Dienstag, 9. Januar 2024

Napoleon, wie Abel Gance ihn sah

NAPOLÉON VU PAR ABEL GANCE (im Folgenden kurz NAPOLÉON)
Frankreich 1927
Regie: Abel Gance
Darsteller: Albert Dieudonné (Napoleon), Gina Manès (Joséphine de Beauharnais), Vladimir/Nicolas Roudenko (Napoleon 1783), Nicolas Koline (Tristan Fleuri), Annabella (Violine Fleuri und Désirée Clary), Alexandre Koubitzky (Danton), Edmond Van Daële (Robespierre), Antonin Artaud (Marat), Abel Gance (Saint-Just), Maxudian (Barras), Pierre Batcheff (General Hoche), Alexandre Mathillon (General Schérer), Marguerite Gance (Charlotte Corday), Harry-Krimer (Rouget de Lisle), Damia (La Marseillaise), Louis Sance (Ludwig XVI.), Suzanne Bianchetti (Marie-Antoinette), W. Percy Day (Admiral Hood), Olaf Fjord (Nelson), Léon Larive (Direktor von Brienne), Maurice Schutz (Pasquale Paoli), Philippe Hériat (Salicetti), Acho Chakatouny (Pozzo di Borgo), François Viguier (Couthon), Guy Favières (Fouché)


Napoleon Bonaparte gehört wohl zu den faszinierendsten und gleichzeitig umstrittensten Gestalten der Geschichte - ich fange gar nicht erst damit an, die Pros und Contras seines Wirkens aufzuzählen. Da verwundert es nicht, dass es nicht wenige Filme über den "kleinen Korsen" und Kaiser der Franzosen gibt. Im Booklet der britischen Blu-ray-Edition von 2016 (siehe ganz unten) ist von ungefähr 1000 Kino- und TV-Filmen über das Thema die Rede, angeblich doppelt so viele wie über Jesus, und in bis zu diesem Zeitpunkt 295 davon tritt Napoleon selbst als Charakter in Erscheinung, dargestellt von Schauspielern von Werner Krauß bis Marlon Brando, von Jean-Louis Barrault bis Rod Steiger, von Charles Boyer bis Dennis Hopper. Schon 1897 ließ der Regisseur Georges Hatot, der damals für die Brüder Lumière tätig war, in ENTREVUE DE NAPOLÉON ET DU PAPE in einem handcolorierten Tableau Napoleon mit dem Papst zusammenrasseln. Neuerdings hat bekanntlich auch der mittlerweile 86-jährige Ridley Scott mit NAPOLEON einen Beitrag abgeliefert, und schon ist unter demselben Titel eine siebenteilige Serie für HBO in Vorbereitung, die auf einem bislang unverfilmten Drehbuch von Stanley Kubrick beruht.

Schneeballschlacht in Brienne; Napoleon benutzt einen
kleinen Spiegel als eine Art Periskop
                                            
Das Thema lädt bei der filmischen Umsetzung zur Monumentalität ein, auch wenn es natürlich auch "kleine" Verfilmungen gibt. Besonders heftig hat Sergej Bondartschuk zugeschlagen. Schon in seinem vierteiligen und siebenstündigen KRIEG UND FRIEDEN (damit gut doppelt so lang wie die auch schon episch ausladende Version von King Vidor) hat auch Napoleon seinen Platz. Und sein WATERLOO von 1970 dauert zwar "nur" gut zwei Stunden, aber Bondartschuk konnte auf nicht weniger als 16.000 Soldaten der Roten Armee als Statisten zurückgreifen. Doch der Stummfilm, um den es hier geht, braucht sich vor solchen Zahlen nicht verstecken, und er war sogar in einem noch weit größeren Maßstab geplant.

Mehrfachbelichtung zur Steigerung der Dynamik

Denn NAPOLÉON - der heute fünfeinhalb Stunden dauert - war eigentlich nur als erster Teil eines auf sechs Filme angelegten Zyklus gedacht, der das komplette Leben Napoleons von seiner Kindheit bis zum Tod abhandeln sollte (in frühen Stadien der Entwicklung waren wohl auch fünf und dann acht Filme angedacht). Weil das französische Studiosystem damals schwach und fragil war - viele Studios kamen, produzierten nur wenige Filme und verschwanden wieder -, verließ sich Gance auf potente private Geldgeber. Nomineller Produzent war er selbst, aber seine eigenen Mittel hätten bei weitem nicht ausgereicht. Die Idee zum Film hatte Gance 1921, dem 100. Todesjahr Napoleons, und er begann, sich extensiv in das Thema einzulesen. Die eigentlichen logistischen Vorarbeiten begannen 1923, die Dreharbeiten dauerten gut eineinhalb Jahre (mit einer Pause, s.u.), von Januar 1925 bis August 1926.

Der junge Napoleon ist ein Einzelgänger - sein einziger Freund ist sein Adler

Wichtigster Finanzier war zunächst der deutsche Industrielle und Politiker Hugo Stinnes, der sich dafür mit dem wohlhabenden Exilrussen Wladimir Wengeroff zusammentat. Wengeroff hatte sein Vermögen im vorrevolutionären Russland als Pharmaunternehmer und an der Börse gemachtt, und ab 1915 betätigte er sich zunächst noch in Russland auch als Filmproduzent, gemeinsam mit seinem Partner Wladimir Gardin. 1921 übersiedelte er nach Berlin, förderte die deutsch-russischen Filmbeziehungen und gründete die Firma Zesar-Film, die er bald in Wengeroff-Film umbenannte. Stinnes und Wengeroff gründeten nun 1923 das Konsortium Westi-Film GmbH (manchmal auch WeSti geschrieben), benannt nach den Anfangsbuchstaben von WEngeroff und STInnes. Die Ambitionen waren groß: Man wollte nicht nur einzelne Filme produzieren, sondern ein "europäisches Filmsyndikat" schaffen, ein gesamteuropäisches Gegengewicht zu Hollywood, dessen Übermacht sich immer deutlicher abzeichnete. Dem kulturell desinteressierten Stinnes ging es dabei nur um Geld und Macht, Wengeroff dagegen war offenbar ein Visionär und zumindest teilweise ein Idealist (auch wenn er das Geldverdienen nicht vergaß). Wengeroff vertrat diese Idee einer "Europäischen Union des Films" umtriebig in Artikeln, offenen Briefen und Interviews.

Die drei Götter - Marat (l.o.), Danton (r.o.) und Robespierre

Eines der ersten Projekte von Westi war es nun, einen Vertrag mit Gance über die Finanzierung der sechs Napoleon-Filme abzuschließen. Diese sollten ungefähr folgendermaßen aufgeteilt sein:

Teil I: Jugend Napoleons und erste militärische Erfolge einschl. Italienfeldzug
Teil II: Ägyptische Expedition und Machtergreifung in Frankreich
Teil III: Kaiserkrönung und die großen Siege auf dem Kontinent, mit Austerlitz als Höhepunkt
Teil IV: Der Russland-Feldzug
Teil V: Verbannung auf Elba, Rückkehr und Waterloo
Teil VI: Verbannung auf St. Helena und Tod, mit einem Epilog: Überführung der sterbl. Überreste in den Invalidendom

Im Club des Cordeliers üben Rouget de Lisle und Danton die
Marseillaise ein (r.u. Damia als Personifizierung der Hymne) ...

In Frankreich jedoch sahen es viele mit Unbehagen, dass mit Stinnes ausgerechnet ein Deutscher einen französischen Vorzeigefilm finanzieren sollte, darunter etwa Charles Pathé, der sich nur mit einem vergleichsweise kleinen Betrag an NAPOLÉON beteiligte. Doch es kam ohnehin alles ganz anders. Denn schon im April 1924 starb Hugo Stinnes überraschend an Komplikationen der Gallenblase. Das hatte zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Film. Doch das Fehlen des Konzernlenkers, Streitereien der Erben und die wirtschaftlichen Turbulenzen der 20er Jahre führten dazu, dass der Stinnes-Konzern innerhalb eines Jahres weitgehend zerfiel und überschuldet war. Schließlich verweigerten die Banken weitere Zahlungen an Westi. Wengeroff konnte oder wollte das Projekt nicht allein stemmen, und so musste Westi aufgeben und sich im Juni 1925 von NAPOLÉON zurückziehen. Gance stand nun plötzlich ohne ausreichende Geldmittel da. Zwar gab es viele weitere private Investoren in den Film, die über halb Europa verteilt waren, aber sie alle zusammen konnten nicht annähernd die nötigen Summen aufbringen. So kamen die Dreharbeiten für einige Monate weitgehend zum Stillstand, und es war ungewiss, ob es überhaupt weitergehen konnte.

... und die Cordeliers, unter ihnen viele aus dem einfachen
Volk von Paris, singen begeistert mit

Die Rettung kam für Gance in Person eines weiteren reichen Exilrussen (oder möglicherweise eines Georgiers, wie eine Quelle angibt), der sich, seitdem er in Frankreich lebte, Jacques Grinieff nannte. 1923 steckte Grinieff viel Geld in die Société des Films Historiques (ob er diese Firma selbst gegründet hat, weiß ich nicht), und ungefähr zur selben Zeit gründete er aus den Resten des früheren Studios Ciné-France seine neue Firma Société Générale des Films (manchmal auch Société Générale de Film geschrieben, SGF). Grinieff schaffte es irgendwie, die alten Konkurrenten Charles Pathé und Léon Gaumont gleichzeitig in den Verwaltungsrat von SGF zu berufen. Seine Ansprüche waren ähnlich ehrgeizig wie die von Wengeroff, wenn auch nicht auf internationaler, sondern nur auf nationaler Ebene: SGF sollte anspruchsvolle und durchaus teure Filme produzieren, die als kulturelle Aushängeschilde Frankreichs dienen sollten. Und so waren denn auch NAPOLÉON und der ebenfalls sehr ambitionierte und kostspielige LA PASSION DE JEANNE D'ARC von Carl Theodor Dreyer die ersten beiden Filme auf der Produktionsliste von SGF. Allerdings wurde mit Gance von vornherein nur ein Vertrag über einen Film geschlossen, eben den schon begonnenen ersten Teil des geplanten sechsteiligen Zyklus. Bei einem finanziellen Erfolg von NAPOLÉON hätte es möglicherweise weitere Filme des Zyklus geben können, aber erstens begann sich 1927, nach dem Erfolg von THE JAZZ SINGER, das Ende des Stummfilmzeitalters abzuzeichnen, und zweitens wurde NAPOLÉON an der Kasse ein Flop - genauso wie LA PASSION DE JEANNE D'ARC. Am Ende brachten die beiden Filme zusammen SGF ein Minus von mehreren Millionen Francs. Das brachte die Firma in eine finanzielle Schieflage, von der sie sich nicht mehr erholte. Zwar war SGF nicht sofort pleite, aber es wurden nur noch zwei oder drei weit weniger teure Filme produziert, darunter Jean Epsteins in der Bretagne gedrehtes proto-neorealistisches Drama FINIS TERRÆ.

Der sinistre Robespierre

Jacques Grinieff hat den Untergang von SGF aber möglicherweise unbeschadet überstanden, denn Jahre später trat ein Jacques Grinieff in den USA als potenter Importeur und Finanzier von Filmen in Erscheinung. Ich nehme an, dass es sich um denselben handelt, konnte aber keine Belege dafür finden. Anfang 1951 versuchte dieser Grinieff, das angeschlagene United Artists von den bisherigen Eigentümern, den beiden verbliebenen Gründern Mary Pickford und Charlie Chaplin, zu übernehmen, kam aber nicht zum Zug. Dieser Jacques Grinieff, der um 1898 in Russland geboren wurde und um 1940 herum die US-Staatsbürgerschaft beantragte, starb 1960 in Paris. Ob es nun derselbe war oder nicht - Abel Gance hat "seinen" Grinieff immer als den Retter von NAPOLÉON bezeichnet, ohne den es den Film nicht geben würde. Die hochfliegenden Pläne zum sechsteiligen Mega-Opus musste Gance allerdings begraben. - Noch ein dritter Exilrusse (der aber vermutlich nicht reich war) war an wichtiger Position an der Entstehung von NAPOLÉON beteiligt, nämlich Simon Feldman, der technische Direktor des Filmstudios von Billancourt in Paris, wo die Studioaufnahmen des Films entstanden. Feldman entwickelte in Zusammenarbeit mit Gance und seinen Kameramännern viele der innovativen Aufnahmetechniken, die bei NAPOLÉON zum Tragen kamen (an LA PASSION DE JEANNE D'ARC war er auch beteiligt). Simons Bruder Michel Feldman gehörte ebenfalls zu den Technikspezialisten von Billancourt.

Das Königspaar kämpft um sein Leben - vergebens

Aber kommen wir nun langsam zum Inhalt des Films. Ich schrieb oben, dass er heute fünfeinhalb Stunden dauert (bei einer Abspielgeschwindigkeit von 20 fps), aber das ist eigentlich schon wieder überholt. Denn in den letzten fünfzehn Jahren hat die Cinémathèque Française (in den letzten paar Jahren mit finanzieller Unterstützung durch Netflix) an einer abermaligen Restaurierung gearbeitet, und vor einigen Monaten wurde verkündet, dass diese nun zum Abschluss gekommen sei. In diesem Jahr soll die neue Version herauskommen. Ich habe noch keine genauen technischen Informationen gefunden, aber vagen Andeutungen entnehme ich, dass diese Version nun an die sieben Stunden dauern könnte. Wie auch immer - NAPOLÉON ist ein sehr langer Film, und das verlangt nach einer gewissen Strukturierung. So besteht er denn auch aus zwei Teilen, die sich wiederum in je zwei Akte unterteilen. Zwischen den Akten waren jeweils Pausen vorgesehen.

Ankunft auf Korsika

Zumindest in der derzeit vorliegenden Fassung sind die Akte nicht in etwa gleich lang, sondern der erste und der dritte Akt sind mit jeweils fast zwei Stunden die längsten. Der erste Akt zerfällt inhaltlich wiederum in zwei Teile. Im ersten, etwa 30 Minuten langen Teil, geht es um Napoleons Jugend als Zögling an der königlichen Militärschule in Brienne. Es ist Winter 1783, und der Film beginnt furios: Mit der ersten Schlacht, mit dem ersten Sieg in einer Schlacht, des 13- oder 14-jährigen Napoleon - einer Schneeballschlacht! Und das ist völlig ernst gemeint, es wird sogar zu blutigem Ernst. Die Lehrer der Kadettenanstalt betrachten die Schneeballschlacht als Teil der proto-militärischen Ausbildung, und der junge Napoleon beweist hier schon taktisches und strategisches Geschick ebenso wie Zähigkeit und unbedingten Siegeswillen - er ist bereits ein "natürlicher" Anführer. Doch er ist auch ein Außenseiter, der sich Respekt verschafft, der aber keine Freunde hat. Bei der Schneeballschlacht befehligt er die eine von zwei "Armeen", und die zahlenmäßig stärkere feindliche Armee kämpft unfair - sie stecken Steine in die Schneebälle. Vor dieser Gefahr gewarnt wird Napoleon von Tristan Fleuri, dem Tellerwäscher der Schule. Trotzdem wird Napoleon im Gesicht getroffen, und er trägt eine blutende Wunde davon - doch er kämpft weiter und erringt mit seiner Armee den Sieg, was ihm die Anerkennung der Lehrer einträgt. Tristan Fleuri wird noch mehrmals im Film auftauchen, als glühender Anhänger Napoleons und immer wieder in seiner direkten Nähe, und er wird immer hoffen, dass ihn der nunmehr erfolgreiche Feldherr wiedererkennt und ihm Anerkennung, vielleicht sogar eine Belohnung, ausspricht - doch das wird nie passieren. Dadurch wird der fiktive Fleuri zu einer Art von tragischer Figur im Film, auch wenn ihm in diesen turbulenten Zeiten sonst nichts Schlimmes widerfährt. Ganz so gnadenlos war Gance aber eigentlich nicht mit ihm. Denn im ursprünglichen Opus aus sechs Filmen, für das bereits ein grobes Skript vorlag, hätte Fleuri als einfacher Soldat an der Schlacht von Waterloo teilgenommen, Napoleon hätte ihn endlich doch wiedererkannt, die beiden wären noch Freunde geworden, und Tristan hätte ihn sogar ins Exil nach St. Helena begleitet. Doch es hat nicht sollen sein ... Tristans Darsteller Nicolas Koline hieß ursprünglich Nikolai Fjodorowitsch Kolin und war, man ahnt es bereits, ein weiterer Russe im Exil.

