Waldnymphe gezeigt, zu deren Mythologie es gehört, dass jeder, der sie nackt sieht, sofort stirbt. Zwei junge Männer stellen ihr nach, und tatsächlich ereilt einen der beiden bald das Schicksal. Daisaki begegnet ihr ebenfalls, doch der lacht bei ihrer Warnung vor einer Annäherung nur - er ist ja bereits tot. Die Szenen, in denen Chigusa als übernatürliches Wesen erscheint, sind monochrom grün viragiert, wobei es gelegentlich an einigen Stellen im Bild kleine Farbtupfer in anderen Farben gibt. (Terayama benutzte derartige Stilmittel auch schon in WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE, in PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY und in einigen seiner Kurzfilme.) Ist die übernatürliche Chigusa nur eine Einbildung von Sutekichi, wie bei ihrem ersten Auftreten vielleicht nahegelegt wird? Auch hier bleibt vieles offen und der Fantasie des Zusehers überlassen.

Chigusa
Ein Zirkus mit Gauklern und Artisten bringt Abwechslung ins Dorf. (Auch das gab es schon in PASTORAL, dort mit noch merkwürdigeren Gestalten als in LEBEWOHL, ARCHE). Weitere Neuankömmlinge sind eine fremde Frau, Tsubana, mit ihrem kleinen Sohn. Sie führt in einer Urne die Asche ihres Vaters mit sich, der in seinem Testament den Wunsch geäußert hatte, im Familiengrab der Tokitos (Daisakis Zweig) beigesetzt zu werden, obwohl ihn dort niemand kannte. Weder Tsubana noch Daisakis Familie haben eine Erklärung für diesen seltsamen Wunsch, doch Tsubana wird zunächst einmal bei den Tokitos aufgenommen.

Links oben nochmal Chigusa; Tsubana und Dai
Sutekichi verändert sich seit dem Ende seiner Flucht zusehends. Er unterhält sich nicht nur immer wieder mit Daisaki, den sonst niemand wahrnimmt, er vergisst auch Namen und Bedeutung der alltäglichen Dinge seiner Umgebung. Deshalb schreibt er die Bezeichnungen auf Zettel, die er am jeweiligen Objekt anheftet. Bald gibt es ganze Girlanden von aneinandergehefteten beschrifteten Zetteln, und schließlich bekommt auch Sue einen umgehängt: "Sue - meine Frau". Bald darauf taucht wieder einmal der alte Mann auf, und diesmal führt er auf seinem Karren Uhren mit sich - offenbar dieselben, die einst vergraben und nun wieder ausgegraben wurden. "Wenn man eine Uhr hat", erklärt er Sutekichi, "kann jeder die Sonne auf- und untergehen lassen". Er dreht am Zeiger einer der Uhren - und schon geht tatsächlich die Sonne unter. Überzeugt, kauft Sutekichi eine der Uhren.

Girlanden von Merkzetteln
Unterdessen hat Tsubana die Initiative ergriffen und die Urne eigenmächtig im Familiengrab der Tokitos beigesetzt. Am nächsten Tag fällt ihr junger Sohn Dai versehentlich ins inzwischen riesige Loch - und steigt Sekunden später als junger Mann wieder heraus. Dai, nun ebenfalls Daisaki genannt, ist jetzt ein viriler Muskelprotz, aber charakterlich ist er nicht gereift. Er stellt aggressiv den jungen Frauen im Dorf nach, und schließlich vergewaltigt er sogar Temari, die schwangere Witwe des ersten Daisaki.

