Sonntag, 27. August 2023

Endliche Ehen und unsterbliche Liebe: Bericht vom 9. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione


Mittwoch, 19. Juli 2023


ab 19:15 Uhr

Das 9. Terza Visione fing mit einem ungewöhnlichen Format an. Da ein Umstieg mit der Bahn auf der Herfahrt statt geplanten 9 Minuten schlussendlich 3 Stunden dauerte, verpasste ich den ersten Film des "inoffiziellen" Eröffnungstags, Dario Argentos L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO. Dafür gab es als Einstieg ein Regisseursgespräch im Foyer des deutschen Filmmuseums. Der Gast, ja Stargast, war... Dario Argento, der für zwei Tage in Frankfurt am Main verweilte, um die ihm gewidmete Retrospektive des Filmmuseum Frankfurt zu besuchen. Diese schloss sich in einem Synergieeffekt mit dem Terza zusammen.
Es war die zweite Gesprächs-Session, und Argento sprach unter anderem über die Zusammenarbeit mit Ennio Morricone (der Score zu seinem ersten Film L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO wurde von Morricone und einigen seiner engsten Mitarbeiter recht spontan improvisiert), darüber, wie er als Gast und stiller Beobachter im Haus des Drehbuchautors Sergio Amidei (u. a. ROMA, CITTÀ APERTA und PAISÀ) das "Handwerk" lernte (die Essenz liegt darin, dass das Autorenteam zunächst mit "Smalltalk" sich menschlich synchronisiert, bevor es an die "harte" Arbeit geht), über seine Einflüsse (im Gegensatz zur gestellten Frage eher seine auf andere Regisseure, und nicht umgekehrt), über seine besondere Wertschätzung für Michelangelo Antonioni, über seine Begegnung mit Rainer Werner Fassbinder (den er als schweigsamen, aber extrem nervösen Mann wahrnahm) und über sein erstes prägendes Kinoerlebnis (die Stummfilmfassung von "Das Phantom der Oper").

Wie jedes Jahr wurde auch dieses Terza exklusiv mit analogen Filmkopien bestritten, geliehen aus über einem Dutzend Institutionen aus sieben Ländern.


ab 21:00 Uhr

IL FANTASMA DELL'OPERA ("Das Phantom der Oper")
Regie: Dario Argento
Italien 1998
98 Minuten, OmU
Paris, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ein von Ratten aufgezogenes Findelkind haust in den Eingeweiden der Pariser Oper und meuchelt hier und da neugierige Kanalarbeiter weg. Das "Phantom" (Julian Sands – im Gegensatz zu anderen Varianten des Stoffs ohne Verstümmelung/Maske) verliebt sich dann aber in die Nachwuchssängerin Christine (Asia Argento) und ist nur allzu bereit, deren Karriere-Hindernisse aus dem Weg zu räumen...
Das gängige Narrativ zu Dario Argento ist, dass seine Regiekunst nach den 1980er Jahren einen allmählichen Niedergang erlebte, mit Variationen in der Frage, ob PHENOMENA und OPERA noch zu den "Guten" gehören. Wie schön, dass es mit Terza Visione auch immer den Blick über den Tellerrand gibt. IL FANTASMA DELL'OPERA, den ich 2019 beim Italo-Horrorfilmwochende in Nürnberg schon zum ersten Mal sah, erwies sich bei der Zweitsichtung sogar als etwas stärker als vor vier Jahren. Argento lehnte es im Filmgespräch zwar ab, ihn als "Liebesfilm" bezeichnet zu sehen, aber tatsächlich kommt er dem in Argentos Werk wohl am nächsten, gleichwohl es sicherlich keine besonders "gesunde" Liebe ist. Zumindest ist Christine hin- hergerissen zwischen einer "gesunden", gesellschaftlich respektablen aber offenbar eher sex- und keimfreien und zumindest bis zum letzten Drittel eher "kalten" Liebe zum Baron Raoul und der "ungesunden", gesellschaftlich verachteten, gefährlichen, latent von Gewalt geprägten aber eben auch extrem geilen und dreckig-animalischen Liebe zum Phantom.
Ein Liebesfilm steckt in IL FANTASMA DELL'OPERA, aber auch andere Atmosphären stecken drin: gerade in der Nebenfigur des operneigenen, unfassbar dreckigen und schmierigen Rattenjägers (gespielt von dem renommierten ungarischen Theaterschauspieler Bubik István) lebt Argento offensichtlich auch eine geheime Liebe zum Slapstick aus und erinnert daran, wieviel Humor er eben auch hat. Bubik wirft sich voll rein in die Rolle, und es macht unglaublich Spaß, die kleinen Subplots um den Rattenfänger zu sehen: Höhepunkt ist die Jungfernfahrt des steampunkig-retrofuturistischen Gefährts mit Staubsauger und rotierenden Klingen, das er durch die unterirdischen Gänge der Oper steuert, um diese von Ratten zu befreien. Diese Liebesgeschichte, und dann noch dieser Humor: das hat der Gorebauer-Fraktion unter Argentos Fans sicherlich nicht gefallen.
Noch weniger dürfte ihnen gefallen haben, wie sehr gerade im letzten Drittel und im Showdown sich ein Wille zum entfesselten Melodrama zeigt, der schon sehr faszinierend ist: mit der Verfolgungsjagd auf das Phantom, der inneren Zerrissenheit Christines zwischen ihren beiden Liebhabern und der anschwellenden Musik Morricones zielt Argento direkt auf Herz und auch auf die Tränendrüsen der Zuschauer. Der Showdown straft alle Lügen, die ihn nur als seelen- und emotionslosen Technokraten perfekt choreografierter Gewaltszenen sehen wollen.
Zwei Details hatte ich von der Nürnberger Sichtung vergessen: die extravagante und unfassbare Szene in dem Hallenbad-Edelbordell. Da scheint sich ein Stück Jess Franco oder Joe D'Amato in den Film reingeschlichen zu haben, wenn da halbnackte oder ganz nackte Männer und Frauen (und eine Trans-Frau? ich bin nicht mehr ganz sicher) in einem Luxusbad essen, trinken, turteln und sich vergnügen. Der Baron, der nach einer Abfuhr von Christine sich dort auf andere Gedanken bringen möchte, entpuppt sich als Verzichter, aber auch als ungehobelter Krawallmacher: als eine junge Dame, die sich "bocca di velluto" (Samt-Mund) nennt, ihm mit eindeutigen Zungenbewegungen eindeutige Zeichen macht, sieht der Baron plötzlich Christine das machen – eine zu wilde Vision für ihn, weshalb er dann als Party-Pooper anfängt, zu randalieren.
Ganz vergessen hatte ich auch die großbürgerlichen Creeps, die mit teuren Pralinen versuchen, die Aufmerksamkeit von ungefähr 10-jährigen Ballettschülerinnen zu gewinnen (der Film wendet hier für kurze Zeit die Mechanismen des Rape-And-Revenge-Genres an, als einer dieser Creeps eine Schülerin zu tief in die unterirdischen Gänge der Oper verfolgt und es dort vom Fantom heimgezahlt bekommt).
Die Vorstellung lief im Rahmen der Argento-Retrospektive, war zugleich aber auch eine Hommage an den viel zu früh, Anfang 2023 verstorbenen Julian Sands: ein faszinierender Darsteller, dem immer etwas Jungenhaft-Verträumtes anhängt. Scheinbar unpassend für gewalttätige Dämonenfiguren wie hier (oder als Warlock) – und dabei doch passend, seine Figuren immer leicht verundeutlichend, ihre dunkel-abgründige Romantik betonend.


Donnerstag, 20. Juli 2023


ab 13:00 Uhr

URLATORI ALLA SBARRA
Regie: Lucio Fulci
Italien 1960
83 Minuten, OmU
Die "Schreier" des Titels sind eine Gruppe von Rock'n'Rollern (Joe Santieri, Adriano Celentano, Mina): protegiert und gastlich empfangen von einem Senator a.D., angeworben von der Jeans-Industrie zu Werbezwecken, teils angefeindet und angeworben von einem quotengeilen TV-Produzenten – aber immer mit einem flotten Song in petto.

I brutos: Auftritt als ländliche Sängertruppe

Ursprünglich war Fulcis OPERAZIONE SAN PIETRO aka "Die Abenteuer des Kardinal Braun" programmiert: eine Heist-Komödie mit Heinz Rühmann, Lando Buzzanca, Jean-Claude Brialy und Edward G. Robinson (sic!). Ich bin nicht mehr sicher, warum die Kopie unpässlich war (starker Rotstich?), jedenfalls war angesichts der Fülle an gedrehten Filmen ein Ersatz aus Lucio Fulcis früher Komödienphase rasch zu finden. Zur Erinnerung: Der "Godfather of Italian Gore Cinema" hat wesentlich mehr Komödien als Horrorfilme in seiner Karriere inszeniert. In seiner Einführung betonte der (pausierende) Ex-Terza-Co-Organisator Christoph, dass die erste Werksphase sehr zu unrecht vernachlässigt oder gar als unwichtig abgetan wird: das Narrativ, Fulcis echte Bestimmung sei der Horror gewesen und alles vorher könne man skippen, sei komplett falsch. Komödien waren für den Drehbuchautoren, Regieassistenten und schließlich Regisseur Fulci knapp 15 Jahre lang das zentrale Metier, in dem er auch seine Meisterschaft entwickelte.
Der geneigte Terza-Stammzuschauer wusste davon bereits einen Teil und erinnerte sich wohlig an LE MASSAGGIATRICI bei der Festival-Ausgabe von 2018. URLATORI ALLA SBARRA war Fulcis dritter Film und war sicherlich nicht so großartig wie LE MASSAGGIATRICI, aber dennoch ein launischer Start in den "offiziellen" oder "Post-Argento-Besuch"-Teil des Terza Visione. Nach einem Prolog, der in zwei Minuten eine Kulturgeschichte des Schreiens humoristisch darlegt, geht es auch mit den ersten Musiknummern los. Adriano Celentano ist dabei (die Premiere knapp einen Monat nach LA DOLCE VITA, in dem er nur einen kurzen Cameo hatte) sowie Mina und Joe Sentieri, zu dieser Zeit wohl größere Stars als Celentano. Besonders bemerkenswert für Jazz-affine Zuschauer: in der Rolle eines dauermüden oder schlafenden Amerikaners, der Teil der musizierenden Jugendtruppe ist, gibt es den Trompeter Chet Baker zu sehen, schon offensichtlich stark lädiert von seiner Heroinsucht.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass URLATORI ALLA SBARRA ein schöner Gute-Laune-Film ist, zu Weihen à la LE MASSAGGIATRICI reicht es nicht. Vielleicht zersplittert er sich zu sehr in zu viele Episoden mit zu vielen Figuren und Subplots. Joe Sentieri war so etwas wie eine der Hauptfiguren: ich finde ihn aber intuitiv irgendwie antipathisch, und dass er fünfzehn Jahre älter ist als sämtliche anderen Mitglieder der Jugendbande ist und man dies auch sieht, wirkt seine Figur bestenfalls unglaubwürdig, schlimmstenfalls leicht creepy. Eine viel bessere Hauptfigur wäre da Turi Pandolfini als alter Senator a.D. mit eindeutigen Sympathien für die "Urlatori" (er ist sowieso schwerhörig, da sollen sie doch ruhig lauter spielen), die er bei sich in der Wohnung beherbergt. Auf der Antagonisten-Seite gibt es Mario Carotenuto als schmierig-intriganter TV-Sender-Chef, der zuerst Stimmung gegen die "Urlatori" macht, bevor er herausfindet, dass er sie auch einfach kommerziell ausbeuten kann: eine Figur, die man zu hassen einfach nur liebt!
Am Ende ist URLATORI ALLA SBARRA vor allem eine schöne Nummern-Revue. Besonders hervorzuheben dürfte Minas Nummer "Whisky" sein, in der sie in einer stilisierten Bar voller geifernder Verehrer die Vorzüge des Trinkens besingt. Pastoraler wurde es bei einer anderen Nummer: ein Cameo der Sänger- und Komiker-Gruppe "I Brutos" (darunter ein junger Aldo Maccione), die bei einem Picknick der Urlatori auf dem Land als singende Schäfer zu sehen sind und mit ihrem eskalierenden Minenspiel den Saal in eine Raserei aus freudigem Toben und lauten Lachkreischern brachte.