Korsische Landschaften; l.o. Napoleon mit seiner Familie

Die Schneeballschlacht beruht auf den Memoiren eines Mitschülers von Napoleon in Brienne, und Abel Gance stützt sich überhaupt sehr oft auf irgendwelche schriftlichen Überlieferungen und kennzeichnet Szenen oder Zitate in den Zwischentiteln als "historisch". Doch dabei ist höchste Vorsicht geboten, denn Gance ging dabei ziemlich unkritisch vor und verwendete auch Quellen, die Napoleon regelrecht verklären, und anekdotenhafte Erinnerungsliteratur wie in diesem Fall. Viele dieser Quellen wurden schon im 19. Jahrhundert von den Historikern zerpflückt. NAPOLÉON VU PAR ABEL GANCE ist, wie es dieser vollständige Titel ausdrückt, Napoleon, wie Abel Gance ihn sah, und nicht, wie die Geschichtswissenschaft ihn sah oder heute sieht. - Bei der filmischen Umsetzung der Schneeballschlacht schöpft Gance aus dem Vollen, um größtmögliche Dynamik zu erzeugen. Es gibt Doppel- und Mehrfachbelichtungen reihenweise, es gibt rasante Schnittfolgen, bei denen Einstellungen nur wenige Frames und im Extremfall nur einen einzigen Frame lang sind, und es gibt viele Szenen, die mit "Handkameras" gefilmt sind - allerdings gab es damals noch keine echten Handkameras, zumindest nicht für 35mm. Die verwendeten Kameras der Firma Debrie waren zwar für professionelle Geräte vergleichsweise leicht, aber immer noch groß und schwer genug, dass man sie nicht einfach so freihändig bedienen konnte. Deshalb konstruierte das technische Team um Simon Feldman eine Art von Brustharnisch, an dem die Kamera befestigt wurde. Dadurch lag das Gewicht auf den Schultern, und die Hände waren frei. Wenigstens teilweise waren die Kameras ja noch nicht elektrisch betrieben, sondern es wurde noch gekurbelt. So ausgerüstet, konnten sich die Kameramänner mitten ins Kampfgetümmel stürzen. Feldman und sein Team montierten auch Kameras auf Schlitten und sonstigen Gefährten. Die Verwendung solcher Stilmittel und technischer Tricks kennzeichnen Abel Gance als einen Hauptvertreter des filmischen "Impressionismus" im französischen Film der 1920er Jahre - ich habe schon in meinem Artikel über CŒUR FIDÈLE über den Impressionismus berichtet und will das hier nicht weiter vertiefen. Ohnehin lässt sich NAPOLÉON mit so einem Schlagwort nicht fassen - er geht weit darüber hinaus.

Flucht von Korsika

Einziger Gefährte Napoleons in Brienne ist ein halb zahmer Adler in einem Käfig, den ihm ein Verwandter geschenkt hat. Nach der Schneeballschlacht befreien die beiden gedemütigten Anführer der geschlagenen Armee aus Rache den Adler und lassen ihn ins Freie entkommen. Als Napoleon das bemerkt, zettelt er zutiefst verletzt im Schlafsaal einen Aufruhr an, um die Täter dingfest zu machen. Der Tumult steigert sich schnell zu einer Kissenschlacht, doch die ist weder lustig noch surreal (wie wenige Jahre später die in Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE), sondern wiederum ernst, vor allem für Napoleon. Gefilmt hat sie Gance nicht ganz so dynamisch wie die Schneeballschlacht (sie dauert auch viel kürzer), aber dafür kommt hier auch Split Screen zum Einsatz - das Bild besteht aus zuerst 2 × 2 und dann 3 × 3 rechteckigen Feldern mit unterschiedlichem Inhalt (aber alles Kissenschlacht). Für damals eine enorme technische Leistung. Sieger hat diese Kissenschlacht aber keinen - die Lehrer und Aufseher würgen sie ab, und nachdem Napoleon als der Schuldige ausgemacht ist, muss er eine Nacht allein außerhalb des Schlafsaals verbringen. Symbolträchtig lässt er sich auf einer Kanone nieder, doch dort sieht er durch das Fenster, dass der Adler draußen noch da ist - er hat ihn nicht verlassen. Dieser Adler ist einerseits nur ein Vogel, doch er wird von Gance auch als ein Symbol, als Allegorie der kommenden imperialen Größe seines Helden inszeniert. Mehrfach im Film wird wieder ein symbolischer Adler auftauchen, es werden auch Großaufnamen Napoleons und eines Adlers als Doppelbelichtung überblendet werden.

Orkan über dem Mittelmeer

Vorzüglich gespielt wird der junge Napoleon von Nicolas Vladimir Roudenko, der 1909 als Sohn russischer Einwanderer in Nizza geboren wurde. In (so weit ich das sehe, allen) zeitgenössischen und den meisten heutigen Quellen wird er Vladimir Roudenko genannt, in einigen heutigen dagegen Nicolas Roudenko. Beim jetzigen Stand der IMDb gibt es zwei getrennte Einträge, einen für "Vladimir" und einen für "Nicolas", aber es ist ein und derselbe. Manche Kritiker haben seine Leistung in NAPOLÉON als die beste eines Kinderdarstellers in der gesamten Stummfilmzeit bezeichnet. Heute lassen sich ihm nur drei Filme mit ihren Titeln zuordnen, alle von 1927/28, aber er soll schon im Alter von 12 mit ungenannten Rollen in Filmen von Marcel l'Herbier begonnen haben. Als Erwachsener scheint Roudenko selten oder nie über seine Zeit beim Film gesprochen zu haben. Vielleicht hätte sich das geändert, wenn er die Wiederauferstehung von NAPOLÉON 1980/81 (s.u.) miterlebt hätte und zu dem einen oder anderen Event eingeladen worden wäre. Doch Roudenko starb schon 1976 an Krebs.

Charlotte Corday ermordet Marat, r.u. in der Interpretation
von Jacques-Louis David

Der deutlich längere zweite Teil des ersten Akts ist mit "Napoleon und die Revolution" übertitelt. Wir sind nun im Jahr 1792. Napoleon ist jetzt ein junger Leutnant, doch er tritt im Film zunächst in den Hintergrund. In Paris brodelt es. Nachdem die Französische Revolution zunächst in eine konstitutionelle Monarchie gemündet war, nahm sie in diesem Jahr neue Fahrt auf, auch durch den äußeren Druck der europäischen Mächte. Der König wird abgesetzt, das Königspaar festgesetzt und die Anklage vorbereitet. Im Nationalkonvent ringen die gemäßigten Girondisten und die radikalen Montagnards, zu denen die Jakobiner und die Cordeliers zählen, um die Macht. Im Club des Cordeliers, der in einer ehemaligen Kirche residiert, lernen wir die drei "Götter der Revolution" (wie Victor Hugo sie genannt hat) kennen, nämlich Jean Paul Marat, Georges Danton und Maximilien de Robespierre. Marat, gespielt von Frankreichs Theaterlegende Antonin Artaud, wirkt immer leicht abwesend und wirr, macht sogar einen leicht psychotischen Eindruck. Danton, wohlbeleibt, pompös und oft aufbrausend bis cholerisch, mit wirrer voller Frisur, ist auch nicht wirklich sympathisch, aber von den drei "Göttern" ist er der mit Abstand menschlichste. Sein Darsteller Alexandre Koubitzky war ein russischstämmiger Opernsänger. Robespierre schließlich ist ein kaltes technokratisches Monster. Mit seiner dunkel getönten Brille erzeugt er von Anfang an Gänsehaut. Seinem Darsteller Edmond Van Daële sind wir in diesem Blog schon als der Schurke Petit Paul in CŒUR FIDÈLE begegnet (aber im Vergleich zu Robespierre backt Petit Paul sehr kleine Brötchen). Eine Zusammenkunft der drei Götter wird durch die Nachricht gestört, dass jemand eine neue Hymne nach Paris gebracht hat und sie im Club des Cordeliers vortragen möchte. Rouget de Lisle, wie der Mann heißt, singt nun zunächst allein die Hymne vor - es handelt sich natürlich um die Marseillaise. Er stößt auf allgemeine Zustimmung, schnell wird der Text auf Zetteln verteilt und von den Cordeliers eingeübt, und die Zustimmung steigert sich zur Begeisterung. Unter den Gratulanten für Rouget de Lisle befindet sich auch der zufällig anwesende Napoleon, den wir hier zum ersten Mal als Erwachsenen sehen. "Ihre Hymne, Monsieur, wird Frankreich viele Kanonen ersparen", meint er. Nun, das ist ein bisschen Geschichtsklitterung durch Gance, denn der echte Napoleon mochte die Marseillaise nicht, und während seiner Kaiserherrschaft war sie sogar verboten.

Belagerung von Toulon; r.u. Admiral Hood - eine Tasse Tee muss
sein, auch wenn man gerade eine Schlacht verliert

Aber die Szene ist ein wirkungsvoller Wiedereinstieg des nun erwachsenen Napoleon in die Handlung, in einer durchaus patriotischen Sequenz, in der die damals populäre Chansonsängerin Damia für einige Sekunden als allegorische Verkörperung der Marseillaise (und damit Frankreichs) zu sehen ist. - Nach der Marseillaise-Sequenz beherrscht nun wieder Napoleon die Handlung. Zum ersten Mal seit längerer Zeit besucht er wieder seine Heimat Korsika - die entsprechenden Außenaufnahmen wurden tatsächlich auf Korsika gedreht, z.B. bei Napoleons Geburtshaus. Wir lernen viele seiner Verwandten kennen, aber ich möchte nicht weiter auf sie eingehen - sie bleiben alle Randfiguren, selbst Napoleons Brüder, die in der korsischen Lokalpolitik mitmischen. Korsika ist damals praktisch unabhängig, aber gleich vier europäische Mächte, nämlich Italien, Spanien, Frankreich und England, bemühen sich um Einfluss, und Korsika wird sich auf lange Sicht einer Seite anschließen müssen. Wie sich von selbst versteht, vertritt Napoleon die Seite Frankreichs. Doch bei seiner Ankunft muss er zu seinem Schrecken erfahren, dass sich der derzeitige Machthaber Paoli für England entschieden hat - das ist für Napoleon die schlimmste Option. So beginnt Napoleon, für die französische Seite zu agitieren, doch zunächst ohne Erfolg - und er hat hier keine Armee zu seiner Verfügung. Paoli will seinen Kopf, und so bleibt Napoleon vorerst nur die Flucht. Nachdem er in einem dreisten Coup die Tricolore aus dem Präsidentenpalais raubt (und so vor ihren Verächtern sicherstellt), gelingt ihm in einem wilden Ritt an die Küste das Entkommen, indem er dort ein kleines Segelboot besteigt, die Tricolore sehr symbolträchtig als Segel setzt und seinen Verfolgern davonsegelt.

Die Eroberung von Toulon - ein Gemetzel im Schlamm

Was nun folgt, ist nicht nur ein Höhepunkt (und vielleicht der Höhepunkt) des Films, sondern für mich ein Höhepunkt der Stummfilmkunst überhaupt. Während Napoleon die korsische Küste entlangsegelt, kommt ein Sturm auf, der sich immer mehr steigert und die Nussschale in schwere Bedrängnis bringt. Gleichzeitig findet im Nationalkonvent eine Sitzung statt, in der die Montagnards (letzten Endes erfolgreich) die Absetzung und Verfolgung der Girondisten fordern, weil sie Verräter an der Revolution seien. Im Konvent bricht wildes Getümmel aus, das sich zur Saalschlacht steigert, und Gance vermengt das in einer brillanten Parallelmontage mit dem sich weiter steigernden Orkan. Aufgewühlte, wogende Wassermassen werden mit aufgewühlten, wogenden Menschenmassen gegengeschnitten. Gance hatte schon vor den Dreharbeiten in einer schriftlichen "Proklamation" nicht nur seine Haupt- und Nebendarsteller, sondern auch ausdrücklich seine Komparsen dazu aufgefordert, ihre Rollen nicht nur zu spielen, sondern zu "sein", sich vollständig in sie hineinzuversetzen, und gerade in dieser Szene trug das Früchte. Viele der Komparsen gingen tatsächlich aufeinander los, und es gab viele Verletzte. Carl Theodor Dreyer, der als Gast bei den Dreharbeiten in Billancourt (wo auch LA PASSION DE JEANNE D'ARC gedreht wurde) zusah, hat sich durchaus befremdet über dieses Vorgehen von Gance geäußert, obwohl er ja selbst als ein radikaler Regisseur galt, der seinen Darstellern viel abverlangte. Auch hier schickte Gance wieder seine Kameramänner mit den Brustharnischen mitten ins Getümmel, um die Dynamik zu steigern. Als Krönung ließ Gance die Kamera an einer Art Schaukel befestigen und, mit Blick nach unten, über den Köpfen der kämpfenden Abgeordneten hin- und herschwingen. Wäre die Kamera einfach fest am Ende dieses Pendels befestigt gewesen, wäre der Blick je nach Auslenkung auch zur Seite gerichtet gewesen, und die tobenden Abgeordneten wären teilweise aus dem Bild verschwunden. Das aber wollte Gance nicht. Deshalb wurde mit Hilfe eines beweglichen Gestänges dafür gesorgt, dass die Kameraplattform immer parallel zum Boden und deshalb der Kamerablick unabhängig von der Auslenkung senkrecht nach unten ausgerichtet war. Das war eine der ingeniösen Erfindungen von Simon Feldman, er nannte sie le pendule parallélogrammique.

Der von Robespierre und Saint-Just (l.u.) dominierte "Wohlfahrtsausschuss"
(Comité de salut public), r.u. Robespierres Freund und Anhänger Georges Couthon

Beim ursprünglichen Schnitt des Films, der sieben Monate dauerte, und den Gance mit der renommierten Cutterin Marguerite Beaugé besorgte, kam er auf die Idee, die "doppelten Wogen" nicht als Parallelmontage zu gestalten, sondern als Triptychon, genau wie den Schluss des Films, also mit drei parallelen Projektionen auf nebeneinanderliegende Leinwände. Zumindest bei der Premiere von NAPOLÉON, im April 1927 in der Pariser Oper, wurde er tatsächlich in dieser Form vorgeführt, danach aber anscheinend nicht mehr, sondern eben mit der Parallelmontage. Die Triptychon-Fassung der Sequenz ist seitdem verschollen, offenbar endgültig. Das ist jedenfalls der Stand von 2016. Ob bei der oben erwähnten jüngsten Rekonstruktion wieder etwas davon zum Vorschein kam, ist mir nicht bekannt. - Der erste Akt endet mit einer vermutlich frei erfundenen Episode. Nachdem sich der Sturm gelegt hat, wird der völlig erschöpfte Napoleon von einem größeren (aber immer noch eher kleinen) Schiff aus dem Wasser gefischt, auf dem sich dann auch seine Familie befindet. Zufällig kreuzen sie den Weg eines englischen Kriegsschiffs. Ein Offizier darauf, ein gewisser Horatio Nelson, bittet seinen Kapitän, das Schiff versenken zu dürfen, doch der winkt ab - zu unbedeutend, dieses Schifflein, da würde man nur Pulver und Munition verschwenden. Nun, der spätere Admiral Nelson wird noch seine Chance bekommen und Napoleons Flotte bei Abukir und bei Trafalgar vernichtende Niederlagen beibringen. Aber das liegt nicht mehr im Zeitrahmen von NAPOLÉON. Nelsons Darsteller Olaf Fjord bezeichnete sich gelegentlich als Norweger, aber er war in Wirklichkeit ein österreichischer Schauspieler und Regisseur.

Der "große Terror" benötigt eine Bürokratie des Todes; auch
Danton wird einen Kopf kürzer gemacht

Die nackte Idee einer Gleichsetzung menschlicher und ozeanischer Wogen stammt übrigens nicht von Gance, sondern von Victor Hugo. In dessen Roman Quatrevingt-treize (Dreiundneunzig), der so heißt, weil er 1793 spielt, gibt es den Satz "Ein Mitglied des Nationalkonvents zu sein, war, wie eine Woge im Ozean zu sein". Gance verlangte von seinen Leuten eine filmische Umsetzung dieses Satzes, und das Ergebnis, ich wiederhole mich, ist phänomenal. Die "entfesselte Kamera" eines Karl Freund in Filmen wie DER LETZTE MANN oder VARIETÉ mag noch agiler sein, aber sie erreicht nicht dieselbe dynamische Wucht wie bei Gance.