Sue und Sutekichi
Sutekichi stößt mit seiner neuen Uhr auf wenig Gegenliebe. Die meisten der Dörfler sind der Meinung, es dürfe im Dorf nur eine Uhr geben, damit keine Verwirrung über die richtige Zeit entstehen könne (dieses Motiv kam ebenfalls bereits in PASTORAL vor). Ein mit Knüppeln bewaffneter Trupp macht sich zu Sutekichi auf und fordert die Herausgabe der Uhr. Als er sich weigert, wird sein Anwesen gestürmt und Sutekichi im Handgemenge erschlagen. Im Augenblick seines Todes verschwindet Daisaki vor seinen Augen. In der folgenden Nacht findet auf dem Dorfplatz ein spektakuläres, archaisch anmutendes Tanzritual statt, von Fackeln erleuchtet und von dumpfen Trommeln begleitet - vielleicht eine Art Totenfeier für Sutekichi. Oder sind es die Geister selbst, die hier erscheinen? Am nächsten Morgen löst sich wie von selbst Sues Keuschheitsgürtel. Wurde es durch das nächtliche Ritual bewirkt? Oder ist es einfach nur eine grimmige Ironie, deren tieferen Sinn niemand kennt, dass jetzt, nach Sutekichis Tod, das Ding abfällt? Wieder bleibt viel Raum für Interpretation und Spekulation.

Ein nächtliches Tanzritual
Der Sturm auf die Uhr war nicht von Erfolg gekrönt - im Gegenteil. Nicht nur hängt Sutekichis Uhr trotz seines Todes immer noch in seiner demolierten Hütte, jetzt kauft auch noch Tsubana eine ganze Reihe Uhren und hängt sie alle in der Wohnung der Tokitos auf, bei denen sie nach wie vor lebt. Bald gibt es in jedem Raum welche, insgesamt dutzende (und wiederum gab es dieses Motiv bereits in PASTORAL). In der letzten halben Stunde des Films halten einige moderne Neuerungen Einzug im Dorf. Es gibt ein erstes Radio, eine elektrische Straßenbeleuchtung wird installiert, und ein erstes Automobil erscheint im Dorf. Es gehört Yonetaro Tokito, einem Verwandten von Daisaki, dem er einst seine Ersparnisse stahl und damit in die Stadt entschwand. Doch nicht das Auto, sondern ein anderes seiner Besitztümer erregt die meiste Aufmerksamkeit: Eine Taschenuhr. Wenn man die Zeit immer mit sich herumtragen kann, dann ist ein neues Kapitel der Herrschaft des Menschen über die Zeit eröffnet. Auch der Alte im weißen Gewand bringt eine Neuheit mit: Einen Fotoapparat - eines jener klobigen Ungetüme mit riesigen Fotoplatten. Damit fotografiert er Tsubana mit dem zweiten Daisaki vor einem theatralisch gemalten Hintergrundbild, und sie bemerkt dabei "ein Foto wird geschossen, eine Seele ist verloren". Und dazu sagt eine Stimme aus dem Off, dass im Dorf nur dieses eine Foto aufgenommen wurde, und als Vorgriff auf den Schluss wird kurz die moderne Stadt gezeigt, in der jetzt die Nachfahren der Dorfbewohner leben. Wer dieser plötzlich auftauchende Erzähler aus der Gegenwart ist, erfährt man nicht. Vielleicht Temaris noch ungeborenes Kind? Wieder bleibt Gelegenheit zur Spekulation.

Elektrische Beleuchtung wird installiert
Eines Tages bleiben die vielen Uhren im Haus der Tokitos stehen, alle auf einmal, und ein symbolischer Zwischenschnitt zeigt monochrom viragiert eine Uhr, die aus großer Höhe in einen Abgrund fällt und zerschellt (eine sehr ähnliche Sequenz gab es bereits in ORI, engl. THE CAGE, Terayamas erstem erhaltenen Kurzfilm von 1964). Die Zeit selbst ist damit sozusagen zum Stillstand gekommen, aber Yonetaros Taschenuhr setzt sie wieder in Gang, wie einer der Dörfler sagt. Gleichzeitig verlässt Temari, die sich mit dem zweiten Daisaki arrangiert hat, mit diesem das Dorf, um in die Stadt zu gehen, wie mittlerweile viele der Dörfler. Während Yonetaro im inzwischen fast leer stehenden Haus der Tokitos einen Schatz entdeckt, der etwas mit den Uhren, aber auch mit Tsubanas totem Vater zu tun hat, wandern weitere Bewohner in die Stadt ab. Letztlich ist die Zeit doch zum Stillstand gekommen, der Städter Yonetaro, der nur zu Besuch kam, kann sie nicht wiederbeleben. Am Ende ist Sue allein im Dorf. In einem furiosen Finale am gigantischen Loch hält sie eine Rede, halb Monolog und halb Dialog mit Sutekichi, und sie beschimpft die abgewanderten Bewohner als Idioten, bezeichnet die Stadt als Illusion und prophezeit, dass sie das erst in hundert Jahren begreifen werden. "Kommt in hundert Jahren zurück", ruft sie - und stürzt sich ins Loch.