ab 15:30 Uhr

METTI, UNA SERA A CENA (wörtlich: "Sagen wir mal, eines Abends beim Abendessen", im Programmheft: "Warum nicht eines Abends bei Tisch")
Regie: Giuseppe Patroni Griffi
Italien 1969
125 Minuten, OmU
Der Autor Michel (Jean-Louis Trintignant) schreibt gerade an einem neuen Stück: darin soll es um eine mögliche Affäre zwischen seiner Frau Nina (Florinda Bolkan) und seinem besten Freund Max (Tony Musante) gehen. Ohne Michels Wissen gibt es diese Affäre schon lange. Doch auch Max' ehemaliger Liebhaber Rick (Lino Capolicchio) kommt ins Spiel und beginnt eine Affäre mit Nina – während Michel mit der entfernten Bekannten Giovanna (Annie Girardot) ins Bett landet.
Über historische Erfolge und Misserfolge von Filmen nachzudenken, ist manchmal schon interessant, gerade auf einem Festival wie dem Terza Visione. 2022 stellte sich bei LE CINQUE GIORNATE die Frage, was wohl aus Dario Argento geworden wäre, wenn sein Slapstick-Komödien-/Period-Politdrama erfolgreich gewesen wäre und nicht ein fulminanter Flop. 2023 stellte sich für viele im Publikum wohl eher die Frage, wie der von Argento geschriebene METTI, UNA SERA A CENA einer der erfolgreichsten italienischen Filme von 1969 werden konnte (und ein Film, der gerade Dario Argento als Co-Autor zum heißesten Scheiß auf dem Kinoautorenmarkt werden ließ)? Dario Argento war schließlich damals ein Nobody und würde erst ein paar Jahre später ein Superstar des italienischen Kulturlebens werden. Das Theaterstück, auf dem der Film basierte, war auf den römischen Bühnen ein Hit, aber reichte es, um das Kinopublikum zu ziehen? Jean-Louis Trintignant dürfte zu dem Zeitpunkt der berühmteste Schauspieler des Casts gewesen sein, aber ein Massenpublikumsmagnet, gerade in Italien? Die deutsche Wikipedia erwähnt die Musik von Ennio Morricone als Faktor für den Erfolg...
Wie die Antworten auch immer lauten: METTI, UNA SERA A CENA wurde von einem bedeutenden Teil des Terza-Publikums als Flop des Festvials gesehen, und ich geselle mich durchaus dazu (gleichwohl ich prinzipiell ein Freund davon bin, das Terza Visione mit "Grenzgängern" am Rande des klassischen Genre-Kinos zu erweitern). Im Grunde erzählt der Film eine recht simple Vierer-Beziehungsgeschichte mit einem fünften Rad, der das Gefüge noch mehr durcheinander bringt. Mit an den großen Kinoerneuerungsbewegungen geschulten Erzählweise zerlegt der Film die Chronologie, um das ganze Stück für Stück zusammenzusetzen. Nicht per se völlig unspannend, aber tatsächlich bleiben sämtliche fünf Hauptfiguren des Films eher reine Drehbuch-Behauptungen, durch überlange und sehr steife Dialoge nur notbehelfsmäßig zusammengehalten, als dass echte Charaktere lebendig wurden. Die achronologische, elliptisch-puzzleartige Erzählweise lässt alles noch eher steifer und konstruierter wirken, als dass es Dynamik bringt. Dass hier (mit Ausnahme des fünften Rad am Wagens, des von Lino Capolicchio gespielten Künstlers) allesamt gutbürgerliche Figuren ihr Ennui zwei Stunden lang spazieren führen und über Probleme der Ehe sich sehr, sehr verbos austauschen, lässt auch nicht gerade große Gefühle zu, besonders nicht, weil der Erkenntnisgewinn der langen Dialoge eher minimal ist. Ein bisschen hat mich das strukturell an Roman Polanskis CARNAGE erinnert: ein theaterhaftes (weil zu sichtbar von einem Theaterstück adaptiertes) bürgerliches Selbstvergewisserungsdrama.
Faszinierend dabei ist, dass die fünf tollen Darsteller da wenig ausrichten konnten. Jean-Louis Trintignant trägt ja grundsätzlich immer ein wenig Ennui in seiner Mine mit sich – in den meisten Rollen schafft er es aber, das produktiv einzusetzen: nicht hier, wo er wirklich nur gelangweilt aussieht. Annie Girardot kämpft gefühlt die ganze Zeit gegen ihre schlecht geschriebene Figur und wirkt, als würde sie im falschen Film spielen. Lino Capolicchio, so wunderbar als Hobbyermittler in Antonio Bidos Venedig-Giallo SOLAMENTE NERO, wandelt wie ein aufgezogenes Stehaufmännchen durch den Film (aber sein gequälter Künstler, der viele Marotten hat, unter anderem eine Hakenkreuzfahne als Decke, ist schon ein sehr weinerliches Klischee). Nur Tony Musante und Florinda Bolkan ließen manchmal ihre Brillanz durchscheinen: wer beide aber in einer wirklich spektakulären, symbiotischen Chemie zusammen spielen sehen möchte, sollte lieber das wunderbare Venedig-Melodrama ANONIMO VENEZIANO mit den beiden als Protagonisten schauen.
Die Sichtungsumstände waren natürlich dem Film auch nicht sehr wohlgesonnen: die Kopie war mechanisch sehr mitgenommen (weil als Hit wohl extrem oft gespielt) und ein ziemliches Inferno aus Klebestellen und Fehlstellen. Die Live-Untertitelung hatte deshalb kaum eine Chance, über längere Zeit synchron zu bleiben, zumal angesichts des kaskadenartigen Schwalls an Dialogen: bei Rollenwechseln wurde zwei (oder drei?) Mal pausiert, um wieder Untertitelung und Film synchron zu bringen. Eine besonders dicke und/oder schlecht gemachte Klebestelle brachte dann auch die Kopie zum Stillstand: bei einem Einzelbild stehen geblieben, schmorte die Projektionslampe das stehengebliebene Einzelbild an, und nach der Manier von TWO-LANE BLACKTOP verbrannte ein Teil der Kopie vor unseren Augen – das Bild löste sich auf, und der entstehende Rauch war dabei deutlich auf der Leinwand mitprojiziert (und wirkte finster und bedrohlich). Als Sichtbarmachung von Materialität des Kinos (und ihrer Fragilität) war das ohne Zweifel ein besonderes Erlebnis. Es ist schon ein wenig schade, wenn dieser Vorfall quasi das Beste am Film war. Aber nein, so ganz stimmt das nicht, denn der große Show-Stehler des Films ist Ennio Morricones fantastischer Score, der aus einem wohl nur täuschend einfachen Motiv ein ganzes Gefühlsuniversum aufbaut (hier reinhören). METTI, UNA SERA A CENA war für diese Terza-Ausgabe allerdings auch der Startpunkt für eine ganze Reihe von Filmen, die problematische und krisenhafte Ehen thematisieren.


ab 20:00 Uhr

BUIO OMEGA (dt. Verleihtitel: "Sado – Stoß das Tor zur Hölle auf")
Regie: Joe D'Amato
Italien 1979
93 Minuten, OmU
Es war einmal in den Alpen... Francesco (Kieran Canter) ist unsterblich in seine Verlobte Anna (Cinzia Monreale) verliebt, doch diese ist leider allzu sterblich und erliegt einer akuten Erkrankung – möglicherweise von Francescos besitzergreifenden Haushälterin Iris (Franca Stoppi) mit der beauftragten Voodoo-Hexerei einer lokalen Hexe ausgelöst. Der leidenschaftliche Tierpräparator wendet seine Kenntnisse der Leichenkonservierung auf seine ausgegrabene Geliebte an. Doch allzuviele Menschen wollen das selige Liebesglück zwischen ihn und Anna stören und müssen deshalb ins Jenseits befördert werden...

Liebe bis zum Tod – und auch danach: Francesco rettet seine tote Geliebte aus dem Friedhof

BUIO OMEGA ist ein berühmt-berüchtigtes Artefakt der Zensurgeschichte, vielfach zensiert, verstümmelt, verboten, beschlagnahmt. Gegner sehen ihn als schlechten B-Movie-Splatter-Schund, die lautstärksten Befürworter hingegen waren hingegen jahrelang die Gorebauer-Fraktion.
Seine "Freigabe" aus dem Kerker der deutschen Video-Nasties (die Indizierung wurde im Frühjahr 2023 aufgehoben) bietet nun die Möglichkeit, sich etwas unaufgeregter diesem Stück Kino- und Zensurgeschichte zu nähern. Das Terza Visione war der ideale Rahmen, um BUIO OMEGA als das zu entdecken (für viele im Publikum auch: wieder entdecken), was er wohl im Grunde immer war: ein kleines Meisterwerk, gleichzeitig derangiert-abseitiger Horrorfilm und dunkelromantisch-morbider Liebesfilm.
Die wunderbare, längere Einführung von Terza-Co-Organisator Sven und Joe-D'Amato-Spezialist Arthur war für D'Amato-Junioren und Buio-Jungfrauen wie mich wahrscheinlich ebenso erhellend wie für größere Kenner des Films und seines Regisseurs und Kameramanns. Sven erhellte die Ursprünge des Stoffs im traditionellen Gothic-Horror und in der filmischen Vorlage IL TERZO OCCHIO mit Franco Nero, geschrieben und inszeniert von Mino Guerrini (dessen Remake BUIO OMEGA ist). Arthur verwies auf die vielfältigen Motive und Themen des Films: auf seine Qualitäten als emotional ergreifender Liebesfilm über eine bislang nicht "konsumierte" Liebe, auf seine Andeutungen von Klassenkampf, auf die Versuche des Protagonisten nicht im engeren Sinne nekrophil tätig zu werden sondern andere Personen als "Proxys" für den (ersten!) Sex mit der geliebten Anna zu benutzen, auf die "dynastische" Dimension der Geschichte im Rahmen eines Adeligenhauses, auf die Bedeutung der vielen im ganzen Haus verteilten ausgestopften Tiere, von denen zwei als "nicht-heimisch" hervorstechen, auf die eigensinnige Erzählstruktur, die den Zuschauer immer mehr dazu auffordert, Leerstellen selbst zu befüllen. Und was ich persönlich sehr hilfreich fand: der Hinweis, auf das Medaillon zu achten, das als einer von mehreren roten Fäden sich durch die Hälfte des Films zieht.
Sven und Arthur wiesen darauf hin, dass BUIO OMEGA ein untypischer Horrorfilm sei. Wahrscheinlich ist es eh richtiger, von einem Hybrid aus Horror-Schocker, schwelgerisch-verträumtem, zärtlichem Liebesfilm, schwarzer Komödie, absurder Groteske, rohem Sleaze, Essay über Adel und Dekadenz sowie berauschendem Melodrama zu sprechen. Das Herausragende dürfte wohl darin liegen, dass alle Elemente funktionieren. Wenn Francesco riesige Säureflaschen ("Salzsäure" und "Schwefelsäure" deutsch beschriftet) wie Penisverlängerungen vor sich haltend in die Badewanne schüttet, während Iris daneben die Leiche der unglücklichen Autostopperin in Stücke hackt, dann ist das in seiner schieren ekligen Bestialität so unfassbar wie grotesk. Wenn die Leichenrestepampe dann im Gartenloch verbuddelt ist und Iris in der Küche dann erst mal zwei Suppenteller aus dem Regal holt, zeigt sich BUIO OMEGA von seiner schwarzhumorigsten Seite (nach getaner Arbeit erst mal gut futtern!) – ein Lacher ging durch den Saal, der gleich im Halse erwürgt wurde, als dann Iris den liebevoll zubereiteten Gulasch auf eine so viehische Weise verschlingt, dass selbst Bud Spencer und Terence Hill im Vergleich wie feine Pinkel wirken. Auch das feierliche Verlobungsdinner mit den offenbar schwer inzestgestörten Familiengästen (einer nimmt sein Gebiss raus und säubert es mit dem Taschentuch) ist von einer Komik und einer wilden Bissigkeit, die Buñuels Bourgeoisie-Satiren hinter sich lässt. Daneben gibt es immer wieder die Momente, in denen Francesco in schwelgerischer Liebe selbstvergessen mit seiner (toten) Anna verbringt: liebevolle Blicke, kleine Gesten der Zärtlichkeit (ein schönes Detail: Iris, als sie der frisch verstorbenen Anna noch wohlgesonnen ist, lackiert ihr die Fingernägel). Irgendwo dazwischen Francesco, der sich von Iris in einem Moment verzweifelter Trauer die Brust geben lässt (ein Motiv, das auch in D'Amatos IL PIACERE wiederkehren würde) oder der zur rasenden Bestie geworden der Autostopperin anfängt, einzeln die Fingernägel auszureissen. Paradox eigentlich: D'Amato-typisch schreitet der Film in einem meditativen, kontemplativen Rhythmus vor sich hin – und ist doch auch eine wilde Achterbahn der Gefühle.
Dass BUIO OMEGA sich mit Filmen wie L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE? den Kameramann teilt, sieht man ihm auch an: er ist elegant fotografiert, in vielen Szenen hat er fast was von Postkartenmotiven – die idyllische südtirolische Berglandschaft voller satter Grüns, malerischer Panoramen, pittoresker Waldflecken und schmucken Häusern reibt sich wunderbar an den unfassbaren Vorgängen. BUIO OMEGA ist auch ein Film, der die Wirkmächtigkeit des Kuleschow-Effekts mithilfe einer toten Figur aufzeigt: während Anna im mütterlichen Bett regungslos liegt (sie ist ja schließlich tot!), macht sich Iris an Francesco ran und holt ihm einen runter, während Francesco eher von Annas Präsenz als von Iris Tätigkeiten wirklich angeregt wird; eine Montage von Anna, dann Francesco, der einen Orgasmus bekommt und dann wieder Anna lässt die Zuschauer glauben, dass die verblichene Geliebte von Francescos Höhepunkt zu einem seligen Lächeln gebracht wird. Pure Kinomagie.


ab 22:45 Uhr

EVA MAN
Regie: Antonio D'Agostino
Italien/Spanien 1980
78 Minuten, OmU
Eva (Eva Robin's) ist sowohl Frau als Mann – und daher die ideale Testperson für Professor Popovs (Ramón Centenero) neu konzipierten "Sexmaker", der das Lustempfinden auf Knopfdruck steigern kann. Doch auch üble Gangster haben es auf die Maschine abgesehen und wollen Eva entführen. Mit der Kampfbereitschaft Evas und ihrer wackeren Freundin Ajita (Ajita Wilson) haben die Böswatze allerdings nicht gerechnet!