Der Wohlfahrtsausschuss verwahrt einen Teil seiner Akten in
einem Sarg; auch Napoleon wird angeklagt und in Antibes inhaftiert

Albert Dieudonné spielt mit dem jungen Offizier und Feldherrn Napoleon die Rolle seines Lebens. Er hatte schon in früheren Filmen von Gance mitgespielt, und er wollte diese Rolle unbedingt. Doch er war nicht erste Wahl. Gance wollte eigentlich den russischen Exilanten Ivan Mosjoukine als Napoleon, Dieudonné befand er für etwas zu dick. Aber Mosjoukine sagte nach einigem Überlegen ab, und Dieudonné machte geschwind eine Abmagerungskur und bekam dann doch die Rolle. Gance und Dieudonné erzählten noch Jahrzehnte später (in leicht unterschiedlichen Versionen) die Anekdote, wie Dieudonné in voller Napoleon-Montur in Schloss Fontainebleau (wo Gance einen Teil des Drehbuchs schrieb) schon bei Dunkelheit zum Casting vorsprach - und einen Museumswärter davon überzeugte, der Geist Napoleons zu sein. Ob das nun stimmt oder nur gut erfunden ist - Dieudonné wurde für das damalige Frankreich die perfekte Verkörperung des jung-dynamischen kleinen Korsen. Bei den Dreharbeiten auf Korsika mischte sich das Interesse der einheimischen Bevölkerung für das Filmteam mit echter Napoleon-Begeisterung. Angeblich wagte es niemand, von Dieudonné für irgendetwas Geld anzunehmen, sobald er seine Uniform anhatte.

Joséphine de Beauharnais im Gefängnis; der Vicomte de Beauharnais
verabschiedet sich von seiner Ex-Frau und lässt die Kinder grüßen

Der zweite Akt beginnt mit der Ermordung Marats in der Badewanne durch Charlotte Corday. Gance hält sich hier bei der Bildgestaltung eng an das berühmte Gemälde von Jacques-Louis David, nur seitenverkehrt. Nach diesem kurzen Auftakt behandelt der ganze Rest des zweiten Akts, in etwa eine Stunde, die Eroberung von Toulon. Die südfranzösische Hafenstadt war in der Hand der Feinde Frankreichs - Engländer, die den Ton angaben, daneben Italiener und Spanier. Besonders ärgerlich: Eine komplette französische Flotte war im Hafen von Toulon von den Feinden festgesetzt. Doch nun sollte die Stadt und der Hafen zurückerobert werden. Napoleon, inzwischen Hauptmann der Artillerie, wird zu der Armeeeinheit vor Toulon versetzt - und ist schockiert. Denn er findet einen verlotterten Haufen vor, der so garantiert nichts erobern wird. Schlimmer noch - der Fisch stinkt vom Kopf her. Denn der kommandierende General vor Ort ist ein aufgeblasener Depp, eigentlich ein Maler. Artillerie? Brauchen wir nicht, wir werden die Stadt mit unseren Degen erobern! Zum Glück für Napoleon und für Frankreich wird der unfähige General schnell durch einen besseren ersetzt. Der erkennt Napoleons Fähigkeiten, hört auf seine Ratschläge, wie man Toulon am besten erobern könnte, und lässt ihn auch die Truppe auf Vordermann bringen. So gewinnt Napoleon bereits jetzt mehr Einfluss, als es seinem Rang entspricht. - Bei Toulon taucht zum ersten Mal seit Brienne Tristan Fleuri wieder auf, als Betreiber einer Kneipe, die auch Napoleon frequentiert - doch wie oben schon angedeutet, erkennt er ihn nicht. Fleuri hat inzwischen zwei Kinder - einen kleinen Sohn, der sich dann abenteuerlustig als Zuschauer und Trommler in die Schlacht begibt, und eine fast erwachsene Tochter, Violine. Diese bewundert Napoleon ebenso wie ihr Vater, und sie verliebt sich unglücklich in ihn, ohne ihn jemals zu bekommen. Damit wird sie letztlich zu einer ähnlich tragischen Figur wie Tristan.

Tristan Fleuri und seine Tochter Violine

Die eigentliche Eroberung von Toulon im Dezember 1793, bei Nacht und in schwerem Regen, mit Napoleon als dem wichtigsten Anführer, nimmt die komplette letzte halbe Stunde des Akts ein. Es ist ein wildes, wüstes, brutales Gemetzel im Schlamm. Da liegt etwa ein Soldat schon tot (oder vielleicht nur halbtot) im Morast, und dann sieht man, wie ihm das Rad einer Kanone über den Knöchel fährt (und ihn wahrscheinlich bricht), und in einem Kampf Mann gegen Mann wird einer mit bloßen Händen in der Schlammbrühe ertränkt. So drastische Bilder hat man zuvor wohl nur in Filmen über den Ersten Weltkrieg gesehen, aber nicht in früher spielenden Historienfilmen. Nicht nur Napoleon gönnt seinen Männern keine Atempause, sondern auch Gance gönnt uns als Publikum keine Pause, so dass man diese halbstündige Sequenz am Ende als etwas ermüdend empfinden könnte. Doch das ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Die englischen Soldaten leiden genauso wie die französischen, und bei der Dunkelheit kann man sie ohnehin kaum unterscheiden - sie sind hier keinesfalls "die Bösen". Bei der britischen Führung unter ihrem Admiral Hood ist das ähnlich. Der britische Stab gerät über dem ungünstigen Verlauf der Schlacht etwas in Aufruhr, aber Hood nimmt die Lage ziemlich ungerührt zur Kenntnis. Man könnte das zwar vielleicht als Arroganz auslegen, aber auch positiv als stiff upper lip - eine, wie man sagt, typisch britische Eigenschaft. Jedenfalls bleibt den Engländern am Ende nur, die französische Flotte im Hafen anzuzünden und dann davonzusegeln. Admiral Hoods Darsteller Walter Percy Day war kein Schauspieler, sondern ein Maler, der sich auf matte paintings spezialisiert hatte. In dieser Funktion wirkte er nicht nur an der Produktion von NAPOLÉON mit, sondern an Dutzenden meist britischen oder französischen Filmen, unter Regisseuren wie Renoir, Clair, Duvivier, Hitchcock, Wyler, Dieterle, Powell & Pressburger, Lean, Olivier, Carol Reed. Eine ziemlich eindrucksvolle Liste eines der großen Unbekannten der Filmgeschichte. Neben Percy Day gehörte auch der spanische Regisseur und Trickspezialist Segundo de Chomón, dem wir auch viele bunte Filme in Pathécolor verdanken, zum Special-Effects-Team von NAPOLÉON (und nach mindestens einer Quelle auch Eugen Schüfftan, in anderen Quellen fehlt er aber). Übrigens wurde für die Schlachtszenen nicht ungefähliche Pyrotechnik verwendet. Als einmal der Sprengmeister abwesend war und ein unerfahrener Assistent die Verantwortung übernahm, kam es zu einer Explosion von Magnesiumpulver. Gance und ein halbes Dutzend weitere Anwesende erlitten starke Verbrennungen und mussten ins Krankenhaus - Georges Lampin, einer der Regieassistenten und gleichzeitig Nebendarsteller, sogar für länger. - Ganz am Ende des zweiten Akts ist Napoleon völlig erschöpft im Morgengrauen mitten unter seinen siegreichen Soldaten eingeschlafen - und so verschläft er seine Beförderung zum Brigadegeneral.

Joséphine feiert frivole Feste; Paul Barras ist ein Lebemann,
aber auch ein ernsthafter Politiker

Am Anfang des dritten Akts, der wieder so lang ist wie der erste, befinden wir uns im Jahr 1794 auf dem Höhepunkt des "großen Terrors" der Revolution. Reihenweise fallen die Köpfe. Von den "drei Göttern" sind nur noch zwei und dann nur noch einer übrig, weil Robespierre auch Danton auf die Guillotine schickt. Auch Dantons Sekretär und Freund Camille Desmoulins und dessen Frau Lucile, denen wir in der Marseillaise-Sequenz begegnet sind, werden hingerichtet. Dafür betritt ein neuer Schlächter die Bühne, Louis Antoine de Saint-Just. Ausgezeichnet gespielt von Abel Gance selbst - es handelt sich hier nicht um ein Cameo, sondern eine richtige Rolle. Saint-Just ist äußerlich glatter, verbindlicher als der abstoßende Robespierre, aber er ist ein genauso großes Monster. Unermüdlich diktiert er Namen in Serie, und Robespierre setzt seine Unterschrift unter die Todesurteile. Und auch Joséphine de Beauharnais und Napoleon werden ohne besonderen Anlass angeklagt und eingekerkert. (Der echte Napoleon wurde allerdings erst nach der Hinrichtung von Robespierre in einer Bastion in Antibes kurz inhaftiert, gerade wegen seiner bisherigen politischen Nähe zu den Jakobinern.) Die spätere Kaiserin Joséphine ist Napoleon schon im ersten Akt kurz über den Weg gelaufen, aber dann erst mal wieder aus dem Film verschwunden. Doch im dritten Akt wird sie zur zweiten Hauptfigur. Dabei wäre es fast schon mit ihr vorbei gewesen, denn im Gefängnis wird der Name de Beauharnais zur Hinrichtung aufgerufen. Doch es gibt zwei Insassen dieses Namens, Joséphine und ihren geschiedenen Mann, den Vicomte de Beauharnais. Der bittet formvollendet darum, ihm den Vortritt zu überlassen, und weil der Name de Beauharnais nur einmal auf der Liste steht, kommt Joséphine noch einmal davon. Und dann ist der Spuk vorbei. Robespierre hat mit seinen immer radikaleren Positionen die Abgeordneten des Nationalkonvents, von denen nun jeder selbst um seinen Kopf fürchten muss, verärgert und gegen sich aufgebracht. So drehen sie den Spieß um. In einer weiteren turbulenten Sitzung werden Saint-Just, Robespierre, dessen eifriger Unterstützer Couthon und einige weitere Jakobiner zum Tod verurteilt. Saint-Just, der sich bisher in vornehmer Zurückhaltung geübt hat, geht einmal aus sich heraus und hält eine flammende Rede. Fast scheint es, als hätte er Erfolg, doch die Würfel sind gefallen - die Guillotine wartet schon auf ihn, Robespierre und die anderen. Die Revolution frisst ihre Kinder.

Barras, General Hoche und Napoleon begegnen sich (noch) auf
Augenhöhe; Joséphine mit ihren Liebhabern Hoche und Barras

Damit sind die Massenhinrichtungen zu Ende, und die Todeskandidaten werden aus den Kerkern entlassen. In den ehemaligen Gefängnissen und zwischen den Gräbern werden nun frivole Parties gefeiert. Napoleon verabscheut dieses Treiben, hält sich aber nicht fern, weil er inzwischen ein Auge auf Joséphine geworfen hat, die, ebenso wie ihre "Kolleginnen" Madame Tallien und Madame Récamier, zu den führenden Gesellschaftsdamen in Paris gehört. Joséphine interessiert sich auch für Napoleon, aber nicht nur für ihn - sie hat auch Verhältnisse mit dem General Lazare Hoche (der im Rang über Napoleon steht) und mit Paul Barras, der jetzt, nachdem die Revolution wieder in eine gemäßigte Phase eingetreten ist, zu einem der führenden Politiker der Republik wird. Napoleon setzt sich in die Nesseln, indem er sich weigert, als General einen royalistischen Aufstand im Département Vendée zu bekämpfen. Immerhin findet seine Begründung, er wolle nicht gegen Franzosen kämpfen, solange Frankreich von so vielen äußeren Feinden umgeben ist, ein gewisses Verständnis bei General Hoche. So verliert Napoleon zwar vorübergehend sein Kommando, aber nicht seinen Rang als General. Das gibt ihm Zeit, Pläne für die Eroberung Norditaliens auszuarbeiten, wo eine französische Armee unter dem General Schérer bisher erfolglos versuchte, die dort stehenden Österreicher zu besiegen. Napoleons Pläne werden Schérer mit der Feldpost geschickt, doch der schreibt zurück, das seien die Pläne eines Verrückten, und er solle sie doch einfach selbst in die Tat umsetzen. Letzteres war natürlich als Witz gemeint - aber genau das, was Napoleon hören wollte. Doch noch ist es nicht soweit, und Napoleon kämpft an einer anderen Front - um Joséphine.

Napoleon umwirbt (noch etwas ungeschickt) Joséphine und spielt
mit ihren Kindern Blinde Kuh

Während Napoleon im Krieg immer weiß, was zu tun ist, stellt er sich auf dem Feld der Liebe eher ungeschickt an. Doch er gibt nicht auf, er nimmt sogar Unterricht bei dem Schauspieler Talma, der ihm beibringt, wie man galant um eine Frau wirbt. Und tatsächlich gewinnt er nach und nach Joséphines Gunst. Hoche und Barras nehmen das sportlich, Barras fördert ihn sogar. Als royalistische Aufständische nun direkt vor Paris stehen und das Ende der Republik droht, lässt sich Napoleon von Barras nun doch überreden, das Kommando vor Ort zu übernehmen. Er beendet den Aufstand in wenigen Tagen. Zur Belohnung wird er zum Général de division (in etwa Generalmajor) befördert, und er wird bei der Pariser Bevölkerung ungemein populär - so populär, dass Napoleon ein Double winkend an sein Fenster stellt, damit er selbst unerkannt auf die Straße gehen kann. Unterdessen hat sich Violine Fleuris unerfüllte Liebe zu Napoleon zu einer Obsession gesteigert. Als fliegende Straßenhändler kleine Napoleon-Statuetten als Souvenir verkaufen, erwirbt sie eine - als eine Art Reliquie. Und als Napoleons Verbindung mit Joséphine bekannt wird, versucht Violine vor Joséphines Haus, sich zu vergiften. Doch sie wird gerettet, ins Haus gebracht und hochgepäppelt. Und dann gibt ausgerechnet Joséphine, die nichts von Violines Obsession ahnt, ihr eine Stelle als Zofe. In ihrem Zimmer in Joséphines Haus richtet sich Violine nun heimlich eine Art von Heiligenschrein ein, in dem sie die Statuette und andere Napoleon-Devotionalien regelrecht anbetet. Das ist das heftigste, aber nicht das einzige Beispiel für eine quasireligiöse Napoleon-Verehrung im Film. Mehr als einmal blicken Leute mit verklärtem Blick zu ihm auf, als wäre er der Messias.

Violine feiert ihre fiktive Hochzeit mit Napoleon

Schließlich ist Napoleon an seinen beiden Fronten am Ziel - wir sind jetzt im März 1796. Die Hochzeit mit Joséphine ist angesetzt, und Napoleon wird zum Befehlshaber der französischen Italienarmee ernannt, seine eigenen Eroberungspläne gebilligt, und der Feldzug soll in wenigen Tagen starten. Darüber vergisst er sogar fast seine Hochzeit (was seine Prioritäten deutlich macht). Während er zuhause über seinen Karten und Plänen brütet, wird aus dem Standesamt, wo die Hochzeit eigentlich schon hätte beginnen sollen, ein Bote nach ihm geschickt. Und als er endlich eintriff, fällt er dem Standesbeamten ständig ins Wort, um die Zeremonie auf das Allernotwendigste zu begrenzen und zu beschleunigen. Joséphine ist sichtlich irritiert und verärgert - sie hätte sich die Hochzeit anders vorgestellt. Immerhin gibt es dann noch eine romantische Hochzeitsnacht. Während dieser echten Hochzeit findet parallel auch eine zweite, symbolische Hochzeit statt. Violine, allein in ihrem Zimmer, hat sich irgendwoher ein Hochzeitskleid besorgt und sich selbst eine Joséphine-Frisur verpasst und begeht jetzt ihre eigene fiktive Hochzeit mit Napoleon. Das ist eine sehr schöne, zarte und traurige Szene - Gance konnte auch sowas perfekt. - Violines Darstellerin Annabella, bürgerlich Suzanne Charpentier, spielte in NAPOLÉON ihre erste größere Rolle - ihren Künstlernamen bekam sie von Gance verpasst. Laut etlicher Quellen spielt sie in NAPOLÉON sogar zwei Rollen, neben Violine auch Napoleons erste Verlobte Désirée Clary. Aber wenn ich nichts übersehen habe, taucht Désirée in der vorliegenden Fassung überhaupt nicht auf. Doch vielleicht sehen wir Annabella in der kommenden neuen Rekonstruktion tatsächlich in zwei Rollen. Später spielte sie beispielsweise in Marcel Carnés HÔTEL DU NORD die jüngere der beiden weiblichen Hauptrollen. Joséphines Darstellerin Gina Manès haben wir hier bereits als Hauptdarstellerin in CŒUR FIDÈLE kennengelernt.