Metamorphosen eines Lochs
Epilog: In der Gegenwart, und in der Stadt, die schon einmal kurz zu sehen war. Die Farben sind jetzt nicht mehr übersättigt, sondern betont fahl. Etliche der Bewohner sind Doppelgänger der alten Dorfbewohner. In einem Uhrmacherladen unterhalten sich ein alter Mann - der Uhrmacher - und ein Junge über jenes einzige Foto, das seinerzeit im Dorf gemacht wurde, und das nun im Laden hängt. Der Wiedergänger von Daisaki Tokito liest in einem Bündel von Briefen, die nicht von den Lebenden an die Toten, sondern von den Toten an die Lebenden geschrieben wurden. Am Ende treffen sich die Doppelgänger auf einem Hügel vor der Stadt, um ein Erinnerungsfoto aufzunehmen, für die kommenden Generationen in weiteren hundert Jahren. Der einzige, der keine moderne Kleidung trägt, ist der Fotograf - es ist der Alte im weißen Gewand mit seiner klobigen Kamera.

Finale und Epilog
Shūji Terayama entwarf in LEBEWOHL, ARCHE einen bildgewaltigen und symbolbefrachteten Kosmos in Anlehnung an den "magischen Realismus" in García Márquez' Roman. Unübersehbar ist die Allgegenwart der Uhren als Metaphern für die Zeit selbst. Aber auch der Tod - dem Terayama, wie schon erwähnt, damals selbst ins Auge blickte - ist in Bildsymbolen allgegenwärtig. Dazu dienen auch mehrfach Portraits von Verstorbenen. In einigen früheren Filmen Terayamas, insbesondere im schon mehrfach erwähnten PASTORAL und im Kurzfilm KESHIGOMU (engl. ERASER oder RUBBER, 1977) sind es Portraitfotos von Abwesenden oder Verstorbenen. Oft sind die Bilder nicht unversehrt, sondern das Deckglas ist zerbrochen, oder das Bild selbst zerknittert, zerrissen oder sonstwie beeinträchtigt. In LEBEWOHL, ARCHE übernehmen gemalte Portaits diese Rolle, und auch sie bleiben nicht ungeschoren. So sticht Temari einem Bild ihres toten Mannes die Augen aus (ein Gegenstück, ein Foto mit ausradierten Augen, gibt es in KESHIGOMU), und Sue verwüstet aus Wut über ihren Vater, der ihr den Keuschheitsgürtel verpasste, sein Portrait. Die beiden einzigen Fotos im Film symbolisieren dagegen eher den Sieg über den Tod. So sehe ich es zumindest, aber wie schon mehrfach erwähnt, lässt dieser Film viel Freiraum für Interpretationen.


Das gilt auch für die magischen oder übernatürlichen Bestandteile. Wenn man mag, kann man für vieles davon natürliche Erklärungen suchen, aber letztlich führen solche Rationalisierungen nicht weit, und man kann es auch gleich lassen. Terayama war ohnehin ein Künstler, der allzu detaillierte Erklärungen seiner Werke ablehnte. Autobiografische Bezüge sind in LEBEWOHL, ARCHE weniger offensichtlich als etwa in PASTORAL (wo die Verlässlichkeit der Autobiografie freilich explizit negiert wird). Dennoch spielt eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach dem einfachen, vorindustriellen Landleben eine Rolle, sie manifestiert sich etwa in Sues Schlussrede. Terayama wuchs in der Präfektur Aomori im nördlichsten Teil von Honshu auf, seinerzeit eine rückständige ländliche Gegend. Die archaischen Sitten und Gebräuche, die er in LEBEWOHL, ARCHE und mehr noch in PASTORAL zeigte, kannte er jedoch nicht aus eigener Erfahrung - es handelt sich um Produkte seiner Fantasie, um ein ebenso anziehendes wie abstoßendes Sehnsuchtsland.