Ajita und Eva beschützen gemeinsam den Sexmaker

Trans-Personen, die im italienischen Genre-Kino der 1970er Jahre marginalisiert waren (und eigentlich auch im internationalen Kino sämtlicher Couleurs), bekommen in EVA MAN eine liebevolle Bühne als zentrale Protagonistinnen, als positive Heldinnen, als charismatische Ikonen, als durchschnittlichen Sterblichen bei weitem überlegene Sex-Göttinnen.
EVA MAN ist ob seines niedrigen Budgets ein durchaus rumpeliger Film: im Gegensatz zu Eva, die sowohl als Frau wie auch als Mann bestens performt, funktioniert er nicht in all seinen Facetten. Der Versuch, einen SciFi-geprägten Thriller mit Gangster-Subplot zu erzählen, geht ziemlich gehörig in die Hose, denn für Spannung und Action und auch für solides narratives Erzählen hatte Antonio D'Agostino offenbar überhaupt kein Händchen. Da trübt der Film in teils sehr steifen Szenen mit Expositionsdialogen zum Füßeeinschlafen vor sich hin, und ein Portrait von Sigmund Freud an der Wand im Büro als Marker dafür, dass Professor Popov wirklich ein Wissenschaftler ist, versprüht zwar einen netten Charme, vermag den stocksteifen Erzählstil aber nicht wirklich zu kaschieren.
Als relaxter Sexfilm, als entspannter Abhängfilm und als filmische Bühne für die Style- und Sexikonen Eva Robin's und Ajita Wilson ist EVA MAN absolut großartig. Wenn beide in Zeitlupe, begleitet von einem loungigen Score des ehemaligen Morricone-Gitarristen und -Pfeifers Alessandro Allessandroni händchenhaltend und halbnackt durch einen mediterranen Garten Freudesprünge machen und dann in den Pool tauchen, um dort minutenlang voller Lebensfreude herumzutollen und zu planschen, dann ist der Film ganz bei sich.
Als Exploitationfilm ist EVA MAN von Didaktik und Thesenkino natürlich meilenweit entfernt und trotzdem hat er auch etwas Utopisches: die Art und Weise, wie er das (nicht nur) sexuelle Charisma seiner beiden Trans-Hauptdarstellerinnen feiert, so völlig unverkrampft und ohne jegliche thematische Schwere, dürfte zu dieser Zeit recht einzigartig gewesen sein. Die, die hier bloßgestellt und lächerlich gemacht werden, sind die transphoben Gangster und Handlanger. Der "Fiancé" Evas macht irgendwann nach zwei Dritteln der Laufzeit die Entdeckung, dass seine Geliebte einen Penis hat und von dem Dreier, den Ajita und Eva ihm vorschlagen, schreckt er zunächst zurück. "Kümmer du dich doch um die weiblichen Teile, dann kümmere ich mich um die männlichen" schlägt Ajita sinngemäß vor – und der "Fiancé" legt sein Zurückschrecken ab und gibt sich dann mit Eva und Ajita dem sinnlichsten und schönsten Sex im ganzen Film hin.


Freitag, 21. Juli 2023


ab 12:30 Uhr

LA CONTROFIGURA (wörtl. "Der Stellvertreter", "Der Double", dt. Verleihtitel: "Liebe ist wie ein Sturm")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1971
89 Minuten, dF
Bei einem Urlaub in Nordafrika wollen sich Giovanni (Jean Sorel) und Lucia (Ewa Aulin) eigentlich entspannen. Doch der Architekt wird immer wieder von Eifersuchtsanfällen geplagt, wenn der hübsche Amerikaner Eddie (Sergio Doria) sich zu sehr in der Nähe befindet. Kurze Ruhepausen von seiner Eifersucht findet Giovanni in einer gewaltsamen Affäre mit Lucias Mutter Nora (Lucia Bosé). Zeichen eines drohenden, tödlichen Unheils kündigen sich an und verstärken sich nach der Rückkehr nach Rom.
Giallo ist eben auch viel mehr als Serienkiller mit schwarzen Lederhandschuhen – wie der herausragende LA CONTROFIGURA demonstrierte. Der Prolog* – Jean Sorel fährt in eine Garage, wird von einem Mann angeschossen, fällt in Zeitlupe um und beginnt sich zu erinnern – schafft eine erwartungsvolle Grundstimmung, aber besonders im ersten Drittel ist der Film vor allem erst einmal ein Ehekrisen-Drama, ausgetragen von Jean Sorel und Ewa Aulin an einem malerischen und einsamen marokkanischen Badestrand. Er, Giovanni, ist vor allem ein Arschloch, der seiner Frau die ganze Zeit versucht einzureden, dass sie dumm sei, sie, Lucia, vor allem eine Frau, die offenbar Mühe hat, ihren Urlaub in Präsenz eines solchen Mannes zu genießen (verständlicherweise). Taucht auf: ein mysteriöser und sehr attraktiver fremder Mann am Strand; eine anderes Ehepaar (Silvano Tranquilli und die wunderbare Marilù Tolo); und Lucias Mutter (Lucia Bosé). Das bringt nicht nur Jean Sorels Hormonhaushalt durcheinander (und offenbart seine rapey Tendenzen), sondern zersplittert auch den Film rasch in ein großes Puzzle aus Erinnerungs- und Fantasie-Fragmenten, das sich weder für chronologische oder geografische Kontinuität interessiert noch dafür, ob es sich um Realität, Erinnerung, paranoide Einbildung oder Wunschfantasie handelt.
Im Grunde genommen also etwa das, was METTI, UNA SERA A CENA auch macht, bloß als "richtiger" Genrefilm mit mehr nackter Haut, mehr Sex-Szenen und mehr blutiger und tödlicher Gewalt – und vor allem wesentlich virtuoser und fesselnder inszeniert. All das zusammengehalten von Armando Trovajolis wunderbarem Score, der im Gegensatz zu Morricones in METTI, UNA SERA A CENA nicht nur wunderschön ist, sondern auch dramaturgisch gekonnt eingesetzt: Trovajoli arbeitet mit einer Palette, die wunderschöne Lounge-Musik am Rand des Kitsches und verstörende Dissonanzen umfasst – beide Atmosphären kommen stellenweise gleichzeitig zum Zuge, um die unter der Idylle der nordafrikanischen Sonne lauernden Abgründe zu illustrieren. Jederzeit kann die Stimmung umkippen, genauso wie dissonante Klavierakkorde den sanft einlullende Lounge-Klangteppich "beschmutzen".
LA CONTROFIGURA dürfte wesentlich komplexer erzählt sein als METTI, UNA SERA A CENA, ohne dabei verkopft-bleiern zu wirken. Die Vorführung beim Terza hielt allerdings eine besondere Überraschung bereit: die letzten zwei Akte wurden vertauscht angeliefert und abgespielt, die puzzle-artige Struktur des Films wurde noch weiter aufgebrochen und durcheinander geworfen mit wohl einigen interessanten Effekten. Ein industrieller Ofen in einer Ziegelei wurde so sofort zum makabren Ort der Entsorgung einer Leiche – und war später "wieder" harmlos und doch "aufgeladen" bei der "normalen" Tagestätigkeit zu sehen (während in der richtigen Reihenfolge der Ofen zunächst als "trivialer" Produktionsort präsentiert wird, der später "produktiv" zur Leichenentsorgung verwendet wird). Eine oder zwei Sequenzen waren nun noch weniger klar als "Realität" oder "Fantasie" auszumachen. Der erste Aktwechsel führte ohne jegliche Exposition die Figuren Tranquillis und Tolos ein, so dass nicht nur ich, sondern viele andere Zuschauer das Gefühl hatten, hier bereits einen Akttausch schon erlebt zu haben – während der "wirkliche" Akttausch für mich und für viele andere zunächst unbemerkt blieb und erst aufgedeckt wurde, als dem "gefühlten" Ende des Films (rein visuell, ohne die Musikbegleitung, nur als kurze Schwarzblende ohne "Ende"-Einblendung oder Credits bemerkbar) mehr Film folgte.
*Interessantes Detail: die gezeigte deutsche Kopie enthielt im Vorspann nur den deutschen Titel des Films "Liebe ist wie ein Sturm", sämtliche Credits fehlten komplett. Es scheint so, als hätte man im Kopierwerk vergessen, die deutschen Credits einzufügen, was dazu führte, dass wir eine etwa dreiminütige, ungeschnittene Einstellung auf die Motorhaube eines fahrenden dunkelblauen Citroën DS sahen, mit zahlreichen Spiegelungen vorbeirauschender Gebäude auf der Motorhaube und mit Armando Trovajolis meisterhafter Musik untermalt.


ab 16:00 Uhr

UN AMORE (wörtlich: "Eine Liebe", dt. Verleihtitel: "Junge Haut")
Regie: Gianni Vernuccio
Italien/Frankreich 1965
95 Minuten, OmU
Antonio (Rossano Brazzi), ein wohlhabender Architekt, der auch jenseits seines 40. Geburtstags noch bei Mutti lebt, verliebt sich in die Tanzschülerin Laïde (Agnès Spaak), die er über ein... Institut zur Anbahnung von Bekanntschaften kennenlernt. Als Antonio mehr als nur eine Gelegenheitsbekanntschaft will, wird es kompliziert, denn Laïde scheint mehr als nur einen Verehrer zu haben.

Laïde und Antonio: kein Traumpaar

 
UN AMORE ist eine Variation des Themas "Junge Frau verführt reiferen Mann in die Narrerei". Ich muss zugeben, dass mich der Film ein bisschen kalt gelassen hat. Das Terza Visione ist aber zum Glück auch ein Ort des vielseitigen Austauschs und beim anschließenden Gespräch am geselligen Abendessentisch eines Frankfurter Apfelwein-Restaurants erläuterte ein Co-Zuschauer in sehr schlüssigen Argumenten, warum er den Film so toll fand:
Zunächst war da einmal die Stärke, dass der Film seinen Figuren viel Raum zu Ambivalenzen lässt, wenig Schwarzweiß und dafür viele Grauschattierungen lässt: UN AMORE ist kein Film über ein Flittchen, das einen armen alten Herrn ins Verderben führt noch ein Film über einen alten Wüstling, der ein unschuldiges Mädchen verführt – beide durchleben eine Dynamik von Situationen, die für beide Unangenehmes beinhaltet. Es ist auch ein Film, der letztendlich nicht an eindeutigen Klärungen interessiert ist: wieviel von dem, was Laïde Antonio auftischt, wirklich wahr oder erlogen ist, interessiert ihn weniger als tatsächlich das fragile Gefüge ihrer Beziehung, und wie beide FIguren mit der Situation umgehen. Dabei hat UN AMORE besonders ein Talent für Situationen der "social akwardness": die Silvesterfeier im Dreier mit Laïde, ihrem "Cousin" Marcello (Gérard Blain) und ihrem "Onkel" Antonio nimmt in ihrer Schmerzhaftigkeit fast schon Züge eines schwarzen Horrorfilms an.
Dann ist UN AMORE auch ein wirklich toll fotografierter Film. Besonders hervorstechend sind Visionen und Träume Antonios, bei denen Figuren durch ein komplett mit weißem Licht durchflutetes Nichts wandeln und Gegenstände (etwa die Armlehne eines Stuhls) nur sichtbar werden, wenn sich Antonio im dunklen Anzug davor platziert.
UN AMORE ist auch ein Film der vielen kleinen Ideen – und hier etwas, was ich schon während des Films super fand: Laïde lässt Antonio für ein Mittagessen einfach stehen, und übergibt ihren kleinen Schoßhund in seine Obhut, damit sie sich mit ihrem "Cousin" Marcello vergnügen kann. Antonio ist also versetzt worden für das Mittagessen. Dann halt eben Mittagessen mit dem Hund So sitzt er dann auch einsam in einem Restaurant, auf einem Stuhl neben ihm das Schoßhündchen. Ein extravagant großes Steak wird vom Kellner auf einem mobilen Grill fertig gebraten: Antonio gönnt sich offenbar was Schönes. Das Steak wird auf ein Teller gehievt, und das Ganze dann dem Schosshündchen vor die Nase platziert. Der Hund ist mit dem Stück Fleisch, das etwa zwei mal so breit ist wie er selbst, sichtlich überfordert.


ab 20:00 Uhr

PIZZA CONNECTION
Regie: Damiano Damiani
Italien 1985
116 Minuten, dF
Der Mafia-Hitman Mario (Michele Placido), der als Tarnung einen Pizzaladen in New York führt, bekommt den Auftrag, in der alten Heimat, in Palermo, einen Staatsanwalt zu ermorden. Dort versucht er, seinen jüngeren Bruder Michele (Mark Chase) für seinen Attentatsplan zu rekrutieren.

Brüder und Rivalen beim Männlichkeitstest: wird Michele auf das Pony schießen?

 

Nachdem ich mit UN AMORE nicht so ganz warm geworden bin, hielt sich meine Begeisterung bei PIZZA CONNECTION leider noch etwas mehr in Grenzen. Allerdings bin ich generell eher nicht ein guter Ansprechpartner, wenn es um italienische Polizei- und Mafiafilme der 1970er geht, die Subgenres des italienischen Genrekinos, mit denen ich wahrscheinlich im Allgemeinen am wenigsten anfangen kann (auch wenn ich wohl gerade die sehr "extremen" Vertreter goutiere: sei es Deodatos UOMINI SI NASCE POLIZIOTTI SI MUORE, Fulcis LUCA IL CONTRABBANDIERE oder Bianchis QUELLI CHE CONTANO).
PIZZA CONNECTION hat sich für mich wie ein wenig gelungener Hybrid aus melodramatischem Familien-Drama und ultratrockenem Mafia-Procedural angefühlt. Angereichert mit einigen rohen Sleaze-Spitzen (der Subplot um die Zwangsprostitution von Micheles Teenager-Liebe durch ihre drogenverseuchte Familie) für den Melo-Teil und sehr arm an Action-Attraktionen für den Procedural-Teil (um nicht zu sagen, dass da teilweise sogar durch Ellipsen bewußt alle Thrills abgeblockt werden). Beide Hauptfiguren haben mich auch eher kalt gelassen.
Sehr bizarr: der Prolog und der Epilog spielen beide in New York City. Und beide dürften wohl meine liebsten Teile des Films sein, vielleicht, weil beide Teile für sich kleine geschlossene Perlen des Spannungskinos sind, mit jeweils einem Auftragsmord, der langsam vor unseren Augen vorbereitet und durchgeführt wird.


ab 22:45 Uhr

STRIDULUM (US: THE VISITOR, dt. Verleihtitel: "Die Außerirdischen")
Regie: Giulio Paradisi
Italien/USA 1979
101 Minuten, EF
Das Böse from outer space versucht, die Erde zu knechten. Barbara (Joanne Nail) kann das Böse vererben, ohne selbst böse zu sein, und deshalb soll Raymond (Lance Henriksen), deren Lebensgefährte, Manager eines Basketball-Teams und Henchman des irdischen Stakeholders (Mel Ferrer) der außerirdischen Macht, mit ihr den Antichristen zeugen. Dieser soll zusammen mit seiner bereits achtjährigen großen Schwester Katy (Paige Conner), einem echten Satansbraten vor dem Herren, das auf Geburtstagsfeiern schon für makabre "Unfälle" sorgt, das Böse in der Welt verbreiten. Doch Jerzy Colsowicz (John Huston), der nicht aus Warschau oder Krakau kommt, sondern von den außerirdischen Absolut-Guten, steigt auf die Erde hinab, um gegen das Böse zu kämpfen, unter anderem mit der Unterstützung von Barbaras Haushälterin (Shelley Winters).