Die echte Hochzeit von Joséphine und Napoleon - ein Teil der Gäste und
der Standesbeamte schlafen schon, als der Bräutigam eintrifft;
r.u. Abschiedskuss beim Aufbruch nach Italien zwei Tage später

Der vierte Akt, mit 50 Minuten der kürzeste, behandelt nun den Italienfeldzug, der die Habsburger aus Oberitalien vertreiben (und nebenbei das unbedeutende Königreich Sardinien in die Knie zwingen) sollte. Oder, um genau zu sein, er behandelt den Beginn dieses Feldzugs. Denn im Triptychon in den letzten gut 20 Minuten wird es zwar noch als Vorausblick auf die kommenden Taten noch ein bisschen an episodischen Scharmützeln zu sehen geben, aber keine richtige Schlacht mehr. - Der Feldzug beginnt nur zwei Tage nach der Hochzeit, und Napoleon lässt sich mit einer Kutsche im Eiltempo von Paris an die Front bringen. Doch zuvor gibt es noch eine ganz erstaunliche Szene. Napoleon macht bei der Abreise noch am Nationalkonvent halt und betritt das zu diesem Zeitpunkt völlig leere riesige Gebäude, um sich zu sammeln, um Einkehr zu halten. Kaum steht er da sinnierend am Rednerpult, beginnen sich vor seinem geistigen Auge (und vor unserem Auge per stufenmäßig sich überlagernden Mehrfachbelichtungen - auch das wieder eine enorme technische Leistung für die damalige Zeit) die Reihen der Abgeordneten zu füllen. Und dann erscheinen überlebensgroß Saint-Just und die "drei Götter" und sprechen zu Napoleon - nicht als Individuen oder als individuelle Geister, sondern alle vier zusammen als Verkörperung der Revolution. Sie ermahnen Napoleon, dass nur ein starker Lenker die Errungenschaften der Revolution und der Republik bewahren kann, und dass es zur Bewahrung dieser Errungenschaften nötig sei, sie über die Grenzen Frankreichs hinauszutragen nach ganz Europa. Und wenn er, Napoleon, diesen Auftrag nicht erfüllen werde, dann würden sie wie die Erinnyen über ihn kommen. Am Ende singen Damia und die vormaligen Götter und nunmehrigen Geister der Revolution ein weiteres Mal symbolisch die Marseillaise. Napoleon verinnerlicht das alles und bricht nach Italien auf. Wir halten also fest: Napoleon wird sich nicht deshalb zum Alleinherrscher aufschwingen und halb Europa erobern, weil er selbst das so will, sondern weil ihm "die Revolution" diesen Auftrag erteilt hat und er sich überhaupt nicht entziehen kann. Das wird uns ohne einen Zweifel und ohne einen Hauch von Ironie präsentiert - es ist ernst gemeint.

Napoleon allein im Nationalkonvent - nein, nicht ganz allein

In wenigen Tagen ist Napoleon nun an der Front. Die dort schon länger stationierten Kommandeure haben wenig Lust, sich seiner Befehlsgewalt zu beugen, doch er verschafft sich schnell Respekt - zunächst durch sein resolutes Auftreten, aber auch durch die Qualität seiner militärischen Planungen. Ein größeres Problem ist der Zustand der Truppe - der ist nämlich desolat. Es gab schon seit Monaten keinen Sold mehr, die Verpflegung ist höchst mangelhaft, die Uniformen sind zerschlissen. Und Napoleon hat wenig Möglichkeiten, das vor Ort zu ändern. Stattdessen motiviert er seine Soldaten mit einer mitreißenden Rede: "Ich will Euch in die fruchtbarsten Ebenen der Welt führen. Reiche Provinzen, große Städte werden in Eure Hände fallen; dort werdet Ihr Ehre, Ruhm und Reichtümer finden." Das ist jetzt nach Wikipedia zitiert, findet sich so aber auch in den Zwischentiteln. Er verspricht regelrecht ein Land, in dem Milch und Honig fließen, und er, Napoleon, wird seine Männer hineinführen. Fast wie Moses, der das Volk Israel ins gelobte Land führt. Ja, auch diese Szene hat einen quasireligiösen Unterton. Und da hat es schon begonnen, das schon mehrfach angesprochene Triptychon, das die letzten 21 Minuten des Films einnimmt.

Ankunft an der italienischen Grenze bei einer maroden Truppe

Es handelt sich dabei zweifellos um eine der kühnsten Taten der gesamten frühen Filmgeschichte. Denn jetzt gibt es nicht mehr eine Leinwand, sondern drei nebeneinander liegende, die von drei miteinander synchronisierten Projektoren bedient werden. Jedes der drei Teilbilder hat das übliche Format 4:3 bzw. 1,33:1, so dass sich zusammengenommen ein Format von 4:1 ergibt. Teils werden damit auf den drei Leinwänden unterschiedliche Szenen abgespielt (wofür von einem französischen Kritiker auch der Ausdruck "Polyvision" geprägt wurde, der aber auch als Synonym für das Triptychon insgesamt benutzt wird), teils die drei Teile eines einzigen superbreiten Panoramas, meist von Totalen. Für den letzteren Modus wurde bei der Aufnahme ein System aus drei synchronisierten Kameras benutzt. Diese waren nicht, wie man vielleicht glauben könnte, nebeneinader angeordnet, sondern übereinander an einer gemeinsamen Achse, leicht gegeneinander verdreht. Diese Erfindung stammt ausnahmsweise nicht von Simon Feldman, sondern vom Kamerahersteller André Debrie. Bei den Totalen spielt der Höhenversatz der Kameras keine Rolle. Bei näheren Aufnahmen, wenn etwa Reiter über die Leinwandgrenzen hinweg das Bild queren, sieht man es, wenn man darauf achtet, aber es stört nicht weiter. In den letzten paar Minuten des Triptychons wird der stringente Handlungsfortschritt beendet zugunsten einer fast rauschhaften Abfolge von Rück- und Vorausblicken, von symbolischen und allegorischen Bildern (auch der Adler taucht wieder auf) mit Doppel- und Mehrfachbelichtungen, alles mit sehr viel Pathos. Ganz am Ende sind die beiden äußeren Panels blau bzw. rot viragiert, während das mittlere farblos bleibt, so dass sich zusammengenommen die Tricolore ergibt.


Auf einer großen Leinwand (nein, natürlich auf drei großen Leinwänden) muss das ziemlich überwältigend wirken, und selbst auf Blu-ray sieht es eindrucksvoll aus. Bei den nicht sehr vielen Gelegenheiten, bei denen NAPOLÉON im Triptychon-Modus vorgeführt wurde, konnten die drei Leinwände zusammen eine Breite von 30 oder 40 Metern erreichen. Doch es versteht sich von selbst, dass dieses Format für die meisten Kinos ungeeignet ist. Deshalb schnitt Gance auch eine alternative Version mit nur einer Leinwand. Diese ist sechs Minuten kürzer, trotzdem gibt es hier sogar einige Szenen, die im Triptychon nicht zu sehen sind. Vor allem taucht hier Tristan Fleuri noch einmal auf. Er ist als einfacher Soldat in der Armee und unternimmt einen letzten Versuch, Napoleon auf sich aufmerksam zu machen - wieder ohne jeden Erfolg. In der Triptychon-Fassung ist Tristans Handlungsstrang schon früher versandet. - Ursprünglich war Gance nicht sicher, ob er das Triptychon verwenden sollte, denn er verfolgte noch zwei weitere Optionen für den langen Schluss - Farbe und 3-D. Für alle Optionen wurden Probeaufnahmen gemacht - für Farbe im hochwertigen, aber selten bis fast nie benutzten Keller-Dorian-Verfahren, für 3-D im altbekannten Anaglyphenverfahren. Der Effekt von 3-D entsprach durchaus den Erwartungen: "Um die Muster zu betrachten, musste ich eine rot-grüne Brille aufsetzen. Die 3-D-Effekte kamen sehr gut und sehr plastisch." (Gance bei Kevin Brownlow, siehe längeres Zitat unten). Es war aber klar, dass nicht alles zugleich ging - das wäre zuviel des Guten und technisch nicht umsetzbar gewesen. So entschied sich Gance letztlich für das Triptychon.


Wie sah nun also Abel Gance seinen Napoleon? Als einen, der auf militärischem Gebiet nichts, aber auch wirklich nichts falsch machte, und der auch mit seinen politischen Ansichten jederzeit richtig lag. Ob das auch im geplanten Sechsteiler für den späteren Napoleon gegolten hätte, der die Ideale der Revolution und die Gesetze der Republik verriet, um sich zum Autokraten und schließlich sogar zum Kaiser aufzuschwingen, steht auf einem anderen Blatt. Aber der junge Napoleon hat mehr oder weniger einen Unfehlbarkeitsstatus. Wer deshalb vielleicht auf die Idee kommt, Gance sei ein Nationalist oder gar ein Militarist gewesen, sollte sich als Korrektiv seinen J'ACCUSE von 1919 ansehen, der immer noch einer der erstaunlichsten Antikriegsfilme ist. Auch im persönlichen Gespräch, etwa mit Kevin Brownlow, hat sich Gance unmissverständlich geäußert. Im Zusammenhang mit J'ACCUSE sagte er beispielsweise:
"Wen klagte ich an? Ich klagte den Krieg an, ich klagte die Menschen an, ich klagte die allgemeine Dummheit an. [...]
J'ACCUSE sollte zeigen, dass ein Krieg, der keinem sinnvollen Zweck dient, nur eine fürchterliche Vergeudung ist. [...]
Aber ich bin gegen den Krieg, denn Krieg ist Dummheit. Zehn oder zwanzig Jahre später erkennt man, dass Millionen gestorben sind - für nichts. [...]
Niemand hat das Recht, mit Menschenleben zu spielen. Menschenleben sind heilig."

Kevin Brownlow: Pioniere des Films (Original 1968, dt. Basel und Frankfurt am Main 1997)

 


Im zwischenmenschlichen Bereich zeigt Gances Napoleon Defizite, die der Film aber in keiner Weise gegen ihn wendet. Abgesehen von seiner Familie auf Korsika und später von Joséphine und ihren zwei Kindern (aus der Ehe mit dem Vicomte de Beauharnais), mit denen er sogar Blinde Kuh spielt, geht Napoleon keinerlei menschliche Bindungen ein. Wer sich durch militärische Taten (oder wie im Fall von Rouget de Lisle durch eine zwar nicht militärische, aber patriotische Tat) hervortut, bekommt Anerkennung gezollt, aber das war es dann auch schon wieder. Wer ihm sonst über den Weg läuft (und nicht im Rang über ihm steht), muss im besten Fall mit Nichtbeachtung und im schlechteren Fall mit ziemlich brüsker Behandlung rechnen. Aber Napoleon hat eben Wichtigeres zu tun, als sich mit irgendwelchen Leuten abzugeben - so die zwar nicht offen ausgesprochene, aber implizite Botschaft des Films.


Wie schon geschrieben, wurde NAPOLÉON an den Kassen ein Misserfolg, und nicht nur wegen dem aufziehenden Tonfilm. Den Vertrieb des Films übernahm ein Konsortium aus Gaumont und MGM, und vor allem letztere Firma ließ es sehr am nötigen Einsatz fehlen. Über die Gründe dafür gibt es unterschiedliche Ansichten. Der größte Fan von "Polyvision" war Gance selbst, und er glaubte, damit die Zukunft des Films geschaffen zu haben. Seiner Meinung nach würden in absehbarer Zeit alle Filme Polyvision verwenden - was wohl auch ohne den Tonfilm eine krasse Fehleinschätzung gewesen wäre. Gance aber glaubte, dass MGM wegen der drohenden Kosten der Umstellung auf das Verfahren Angst davor hatte und es bewusst torpedierte, indem NAPOLÉON nicht richtig vermarktet wurde. Meiner Meinung nach ist das ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Eine andere Begründung lautet, dass MGM verhindern wollte, dass NAPOLÉON dem ebenso monumentalen und noch viel teureren BEN HUR (1925, Hauptregisseur (neben einigen anderen) Fred Niblo) in die Quere kommt. BEN HUR geriet vorerst zu einem finanziellen Debakel, nach der regulären Auswertung gab es trotz hoher Einnahmen wegen der ausgeuferten Kosten einen Verlust von 700.000 (inflationsbereinigt 12 Mio.) Dollar. "Noch nie gab es etwas Vergleichbares. Niemals wird es etwas Vergleichbares geben. Und niemals hätte es etwas Vergleichbares geben dürfen." - so brachte es ein MGM-Manager gallig auf den Punkt. Um die Kosten doch noch hereinzuholen, vermarktete MGM den Film in vielen Ländern über die übliche Laufzeit hinaus, und ein weiterer Monumentalfilm im Portfolio, an dem das Studio auch weniger verdiente (weil es ihn nicht selbst produziert hat), hätte da gestört. Ich weiß nicht, ob es wirklich Belege für diese Theorie gibt, aber sie erscheint mir jedenfalls plausibler als die von Gance. Übrigens, als MGM 1959 William Wylers Neuverfilmung von BEN HUR in die Kinos brachte, unternahm das Studio alles Erdenkliche, um die noch existierenden Kopien der 1925er Version zu vernichten. Dem privaten Filmsammler William K. Everson wurde sogar das FBI ins Haus geschickt, und ihm wurde mit Gefängnis gedroht.


Keine Theorie, sondern gesicherte Tatsache ist es, dass Verleiher und Kinobetreiber unermüdlich an NAPOLÉON herumschnitten und ihn immer weiter kürzten, um ihn in ein kommerziell leichter verwertbares Korsett zu zwängen - bis hinunter zu 90 Minuten. Es versteht sich von selbst, dass dabei nur eine schlechte Parodie des ursprünglichen Films übrigbleibt. Das führte nicht nur zu schlechten Kritiken, sondern auch zu sehr schlechter Mundpropaganda in der Kinobetreiberszene (bei Brownlow sind entsprechende Zitate abgedruckt). Und es führte dazu, dass irgendwann viele verschiedene Versionen im Umlauf waren. Je nachdem, wer gezählt hat, sollen es 19 bis 23 Fassungen gewesen sein. In der von Gance intendierten Länge, die er zusammen mit Marguerite Beaugé schnitt, lief er nur ein einziges Mal, bei der zweiten Vorstellung (nach der Premiere in der Pariser Oper), im Mai 1927 im Apollo-Theater, ebenfalls Paris (eine Übersicht der ersten Fassungen gibt es bei Wikipedia). Dass es heute die wunderbare Version von 5:30 Stunden (und demnächst eine noch längere) gibt, verdanken wir in erster Linie Kevin Brownlow. Ich habe schon in meinem Artikel über WINSTANLEY über Brownlows Werdegang und seine Verdienste berichtet. Deshalb steigen wir jetzt ins Jahr 1980 ein. Da veröffentlichte Brownlow bei einer Gala-Premiere in London seine bislang prächtigste Rekonstruktion von NAPOLÉON mit einer Länge von 4:50 Stunden (bei einer Geschwindigkeit von 20 fps), mit einer Orchesterbegleitung, die der amerikanisch-britische Filmkomponist Carl Davis dafür geschrieben hatte (eine Vorpremiere ohne Davis' Musik fand bereits 1979 beim Telluride Festival statt, Gance war dabei anwesend). Davis hatte bereits seit Mitte der 70er Jahre für die von Brownlow zusammen mit David Gill produzierte TV-Serie über den amerikanischen Stummfilm (gesendet 1980) kurze Filmauszüge vertont, man kannte und schätzte sich also. Die Londoner Premiere wurde ein überragender Erfolg und erweckte das Interesse der Medien.