Terayama war ein Regisseur, der nicht vor Eklektizismus oder Pastiche zurückschreckte. Er verarbeite Einflüsse und Motive vieler Kollegen, japanischer wie europäischer. So erinnert etwa das Bestehen archaischer oder schamanistischer Praktiken in einer Dorfgemeinschaft im südlichen Japan des 20. Jahrhunderts etwas an Shōhei Imamuras PROFOUND DESIRES OF THE GODS, während das Auftreten das toten Daisaki an die Geister der Toten in Hiroshi Teshigaharas PITFALL denken lässt. Es ließen sich noch mehr solche Quellen ausfindig machen, aber auch das führt letztlich zu nichts, weil Terayama ohnehin seine sehr eigene Mischung daraus machte. Zur grandiosen Wirkung des Films trägt neben der Bildgewalt (Kamera: Tatsuo Suzuki) auch der überzeugende Soundtrack bei. Terayamas langjähriger Generalmusikdirektor J.A. Seazer (auch J.A. Caesar geschrieben, eigentlich Takaaki Terahara) lief noch einmal zu großer Form auf. Zu Terayamas Arbeitsweise gehörte es, dass seine Aktivitäten als Dichter, Schriftsteller und Theater- und Filmregisseur eng miteinander verwoben waren und er oft einen Stoff nacheinander in verschiedenen Medien bearbeitete, allerdings oft auch mit beträchtlichen Unterschieden zwischen den aufeinanderfolgenden Versionen. 1981 inszenierte er mit seiner Theatertruppe Tenjō Sajiki in Tokyo sein Stück "Hundert Jahre Einsamkeit" (Hyakunen no kodoku), das in einer großen Halle auf fünf Bühnen gleichzeitig aufgeführt wurde. Dass der Titel des Films dann anders lautete, lag wohl an García Márquez, der Verfilmungen seines Romans grundsätzlich ablehnt. Ob er auch gegen LEBEWOHL, ARCHE etwas einzuwenden hat, weiß ich nicht. Es wäre schade, denn Terayama ist damit ein großer Wurf gelungen.


Zum Weiterlesen:

Avant-garde, Pastiche, and Media Crossing: Films of Terayama Shūji: Profunder Essay von Prof. Norimasa Morita von der Waseda-Universität Tokyo über WERFT DIR BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE und PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY. Aber Vorsicht: In PASTORAL gibt es, wie bereits erwähnt, eine kühne Wendung, von der man sich eigentlich überraschen lassen sollte, und der Text enthält diesbezüglich einen dicken Spoiler.

"FATHERLESS GIRL" AND "DOMINEERING MOTHER". TERAYAMA SHUJI'S PORTRAYAL OF WOMEN: Examensarbeit von Rei Sadakari an der Universität Hawaii. Behandelt ausschließlich Terayamas Theaterarbeit, aber die Erkenntnisse lassen sich auch auf die Filme übertragen (so ist etwa Chigusa so ein "fatherless girl"). Man erfährt auch einiges über Terayamas kompliziertes Verhältnis zu seiner Mutter, unter deren Fuchtel er zeitlebens stand - was sich auch in etlichen seiner Filme niederschlug, insbesondere PASTORAL und GRASS LABYRINTH.

Oedipal Ketchup von Andrew Grant. Kompakte Übersicht über Terayamas Spielfilme.

Schausteller und Zur-Schau-Gestellte. Zur Renaissance der misemono-Tradition in Terayama Shûjis (1935-1983) dramatischem Werk
von Stephan Köhn und Martina Schönbein. Behandelt wie Sadakari nur die Theaterarbeit, enthält aber interessante biografische Details.

Drei Kurzfilme von Terayama von meiner Wenigkeit.