Katy: Süßes Gesicht, mörderische Absichten

 
Ein sehr bizarrer Cocktail aus Star-Power (John Huston, Mel Ferrer, Lance Henriksen, Shelley Winters, Glenn Ford, Sam Peckinpah, Franco Nero), Rip-Off-Elementen (THE EXORCIST, THE OMEN, ROSEMARY'S BABY, CARRIE, THE FURY, CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND und Strukturelemente der Polit-Paranoia-Thriller der 1970er Jahre stecken drin), einem faszinierend teurem Look (in dem Film steckte wohl viel mehr Geld drin als bei den meisten anderen Filmen dieses Terzas), völlig wahnsinnigen Ideen (u. a. Franco Nero als Jesus-Double from outer space mit einer knallgelben Wikinger-Damenperücke) und einer kompletten Ungerührtheit dabei – ja, das mögen vielleicht etwas zu viele Zutaten sein, damit das wirklich rund wird, aber faszinierend war STRIDULUM doch auf jeden Fall.
Die wirklich hart verstrahlten Elemente konzentrieren sich vornehmlich auf den Prolog. John Huston als eine Art Gottfigur beschwört Wolken in einer Art Outer-Space-Wüstenlandschaft und erzählt dann einer Gruppe von glatzköpfigen Kindern in weißen Uniformen (sie sollen "gut" sein, sehen aber eher wie eine Gruppe von gehirngewaschenen potentiellen Selbstmord-Attentätern aus) eine komplizierte Geschichte über den Kampf zwischen Gut und Böse, die wohl nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch niemand sonst im Saal im Detail verstanden hat, weil sie so verschlungen-verzweigt und mit unzähligen Namen vollgestopft war. Das darauffolgende Basketballspiel, bei dem Barbara und Katy sowie Raymond eingeführt werden, ist da wieder etwas weltlicher und baut sehr geschickt eine sehr ominöse Spannung auf: dass Katy das vorher von Huston beschworene Böse ist, wird an ihrem Blick klar. Die Auflösung, der Twist der Szene allerdings ist wieder... bizarr? Mel Ferrer wird dann später als weltlicher Vertreter des intergalaktischen Bösen präsentiert – als Vorsitzender einer Gruppe ominöser Geschäftsmänner, die Lance Henriksen in einem riesigen, prunkvoll-pompösen Verschwörungsgruppen-Saal erwarten und von ihm fordern, endlich Barbara zu begatten, damit das Böse sich potenzieren kann.
"Ripoffs" haben oft den Vorteil, dass sie ihren Stoff komplett verdichten können, bis es anfängt zu krachen. Das würde es am übernächsten Tag bei LADY TERMINATOR zu sehen geben, wo die Südseekönigin auf Rachefeldzug jeglichem Terminator das Fürchten lehren sollte und auch hier ist es so: Paige Conners Katy lässt Damien aus THE OMEN (oder auch die bereits besessene Regan aus THE EXORCIST) im direkten Vergleich wie ein süßes kleines Kind wirken, dem man den Kopf tätscheln und einen Keks in die Hand drücken möchte. STRIDULUM ist Terrorkinder-Kino der Extraklasse und das ist vielleicht der klarste rote Faden des Films. Katy sagt nicht nur zu Polizisten (gespielt von Glenn Ford) liebreizende Sätze wie "Go fuck yourself", schlägt nicht nur ihrer Mutter vor, "mit Raymond Liebe [zu] machen, damit ich bald einen kleinen Bruder bekomme" (und schleicht sich dafür zu später Stunde an das mütterliche Bett), sondern schlägt auch ganz alleine eine Bande von Halbstarken auf einer Mall-Schlittschuhbahn, lässt einige von ihnen gar durch die Fenster nahe gelegener Restaurants krachen.
Es gibt etwa 15 bis 20 Minuten vor Ende die vielleicht merkwürdigste Szene im ganzen Film, ganz ohne extravagante Dekors und total verrückten Ideen: es ist einfach nur ein etwas längerer Dialog zwischen John Huston und Shelley Winters. Hier kommt raus, dass die Haushälterin offenbar durchaus irgendwie mit den Kräften des Guten verbündet ist. Ein etwas überraschender Twist, aber das ist es nicht: der Dialog zwischen Huston und Winter ist von einer fast jenseitigen Zärtlichkeit, eine elektrisierende Chemie ist spürbar, als würden sich hier zwei austauschen, die schon seit Jahrzehnten intim sind. Sie sprechen ziemliche Banalitäten, die irgendwie von Abschied handeln, aber durch die Präsenz und das Mimenspiel der beiden Darsteller wird hier fast eine Art romantischer Sub-Liebesfilm innerhalb des Films angedeutet. Andere Co-Zuschauer sahen darin sogar ein Verhandeln von Altern im Hollywood-Starsystem. Wie dem auch sei: auf eine eigensinnige Weise war diese nur scheinbar banale Szene wohl der magischste Moment von STRIDULUM.


Samstag, 22. Juli 2023


ab 14:00 Uhr

LA CORONA DI FERRO ("Die eiserne Krone")
Regie: Alessandro Blasetti
Italien 1941
109 Minuten, OmU
Der mittelalterliche Tyrann Sedemondo (Gino Cervi) versucht nach seinem Putsch die Territorien zu konsolidieren und muss dabei sowohl eine legendäre Krone wie auch seinen eigenen kleinen Sohn in eine weit entfernte Todesschlucht verbannen. Die Krone ist tief versunken und der kleine Junge totgeblaubt – doch dieser kehrt 20 Jahre später als junger Mann (Massimo Girotti) zurück, um an einem Tournier zur Verlosung der Hand von Sedemondos Tochter teilzunehmen.
LA CORONA DI FERRO wurde vor der "großen" Ära des italienischen Genrekinos produziert, die im Mittelpunkt des Terza Visione steht. Ein Vorläufer des Peplums mit einigen Motiven des Mantel- und Degenfilms und einigen mystisch-mythologischen Fantasy-Elementen – das ganze vornehmlich als Mittelalter-Schlachten-Epos, der seine Entstehungszeit in der faschistischen Ära zwar nicht ganz zu verstecken vermag, andererseits viel Pathos und Pomp durch lockere Verspieltheit, Freude an witzigen Ideen, purem Quatsch und einer Begeisterung für schiere Schauwerte zu vermeiden weiß.
 Skepsis und Freude hielten sich bei mir etwas die Waage. Trotzdem die Erzählung wahrscheinlich nicht sonderlich kompliziert sein sollte, wirkte sie für mich verwirrender als manch ein verschlungener Giallo. Viele Texttafeln (grafisch schön aufbereitet als aufgeklapptes Buch, um die märchenhafte Stimmung zu betonen) arbeiteten manchmal sehr oberflächlich, manchmal überakribisch detailliert Exposition ab. Die Dramaturgie des Films navigierte sehr brüsk zwischen harten Ellipsen und vielen Szenen, die mühsam (aber nicht immer schlüssig) eine Brücke zwischen verschiedenen Sinneinheiten bilden sollten. Kurz: ich hatte große Mühe, der Geschichte zu folgen – dadurch aber auch viel Muße, um mich an den vielen schönen Setpieces zu erfreuen. LA CORONA DI FERRO war schon ein "Blockbuster", ein Prestige-Projekt der Zeit und das viele Geld, das in diesen teuren Film gesteckt wurde, sieht man ihm auch durchaus an: opulente, detailreiche, glitzernd-verführerische Set-Designs, denen dem Ton des Films entsprechend weniger daran gelegen ist, ein "realistisches" Bild des Mittelalters zu zeichnen als viel mehr eine kleine Traumwelt zu erschaffen.
Auf der Schauspielerseite auch ein wenig Ambivalenz. Einerseits fand ich den Haupthelden, Arminio, gespielt von Massimo Girotti, eine ziemlich nervtötende Figur und auch die Königin eher blass gespielt von Elisa Cegani. Aber das macht nichts, wenn dafür Gino Cervi (bekannt als Peppone aus den französisch-italienischen Don-Camillo-Filmen mit Fernandel) den König Sedemondo als ruppig-rabiaten und unkultivierten Raufbold spielt, der ständig seine Umgebung mit der Beschimpfung "bestià" bedachte (beispielsweise seine Dienerschaft "Dammi da bere, bestià!" anschnauzend, wenn er zwischendurch jetzt, sofort (!) saufen möchte). Und eine noch bemerkenswertere Darstellung gibt es von Luisa Ferida als militante Kämpferin und "henchwoman" Tundra, die in langen Stiefeln und kurzen Hotpants eine Prise Domina und eine Messerspitze Femme Fatale in ihre Figur bringt. Was für eine wunderbare alternde Grande-Dame hätte sie in der Giallo-Welle der späten 1960er und frühen 1970er werden können, aber sie wurde 1945 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Opfer einer summarischen Hinrichtung durch anti-faschistische Partisanen.


ab 16:30 Uhr

NEROSUBIANCO ("Attraction")
Regie: Tinto Brass
Italien 1969
76 Minuten, dF
Barbara (Anita Sanders) wird am Hyde-Park von ihrem Ehemann Paolo aus dem Auto gelassen. Während er noch Geschäfte machen muss, wird ihr Spaziergang durch Swinging London zu einem wilden Trip zwischen Sex, Pop und Politik.

Ein kurzes Cameo des Regisseurs: Tinto Brass als Gynäkologe

 
Mit NEROSUBIANCO feierte das Terza in seiner neunten Ausgabe seine Tinto-Brass-Premiere, und zwar nicht mit einem seiner erotischen Werke der mittleren oder späten Phase, sondern mit einem Film aus seiner frühen Phase, als er noch der experimentellen, avantgardistischen Seite des europäischen Neue-Welle-Kinos nahe stand. Ein Grenzgänger-Film also am Rande dessen, was man noch Genre-Kino (ja gar narratives Kino) nennen kann, eine knapp 80-minütige "Psychedelic Pop Art Experience", wie ein Filmplakat versprach. Ein Film, der wohl leider bei einem großen Teil des Terza-Publikums durchfiel.
Eine gewisse Neigung für Experimentalfilm dürfte wohl nicht schaden, um NEROSUBIANCO zu goutieren. Es ist ein harter, wilder und mit schwindelerregender Intensität geschnittener Ritt durch Swinging London, durch Popart- und Comic-Bilder, durch krieseliges Dokumentar-Found-Footage, begleitet von einem kakophonischen Sound-Design und tranceartige Voiceovers, die ab und zu Platz machen für Song-Einlagen der Band Freedom.
NEROSUBIANCO ist wie gesagt am Rande dessen, was man noch narrativer Film nennen kann, aber Spuren von roten Fäden gibt es dennoch. So steckt auch (schon wieder!) ein Ehekrisen-Drama in diesem Film: Barbaras Ehe mit Paolo ist offenbar erkaltet, nicht unbedingt in abgründige Untiefen als vielmehr in gelangweilte Routine gefangen. Der Spaziergang durch Swinging London bietet ihr die Möglichkeit, mal abseits ihrer Routine nach Eindrücken und Inspirationen zu suchen.
NEROSUBIANCO ist tatsächlich eher eine "Experience" als ein "normaler" Film. Ich bin gerne mit Barbara durch Swinging London gebummelt und habe mich gerne von dem Bilder- und Sound-Strom mitreissen lassen, besonders auf einer großen Kinoleinwand. An vieles kann ich mich schon nicht mehr genau erinnern, dafür ist der Film auch viel zu voll und dicht, aber das ist okay. Wenn Godard sich etwas mehr für nackte Haut, Sex und Erotik interessiert hätte und ein bisschen mehr Spaß und Jux in ihm gesteckt hätte, dann hätten manche seiner Filme vielleicht so aussehen können wie NEROSUBIANCO.


ab 20:00 Uhr

BLINDMAN ("Blindman, der Vollstrecker")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien/USA 1971
102 Minuten, dF
Ein blinder Revolverheld (Tony Anthony) ist hinter einer Gruppe von 50 "Mail Order Brides" her, die er zu ihrer Bestimmung eskortieren muss und die ihm von mexikanischen Militärs und amerikanischen Banditen abgeknüpft wurde.