Nun betritt Francis Ford Coppola die Szene, und er spielt eine für mich etwas undurchsichtige und unerquickliche Rolle. Coppola oder dessen Firma Zoetrope (an der auch George Lucas beteiligt ist) hatte es irgendwie geschafft, die Rechte (oder einen Teil der Rechte?) an NAPOLÉON von Abel Gance zu erwerben. Coppola nahm nun Brownlows Restauration von 1980, beschnitt sie an etlichen Stellen und erhöhte gleichzeitig die Geschwindigkeit von 20 auf 24 fps. Für diese Version, die nun knapp vier Stunden dauerte, schrieb Coppolas Vater Carmine Coppola eine neue, ebenfalls orchestrale, Musikbegleitung. Diese Version kam Anfang 1981 heraus und hatte ebenfalls großen Erfolg. (Abel Gance starb im November 1981 mit 92 Jahren, er hatte also das große Glück, die öffentliche Wiederentdeckung und den spektakulären Erfolg seines Films noch mitzuerleben.) Es gab nun im Lauf der Jahre immer wieder Berichte, dass Francis Ford Coppola (unterstützt von Universal) mit den Mitteln des Urheberrechts die Brownlow/Davis-Version soweit wie möglich unterdrückte (siehe beispielsweise hier), obwohl (oder weil?) diese von Anfang an die vielleicht bessere, auf jeden Fall aber die vollständigere war. Sei es, dass es ihm ums Geld ging, sei es, dass er seinem Vater (der 1991 starb) bleibenden Nachruhm als der neue NAPOLÉON-Komponist sichern wollte. Die Angelegenheit ist kompliziert, und manches daran ist mir unklar, und so möchte ich hier Coppola nicht zum Buhmann machen. Es ist aber schon auffällig, dass die Brownlow/Davis-Versionen bis 2016 weder auf Heimmedien erschienen noch in den allermeisten Ländern im Fernsehen noch in normalen Kinos liefen, während die Coppola-Version auf VHS, Laserdisc und DVD erschien, eine (natürlich begrenzte) Kino-Auswertung erfuhr und in etlichen Ländern im Fernsehen gesendet wurde, irgendwann in den 80er Jahren auch in der BRD (das war meine erste und für lange Zeit einzige Begegnung mit NAPOLÉON).


Ich schrieb gerade "Brownlow/Davis-Versionen" im Plural, denn 1980 kamen Brownlows Bemühungen nicht zum Erliegen. Ganz im Gegenteil: Der doppelte Paukenschlag 1980/81 sorgte für viel Aufmerksamkeit, und in den Filmarchiven der Welt begann eine neue Suche nach weiteren Fragmenten, und man wurde fündig. Vor allem in der Cinémathèque Française, aber auch in vielen anderen Archiven gab es reichlich Funde. Teils gab es längere Schnittfassungen bekannter Szenen, teils bisher unbekannte Szenen, teils Fragmente auf 35mm, die bisher nur im Amateurfilmformat 9.5mm vorlagen. Schon 1983 konnte Brownlow eine neue Restaurierung vorlegen, die nun 5:13 Stunden (wie gehabt bei 20 fps) dauerte. Und im Jahr 2000 schließlich brachte Brownlow mit abermals neuen Funden den Film auf die Länge von 5:30 Stunden. Jedesmal, wenn NAPOLÉON wieder länger wurde, passte die Musik von Carl Davis nicht mehr, doch Davis blieb am Ball und passte seinen Soundtrack immer zeitnah an. Das ist nun nicht mehr möglich, denn Davis - der im Lauf der Jahrzehnte einer der renommiertesten Stummfilmkomponisten wurde - starb im August 2023 mit 86. Für seine Verdienste wurde er unter anderem zum Commander of the Most Excellent Order of the British Empire (CBE) erhoben (das ist eine Stufe unter dem "Sir"). Die kommende Restaurierung der Cinémathèque Française wird eine völlig neue Musik haben. Schon seit den späten 70er Jahren wurde ein Teil dieser Arbeiten von Brownlow und Davis von den britischen Fernsehsendern Thames Television und Channel 4 unterstützt. Vor allem der Manager und Produzent Jeremy Isaacs (seit 1996 Sir Jeremy), der nacheinander bei beiden Sendern arbeitete, war hier sehr umtriebig und hilfreich.


Völlig unter dem Deckel waren die Brownlow/Davis-Versionen nie, denn alle paar Jahre wurden sie bei speziellen Events aufgeführt (aber oft begleitet von Drohungen durch Coppolas Anwälte), beispielsweise 2012 auf einem Stummfilmfestival in San Francisco. Und 2016 geschah, was man schon fast nicht mehr für möglich hielt: Die damals auch schon wieder 16 Jahre alte fünfeinhalb-Stunden-Version von Brownlow und Davis erschien beim British Film Institute auf drei Blu-rays bzw. vier DVDs. Diese Edition kann ich ohne Einschränkungen empfehlen. Wer gut Französisch kann, wird es vielleicht als Schönheitsfehler empfinden, dass es keine französischen, sondern nur englische Zwischentitel gibt. Die Coppola-Version erschien 2012 in Deutschland auf einem 2-DVD-Set von Studio Canal/Arthaus. Diese Ausgabe könnte inzwischen vergriffen sein, kann derzeit aber auch gestreamt werden. Wann und in welcher Form die neueste Restaurierung für den Massenmarkt verfügbar sein wird, bleibt abzuwarten. - Wer sollte sich nun NAPOLÉON ansehen, und wer nicht? Übermäßig ausgeprägtes Sitzfleisch ist nicht vonnöten, denn die Sichtung lässt sich problemlos auf zwei, drei oder vier Tage verteilen. Die Einteilung in vier Akte und die moderne Aufteilung auf drei oder vier Silberscheiben bieten genug passende Sollbruchstellen dafür. Wer mit Stummfilmen nichts anfangen kann, ist hier natürlich fehl am Platz - geschenkt. Aber wer Film auch oder vor allem als ein visuelles Medium der dynamischen Bewegung begreift und dabei ein gewisses Übermaß an Pathos und Patriotismus verkraften kann, sollte diesem erstaunlichen Werk eine Chance geben.



Abel Gance in NAPOLÉON sowie in ABEL GANCE: THE CHARM
OF DYNAMITE (1968) von Kevin Brownlow



Dienstag, 2. Januar 2024

2023 im persönlichen Rückblick


 

Und wieder ein Jahr vorbei... Mit vielen schönen




Festivals und Filmwochenenden

Über den wunderbaren 20. Hofbauer-Kongress im Januar habe ich bereits hier geschrieben: tried & tested, bekannt und immer wieder wunderschön. Eine Premiere für mich war 2023 der Besuch des Technicolor-Festivals in der Schauburg in Karlsruhe: der Kinosaal mit der riesigen Cinerama-Leinwand, viele bekannte Gesichter und eine unschlagbare Verköstigung mit Frühstück, Kaffeepausen und Abendessen (und eine größere Runde Freibier mit einer lokalen Brauerei an einem Abend) machten dies zu einem wunderschönen verlängerten Pfingst-Wochenende – und natürlich die tollen Filme: die stark geschnittene Wiederaufführungsfassung von GIÙ LA TESTA hat mir noch mal gezeigt, wo das eigentliche Herz des Films liegt, das Double-Feature aus JAWS und MORTE À VENEZIA war verblüffend stimmig (beide morbid-maritim und mit einer korrupten lokalen Verwaltung, die etwas Störendes – hier ein mörderischer Hai, dort eine Cholera-Epidemie – zu vertuschen versucht). Auch über das 9. Terza Visione, diesen wunderschönen cineastischen Kurzurlaub in Italien, habe ich schon geschrieben.

Zum Frankfurter Filmmuseum zog es mich dann wieder Ende September zur Mini-Retrospektive "Pre-Code Musicals Maudits", die sich gefloppten, genre-hybriden Musicals der Pre-Code-Ära widmete, mit MADAM SATAN von Cecil B. DeMille (eine Ehefrau versucht ihren untreuen Ehemann bei einer wilden Party als Femme Fatale verkleidet "zurück" zu verführen – aber dann gibt es eine Zeppelin-Katastrophe), I AM SUZANNE von Rowland V. Lee (eine verunglückte Tänzerin verliebt sich in einen Puppenspieler, der eine verstörende fetischistische Beziehung zur Puppen-Version seiner Geliebten entwickelt), IT'S GREAT TO BE ALIVE von Alfred L. Werker (nach einer für Männer tödlichen Pandemie wird ein letzter überlebender Mann von allen Frauen der Welt heiß begehrt) und MURDER AT THE VANITIES des langjährigen DeMille-Mitarbeiters Mitchell Leisen (ein Serienmörder versetzt eine Revue-Premiere in Angst und Schrecken). Eine wirklich entgrenzte "wilde Sause" der Freizügigkeiten (so viele so extrem kurze Miniröcke habe ich in dieser Ballung selten gesehen) und der totalen Unfassbarkeiten, bevor der "Code" den Stecker zog.

Wieder nach Italien (bzw. zur Nürnberger Filiale im KommKino) ging es zum Italo-Cinema-Wochenende im Oktober, wie 2018 mit Giallo-Schwerpunkt. Leider auch eine Schau des Materialverfalls, mit vielen rotstichigen, komplett entfärbten, teils in den Aktenden materiell komplett zerstörten und unabspielbaren Kopien. Die ab Samstag 16 Uhr drei aufeinanderfolgenden Filme hatten zum Glück alle Farbe und gutes Material, und zwischen dem Giallo-Gothic-Horror-Klamaukkomödien-Hybrid TUTTI DEFUNTI... TRANNE I MORTI von Pupi Avati und dem als Giallo getarnten entschleunigten Sleazer cum Kinski LA BESTIA UCCIDE A SANGUE FREDDO von Fernando Di Leo lief passenderweise in der Prime-Time das große Tier-Giallo-Meisterwerk UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE in strahlendem Technicolor.

Wenige Wochen später dann wieder Nürnberg, diesmal zum Karacho-Festival des Actionfilms. Mehr bekannte Titel denn je (ROBIN HOOD, THE FRENCH CONNECTION, DEATH WISH 3, LICENCE TO KILL, STRIKING DISTANCE), aber auch schöne Überraschungen aus den Philippinen und aus der Reservekiste für nicht rechtzeitig gelieferte Kopien. Ein besonderer Schmankerl, der den Blick jenseits der klassischen Regisseurs- oder Darsteller-Perspektiven erweiterte, waren die zwei Einführungen zur Musik von Michael Kamen (ROBIN HOOD, LICENCE TO KILL). Und bei aller Liebe zu Kongress und Terza: sehr schön bei Karacho (auch, wenn es in einer idealen Welt anders sein sollte) ist auch die stets kleine, gemütliche, intime Publikumsrunde.

Noch kleiner, gemütlicher und intimer ging es dieses Jahr auch beim Filmarchäologen-Symposium zu (ich war einer von zwei extern Angereisten). Auch hier keineswegs zulasten der Veranstaltungsqualität, im Gegenteil (und einen Tisch im Restaurant zu finden bei dieser Anzahl ist auch gleich viel einfacher!). 

Als unterjährige Reihe ein stetiger Begleiter meines Filmjahres war das 35mm-Kino des Film e.V. Jena. Mein erster Miyazaki (SEN TO CHIHIRO NO KAMIKAKUSHI – SPIRITED AWAY) habe ich bei einer Kindervorstellung (mit einigen ob des verblüffenden Gore- und Splatter-Content des Films recht eingeschüchterten sehr jungen Co-Zuschauern) erleben dürfen. Meine Entfremdung von Kubrick schreitet zwar immer weiter voran (wie ich bei THE KILLING und A CLOCKWORK ORANGE gemerkt habe), nur 2001: A SPACE ODYSSEY scheint davon nicht tangiert zu sein: interessanterweise gab es eine Roadshow-Kopie mit Prolog-Musik (ca. 8 Minuten Ligeti mit Schwarzbild) und Intermission (Penderecki mehrere Minuten lang über die Einblendung "Intermission"). Die Mini-Retro zum asiatischen Arthouse-Kino umfasste Zhang Yimous verblüffend dreckig-naturalistisches Dorfdrama und Filmdebüt HONG GAO LIANG – RED SORGHUM und Kurosawas bizarr-exzentrisches Epos bzw. Nicht-Epos RAN als Höhepunkte. Doch die großen Highlights kamen dann im Herbst in der Reihe "Auto & Geschwindigkeit": eine die Großartigkeit dieses Films noch mal unterstreichende Projektion von Tarantinos DEATH PROOF in einer kristallinen Kopie, eine Sonderveranstaltung in 16mm mit Wim Wenders IM LAUF DER ZEIT (der Slowburner der Reihe), John Carpenters wunderbarer CHRISTINE, eine interessante Wiederentdeckung eines Films, den ich bei der Erstsichtung halb verschlafen hatte und der trotz schwerer Verregnung und Braunstich nun gerade im Kino voll einschlug (VANISHING POINT) und last but not least der Höhepunkt, die Gottwerdung der Reihe, das Kino-Erlebnis des Jahres, TWO-LANE BLACKTOP.

Auch eine schöne unterjährige Filmreihe gab es im Leipziger LURU-Kino zu sehen: "LURU Archive" zeigte in sonntäglichen Double-Features Schätze aus dem Kopienarchiv des Kinos. Mitgenommen habe ich das Doppel über schwierige Liebe mit dem Melodrama auf dem schwedischen Dorf HON DANSADE EN SOMMAR (Arne Mattson: Schweden 1951) und dem Mafia-Drama LA MOGLIE PIÙ BELLA (Damiano Damiani: Italien 1970), das urbane Neo-Noir-Doppel mit dem überaus faszinierenden Rape-and-Revenge-Kracher LIPSTICK (Lamont Johnson: USA 1976) und dem "nur" okayen Polizei-Actionfilm NIGHTHAWKS (Bruce Malmuth: USA 1981) sowie das italienische Sleaze- und Exploitation-Doppel mit Ruggero Deodatos fiesem Home-Invasion-Schocker LA CASA SPERDUTA NEL PARCO und Marcello Andreis etwas zerfahrenem, dafür aber mit Joe Dallesandro umso mehr charismatisch besetzten urbaner Gang-Film IL TEMPO DEGLI ASSASSINI.

Und last but not least fand das 23. Internationale Jenaer Kurzfilmfestival cellu l'art mit meiner Wenigkeit als Teil des Orga-Teams statt. Ein auszehrendes, nervenaufreibendes, ultrastressiges – aber eben am Ende auch sehr belohnendes Event. Besonders stolz bin ich nicht nur darauf, ein 35mm-Programm aus dem Archiv des KommKinos nach Jena gebracht zu haben, sondern auch auf das von mir kuratierte Special zu erotischen Kurzfilmen weiblicher Regisseure (das vor einem aus allen Nähten platzenden ausverkauften Kinosaal stattfand). Nicht organisatorisch beteiligt war ich an der Programmsektion, die dieses Jahr wohl der Höhepunkt war: der Länderschwerpunkt Estland. Zwei historische Programme zum estnischen Animationsfilm der 1950er bis 1980er auf 35mm, ein Programm zum zeitgenössischen estnischen Animationsfilm (inklusive einer Deutschlandpremiere) und ein Kinderprogramm mit Filmmix aus über über sechs Jahrzehnten. Besonders erwähnenswert finde ich


EINE MURUL – BREAKFAST ON THE GRASS (Priit Pärn: Sowjetunion [Estland] 1987)

Priit Pärn gehörte zu den jungen Rebellen der frühen 1980er Jahre, die vom "familienfreundlichen" Animationsstil der Überväter Elbert Tuganov und Heino Paars die Schnauze voll hatten. EINE MURUL ist sichtlich ein Perestrojka-Film, weil Pärn hier dem Zuschauer mit einer unglaublichen Wut die Verrohung des Alltags in der Sowjetunion in grotesken Bildern vor die Füße kotzt: Strafgefangene werden durch graue Straßen geprügelt, Schwarzhändler zwingen Frauen zur Prostitution, in Ämtern wird brav nach Hierarchie immer weiter nach unten getreten, Frauen werden zu Gebärmaschinen degradiert und verlieren dabei wörtlich das Gesicht. Eine finstere, apokalyptische Vision, von galligem Humor durchzogen.
Etwas weniger finster-nihilistisch ging es in Pärns AEG MAHA – TIME OUT (Sowjetunion [Estland] 1984) zu, in dem eine Katze in einer Art infernalischem Perpetuum-Mobile der stressigen Alltagsroutinen gefangen ist, sich in einem Nervenzusammenbruch in eine grotesk-surreale Traumwelt flüchtet – und dort wieder in eine infernalische Stressmaschine gerät.