Auch ohne Augenlicht schlägt sich der Revolverheld gegen Banditen und Militärs

 
Wie einst PER UN PUGNO DI DOLLARI sich vor dem japanischen Kino verbeugte (wobei das japanische Vorbild selbst von Dashiell Hammett inspiriert wurde), so transponierte BLINDMAN nun die Figur des blinden Samurais in den wilden Westen. So wie mein Verhältnis zu Leones erstem Western 2017 (kurz vor meinem ersten Terza) erkaltete, konnte ich mich für BLINDMAN leider nicht wirklich erwärmen. Die Titelfigur hat mich weitestgehend kalt gelassen: ob es an der Art, wie die Figur geschrieben war (über weite Strecken scheint der Film mit seiner Blindheit nichts anzufangen) oder am Darsteller (und Co-Produzent und Co-Autor) Tony Anthony selbst lag, der für mich merkwürdig blutleer wirkte – ich bin mir unschlüssig. Auch die Erzählweise des Films, die sich für mich ein bisschen zu sehr wie "Und dann passiert das, und dann das, und dann das, und dann das..." anfühlte, hat mich nicht wirklich mitgerissen. Ist der ganze Film zu zynisch-ironisch-distanziert und hat mich deshalb kaum involviert? Die Mail-Order-Brides schienen mir fast vollkommen belanglos in der Erzählung zu sein, wie ein Element, das halt so im Drehbuch steht – ebenso gut hätte es auch eine Viehherde oder irgendein seltenes Gewehr oder ein Goldschatz sein können. Oder für den Hofbauer-Kongress-Stammgast: das hätte auch eine zünftige Geschichte über Zwangsprostitution im sleazigen Wilden Westen (statt in einer europäischen Großstadt im sleazigen Noir-Ambiente) sein können, aber dann halt nicht (und wozu dazu den blinden Revolverhelden)... Und Ringo Starr als Bruder des Hauptbösewichten scheint mir auch leicht verschenkt.
Nun, irgendwie nicht mein Film, auch wenn das eher Jammern auf hohem Niveau ist: er plätscherte nett vor sich hin. Es gibt jedoch ein kleines Detail, das ich gerne besonders hervorheben möchte. Von dem Gebrüder-Duo der Bösewichte wird knapp nach der Hälfte einer von Blindman getötet. Als der Bruder zusammen mit seinen Schergen die Leiche entdeckt, folgt keine formelhafte Beschwörung von Rache, sondern ein emotionaler Moment der Trauer. Ein Mann hat hier seinen Bruder gewaltsam verloren, ist davon sichtlich gerührt und diese Rührung überträgt sich auch auf seine Schergen und auf die Zuschauer: für eine kurze Zeit steht der Film hier still und räumt der Trauer Platz ein. Das wird mir wohl länger im Gedächtnis bleiben als sämtliche Schießereien und Kämpfe und erzählerischen Wendungen und Kniffe.


ab 22:30 Uhr

PROFUMO (dt. Verleihtitel: "Lorenza")
Regie: Giuliana Gamba
Italien 1987
98 Minuten, OmU
Lorenza (Florence Guérin) hat genug davon, von ihrem allumfassend besitzergreifenden Ehemann Guido (Luciano Bartoli) sexuell erniedrigt und terrorisiert zu werden. Sie flieht und startet ein neues Leben mit dem Gärtner Eddie (Robert Egon Spechtenhauser). Als Guido gewaltsam gegen das frischverliebte Paar vorgeht, täuscht Lorenza ihren Tod vor und heckt einen Racheplan aus, bei dem sie Guido von seinen eigenen Methoden kosten lässt.
PROFUMO war nicht nur für mich eines der großen Highlights des Terza Visione 2023. Mit dem 1980er-Sleaze-Saxofon-Thema (interessante Variation: Altsaxofon statt dem üblichen Tenor-Saxofon – und später davon wieder eine Variation mit Bassklarinette) verführte mich der Film schon, bevor überhaupt das erste Bild zu sehen war und führte uns dann nach den Credits in ein bizarr-groteskes Bordell, bei dem die Grenzen zwischen Kundin / Prostituierte, Security-Angestellter / Freier, Vergewaltigung / Rollenspiel, Körper / Gegenstand ins Strudeln gebracht wurden – ein absolut meisterhafter Prolog, der bereits viele Themen und Motive des Films enthält und in ein... nun, schon wieder, Ehe-Drama führte (und den thematischen roten Faden dieses Terzas seit METTI, UNA SERA A CENA fortspann).
Besonders spannend erscheint mir, wie der Film mit seinen Sets umgeht, man könnte sagen: neureich-dekadenter 80er-Barock, mit Inneneinrichtungen, die allesamt sehr teuer, dabei aber auch erstickend, leblos, leer, seelenlos, minimalistisch um des Minimalismus willen aussehen, hermetisch gegen Tageslicht abgeschirmt, reduziert auf totale Funktionalität (in Guidos riesigem Arbeitszimmer gibt es praktisch nur einen riesigen Schreibtisch mit einem Computer drauf, daneben steht ein Fernrohr, mit dem er die Nachbarn bespannt) oder auf reine Repräsentation (eine Hotel-Lounge mit schweren, erstickenden Teppichen und überteuerten Designer-Möbeln). Lorenza wandelt in ihrem Zuhause und in ihren Hotels durch kalte Landschaften, die sehr gut dem emotionalen Zustand ihrer Ehe entsprechen. Befreiung gibt es hier teilweise am Strandhaus, an dem sie vor ihrem Ehemann entfliehen kann und eine Affäre mit dem tollpatschigen aber süßen Junior-Hausmeister und -Gärtner anfängt, aber wahrscheinlich nur, weil mehr Sonnenlicht zu sehen ist, wenn sie und ihr Toyboy am Strand auf dem nassen Sand Sex haben.
Ich verdanke PROFUMO auch, dass ich in meinem Leben nie wieder eine Dose Coca-Cola mit unschuldigen Augen werde sehen können. Es fängt harmlos an: Lorenza und Edward, am Rand des Pools am Strandhaus, schütteln die Dosen und spritzen sich gegenseitig mit Cola voll, aber die phallische Dose und vor allem ihr Inhalt werden danach von Lorenza auf sehr kreative Weise in ihr Liebesspiel eingebaut. Da kann Christie aus NINJA III: THE DOMINATION ihren V8-Tomatensaft einpacken! Es wird geträufelt und geleckt, dass einem Sehen und Hören vergeht und die Kinnlade runterklappt. Und dann verschwimmen – wie im Prolog angekündigt – wieder die Grenzen und Zehen nehmen die Funktion von Penissen ein...
Motive aus Filmen wie Lucio Fulcis furiosem Melodrama am Rande des selbstzerstörerischen Wahnsinns IL MIELE DEL DIAVOLO, Brian De Palmas Meditation über Voyeurismus und die Inszenierung von Verführung als Performance BODY DOUBLE und Yves Boissets genre- und gender-fluiden Identitäts-Psychogramm LA TRAVESTIE waren für mich bei PROFUMO spürbar: allesamt Filme, die ich letztes Jahr zum ersten Mal gesehen habe, auf unterschiedliche Weisen (aber stets sehr hohem Niveau) für meisterhaft halte und in deren Reihe ich jetzt ohne zu zögern PROFUMO stellen würde. Eine Frau, die von einer latent gewalttätigen Beziehung in die Enge getrieben wird; die performative Inszenierung von Körpern zur Irreleitung sehgieriger Voyeure; das geschlechtsübergreifende Spiel mit verschiedenen Identitäten.
Besonders letzteres führt in der zweiten Hälfte des Films zu schier unglaublichen Momenten, als Lorenza das Geschlecht "wechselt" und sich mit Kurzhaar-Perücke und Maßanzug als Yuppie inszeniert (die Ähnlichkeit mit Nicole aus Boissets LA TRAVESTIE war verblüffend) und Edward mit ein bisschen Makeup und Stöckelschuhen in eine passende "Trophy-Wife" verwandelt wird – und beide ihre Performances zunächst in der Öffentlichkeit ausprobieren, bevor sie dann auch gewalttätigen Sex (Lorenza nimmt Edward hart von hinten) hinter der Gaze des Vorhangs proben, der für Fernrohr-Voyeure das Spektakel verundeutlicht und umso anregender macht.
Die überaus charismatische Florence Guérin legt hier nicht weniger als eine Jahrzehnt-Performance ein und hat weit mehr als ein schönes Äußeres zu bieten. Schade, dass ein Großteil des damaligen (und wohl auch heutigen) Publikums niemals auf die Idee käme, Schauspieltalent in einem kostengünstigen Sexfilm zu sehen. Und wie gut, dass es da eben Terza Visione gibt. Oder kurz: gemeinsam mit BUIO OMEGA war PROFUMO der große, alles überragende Höhepunkt dieses Terzas.


Sonntag, 23. Juli 2023


2022 wurde beim Terza Visione der "internationale Tag" eingeführt: gezeigt wurden Genrefilme nicht-italienischer Produktion. Der Blick "über den Tellerrand" soll die Perspektiven auf das italienische Genrekino erweitern und die transnationalen Verflechtungen des Genrekinos im internationalen Kontext verdeutlichen. Also gewissermaßen den Dialog zwischen Subgenres eines einzelnen Landes erweitern zu einem Dialog des Genrekinos jenseits von Ländergrenzen.
Als Anhänger der Programmierung von italienischen "Grenzgängern" (also Filmen am äußersten Rande dessen, was noch "Genrekino" genannt werden kann) fand ich die Idee schon letztes Jahr sehr schön und gelungen. Dieses Jahr wurde das allerdings sogar noch weiter getoppt, angefangen mit einem "Übergangsfilm", nämlich einer italienischen Bearbeitung der US-amerikanischen Version eines japanischen Films...



ab 12:45 Uhr

GODZILLA
Regie: Luigi Cozzi, Ishiro Honda, Terry Morse
Italien/Japan/USA 1977
97 Minuten, OmU
Am 6. August 1945 wird Hiroshima durch die Atombombe zerstört. Knapp zehn Jahre später ist es ein ungeheuerliches Monster, das Tokyo zerstört. Und der amerikanische Journalist Steve Martin (Raymond Burr) muss das hilflos mit ansehen.

Raymond Burr als ultimative Popart-Ikone des Reaction-Shots

 
GODZILLA, auch als "Cozzilla" bezeichnet (die für den Film geschaffene Produktionsfirma trug tatsächlich diesen Namen), ist ohne Zweifel die bizarrste Entdeckung des diesjährigen Terzas. Luigi Cozzi, großer Liebhaber von US-Monsterfilmen der 1950er Jahre, wollte nach dem großen Erfolg von KING KONG 1976 aus diesem etwas Kapital schlagen und eigentlich "nur" irgendeinen Monsterfilm neu verleihen. Es wurde GODZILLA, doch statt des originalen japanischen Films wurde die US-amerikanische Version genommen, die nachgedrehte Szenen mit Raymond Burr enthielt. Aber ein Schwarzweiß-Film im Jahre 1977 wieder in die Kinos zu bringen, das ging doch nicht – außerdem war der mit 80 Minuten zu kurz. So schnitt Cozzi dokumentarisches Material zu den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki in den Film, dazu noch ein paar Schnipsel aus weiteren japanischen Monsterfilmen und hier und da noch Second-Unit-Material aus anderen Filmen (u. a. aus Frankenheimers THE TRAIN) und in einem umständlichen Verfahren (wohl teilweise mit Einzelframe-Bearbeitungen) wurden mit Gel gefärbte Schablonen genutzt, um aus dem Schwarzweißfilm einen "Farbfilm" zu machen. Und das ganze für den italienischen Markt noch italienisch synchronisiert, zumindest die meisten Szenen – aber nicht alle: einige japanische Dialoge sind unbearbeitet im Film verblieben.
Ein Kommerzprojekt also, das sich vom Erfolg von KING KONG ein schönes Scheibchen abschneiden wollte und die Kolorierung als Prozess mit dem klangvollen Namen "Spectorama 70" vermarktete... und das aus heutiger Sicht eher teilweise wie abstrakte Videoinstallationskunst aussieht. Oder wie das Programmheft beschrieb: wie ein "postmoderner Experimentalfilm".
Luigi Cozzis GODZILLA hat wohl viele Zuschauer im Publikum ganz fürchterlich gelangweilt, und ich kann durchaus verstehen, warum das so ist. Auch die Aussage "Muss ich mir niemals wieder antun" kann ich ein Stück weit nachvollziehen. Mich hat der Film allerdings vollkommen fasziniert. In seiner Einführung erwähnte Sven den Gedankengang, dass GODZILLA in dieser Fassung quasi zu den Ursprüngen des Kinos als Jahrmarktattraktion zurückkehrte. Tatsächlich hatte der Film ein komisches Feeling: teilweise wie ein Artefakt des Ur-Kinos in seinen ersten 20 Jahren; teilweise sehr in seiner Entstehungszeit verankert mit dem Disco-gefärbten Elektroscore (von Vince Tempera und Fabio Frizzi); teilweise wie ein undefinierbares retrofuturistisches Etwas, das unaufhaltsam vor sich hinwaberte und den Zuschauer wahlweise K.O.-mäßig langweilte oder unaufhörlich hypnotisierte.
Die Kolorierung sieht eben nicht aus wie eine Stummfilm-Virage, mit einer einheitlichen Farbe, sondern unterschiedliche Areale des Bilds werden mit gelben, oder grünen, oder blauen, oder magentafarbenen, oder roten Schattierungen eingefärbt, teils einzeln, teils mit drei oder vier Farben gleichzeitig. Das Verfahren führte auch zu einem leichten Schärfeverlust der einzelnen Bilder, machte sie noch etwas weicher. Traumartiger auch: GODZILLA scheint man weniger zu sehen als zu träumen. Auch wenn stellenweise die Einfärbungen dramaturgischen Rahmenbedingungen folgten (ein sagen wir mal teilweise gelblich eingefärbtes Bild wird teilweise in Blau eingetaucht, nachdem eine Figur in einem Raum den Lichtschalter ausknipst) – den größten Teil der Laufzeit tut sie es nicht! Jedes einzelne Bild wird hier zu einem Ereignis gemacht (an dieser Stelle frage ich mich, ob Andy Warhol wohl GODZILLA gemocht hätte) und das machte für mich den Film so spannend: jede nächste Szene, jedes weitere Bild war potentiell eine Überraschung. Verblüffend sind nicht die Bilder mit ihrem Inhalt an sich, sondern eher, dass halbwegs vertraute Bilder mit bekannten Monsterfilmmotiven derartig verfremdet werden (durch die Kolorierung, durch den Score, durch die italienische Synchro), dass etwas komplett Neues entstand, das wesentlich weiter geht als nur elektronische Musik zu einem Stummfilm, sondern vielleicht eher vergleichbar ist mit Bill Morrisons Collagen degradierter alter Filmkopien. Es zählt natürlich für alle Filme, die beim Terza liefen, aber für diesen Film wohl noch mehr: es ist ein Werk, das man definitiv im Kino auf einer guten 35mm-Kopie sehen sollte.
Der Film nimmt durchaus Gesten eines engagierten Plädoyers gegen die Atombombe ein – er tut es mit diskutablen Mitteln, die man je nach Neigung als völlig geschmacklos oder sehr interessant ansehen kann, denn der Prolog zerrt den Subtext des originalen GODZILLA gnadenlos in den Scheinwerfer: eine Einblendung datiert uns auf den 6. August 1945, es folgen dokumentarische Bilder des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, inklusive materiellen Zerstörungen und auch Bildern von Schwerverletzten und Leichen, das ganze mit einem Score untermalt, der hybrid zwischen Disco und Industrial schwankt. Der Begleittext im Programmheft spricht von "Mondo-Qualitäten", in der Einführung zum Film wurde die Lust an Gewalt erwähnt. Im Kontext der 1970er Jahre sprechen wir von einer Zeit, in der Bilder von Hiroshima und Diskurse um Hiroshima eher Teil von Subgruppen (Friedensbewegung) oder von "intellektuelleren" Kunstformen (sagen wir dem Autorenkino) waren, und nicht etwas, was in den Mainstream der Popkultur vorgedrungen war.
Und dazwischen Raymond Burr, in der amerikanischen Fassung von GODZILLA so etwas wie der "kulturell nähere" Erzähler, der wahrscheinlich auch dort schon viel vor sich hin starren musste: hier wird er zu einer Pop-Art-Ikone des Reaction-Shots. (Oder zum Meta-Kommentar über die amerikanische Präsenz in Zeiten der Atombombe und des Kalten Kriegs, wie andere Zuschauer danach meinten). Tokyo wird von einem Monster in kleine Stücke kaputt gehauen und getreten, ein Liebes-Dreieck mit großem Melo-Einschlag entfaltet sich vor seinen Augen zwischen zwei japanischen Männern und einer Frau, aber er kann nur fassungslos da stehen und starren, während gelbe, blaue, magentafarbene Schleier ihm durch das Gesicht flimmern.
Der Film endet mit der mahnend-fragenden Einblendung "Fine?" über einem knallroten Bild. Die Antwort war auf gewisse Weise "ja". Am Ende des Kassensturzes war der Film mittelmäßig erfolgreich in Rom und Mailand: kein Flop, aber auch kein richtiger Hit. Cozzi hat mit GODZILLA ein komplett eigenes Subgenre geschaffen – und dessen (wahrscheinlich) einziger Vertreter. Ruggero Deodatos LA MOGLIE DI FRANKENSTEIN, Lucio Fulcis DEVIAZIONE PER L'INFERNO, Umberto Lenzis LA COSA DA UN ALTRO MONDO, Alberto De Martinos IL PENSIONANTE – das wäre doch was gewesen! Später machte wenigstens Dario Argento IL FANTASMA DELL'OPERA, aber der war "nur" ein "normaler" Film.


ab 16:30 Uhr

COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT ("Wie wäre es mit Spinat?")
Regie: Václav Vorlíček
ČSSR 1971
86 Minuten, OmU
Zemanek und Liška sind kleine Fische, die in ihrer Fabrik für organisierte Schieber einmal zu oft stehlen, einige Zeit absitzen und dann schon an den nächsten Coup gelangen: ein Ganove (Jurai Herz, der Regisseur von DER LEICHENVERBRENNER), der auf Friseur umgesattelt ist, möchte eine für die Rinderzucht konzipierte Verjüngungsmaschine als Verjüngungskur für zahlungskräftige Kunden missbrauchen. Leider hat die Verjüngungskur ungeahnte und schwere Nebenwirkungen, wenn die bestrahlten Subjekte vorher Spinat gegessen haben...

Der Geist eines hungrigen Säuglings im Körper einer Erwachsenen in einem Nobel-Restaurant: das kann nicht gut gehen!

 
Wer sich schon immer gefragt hat, wo der Missing Link zwischen Howard Hawks' MONKEY BUSINESS und HONEY, I SHRUNK THE KIDS liegt: in der Tschechoslowakei, genauer gesagt im Barrandov-Filmstudio!
COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT war der Ersatzfilm für den ursprünglich geplanten PANE, VY JSTE VDOVA! ("Mein Herr, Sie sind eine Witwe!") des gleichen Regisseurs (Václav Vorlíček, Regisseur des in Deutschland berühmten Märchenfilms DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL) und des gleichen Drehbuchautors (Miloš Macourek), deren siebenter gemeinsamer Film. Beide begannen ihre Zusammenarbeit 1966 und konnten nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nahtlos weiterarbeiten, um populäre Komödien zu drehen.
Aller Anfang ist schwierig, und so begann "Wie wäre es mit Spinat?" auch eher zäh, mit einer eher schwerfälligen Exposition, die die beiden kleinen Betrüger Liška und Zemanek erst einmal in den Knast bringt, um sie dann auf ihrer neuen Arbeit auf eine Verjüngungsmaschine treffen zu lassen. Daneben werden auch die anderen Charaktere, darunter die Chefin einer argentinischen Rinderzuchtfarm auf Geschäftsreise, eher wenig elegant in den Film geführt. Dann aber fängt es an, für die Figuren richtig schief zu laufen – und der Film selbst beginnt, Fahrt zu nehmen. Nach einer geruhsamen Nacht neben der geliebten Frau bzw. Freundin wachen unsere beiden Gauner als Kinder auf: sie werden nun von Kinderdarstellern gemimt, die von den ursprünglichen Darstellern synchronisiert werden – kleine Jungs also, die mit röhrenden Stimmen und erwachsenem Jargon sprechen.
Im letzten Drittel gewinnt der Film eine Dynamik, eine Beschleunigung, schließlich eine Rasanz, ein Niveau an totaler Eskalation der Gags und der puren Action und der Lust an Chaos und Zerstörung, die sich durchaus mit Hollywood und Hawks messen können. Das Set: Eingangsbereich, Speiseaal und Küche eines Prager Hotels. Die Protagonisten: die zwei nunmehr gealterten Ganoven, ein körperlich aber geistig nicht gealterter weiblicher Säugling, ein jähzorniger Koch und viele Gäste. Die Action: eine komplette Verwüstung des Speisesaals und der Küche, mit Verfolgungsjagden über und unter die Tische, mit Verschüttung und Verschmierung unzähliger creme-haltiger Saucen und Desserts, mit einer obsessiven Jagd nach den letzten Resten von Spinat (notfalls auch vom Jackett-Rücken am Träger, der eben in einen Spinatbottich gefallen ist, abzukratzen und abzulecken), Verwechslungen von bratfertigen Lämmern und Säuglingen und dazwischen werden noch Leute geschrumpft. Eine filmische Lachexplosion erster Güte!


ab 20:00 Uhr

PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN ("Lady Terminator")
Regie: Tjut Djalil
Indonesien 1989
82 Minuten, EF
Es gelingt einfach keinem Mann, die Südseekönigin zu befriedigen. Deshalb murkst sie jeden Sexpartner ab. Nur einer schafft es, ihr die Schlange zwischen den Beinen zu entwinden und daraus einen Dolch zu zaubern. Die Südseekönigin nimmt übel und schwört Rache für in 100 Jahren. Ihr Fluch fällt auf eine Doktorandin der Anthropologie (Barbara Anne Constable), die vom Geist der Königin besessen wird und in den Straßen Jakartas ein Blutbad nach dem anderen veranstaltet. Können der Polizist Max und die Sängerin Erica sie stoppen?

In rasender Zerstörungswut durch Jakarta: Barbara Anne Constable als "Lady Terminator"

 
LADY TERMINATOR gehörte mit seinem verheißungsvollen Plakat ("She mates. Then she terminates" plus Barbara Anne Constable mit großer Wumme gleich fünf mal) und seinem eher exotischen Ursprungsland zu den heiß erwarteten Filmen des internationalen Tags. Die Versprechen wurden mehr als eingelöst: in kompakten, knapp 80 Minuten dürfte der Film mehr knallige Action und blinde Zerstörungswut auffahren als die kompletten sechs Teile von TERMINATOR zusammengenommen – und dazwischen auch mehr ruppigen Sleaze. Die Szene, als die Titelheldin (ja-ja, eigentlich Antagonistin) in ein Polizeirevier einfällt und es Raum für Raum, Korridor für Korridor, Stockwerk für Stockwerk in nicht weniger als eine monströse Schlachteplatte kaputt und tot schießt, war alleine schon der Eintritt wert. Der Film weiß dann auch ganz genau, was er an der charismatischen Barbara Anne Constable hat, die er in ihrer leider einzigen Filmrolle leicht von unten gefilmt in eine Action-Ikone verwandelt, in eine tödliche Göttin der Zerstörung. (Als sie noch nicht besessen ist, mimt sie die tollpatschige, leicht naive Anthropologie-Doktorandin. Nach ihrer Inbesitznahme durch die Südseekönigin ist sie eine komplett andere Person. Bei aller Action ist LADY TERMINATOR zumindest für die Hauptfigur auch Schauspielerkino, gleichwohl Max' Christopher J. Hart wie ein Jeff Daniels mit eingefrorenem Gesicht und vergessenem Text wirkt).
Der internationale Anspruch der Produktion zeigt sich nicht nur in den Darstellern, mit einigen anglo-amerikanischen Protagonisten sowie rein indonesischen Side-Kicks und Komparsen, sondern auch in einigen geschickt eingefügten Second-Unit-Shots von New York (man sieht die Twin-Towers), die die geografische Verortung verundeutlichen: die Discos, Malls, Hinterhofgassen, Straßen und mehrspurigen Schnellstraßen scheinen aber offenbar alle in (Süd)ostasien zu liegen – ihre kalte Großstadtdschungel-Anonymität bilden den idealen Boden für rasante Verfolgungsjagden zu Fuß und mit dem Auto.
Faszinierend ist auch, dass PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN (also wörtlich "Die Rache der Südseekönigin") kein reiner TERMINATOR-Ripoff ist, sondern eher Motive aus James Camerons Film in eine mythologische Horror-Märchengeschichte einbaut. Und die ersten paar Minuten erinnern dann auch eher an Softerotik-Sleaze-Hobel italienischer Provinienz als an US-SciFi-Action der Zeit: glitschig-schmieriger Sex, fotografiert in edel glitzernden (aber doch sichtbar billigen) Dekoren, mit einem bösen Ende für den von der Südseekönigin berittenen Mann, der seinen Penis von der Schlange abgebissen bekommt, die sich in ihrer Vagina befindet und dem dann nichts anderes bleibt, als sich selbst mit Blut voll zu spritzen (same procedure as 100 years ago, als dann die besessene Anthropologin schmierige Hotelbedienstete und in Punk-Klamotten gekleidete Halbstarke verführt).
Wenn eines, dann zeigt LADY TERMINATOR dass gutes Exploitationkino international ist. 34 Jahre, eine bewegte Zensurgeschichte mit leicht ummontierter internationaler Fassung und 11.000 Kilometer zwischen Jakarta und Frankfurt am Main ändern nichts daran, dass der Film an diesem Sonntagabend sich ganz direkt in die Herzen des Publikums hineinballerte.


ab 22:15 Uhr

LE FRISSON DES VAMPIRES ("Das Schaudern der Vampire" aka "Sexual-Terror der entfesselten Vampire")
Regie: Jean Rollin
Frankreich 1971
95 Minuten, OmU
Isla und Antoine haben frisch geheiratet und möchten die Cousins der Braut in deren Schloss besuchen. Gerüchte über deren Tod erweisen sich als falsch – oder auch nicht: die beiden Exzentriker sind Vampire geworden und ihr vampiristisches Entourage übt auf Isla einen wesentlich größeren Reiz aus als die Aussicht auf den Vollzug der ersten Ehenacht mit ihrem Gemahl.