KOERKORTER – THE DOG APARTMENT (Priit Tender: Estland 2022)

Willkommen zurück zur Apokalypse, diesmal postsowjetisch: ein Wasteland mit grotesk entstellten Figuren, eine hündische Wohnung die bereit ist ihre Mieter zu fressen, eine surreal-absurde Tagesroutine um die Brötchen bzw. Würstchen zu verdienen. Und dazwischen ein poetischer Ballett-Tanz, "Schwanensee", inmitten eines Kuhstalls. (Zu sehen in der arte-Mediathek bis Dezember 2024)




Ekstatische Kinoerlebnisse der Extraklasse mit alten Bekannten


BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven: USA/Frankreich 1992)

7. Februar 2023, Kino am Markt: auf einer großen Leinwand sind die Closeups auf die Wortgefechts-Duelle zwischen Sharon Stone und Michael Douglas noch mal erotischer! "Nicky! Nicky..."


TWO-LANE BLACKTOP (Monte Hellman: USA 1971)

22. November 2023, Schillerhof, 35mm: gesehen in der wahrscheinlich einzigen erhaltenen 35mm-Kopie in Europa. Das Sound-Design ist im Kino wirklich der Wahnsinn. Aber auch die Textur der Bilder kam in der Kopie besonders schön zum Tragen (die schöne Struktur von Warren Oates' farb-wechselndem Pullover!). Das legendäre Ende analog zu sehen ist natürlich atemberaubend. Totales Kino!




Spezialkategorie Film & Whisk(e)y


Nur ein Symbolbild: Charlotte Ramplings Figur trinkt Vodka (und guter Whisky gehört natürlich in Nosing-Gläser)

UN TAXI MAUVE (Yves Boisset: Frankreich/Irland/Italien 1977)

Boissets erster "unpolitischer" und "unproblematischer" (also: ohne schwierige Zensurgeschichten oder Morddrohungen) Film. Als Irland-Film enthält er zahlreiche Szenen mit Whisky-Genuss, die zugegeben sehr anregend auf mich gewirkt haben. Am gleichen Abend probierte ich dann mit einem Whisky-erprobteren Freund im Café Central zwei Whiskies – und habe mich seitdem langsam vom Gelegenheitsprobierer zum Single-Malt-Scotch-Liebhaber entwickelt. In Hommage an die genuss-induzierende Wirkung von UN TAXI MAUVE hier eine  kleine Nicht-Filmliste:


Lagavulin 16

Ardbeg Uigeadail

Laphroaig PX Cask

Oban 14

Glenmorangie Nectar d'Or




Tops aktuelle Filme 2023


PACIFICTION (Albert Serra: Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022)

Benoît Magimel, ehemals so was wie ein Beau des französischen Kinos, schlurft als französischer Hochkommissar Polynesiens durch die schummerigen Nachtclubs, schaut immer entweder leicht verkatert oder besoffen aus der Wäsche, während ihm die Gerüchte um eine mögliche Wiederaufnahme der Atombombenversuche immer mehr um die Ohren fliegen. Knapp drei Stunden lang schlurfen wir in einem unklaren, trance-artigen Dämmerzustand mit ihm durch diesen Film: wie ein Paranoia-Thriller à la Jacques Rivette, der von Edward Hopper fotografiert wurde – mit Polynesien-Motiven statt Americana.


EO (Jerzy Skolimowski: Polen/Italien 2022)

EO ist ein wenig der Film, der AU HASARD BALTHAZAR hätte werden können, der Film, der wahrhaftig radikal den Esel zum wirklichen Protagonisten macht. Und zwischendurch einfach mal dessen Träumen und Visionen (?) folgt, wenn wir durch einen blutrot gefärbten Himmel fliegen, vorbei an den Windrädern und beginnen, uns dabei im Kreis umzudrehen (dieser experimentelle Einschub ist im Kino von schwindelerregender Unfassbarkeit). Oder in einem inzestuösen Subplot Isabelle Huppert als dominante Mutter Geschirr zertrümmern lässt.


PEARL (Ti West: USA/Neuseeland 2022)

Wenn Douglas Sirk einen Slasher inszeniert hätte... so ungefähr lautete die Anteaserung bei West-Bewunderern im Vorfeld des Kinostarts. Alternativ könnte man aber auch sagen: was, wenn Dorothy in Kansas hätte bleiben müssen? PEARL ist wie eine Variation von WIZARD OF OZ als Origin-Story einer Serienkillerin erzählt, mit den Mitteln eines Technicolor-Melodrama. Neben der anbetungswürdigen Farbfotografie ist es – mehr noch als im Vorgänger X – die Hauptdarstellerin (und Co-Autorin und Co-Produzentin) Mia Goth und ihre komplexe Darstellung der Titelfigur, die PEARL zu einem Original macht: ihre Pearl ist natürlich auch eine derangierte Psychopathin, aber eben auch eine junge Frau mit großen Träumen, die in einem von der Spanischen Grippe gelähmten Kleinstädtchen bei streng-protestantischen deutschen Eltern vor sich hin trüben muss.               


THE FABELMANS (Steven Spielberg: USA 2022)

Auf eine gewisse Weise fühlt sich THE FABELMANS wie eine Variation von A.I. – ARTIFICIAL INTELLIGENCE an: wo dort ein Roboterjunge unbedingt ein richtiger Junge werden wollte, um mit seiner "Mutter" ins Bett zu gehen, versucht hier ein richtiger Junge ein Filmemacher zu werden, um mit seiner Mutter nur mittels des Medium Film ins Bett gehen zu müssen. Es ist einer der großen Momente dieses unrunden und doch durch und durch faszinierenden Films, wenn Mitzi Fabelman beim Camping im semidurchsichtigen Nachthemd von den Autoscheinwerfern beleuchtet tanzt und von drei Männern lustvoll beobachtet wird: von ihrem Ehemann, der sie anschaut; von ihrem Geliebten, der sie anschaut; und von ihrem Sohn Sammy, der sie... filmt!
In PEEPING TOM greift der Serienkiller-Filmemacher Mark Lewis bei einem Spaziergang mit der Nachbarstochter intuitiv an seine Hüfte, wo üblicherweise seine Kamera hängt, um ein sich küssendes Paar im Park zu filmen (seinem Date zuliebe hat er auf die Mitnahme der Kamera verzichtet). Hier in THE FABELMANS beobachtet Sammy einen epischen Streit zwischen seinen Eltern – und fängt dann prompt in seinem Kopf an, sich vorzustellen, wie er das mit seiner Kamera filmen und zusammenschneiden würde. Hier wie dort zwei Menschen, die mit der Welt hadern und versuchen, sie mittels von Filmemachen zu interpretieren, zu verstehen, zu exorzieren (auch wenn Sammys Filmemachen weniger tödlich ist als Marks).
In einem sehr interessanten Artikel auf dvdclassik argumentiert Claude Monnier, dass das kommerzielle Kino Steven Spielbergs von kommunikationsunfähigen Figuren bevölkert ist, die von ihren Obsessionen zerfressen werden. Was in anderen Filmen vielleicht nur versteckt mitschwingt, wäre in THE FABELMANS der eigentliche Text. Es ist faszinierend, dass THE FABELMANS eben keine Geschichte NUR über die Wunder des Filmemachens ist (das ist sie auch, und die Offenbarung der Pistolenschüsse-Spezialeffekte in Sammys Schüler-Amateur-Kriegsfilm ist wirklich großartig – zumal Sammy hier auch kurz einen Draht zu seinem kunstfeindlichen, aber technikaffinen Vater findet), sondern auch über die Gefährlichkeit und die Abgründigkeit von Filmemachen, über das Kino als Waffe: eine Erkenntnis, die Sammy selbst machen muss, als er beim Schneiden seines Urlaubsfilms merkt, dass er ohne Absicht die verheimlichte Affäre seiner Mutter mit "Onkel" Bennie gefilmt hat.


DOGMAN (Luc Besson: Frankreich 2023)

DOGMAN ist der erste Besson-Film seit ANGEL-A (2005), den ich gesehen habe, insofern erzähle ich möglicherweise gleich Quatsch: er wirkt wie der Film eines Altmeisters, der sich von der Last befreit hat, irgendetwas zu drehen, was "gefällt", und stattdessen mit Sachen rumspielt, an denen er sichtlich Spaß hat. Ein verständnisvolles psychologisches Drama, ein quatschiger Tierfilm, ein kindskopfiger Heist-Movie, ein fetziges Drag-Queen-Musical (die Drag-Interpretationen von Édith Piaf ("La foule") und Marlene Dietrich ("Lili Marleen") sind große Höhepunkte), voyeuristisch-schmierig-sadistische White-Trash-ploitation, ein latent verstörender Serienmörder-Thriller, kathartische Action mit Schießereien, das Empowerment eines körperlich behinderten Transmenschen und vor allem ein hemmungslos in großen Emotionen badendes Melodrama – das alles steckt in DOGMAN drin. Die Rahmenhandlung ist das Gespräch zwischen dem Protagonisten in U-Haft und einer Polizeipsychologin und die Rückblendenstruktur fliegt dem Film in ihrer erratischen Erzählweise fast um die Ohren: man kann dem Film bei seiner eigenen Entstehung fast zusehen, doch am Ende muss ich sagen ist er eben tatsächlich mehr als nur die Summe disparater Einzelteile – Caleb Landry Jones hält das alles mit seinem mysteriösen, androgynen Charisma zusammen.


AS BESTAS (Rodrigo Sorogoyen: Spanien/Frankreich 2022)

STRAW DOGS bzw. das ganze Backwood-Genre in einer interessanten Neu-Interpretation und Variation: ein französisches Bauern-Ehepaar wird in einem galizischen Bergdorf von zwei Brüdern in der Nachbarschaft angefeindet und zunehmend bedroht, weil sie Ausländer sind und weil sie gegen ein lokales Windradprojekt gestimmt haben, das finanzielle Entschädigungen gebracht hätte. Sorogoyen, geübt im Polizeifilm (QUE DIOS NOS PERDONE) und im Korruptions-Politthriller (EL REINO), beherrscht meisterhaft die Mittel des langsamen Spannungskinos, um die Eskalationsschraube Stück für Stück anzuziehen und mit Entspannung oder plötzlichen Gewaltausbrüchen zur arbeiten. Bemerkenswert ist auch, wie Antoine, dank Denis Ménochets bulligem Äußeren, zunächst klar im Zentrum steht, seine Frau Olga (Marina Foïs) sich aber Stück für Stück zur zentralen Figur entwickelt.
Als eine Art spanischer, zeitgenössischer Heimatfilm-Thriller interessanterweise fast zur Hälfte französischsprachig, scheint der Film sich dennoch nach und nach zu einer Art Reflektion über das Leben nach dem Spanischen Bürgerkrieg zu entwickeln.


INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY (James Mangold: USA 2023)

Im Laufe der drei-parteiigen Tuk-Tuk-Verfolgungsjagd durch die Straßen von Tangier bin ich von meinem Kinositz aufgesprungen und habe mit einem Freudeschrei die Arme siegend nach oben gestreckt. Man könnte auch sagen: INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY hat mir zwischendurch schon mordsmäßig Spaß gemacht! Es ist kein perfekter Film und nicht alle Einfälle (Personal-Recycling aus früheren Filmen und De-Aging) sind gelungen. Als bislang längster Indiana-Jones-Film fühlte er sich trotzdem angenehm kurzweilig an. Das große Highlight war für mich am Ende Phoebe Waller-Bridge als Indianas Patenkind, die leichte Katherine-Hepburn-Vibes versprüht (und genau so "hard-talking" wie sie ist) und den wohl besten Indy-Sidekick der ganzen Reihe abgesehen von Sean Connery spielt (und auch die beste und komplexeste Frauen-Figur in der Reihe). 


ROTER HIMMEL (Christian Petzold: Deutschland 2023)

"Die Arbeit lässt es nicht zu!" Und deshalb nimmt Leon aka Thomas Schubert übel und zieht die spritzig-frische Rohmer'ianische Sommerkomödie mit seiner Arschlochigkeit runter – oder wenn man möchte: hoch. Für mich nicht das große Highlight in Petzolds Filmografie (PHOENIX und seine Fernseh-Polizeifilme stehen bei mir deutlich drüber) – aber nachdem mir TRANSIT und UNDINE nur so-la-la gefallen hatten, war ROTER HIMMEL doch überraschend vergnüglich.


von 2022 noch nachgeholt:

BENEDETTA (Paul Verhoeven: Frankreich/Belgien/Niederlande 2021)

Der Körper und die Lebenssäfte Jesu in einer sehr interessanten Variante des katholischen Glaubens neu gefeiert! Mit einer passend zu ihrer Rolle ikonisch spielenden Virginie Efira.




Tops 15 der Erstsichtungen 2024 (nach Sichtungsreihenfolge geordnet)


DIE DRESSIERTE FRAU (Ernst Hofbauer: BRD 1972)

Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #1 – erster Kinofilm des Jahres, erster Knaller. Gesehen beim 20. Hofbauer-Kongress.


ANGEL (Robert Vincent O'Neil: USA 1983)

Was auf den ersten Blick wie Teenager-Straßenstrich-Sleaze aussieht (und stellenweise natürlich auch ist), entpuppt sich rasch als Film mit einer fast unendlichen Zärtlichkeit für seine Charaktere am Rand der respektablen Gesellschaft im Großstadt-Moloch Los Angeles: die Titelfigur selbst (tagsüber Molly genannt und Schülerin und De-facto-Waise), aber auch der Transvestit Mae, seine beste Freundin, die burschikose exzentrische Künstlerin Solly, der Straßen-Cowboy Kit. Gescheiterte Menschen nach bürgerlichen Maßstäben, die in gemeinsamer Solidarität ein bisschen Glück suchen.


Oben: Thelonious Monk; eine eis-essende Journalistin
Unten: zwei gutgelaunte Freunde im Publikum; Dinah Washington freudestrahlend nach einem geglückten Vierhände-Solo mit ihrem Vibrafonisten

JAZZ ON A SUMMER'S DAY (Bert Stern, Aram Avakian: USA 1959)

Von Jazz-Möchtegerne-Puristen verurteilt, weil der experimentelle Inszenierungsansatz des Films sich selten komplett nur auf die Musiker fokussiert, ist JAZZ ON A SUMMER'S DAY eben nicht nur ein "schnöder" Konzertfilm, sondern ein ganzheitliches Portrait des Newport Jazz Festival 1958. Jimmy Giuffre, Anita O'Day, Louis Armstrong, Dinah Washington, Thelonious Monk, Mahalia Jackson und Chuck Berry (unter anderen) mögen die "Hauptdarsteller" sein, aber gerade der Blick auf die Zuschauer und die Bewohnerinnen und Bewohner Newports macht den Film ganz besonders. Meine Lieblinge: zwei Freunde, die im Partner-Look zum Festival gekommen sind, einen Heidenspaß haben, sich unterhalten (und dann merkt man vielleicht auch, dass einer weiß und der andere schwarz ist).


L'ANNONCE FAITE À MARIE (Alain Cuny: Frankreich/Kanada 1991)

Die einzige Regiearbeit Alain Cunys (womit er sich unter anderem bei Charles Laughton, Leonard Kastle, Akramzadeh, Aleksandr Askol'dov einreiht) ist eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des katholischen Autors Paul Claudel: eine ausgestoßene Lepra-Kranke lässt das verstorbene Kleinkind ihrer Schwester in einem Wunder wiederauferstehen. Ein kürzlich wiederentdeckter "film maudit", ein visionäres und vollkommen singuläres Werk, das schwer zu beschreiben ist: Vergleiche mit Bresson wurden gezogen (Bresson auf LSD würde es besser treffen), aber der strukturelle Vergleich mit Laughton – als unklassifizierbares Unikum – ist passender. Ein Mittelalter-Film mit einem stark verfremdeten und ironisierten Period-Setdesign (ein Maneki-neko ist in einer Szene zu sehen), in Tableaus gefilmt, zwischendurch von experimentellen Montagen durchbrochen, mit trance-artig agierenden Darstellerinnen und Darstellern.


RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO (Renato Polselli: Italien 1973)

Als "primitiven Expressionisten" habe ich Renato Polselli einmal bezeichnet. Im dritten Film, den ich von ihm sehe, geht er am weitesten: ist das noch hysterisch-psychotische Exploitation oder schon reines Avantgarde-Kino? Die Handlung spielt in einem Schloss im titelgebenden 13. Jahrhundert, und in der Jetztzeit, schwarze Messen werden im Folterkeller zelebriert, eine mondäne Party wird gecrasht, Figuren werden gnadenlos in einer der beiden Zeitebenen abgemurkst, um später wieder quicklebendig aufzutauchen, sämtliche Charaktere agieren wie am Rand eines Nervenzusammenbruchs oder kurz vor einem Amok-Lauf. Der Soundtrack enthält ein Klavier, das nicht "normal" auf den Tasten gespielt wird: der Pianist kratzt über die Saiten mit den Fingern. So ist auch der ganze Film inszeniert.


HÄXAN (Benjamin Christensen: Schweden/Dänemark 1922)

Avantgardistische Horrorfilme, zum Zweiten. HÄXAN wirkt ein wenig wie der erste Torture-Porn-Horrorfilm, der erste Mondo-Film, der erste Essay-Film (und Polsellis psychotisch-sexuelle Cine-Hysterie scheint er stellenweise auch vorwegzunehmen). Es ist mir ein wenig ein Rätsel, warum dieser Film NOSFERATU nicht den Rang als ultimativen Horrorfilm der 1920er Jahre abgeknüpft hat, wahrscheinlich steht ihm seine verblüffend transgressive Natur (Kinderschlachtungen, Folterungen, Menschenverbrennungen, sadomasochistische-lustvolle Selbstauspeitschungen, grotesk entstellte Figuren etc.) im Wege?


JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (Chantal Akerman: Belgien/Frankreich 1975)

Ein obsessiver Film über obsessive Alltagsrituale. Und wie das Leben ins Schwanken gerät, wenn diese Rituale gestört werden. Das letzte Drittel, als Jeannes Routinen zunehmend harsch gestört werden, hat etwas von einer schwarzen Komödie: gerade dieser Moment, wenn sie sichtlich aufgelöst darüber ist, dass ihr Stammplatz im Café besetzt ist... Zunächst bin ich aber vor Verblüffung fast bis zu Decke gesprungen, als Jeanne am dritten Tag vergisst, den Deckel auf ihre Sparschwein-Ersatz-Terrine zurückzustellen. Ein großartiger Film über Zeit, Dauer, Weile, der sich wie ein Alterswerk eines über viele Jahrzehnte gereiften Regisseurs anfühlt (und doch von einer 25-jährigen Kino-Rebellin inszeniert wurde). Und natürlich Delphine Seyrig...


BUIO OMEGA (Joe D'Amato: Italien 1979)

Ein dunkel-romantischer Film über eine unsterbliche Liebe bis zum Tod – und darüber hinaus. Gesehen und bewundert beim 9. Terza Visione.


PROFUMO (Giuliana Gamba: Italien 1987)

Ein außergewöhnlicher Film über eine Ehekrise, mit einer Anleitung, wie man mit einer Dose Coca-Cola sein Liebesleben bereichern kann. Der große Überraschungs-Hit des 9. Terza Visione.


MALIZIA (Salvatore Samperi: Italien 1973)

Trotz des Titels (nicht ein italienischer Mädchenname, sondern "Bosheit" / "Hinterlistigkeit" / "Heimtücke") bis heute verblüffend eintönig in der Schublade "commedia sexy" eingeordnet. Die Komödie ist auch ein Teil des Films, aber er ist auch eine sehr finstere Studie über die dunklen Seiten der Sexualität im Spiegel von Klassenunterschieden. Wie der Teenager und Unternehmersohn Nino dem Dienstmädchen Angela nachstellt, ist oft nicht lustig, sondern hat eher etwas Psychotisches. Der Film ist in vielen Momenten passenderweise auch wie ein Psycho-Thriller inszeniert (gegen Ende gibt es Passagen wie aus einem Horrorfilm). Dieser Atmosphären-Mix aus lustig und unbehaglich, entspannt und beängstigend, lieblich-zärtlich und brutal-sadistisch, zusammen mit der unvergesslichen Musik Fred Bongustos und Laura Antonellis und Alessandro Momos Präsenz machen das perverse Katz-und-Maus-Spiel MALIZIA zu einem weiteren Meisterwerk des damals gerade einmal 29-jährigen Salvatore Samperi.


HERZKÖNIG (Helmut Weiß: Deutschland – französische Besatzungszone 1947)

Meine Vermutung, geäußert bei der Besprechung von CHEMIE UND LIEBE, dass zwischen 1945 und 1949, im Interregnum zwischen Nationalsozialismus und doppelter deutscher Staatsgründung, so etwas wie ein "pre-code-Zeitalter" des deutschen Kinos schlummert, scheint sich hier zu bestätigen (und Hans Nielsen ist auch wieder dabei). In einer Königsdiktatur wird ein verbotener Schriftsteller, der dem König zum Verwechseln ähnlich sieht, als Hochzeits-Double für den (wieder einmal) hoffnungslos besoffen irgendwo herumstreunenden Potentaten rekrutiert. Den Hinweis des Polizeipräsidenten und des Innenministers, gefälligst nach dem Essen Ohnmacht vorzutäuschen, ignoriert er – und gönnt sich lieber sehr gerne die Hochzeitsnacht mit "seiner" Angetrauten. Ein Feuerwerk von geschliffenen Dialogen, begnadet inszenierten Verwechslungen und ein wahrhaft vergnügliches Dauerfeuer an teils nur sehr leicht verschleierten Anzüglichkeiten und Doppeldeutigkeiten.


UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE (Duccio Tessari: Italien/BRD 1971)

Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #2 – "Ein Engel mit blutigen Flügeln" (wörtlich, deutsche Titel "Das Messer" oder "Blutspur im Park") tarnt seine extreme Emotionalität zunächst mit den Mitteln eines minutiösen, fast obsessiv in Details selbstvergessenen Police-Procedurals und einer längeren Gerichtsszene, doch es hilft nicht: die angestaute Verzweiflung, Schwermütigkeit, Melancholie, die unterdrückten Triebe, die Abgründe hinter der bürgerlichen Fassade, die Perversionen und der Wahnsinn werden sich Bahn brechen. Dazu gibt es nicht nur wie gesagt Tschaikowskis berühmter erster Satz des ersten Klavierkonzerts, sondern auch einen verzweifelt-melancholischen Score von Gianni Ferrio (Kostprobe hier), den wunderbaren Silvano Tranquilli als ruhelosen Polizeiinspektor, Helmut Berger als psychisch labilen Konzertpianisten und die pittoreske (und doch leicht gothisch-bedrohlich gefilmte) Altstadt von Bergamo als Kulisse.


L.A. WARS (Tony Kandah, Martin Morris: USA 1994)

Eine wunderschöne Perle aus der verbeultesten Grabbelkiste des 1990er-Direct-to-Video-Schlock (bei mir: im Regal für ausländische Editionen in einem Nürnberger Laden für gebrauchte Schallplatten, CDs, DVDs und Blu-rays als preisgünstige, offiziell OOP-Vinegar-Syndrome-Ausgabe). Eine ziemlich unoriginelle Undercover-Cop-among-Gangsters-Geschichte, aber mit so viel Druck auf der Tube inszeniert, dass es die hellste Freude ist. Der No-Name-Hauptdarsteller Vince Murdocco wirkt mit seiner leichten Verträumtheit ein wenig wie die Pfennigfuchser-Variante von Michael Dudikoff mit sehr gutem Preis-Leistungs-Verhältnis, wird von einer ganzen Riege an großartigen Nebendarsteller-Charakterfressen begleitet (besonders Johnny Venokur als sadistischer Handlanger und eine sehr charismatische Femme-Fatale-Henchwoman) und wandelt durch ein verblüffend elegant fotografiertes L.A. – warm sonnengebadet bei Tage, melancholisch neonlichter-beleuchtet bei Nacht.


HARDCORE (Paul Schrader: USA 1979)

Paul Schraders zärtlich-melancholischer Hassliebesbrief an seinen eigenen calvinistischen Hintergrund schickt George C. Scott vom oberflächlich aufgeräumten, übersichtlichen, konfliktlosen Paradies für Mittelstandsunternehmer Grand Rapids in das oberflächlich chaotische, apokalyptische, unmoralische und konfliktzerfressene Porno-Moloch Los Angeles – nachdem dieser eine cineastische Epiphanie hatte, als er seine verlorene Tochter in einem Pornofilm vorgeführt bekommen hat (eine schauspielerische und inszenatorische Tour-de-Force, wenn Scott sich zunehmend auflöst und er schließlich in seinem Zusammenbruch erleuchtet wird, weil kein Film mehr durch den Projektor läuft und nur noch die Projektorlampe alles gleißend bestrahlt). Scott verliert sich, findet fast schon so was wie Spaß, sich als schmieriger Porno-Casting-Agent zu verkleiden – und wirkt doch wie ein obsessiv suchender Odysseus, weil vielleicht auch echte Menschen mit echten Träumen in Los Angeles wohnen (es ist wahrscheinlich das gleiche Los Angeles wie in ANGEL), und Grand Rapids (schon rein etymologisch suggeriert) natürlich auch Abgründe hat. Wenn die calvinistische Lehre sagt, dass jeder einen vorbestimmten Platz hat, dann gibt es für den Vater möglicherweise auch keine Rückkehr: Grand Rapids ist am Ende für immer verloren.




Einige weitere schönen Neuentdeckungen 2024 (chronologisch nach Premiere innerhalb von Themen geordnet)


Auf Reisen


LES CHEMINS DE KATMANDOU (André Cayatte: Frankreich/Italien 1969)

Ein desillusionierter 68er auf der Flucht vor der Polizei flieht nach Nepal, um dort seinen halbseidenen Vater wiederzufinden und verliebt sich in eine Aussteigerin (Jane Birkin) – und gerät in eine infernalische Drogen-Höllle. Für mich die bessere Version von MORE: stark und kontrolliert inszeniert und dabei doch auch erzählerisch stellenweise fast anarchisch frei (ein Subplot um den Raub einer heiligen Tempelstatue ist fast ein Mini-Heist-Movie im Film).


SANATORIUM POD KLEPSYDRĄ (Wojciech Jerzy Has: Polen 1973)

Bruno Schulz' extrem komplexe, verschlungene, in alle möglichen Richtungen explodierende Prosa ist auf klassische Weise kaum verfilmbar – stattdessen hat Has tatsächlich den Geist, den Flow von Schulz adaptiert zu einem abenteuerlichen, fordernden und faszinierenden zweistündigen audiovisuellen Bewußtseinsstrom.


THE AMUSEMENT PARK (George A. Romero: USA 1975)

Der wiederentdeckte Industriefilm Romeros: eine Auftragsarbeit über Achtsamkeit gegenüber alten Menschen, die von einem christlichen Verein bestellt und nach Fertigstellung erschrocken in den Giftschrank verbannt wurde. Der grausige Horrortrip eines Rentners durch die Hölle eines Vergnügungsparks dürfte die Auftragsgeber nicht nur inhaltlich abgeschreckt haben: statt eines erbauenden Films gab es einen Avantgarde-Horrorfilm, denn Romeros experimentelle Ader, besonders beim Schnitt, kommt hier so stark wie allenfalls noch bei THE CRAZIES zum Tragen.


ROADGAMES (Richard Franklin: Australien 1981)

Wenn der Serienmörder-Thriller auf das Roadmovie im Outback trifft – oder der wunderbare Stacy Keach als Mensch, der einen Truck fährt, auf Jamie Lee Curtis, die in Trucks trampt. Ein sehr schöner Slowburner, der sich ganz auf Keachs Lächeln verlassen kann, wenn grad nicht die Spannungsschraube zugedreht wird.


BOCKSHORN (Frank Beyer: DDR 1984)

Zwei Jugendliche trampen durch ein mysteriöses Land, in Richtung Westen, hin zum Meer – und begegnen Seelenverkäufern, streng-religiösen Bauern, wie Babies sprechende Propheten, bedrohlichen Serienmördern und Schickimicki-Punks auf der Suche nach der nächsten großen Sause. Die erste in den USA gedrehte DEFA-Produktion ist ein Kinnladen-Klapper erster Güte: ein entfesselter surreal-poetischer Roadmovie, dessen Ursprung man nicht in einem eingemauerten Staat vermuten könnte. Gesehen als "Zeitfüller" zwischen zwei "Pre-Code Musicals" im Frankfurter Filmmuseum: wie passend für einen Film, der sich wie die "Pre-Code-Variante" eines DDR-Films anfühlt (oder wie eine Vorwegnahme der wahnsinnigen Filme, die zwischen 1989 und 1991 bei der DEFA produziert wurden).


SPEED (Jan de Bont: USA 1994)

In seiner Struktur (Hochhaus / Straße mit Bus als das längste Segment / U-Bahn) ein kleines, köstliches Triptychon der Action-Setpieces – und effiziente Arbeitsteilung: Keanu Reeves und Sandra Bullock lenken am Lenkrad, Dennis Hopper dreht am Rad.



In der Liebe


JIGOKUMON (Kinugasa Teinosuke: Japan 1953)

Der erste im Ausland bekannte japanische Farbfilm wirkt in der ersten Hälfte fast schon psychedelisch in seinen explodierenden Farben: passend zur Geschichte eines Mannes, der in seiner Obsession zur Frau eines anderen Mannes komplett den Bezug zur Realität verliert und die Welt wohl nur noch durch einen (offenbar farbengestörten) Schleier des Wahnsinns sieht.


SOROK PERVIJ (Grigorij Čuchraj: Sowjetunion 1956)

Die Liebesgeschichte zwischen einer Scharfschützin der Roten Armee und einem gefangenen weißen Offizier ist in einem Wüsten-Kriegsfilm bzw. -Roadmovie eingebettet und ist vor allem farbdramaturgisch ein absoluter Hingucker: in seinem Erstling scheint Grigorij Čuchraj den Farbfilm quasi neuerfinden zu wollen. Bei seinem berühmtesten Film (BALLADA O SOLDATE) fehlten mir persönlich nicht nur wortwörtlich, sondern auch metaphorisch die Farben, aber sein ČISTOE NEBO über die Liebe einer Arbeiterin zu einem Flieger, der nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zum Opfer des stalinistischen Terrors wird, schlägt in eine ähnliche Kerbe und sei deshalb hier auch erwähnt.


FRANÇOISE OU LA VIE CONJUGALE (André Cayatte: Frankreich/Italien/BRD 1964)

Der weibliche Teil von André Cayattes Ehe-Diptychon LA VIE CONJUGALE entfaltet seine ganze Kraft besonders, wenn man ihn nach dem männlichen Teil JEAN-MARC sieht. Wo JEAN-MARC "nur" ein ausgezeichnetes Ehedrama und Portrait eines sozial engagierten Anwalts (teilweise ein idealisiertes Selbstportrait Cayattes?) ist, wirkt FRANÇOISE in seiner Thematisierung von (struktureller) sexueller Übergriffigkeit, aber auch von unbezahltem "Rückenfreihalten", den Ehefrauen für Ehemänner leisten fast schon proto-feministisch. Er ist auch zackiger, pointierter, erzählerisch freier inszeniert als der männliche Teil. Und wieder ein Beweis, dass Cayatte eine Wiederentdeckung wert ist.


LE CHAT (Pierre Granier-Deferre: Frankreich/Italien 1971)

Ein emotionaler Torture-Porn über eine extreme Hassliebes-Beziehung zweier Menschen, die nur noch sich selbst haben (na ja, und natürlich die Katze), während Paris um sie herum gentrifiziert wird. Fantastische Musik von Philippe Sarde – die bei der Montage mit den beiden Protagonisten, der Abrissbirne und den Katzen auf dem Klettergerüst emotional besonders stark einschlägt (hier eine Impression dieses halluzinatorischen Moments).


ROAD TO NOWHERE (Monte Hellman: USA 2010)

Monte Hellmans letzter abendfüllender Film, persönlicher "Achteinhalb", ein autobiografischer gefärbter Film, der Hellmans Affäre mit Laurie Bird beim Dreh von TWO-LANE BLACKTOP verarbeitet: ein Regisseur dreht einen Polit-Thriller über eine reale, brisante Korruptionsaffäre, in der eine mysteriöse Exil-Kubanerin involviert war und verliebt sich in seine Hauptdarstellerin, während die realen Ereignisse beginnen, den Dreh zu überschatten. Trotz seiner extremen Verschlungenheit (Rahmenhandlung, Ausschnitte aus dem Film, Dreh-Impressionen und -Proben gehen komplett nahtlos ineinander über) ein Film von einer verblüffenden Klarheit und Einfachheit: eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann, einer Frau und dem Kino. Der Titel ist dabei nicht als nihilistisch und zynisch zu verstehen, sondern als Ausdruck einer totalen (und in dieser Konsequenz sehr radikalen) Offenheit: es gibt kein festes Ziel.