Das Brautpaar und die Dienerinnen der Vampire

 
Die letzten Terzas endeten immer auf einer jenseitigen Note: Fulcis L'ALDILÀ und QUELLA VILLA ACANTO AL CIMITERO 2021 und 2019. Dieses Jahr wurde der Ausklang mit Jean Rollin weitergeführt, nachdem LA ROSE DE FER 2022 das Terza im Jenseits eines Friedhofs beziehungsweise am jenseitigen Strand von Pourville beendet hatte. Einen Friedhof gibt es auch in LE FRISSON DES VAMPIRES und er endet auch am Strand von Pourville.
Rollin ist gewissermaßen der Ozu des europäischen Vampirfilms: ein Teil seiner Filme mit ihren vielen ähnlichen Vampir-Titeln wirken zusammengedacht fast wie ein einziger Film, und so hat mich das letzte Drittel von LE FRISSON DES VAMPIRES, den ich 2018 kennengelernt habe, merkwürdig auf dem falschen Fuß erwischt, weil ich wohl Teile mit dem Ende (oder zumindest längeren Passagen) von LE REQUIEM DES VAMPIRES verwechselt habe. So fühlte ich mich im letzten Drittel "wie im falschen Film" – letztendlich ein Meckern auf sehr hohem Niveau, das bestätigt, dass ich LE FRISSON etwas weniger mag als REQUIEM und ihn in Kenntnis von mittlerweile ein paar Rollins nicht mehr zu den Tops zähle.
Aber es ist natürlich immer noch Rollin. Über LE REQUIEM DES VAMPIRES schrieb ich einst: "Karge französische Landschaften, in denen die Figuren ganz klein und verlassen erscheinen; leicht verfallene, mystisch aufgeladene Friedhöfe; ein Schloss, das man ohne Mühe als denkmalgeschütztes historisches Gebäude identifizieren kann, das aber Rollin mit der Kamera in eine Art Paralleldimension hebt. Abgesehen von einem Klecks Kunstblut hier und da und einer gelegentlichen Beleuchtung in Primärfarben entfaltet sich Rollins Vampirmär völlig ohne Spezialeffekte, denn für den Franzosen ist das Kino selbst der Spezialeffekt." Und wo merkt man letzteres besser als in einem Kino?
Völlig außerweltlich war Rollin dennoch nicht. Ihn als politischen Regisseur zu bezeichnen, würde wohl nicht vielen auf den ersten Blick einfallen, aber LE FRISSON DES VAMPIRES zeigt wieder seine Sympathie für die Verstoßenen, die Freaks, die Außenseiter, die Marginalisierten, die außerhalb der gängigen gesellschaftlichen und sexuellen Normen stehen, während die spießigen, geradlinigen Alpha-Männchen mit ihren kleinbürgerlichen und engstirnigen Vorstellungen als Antagonisten wirken – und auch mal bloßgestellt und ins Lächerliche gezogen werden, etwa in der fantastischen Bibliotheksszene, in der Antoine wie von unsichtbarer Hand die ganzen Bücher über den Kopf geworfen bekommt. LE FRISSON DES VAMPIRES war auch der ideale Abschluss für das Thema, das sich, angefangen mit METTI, UNA SERA A CENA, durch das ganze Festival zog: Ehe in der Krise. Denn Rollin erzählt hier auch die Geschichte einer dysfunktionalen Ehe und einer Frau, die außerhalb dieser pappigen und unwürzigen Ehe und ihrer Restriktionen (Antoine ist furchtbar besitzergreifend, auch wenn er seine "erste Nacht" nicht bekommt) von den köstlichen Früchten des nicht-heteronormativen Sex, des Vampirismus und des Lebens außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kostet.
Des weiteren schrieb ich über Rollin einmal: "Seine Filme fließen wie Träume vorbei. An nicht alles kann man sich erinnern und wenig scheint vernünftig zu sein – aber nach dem Aufwachen scheint die Realität noch etwas öder, und mit dem nächsten Schlaf lockt eine süße Versuchung!"
Und ich bin sicher: das nächste Terza wird mit vielen weiteren süßen Versuchungen locken!

Ende am Strand von Pourville

 

Dienstag, 3. Januar 2023

2022 im persönlichen Rückblick

Und wieder ein Jahr vorbei... ein besonders scheussliches und unangenehmes Jahr, das ich über 5 Perioden verteilt zu insgesamt fast einem Drittel krank bzw. in schleppender Genesung verbracht habe. Vier Krankheitsfälle (die zeitlich auch die meiste Zeit dieser vier Monate in Anspruch genommen haben) betrafen unmittelbar das wichtigste Organ für Filmliebhaber (neben natürlich dem Gehirn), nämlich die Augen. Kurz: etwa drei Monate dieses Jahres war ich nicht in der Lage, irgendetwas Visuelles zu machen und war weitestgehend auf mein Gehör zurückgeworfen.

Meine Krankheit zwang mich dazu, unvorstellbar viel Musik und viele Podcasts zu hören. Statt mit Filmen beginne ich also meine Jahresbestenlisten außer Reihe mit Musiktiteln aus tollen Alben, die ich dieses Jahr zum ersten Mal entdeckt habe.



Tops neu entdeckte Musiktitel 2022


"Shine On, Harvest Moon", Coleman Hawkins & Ben Webster (aus: COLEMAN HAWKINS ENCOUNTERS BEN WEBSTER, 1957)

Aus allen Alben, die ich dieses Jahr neu entdeckt habe, ist COLEMAN HAWKINS ENCOUNTERS BEN WEBSTER (aufgenommen 1957, erschienen 1959) das großartigste, das essentiellste, ein Album, das man im Jazz-Universum ruhig in einem Atemzug mit dem im gleichen Jahr erschienen Jahrhundertalbum KIND OF BLUE nennen dürfte. Jede der sieben Nummern, die die beiden Großmeister des Tenorsaxophons hier zusammen mit Oscar Petersons Band einspielen, ist ein Schmuckstück. Welches empfehlen: "Blues for Yolande"? "La Rosita"? "Tangerine"? Warum nicht den Abschluss, "Shine On, Harvest Moon".


A CHILD'S INTRODUCTION TO JAZZ, NARRATED BY JULIAN "CANNONBALL" ADDERLEY, 1961

Da KIND OF BLUE schon angesprochen wurde: der Altsaxophonist Cannonball Adderley war neben Bill Evans die Geheimzutat, die das Miles-Davis-Quintett (bzw. dann: -Sextett) in höhere Gefilde gebracht hat. Wer einige seiner Live-Alben kennt, schätzt vielleicht auch seinen Smalltalk mit dem Publikum zwischen den Nummern. A CHILD'S INTRODUCTION TO JAZZ, NARRATED BY JULIAN "CANNONBALL" ADDERLEY ist gewissermaßen Adderleys Chitchatting auf Albenlänge gebracht: Cannonball führt kindergerecht durch die Geschichte des Jazz, seine wunderbare, eloquente und pädagogisch wertvolle (er war vor seiner Musikerkarriere als Musiklehrer tätig) Stimme ist der rote Faden.


"Sack O' Woe", The Cannonball Adderley Quintet (aus: MERCY, MERCY, MERCY! LIVE AT "THE CLUB", 1966)

Cannonball Adderley konnte aber natürlich nicht nur sprechen, sondern auch toll spielen. Die Titelnummer aus dem "Fake-Livealbum" MERCY, MERCY, MERCY! LIVE AT "THE CLUB" war zwar der kommerzielle Hit des Albums (und ist natürlich wunderbar), doch die Band aus Cannonball, Nat Adderley, Joe Zawinul, Victor Gaskin und Roy McCurdy brennt das Studio gewissermaßen erst in "Sack O' Woe" nieder.


"On A Clear Day", The Wynton Kelly Trio (aus: FULL VIEW, 1966)

Einer von Cannonballs Kollegen bei KIND OF BLUE war (nur bei einer Nummer) der Pianist Wynton Kelly, der zum letzten Pianisten des Ersten Großen Miles-Davis-Quintetts wurde und sich später mit Paul Chambers und Jimmy Cobb abseilte, um selbständig zu werden. Das Trio (der kranke Chambers schon durch Ron McClure ersetzt) arbeitet sich in FULL VIEW mit der bekannten Finesse und Eleganz durch diverse Standards. "On A Clear Day" ist für mich hier das Highlight.


"Speak Low", The Wynton Kelly Trio with special guest Hank Mobley (aus: LIVE AT THE LEFT BANK JAZZ SOCIETY BALTIMORE, 1967)

Von "On A Clear Day" gibt es auch beim Baltimore-Konzert des Kelly-Trios mit Hank Mobley als Gast eine schöne Version. LIVE AT THE LEFT BANK JAZZ SOCIETY BALTIMORE demonstriert sehr schön, dass Live-Jazz eine Musik ist, die auch von ihren Schwächen, ihren Patzern, davon, dass nicht alles perfekt klappt, manchmal erst richtig lebendig wird. Es ist ein Sonntagskonzert, man wird manchmal das Gefühl nicht los, dass die Beteiligten noch leicht verkatert sind; Mobleys Zusammenspiel mit dem Trio ist eher suchend und hakelig als perfekt-passend. Und dennoch spürt man den Schweiß und ganz besonders das Herzblut aller Musiker fließen. 


"Bouncing with Bud", Art Blakey and the Jazz Messengers (aus: PARIS JAM SESSION, 1959)

Wenn wir immer noch von Leuten reden, die was mit Miles Davis zu tun hatten: in PARIS JAM SESSION findet sich die vielleicht schönste Bläser-Zusammensetzung der Jazz Messengers wieder, nämlich Wayne Shorter und Lee Morgan. Beide werden hier auf zwei von vier Nummern vortrefflich unterstützt von Barney Wilen und Bud Powell (passenderweise für "Bouncing with Bud").


"Go Down Moses", Grant Green (aus: FEELIN' THE SPIRIT, 1962)

Wer Wayne Shorter sagt und dann an das Zweite Große Miles-Davis-Quintett denkt, denkt natürlich auch an Herbie Hancock. Hancocks Zusammenspiel mit Grant Green auf dessen Spiritual-Album FEELIN' THE SPIRIT (gewissermaßen ein Soul-Jazz-Album, das den Soul nicht im Rhythm-And-Blues, sondern weiter in der Vergangenheit sucht) ist fast schon telepathisch und bringt einen Knaller nach dem anderen: "Just a Closer Walk with Thee", "Joshua Fit the Battle of Jericho" und eine tolle Version von "Nobody Knows the Trouble I've Seen"... und dann kommt noch on top "Go Down Moses".


"Idle Moments", Grant Green (aus: IDLE MOMENTS, 1963)

Grant Green steht als Gitarrist ein wenig im Schatten von Charlie Christian und Wes Montgomery. Schade, denn es gibt viel Schönes mit ihm zu entdecken. Einer meiner großen essentiellen Entdeckungen des Jahres war das Titelstück von IDLE MOMENTS, in seiner Tiefenentspanntheit und Schönheit ein idealer Begleiter, um kurz vor dem Schlafengehen in eine entspannte Atmosphäre zu kommen. Tolle Soli von Green, Duke Pearson, Joe Henderson und Bobby Hutcherson.


"Au Privave", Jimmy Smith (aus: HOUSE PARTY, 1957/1958)

Bleiben wir bei Blue Note Records: HOUSE PARTY ist gewissermaßen die B-Seite von Smiths großem Meisterwerk THE SERMON!, aufgenommen an den zwei gleichen Sessions. Wer genau hinhört, wird auch merken, dass Smiths "The Sermon" wohl eine Weiterentwicklung von Charlie Parkers "Au Privave" ist (die Bläser, Lee Morgan, Lou Donaldson und Tina Brooks, spielen in ihren Soli stellenweise die gleichen Phrasen). Gewissermaßen die Ur-Predigt.


"Hog Calling Blues", Charles Mingus (aus: OH YEAH, 1961)

Eher ur-schrei-mäßig wird es in "Hog Calling Blues": die Anweisung Mingus' an seine Bläser Roland Kirk, Jimmy Knepper und Booker Ervin lautete hier wohl, jedes Solo mit Imitationen der Schreie brünstiger Schweine abzuschließen. Das Resultat ist ein launisch-lustiger Blues, eine ideale Einführung in das, was man wohl Mingus' humorvollstes Album nennen kann.



"Comin' Home Baby", Herbie Mann (aus: AT THE VILLAGE GATE, 1961)

Bleiben wir im gleichen Jahr und bei Atlantic Records: AT THE VILLAGE GATE brachte den Flötisten und Bandleader Herbie Mann den ersten großen Hit. Die Latin-angehauchten Versionen von "Summertime" und "It Ain't Necessarily So" sind beide auch großartig, aber "Comin' Home Baby" ist natürlich erst mal der große Anheizer.


"Yasmina, A Black Woman", Archie Shepp (aus: YASMINA, A BLACK WOMAN, 1969)

Die Latin-Klänge hatte Mann nach einer Tournee durch Brasilien mitgebracht. Archie Shepp brachte aus Nordafrika Inspirationen für YASMINA, A BLACK WOMAN nach Paris mit, wo das Album aufgenommen wurde. Strukturell ist das, was Mann und Shepp gemacht haben, gar nicht so unähnlich: wie "Comin' Home Baby" ist auch "Yasmina, A Black Woman" auf seine eigene Weise vor allem ein Groove-Piece (vor allem durch das Ruf-Motiv, das Dave Burrell am Klavier und die anderen Bläser, darunter Roscoe Mitchell und Lester Bowie vom Art Ensemble of Chicago, fast durchgehend wiederholen).

Ich empfehle, die oben verlinkte Vinylversion zu hören, das Titelstück dauert bis 20:15 (andere, offenbar auf "remasterte" CD-Versionen basierend, klingen wesentlich dünner) 


"Balkanų saulė", Petras Vyšniauskas (aus: IEŠKOJIMAI IR ATRADIMAI, 1983)

Bleiben wir in Europa und free. Also zumindest in der Musik, denn wir überqueren den Eisernen Vorhang und begeben uns in die Sowjetunion und dort nach Litauen, einem der Zentren des sowjetischen Free Jazz. Das Ganelin-Trio bzw. Trio Ganelin-Chekasin-Tarasov bzw. Trio Ganelinas-Čekasinas-Tarasovas war international berühmter (auch davon sehr viel in meiner Krankheitsphase entdeckt), aber Alt- und Sopransaxophonist, Klarinettist und Pianist Petras Vyšniauskas (der auch mit Ganelin gespielt hat) hat mit "Searchings and Discoveries" einen echten Klassiker des osteuropäischen Free Jazz erschaffen: originell, luftig, kreativ, mit intensiven und leisen Momenten, und teilweise sogar tanzbar. Ja: In einer besseren Welt würde man "Balkan Sun" auf Balkan-Beats-Parties hoch- und runterspielen.