Bei Verbrechern und Mördern


L'ARGENT (Marcel L'Herbier: Frankreich 1928)

Wenn ich mich recht erinnere eine eher langweilige Geschichte – aber mit seiner extravaganten, experimentellen, ja stellenweise ekstatischen Inszenierung verwandelt L'Herbier das in einen fesselnden Film. Wenn Brigitte Helm dabei ist, kann da eh wenig schief gehen.


MURDER AT THE VANITIES (Mitchell Leisen: USA 1934)

Ein Lieblingsfilm von Hugh Hefner (der die Restaurierung und die Erstellung einer neuen 35mm-Kopie finanziert hat!). Ein Mörder treibt sein Unwesen hinter den Kulissen einer Revue-Premiere und prägt damit den hybriden Charakter des Films als Krimi/Thriller und als Musical. Die Musical-Nummern gehen mit ultra-knappen Kostümen und schlüpfrig-gewagten Inhalten (ein Songtitel lautet "Sweet Marijuana") komplett in die Vollen: die letzte Sause, bevor ein paar Wochen nach der Premiere der "Production Code" endgültig verschärft wurde. Duke Ellington hat ein Cameo mit seinem Orchester, das die Band der Nummer vorher an die Wand spielt, bis eine Frau auf die Bühne stürmt und eine Dutzend-Reihe von Tänzern mit einer Maschinenpistole niedermäht. Alles ziemlich unglaublich.
Mitchell Leisen, langjähriger Set-Designer von Cecil B. DeMille, wurde gleich von zwei Drehbuchautoren, mit denen er später zusammengearbeitet hat, und die später berühmtere Regisseure wurden, runtergeputzt (nämlich von Preston Sturges und Billy Wilder), was seinem Ruf wohl nicht gut getan hat – offensichtlich zu Unrecht. 


LA CONTROFIGURA (Romolo Guerrieri: Italien 1971)

Giallo als wildes, paranoides Puzzle-Spiel. Gesehen beim Terza Visione.


UNE JOURNÉE BIEN REMPLIE (Jean-Louis Trintignant: Frankreich/Italien 1973)

Ein Giallo (es ist ja eine italienisch co-finanzierte Produktion, Bruno Nicolai hat die Musik geschrieben und der verrückte vollständige Titel "Une journée bien remplie ou Neuf meurtres insolites dans une même journée par un seul homme dont ce n'est pas le métier" erinnert an ähnlich verrückte lange italienische Titel) als dadaistische Farce: ein Bäcker bricht eines morgens auf, um an einem Tag neun bestimmte Menschen kaltblütig zu ermorden bzw. sorgfältig choreografiert hinzurichten. Autor und Regisseur Trintignant (er hat ein kleines Cameo als Theater-Regisseur) schickt Jacques Dufilho auf einen mörderischen Trip, der in seiner extremen Reduktion fast schon ein alles zersetzendes Konzentrat des Serienkillerfilms ist, in seiner Abstraktion das Experimentelle streift (einige sehr wilde Montagen sorgen für heruntergeklappte Kinnladen) – und trotzdem bleibt der Ton dabei immer scherzhaft und komödiantisch. Bin sehr gespannt auf Trintignants zweiter Film als Regisseur!


THE PARALLAX VIEW (Alan J. Pakula: USA 1974)

Ein eiskalter Film (der abrupte Schnitt auf die Leiche im Leichenschauhaus am Anfang – puh!). Der Paranoia-Thriller als unausweichlicher Alptraum. Nach der Vorstellung in der Karlsruher Schauburg beim Technicolor-Festival gab es zum Glück Freibier für die Dauerkarteninhaber, um etwas runterzukommen.


DOG DAY AFTERNOON (Sidney Lumet: USA 1975)

Ein Klassiker, den ich schon seit Jahren sehen wollte (besonders, weil er einer der meistgenannten Filme in Lumets Buch "Filme machen" ist). Nach einer überbordenden Liebeserklärung an New York City im Prolog ein verblüffend nüchtern, fast semi-dokumentarisch inszenierter Heist-Movie ohne große "knallige" Attraktionen – und dennoch keineswegs spröde, sondern involvierend, menschlich und emotional.


SCRUBBERS (Mai Zetterling: UK 1982)

Missverstanden und unterbewertet als vermeintlicher Abklatsch von Alan Clarkes Jugendknastfilm SCUM ist SCRUBBERS vor allem ein wunderbarer Vertreter des Frauenknastfilms. Der Blick der schwedischen Regisseurin und Autorin Mai Zetterling ist so einfühlsam und verständnisvoll wie realistisch und ohne Illusionen ob der menschlichen Schwächen. "Jede hat ihre Gründe" ist im Knast natürlich eine Spur härter als bei einer Lustpartie im Schloss.


PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN aka LADY TERMINATOR (Tjut Djalil: Indonesien 1989)

The Terminator to terminate'em all! Gesehen beim internationalen Tag des Terza Visione.


TOUTES PEINES CONFONDUES (Michel Deville: Frankreich 1992)

Ein Korruptionssumpf-Krimi, wo der Teufel im Detail liegt: Gruppen-Pinkeln um die feine Limousine, die bunten Cocktails die die kleine Wirtstochter den beiden Kontrahenten mitten in einer ernsten Auseinandersetzung bringt weil sie eben bunter sind, die fußfetischistischen Einlagen.
Michel Deville, dessen experimenteller Polit-Thriller LE DOSSIER 51 mich letztes Jahr begeistert hat, ist eh ein Toller. Seine manchmal leicht surreale Erotik-Komödie LA LECTRICE (1988) mit Miou-Miou als Titelheldin in literarischer Verführungsmission und NUIT D'ÉTÈ EN VILLE (1990), sein One-Night-Stand-Zweipersonen-Kammerspiel mit Jean-Hugues Anglade und Marie Trintignant möchte ich hier auch noch explizit lobend erwähnen.


DIGGSTOWN aka MIDNIGHT STING (Michael Ritchie: USA 1992)

Gerade in den ersten zwei Dritteln gefühlt unpassend zu einem Festival des Actionfilms (der Film war der Ersatz für einen nicht rechtzeitig im deutschen Zoll abgefertigten Rennrad-Sportfilm), sondern eher eine Art schwarze Komödie über eine korrupte Stadt, die von einem kriminellen Unternehmer (Bruce Dern – loved to hate him!) mit eiserner Hand regiert wird und von einem windigen Gauner (James Woods – loved to hate him too!) herausgefordert wird, den Rekord eines lokalen Boxers, der 10 Einheimische hintereinander geschlagen hat, mit seinem eigenen Kämpfer (Louis Gossett Jr. – mit Haaren zunächst für mich nicht erkennbar!) zu brechen. Atmosphärisch komplett all over the place zwischen schwarzer Gaunerkomödie, Southern Gothic, ultrafinsterem Polit-Thriller, Klamauk-Spitzen und am Ende einem verblüffend brutalen, brachialen, schmerzhaften Boxerfilm erzählt DIGGSTOWN fast komplett plotbefreit, nur mit seinen Figuren: Dern und Woods liefern sich ein Duell der Schmierigkeit, Arroganz und Niedertracht, die Menschlichkeit, Melancholie und Gebrochenheit gibt es bei den Nebenfiguren. Bizarr und sehr faszinierend.


THE THOMAS CROWN AFFAIR (John McTiernan: USA 1999)

Ein auf jeglicher Ebene vergnüglicher Film, bei dem das Katz-und-Maus-Spiel (im Original, wenn ich mich richtig erinnere, schon eher distanziert-spröde) wirklich komplett in die Vollen geht. Ich denke vielleicht zu schmutzig, aber da gibt es natürlich diese "verschleierte" Natursekt-Einlage (Pierce Brosnan kniet unterwürfig vor Rene Russo und empfängt einen Flüssigkeitsstrahl) – zumindest aber die Karibikreise zum Luxus-Bungalow: Thomas Crown beugt sich mit offenem Hemd über ein Gericht, das er gerade kocht, ein bisschen Gemütlichkeitsplauze hängt über den Hosenbund, Catherine Banning huscht oben ohne vorbei und gibt ihm einen Po-Klaps. Ja, Katz-und-Maus-Spiel nicht als Trockenübung, sondern als sinnliches Vergnügen zum Fallenlassen!


THE CAT'S MEOW (Peter Bogdanovich: USA/Deutschland/UK 2001)

Eine kleine Yacht-Spritztour mit William Randolph Hearst und Charlie Chaplin – was kann da schon schief gehen? Zum Glück sehr vieles!


LES MISÉRABLES (Ladj Ly: Frankreich 2019)

Die Langfilmversion des gleichnamigen Kurzfilms mit größtenteils der selben Kern-Crew, der alle Qualitäten beibehalten hat und aus einem kurzen Schlaglicht eine dichtere und breitere Impression macht (die Eskalationsschraube allerdings weiter anzieht): ein toller Polizeifilm, wo die Ambivalenzen der Polizeiarbeit auf die undurchdringbare Komplexität der Cité treffen.



Familie, Nachbarn und andere Gestörte


WO DER WILDBACH RAUSCHT (Heinz Paul: BRD 1956)

Der Heimatfilm als Film Noir und Horrorfilm über dörfliche Niedertracht. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


BOOM! (Joseph Losey: UK 1968)

Mit SKIDOO (Preminger) und THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Aldrich) reiht sich BOOM! in eine Kollektion angeblicher "Total-Entgleisungen" großer Studio-Regisseure anno 1968 ein. Richard Burton zieht ein Katana und fuchtelt damit im Kimono gekleidet auf einer Balustrade rum, während Elizabeth Taylor schreit, keift und rum-taylort. Einer ihrer Hüte sieht aus wie aus einer Junkie-Müllhalde zusammengeklaubt. Und wenn sie zwei Minuten lang dem Publikum ins Gesicht hustet, sieht das auf einer 17 Meter breiten Cinerama-Leinwand schon sehr beeindruckend aus. Wie bei den erstgenannten sieht man dabei die ganze Zeit einen inszenatorisch komplett kontrollierten Film (das Gerücht, Losey sei während des Drehs dauerhaft unkontrolliert besoffen gewesen, scheint totaler Quatsch zu sein – unkontrolliert war er ganz bestimmt nicht). Unglaublich.


LA MANDARINE (Édouard Molinaro: Frankreich/Italien 1972)

Nach dem Sex schläft er (Philippe Noiret) entspannt ein, sie (Annie Girardot) aber geht hinunter in die Hotelküche und veranstaltet dort mit den Resten ein veritables kleines Fressgelage. So beginnt diese heitere Hotel-Komödie, die komplett plotfrei, leicht wie eine Wolke vor sich hin spaziert, weil wir nur einigen Figuren dabei folgen, wie sie mit ihren kulinarischen und sexuellen Gelüsten umgehen, wie sie tanzen und spazieren und Spaß haben (und na gut: manchmal auch, wie sie versuchen, mit Eheproblemen umzugehen).


MAA ON SYNTINEN LAULU (Rauni Mollberg: Finnland 1973)

Das Kino Finnlands außerhalb der Kaurismäki- und Unterkühlte-Nordeuropäer-Klischeekiste-Komfortzone ist offenbar eine wahre Fundgrube: "Die Erde ist ein sündiges Lied" ist weniger die in der Synopse erzählte Liebesgeschichte zwischen einer Finnin und einem Samen als eher das impressionistische Stimmungsportraits eines Dorfs nach dem Weltkrieg und dessen Zyklen von Geburt, Sex, Trunksucht und Tod. Der Naturalismus des Films ist von einer verblüffenden Krassheit und erreicht bei der realen Onscreen-Schlachtung und -Zerlegung eines Rentiers fast eine halluzinatorische Qualität. Film als ein sinnlicher, reißender, gefährlicher Strudel!


CHOCOLAT (Claire Denis: Frankreich/BRD/Kamerun 1988)

Impressionistische Kindheits-Erinnerungen an Episoden in der afrikanischen Halbwüste. Keine Idealisierung, keine Romantisierung, keine Verklärung, aber auch keine echten Konflikte, sondern immer nur ein leichtes Dauer-Unbehagen.


DEMAIN ON DÉMÉNAGE (Chantal Akerman: Frankreich/Belgien 2004)

Wie würde es also aussehen, wenn eine Avantgardistin und Rebellin des europäischen Autorenkinos eine spritzige Komödie über eine schreibblockierte Sexbuchautorin dreht, in deren Wohnung aus heiterem Himmel die überdominante Mutter einzieht? Leicht off-beat (ein Double-Feature mit einem Helge-Schneider-Film wäre wohl interessant), aber absolut vergnüglich.


ROIS ET REINE (Arnaud Desplechin: Frankreich 2004)

Eine Mini-Retrospektive zu Arnaud Desplechin bereitete mir vor allem im "großen" Desplechin-Amalric-Zyklus viel Vergnügen, also: COMMENT JE ME SUIS DISPUTÉ... (MA VIE SEXUELLE), ROIS ET REINE, UN CONTE DE NOËL, JIMMY P. (PSYCHOTHÉRAPIE D'UN INDIEN DES PLEINES), LES FANTÔMES D'ISMAËL (in TROIS SOUVENIRS DE MA JEUNESSE spielt Amalric zwar auch mit, aber den würde ich nicht zu den Guten zählen, und in LA SENTINELLE ist er wirklich nur in einer Mini-Rolle zu sehen, der ist aber auch toll). Ich habe etwas Mühe, die Details vieler der Filme auseinanderzuhalten, weil Mathieu Amalric und Emmanuelle Devos meistens mitspielen, ein Teil der Figuren jüdisch ist und sich mit jüdischer Identität auseinandersetzt, psychologische oder psychiatrische Behandlung immer wieder eine zentrale Rolle spielt, der Vornamen Ismaël und der Nachname Vuillard immer wieder vorkommen (aber es sind nicht die gleichen Figuren) und die nordfranzösische Stadt Roubaix als Heimatstadt immer wieder Handlungsort ist.
Daher: ROIS ET REINE als Stellvertreter für Desplechins nicht unbedingt konsistent großartiges, aber über weite Strecken faszinierendes Kino mit Mathieu Amalric als schauspielerisches Herz und emotionale (manchmal auch: emotional gestörte) Seele. Besonders schön: der Subplot um die Freundschaft / Liebe zwischen Amalrics Ismaël und der Co-Patientin "La chinoise" in der Psychiatrie.
Eine weitere ehrenvolle Nennung spreche ich hiermit noch für LES FANTÔMES D'ISMAËL aus, der quatschkopfigste, verrückteste, aber auch zärtlichste Desplechin-Amalric-Film (der leider von der französischen Filmkritik unverständlicherweise verrissen wurde).





Mit dem Zweiten sieht man besser

DEATH WISH 3 (Michael Winner: USA 1985)

Gesehen als "Midnight Nasty" bzw. Spätschienen-Film beim Karacho. Beim ersten Mal (auf einem kleinen Röhrenfernseher in der WG eines Freundes) ist er etwas an mir vorbei getrübt. Auf großer Leinwand entfaltet er sein ganzes anarchisches, zersetzerisches, krankes, gestörtes Potential: ein Meisterwerk des totalen Over-the-Top-Unfassbarkeitskinos. Eine Extrem-Satire über entfesselte kleinbürgerliche Mordlust. Da ist natürlich Paul Kersey, der seinen besten Anzug anzieht, um bei den netten Nachbarn von nebenan Kohl zu essen, sich zwischendurch höflich entschuldigt, aufsteht, seine Serviette säuberlich zusammenfaltet und niederlegt, rausgeht, zwei Gang-Mitglieder draußen vor seinem Auto niederknallt und dann seelenruhig zurückkehrt, um seinen restlichen Kohl gentleman-like aufzuessen. Die völlig wahnsinnige Szene mit Eis-Essen, um die Schulter baumelnde Kamera und die zur Elefantenjagd konzipierte Monsterpistole. Dann der Showdown, der wie eine ausgelassene Kindergeburtstagsfeier gefilmt ist, mit Blutbad und Massaker statt Limonade und Topfschlagen. Überhaupt die Inszenierung, die immer leicht off ist und den Film immer wieder auflaufen lässt: DEATH WISH 3 enthält den wahrscheinlich unromantischsten, widerwärtigsten Kuss der Filmgeschichte, wenn kurz, bevor sich die Lippen treffen, auf ein extrem unvorteilhaftes Closeup von Charles Bronsons runzelig-faltigem Schnurrbartmund geschnitten wird.




Mit diesem letzten Bild im Kopf...

wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von Whoknows Presents ein schönes Jahr 2024!