"Balkan Sun" ist im oben verlinkten Video von Minuten 19:00 bis 31:50 zu finden.


"Into the Heaven", Terumasa Hino Quintet (aus: INTO THE HEAVEN, 1970)

Verlassen wir Europa und gehen noch weiter in den Osten. Japanischer Jazz war noch eine Leerstelle, die ich 2022 nun anhand des berühmten Trompeters Terumasa Hino ein klein wenig aufgefüllt habe (Hino ist 1975 in die USA gegangen). INTO THE HEAVEN scheint fast ein wenig MILES IN THE SKY zu referenzieren: die Anspielung wäre recht adäquat, denn das Zusammenspiel des Quintetts mit Takeru Muraoka (Tenorsaxophon), Hiromasa Suzuki (Klavier), Kunimitsu Inaba (Bass) und Motohiko Hino (Schlagzeug) erreicht stellenweise die telepathische Symbiose des Zweiten Großen Miles-Davis-Quintetts.


"Little Red's Fantasy", Dexter Gordon (aus: HOMECOMING – LIVE AT THE VILLAGE VANGUARD, 1976)

Nach unserer kleinen Europa- und Asien-Tour kehren wir in die USA zurück – wie Dexter Gordon, der nach über einem Jahrzehnt in Europa in die USA zurückkehrte und dessen HOMECOMING in einer von (sehr zugespitzt formuliert) Free-Jazz-Esoterik und Fusion-Matsche (zumal nach Miles Davis' 1975 eingeleiteter Karrierepause) geprägten Jazz-Szene wie eine Bombe einschlug – oder "You can't beat tenor sax, trumpet, piano, bass and drums" (um Lou Reed zu paraphrasieren).


"The Time Is Now For Change", Phil Ranelin (aus: THE TIME IS NOW!, 1974)

Speaking of "Free-Jazz-Esoterik" oder regionale Miszellen: der Posaunist Phil Ranelin war eine lokale Größe der Detroiter Jazz-Szene und jenseits der "Motor City" eher unbekannt. "The Time Is Now For Change" ist ein spannungserzeugender Groove, der die ganze Zeit das Versprechen der Spannungsauflösung in sich trägt und den Zuhörer immer weiter treibt und weiter treibt. Nach nur 13 Minuten ist das leider schon wieder vorbei. 


Zwei kleine Boni


"If There Is Something", Roxy Music (John Peele Sessions, 1972)


"Something's On Your Mind", Miles Davis (live, 1983/84/85?)



Festivalstationen des Jahres

Im April ging es auf das erste Live-goEast seit Pandemiebeginn, auf das 22. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films, wo die georgische Regisseurin Lana Gogoberidze zum Fixstern wurde. Anfang Juni dann "mein erstes Mal Hamburg" beim 38. Kurzfilmfestival Hamburg: Höhepunkt war das geradezu halluzinatorische Doppel-Programm "Ecstasy" mit einer Präsentation restaurierter und auf neue 16mm-Kopien gezogenen US-amerikanischen Experimentalfilmen aus dem Academy Film Archive in Los Angeles.

Von der Ekstase ging es dann auch eine Woche später zur Leipziger Sonderausgabe des Hofbauer-Kongresses, bevor ich dann leider wieder über einen Monat in Krankheit von der Bildfläche verschwand – um rechtzeitig wieder für das 8. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione aufzutauchen: ein Ferngespräch mit Aldo Lado nach CHI L'HA VISTA MORIRE; die unbekannten Seiten von Dario Argento als Slapstick- sowie Period- und Polit-Drama-Regisseur in LE CINQUE GIORNATE; transgressiv-zärtliche Liebesgeschichten in BESTIALITÀ; die göttliche Erlösung durch den einzig wahren (nämlich disco-tanzenden) Jesus in WHITE POP JESUS; die Coming-of-Age-Geschichte eines Körperfressers in OMICRON; das Eintauchen in einen Strudel aus Wahnsinn, Schmerz, Obsessionen und Gewalt in Lucio Fulcis meisterhaftem Melodrama IL MIELE DEL DIAVOLO; am "internationalen Tag" dann noch mehr Melodrama, aber in nördlichen Gefilden in Teuvo Tulios RAKKAUDEN RISTI und der Spaziergang durch den Friedhof ohne Rückkehr in Jean Rollins LA ROSE DE FER...

Im August ging es dann noch mal zum Kino des Frankfurter DFF zurück für ein lange erwartetes Ereignis: bei "Cinéma du combat: Das politische Genrekino von Yves Boisset" wurden 14 Boisset-Filme gezeigt, eine Mehrheit davon an einem Schwerpunktwochenende. Dafür noch mal einen großen Dank an das Filmkollektiv Frankfurt und besonders an Sebastian! Mehr zu einzelnen Filmen gibt es weiter unten zu lesen.

Beim 4. Filmarchäologen-Symposium im September floßen Tränen der Liebe in finnischen Sommernächten, Tränen des Lachens rund um die Abenteuer eines dänischen Pressefotografen, hingen wir mit Peter Fonda in LKWs auf breiten Highways und mit Susan Berman im punkigen New York der frühen 1980er Jahre rum, bevor es in das Inferno des Zwangsarbeiterinnen-Lagers in den amerikanischen Süden ging. 

Explodierende Vulkane (und explodierende Denzel Washingtons), Taubenschwärme im Kugelgewitter und fiese Menschenjagden durch die amerikanische Midwest-Pampa oder den Irak gab es dann beim 7. Karacho-Festival des Actionfilms im November.




Tops neue Filme 2022

Die für mich zwei besten Filme des Jahres 2022 waren zwei Los-Angeles-Filme, zwei sehr unterschiedliche Reisen durch die Stadt der Engel, durch die Heimat Hollywoods.


AMBULANCE (Michael Bay: USA 2022)

Ich zitiere aus meiner Rezension für Multimania: "Ein Krankenwagen, zwei Bankräuber, eine Sanitäterin, ein angeschossener Polizist und die Stadt Los Angeles: damit zaubert Michael Bay einen mitreißenden sowie verblüffend klassischen und humanistischen Verfolgungsjagd-Actionfilm. Es ist immer noch schwer, einem gewissen Teil des Publikums zu erklären, dass Bay ein begnadeter Regisseur, ein entfesselter Bilder-Ekstatiker, ein expressionistischer visueller Erzähler ist – und ein Filmemacher, der über die dunklen Seiten des Lebens im zeitgenössischen Amerika recht viel zu sagen hat. In AMBULANCE trifft sein exzessiver und doch sehr kontrollierter Regiestil auf einen reduzierten, ultraklassischen Genre-Stoff. Trotz der hohen Schnittfrequenz und der spektakulären Drohnen-Kamerafahrten, die Tempo, Tempo und noch mehr Tempo machen, erinnert AMBULANCE eher an das Beste des urbanen US-Thrillers der 1970er und 1980er Jahre als an seelenloses Blockbusterkino des 21. Jahrhunderts. In der Figurenzeichnung der zwei kriminellen Brüder und der Sanitäterin als harte, und doch moralisch zweifelnde Professionals, die in einer Extremsituation agieren, reagieren und schwere Entscheidungen treffen, weht fast ein Hauch Hawks’scher Klassizismus durch diesen visuell durch und durch Bay’schen Film."


LICORICE PIZZA (Paul Thomas Anderson: USA 2021)

Am Anfang des Jahres noch etwas geschmäht, weil ich ein eher ambivalentes Verhältnis zu Anderson habe. Nach mehreren begeisterten Reaktionen von Menschen, deren Filmurteil ich vertrauenswürdig finde, war das Interesse geweckt, doch ich wurde krank, bis der Film schon nicht mehr in den Kinos lief. Eine "Best Of 2022"-Kinowiederholung kurz vor Weihnachten erlaubte es mir schließlich doch, mich wie Gary völlig hoffnungslos in Alana zu verlieben und davon zu träumen, mit ihr in einem Umzugs-LKW die steilen Hügelstraßen von L.A. hinunterzugleiten.

Nach einem interessanten, aber dennoch extrem kalten Film wie THE MASTER (ja, zwei Anderson-Filme dazwischen fehlen mir) war LICORICE PIZZA vor allem ein überraschend warmer und warmherziger Film. Das 1970er-Jahre-Setting ist für die Geschichten Alanas und Garys notwendig, doch zu keinem Zeitpunkt macht LICORICE PIZZA daraus ein "fishing for nostalgia" oder ein Zitate-Bingo (auch wenn im letzten Drittel ein Subplot eine Art Re-Imaginierung von Betsys Arbeitsalltag als Wahlkampfhelferin in TAXI DRIVER, aus ihrer persönlichen Perspektive und nicht der des puritanischen Gewalttätters, gezeigt wird – danke an Robert für den Hinweis zu TAXI DRIVER). Geschichten ist auch ein gutes Stichwort: LICORICE PIZZA zeigt das Leben Alanas (und Garys – aber im Grunde ist es über weite Teile Alanas Film) als dichte Ansammlung kleiner Geschichten, die nicht immer zusammenhängen, nicht immer einen schlüssigen Anfang haben, nicht immer abgeschlossen werden und die nicht alle gleich intensiv erlebt werden. Eine lockere, an dramaturgischer Stringenz wenig interessierte Erzählweise, die zum Abhängen einlädt (die Laufzeit von knapp 2h15 erklärt sich dadurch). Dazu ein Film, der auch noch absolut fantastisch aussieht, selbst eine DCP-Projektion ließ noch sehr viel von der analogen 35mm-Materialität von LICORICE PIZZA spüren. Es gäbe noch so viel Schönes über LICORICE PIZZA und Alana und die Schwierigkeit des Sichverliebens im L.A. der 1970er Jahre zu schreiben...


LES CHOSES QU'ON DIT, LES CHOSES QU'ON FAIT (Emmanuel Mouret: Frankreich 2020)


Emmanuel Mourets neuster Film hatte im Sommer 2020 seine Kino-Premiere, erlebte aber erst 2022 seine deutsche, nun ja,  Direct-to-TV-Premiere. Das ist sehr schade, denn in diesem Film schafft Mouret eine atemberaubende Symbiose aus seinen bekannten leichten Liebeskomödien und dem tragischen Melodrama, das er in UNE AUTRE VIE (2013) mit meiner Meinung nach eher gemischten Resultaten ausprobiert hatte. Locker-fluffige Komödie über die Möglichkeiten der Liebe, hartes Melodrama über die Unmöglichkeit von Beziehungen gehen Hand in Hand in den Erzählungen der Figuren über glückliche, gescheiterte und fingierte Lieben.


SZELÍD (Csuja László, Nemes Anna: Ungarn/Deutschland 2022)

Ein zärtlicher Film über das harte Leben in einem gestählten Körper. Gesehen und bewundert beim goEast-Festival.


X (Ti West: USA/Kanada 2022)

Ein toller Neo-Slasher, der viel mehr ist als sein Konzept "Porn movie crew meets Texas Chainsaw Massacre" ist. Trotz der sehr happigen Gewaltmomente im letzten Drittel ist X auch ein Atmosphärenfilm, der sich in der ersten Hälfte ganz auf die Stimmung eines heiß-flirrenden Sommerabends auf einer Farm im Nirgendwo des amerikanischen Südens einlässt und von ihr einlullen lässt. In seiner Zeichnung des alten Ehepaars, das die Porno-Crew auf ihrer Farm empfängt (na ja: duldet), liegt vielleicht das Besondere von X: es ist ein Film über die Tristesse des Altseins, über die Weltmüdigkeit, über den Verlust von Begehren – und in einer unfassbaren Schlüsselszene, die sich vom nagelbeissenden Spannungsaufbau in befreienden Sex verwandelt – über das Wiederfinden von Begehren und Lust.

Es ist der erste Teil einer Trilogie. Der zweite Teil, PEARL, soll wohl eine besondere Neigung zum Melodrama haben und wurde bereits von einigen mit dem spannenden Teaser "Douglas Sirk meets Texas Chainsaw Massacre" versehen. West hat schon im ersten Teil aus einem spannenden Teaser noch sehr viel mehr rausgeholt: ich freue mich auf PEARL.


WESELE (Wojciech Smarzowski: Polen/Lettland 2021)

Polnische Zeitgeschichte und zeitgenössische Geschichtspolitik durch den cinematographischen Fleischwolf gedreht. Mit teils heruntergeklappter Kinnlade beim goEast-Festival gesehen.


OCCHIALI NERI (Dario Argento: Italien/Frankreich 2022)

Auch wenn einige es nicht sehen wollen: Dario Argento ist kein kalter, inhumaner Formalist, der sich nur für technisch virtuose Darstellungen brutaler Gewalt interessiert; nein, Argento ist auch ein Erzähler, der seine Figuren mit Herz und Seele liebt. In OCCHIALI NERI entkommt die Prostituierte Diana einem Serienkiller, verliert aber auf der Flucht bei einem Autounfall ihr Augenlicht (was für ein Schicksal im Film eines Regisseurs, dessen Werk sich immer wieder ganz zentral um das Sehen dreht). Einen guten Teil verbringt der Film dann damit, einer traumatisierten Frau dabei zu begleiten, wie sie in ihrem Alltag mit ihrer Blindheit zurecht kommt und zugleich Freundschaft mit einem kleinen Jungen schließt. Das ist dann auch der Argento, den man aus den von einigen Zuschauern als "Laber-Szenen" bezeichneten Screwball-Komödien-Momenten in PROFONDO ROSSO, aus den Badewannen-Blödeleien in 4 MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO, aus der improvisierten Slapstickgeburtshilfe in LE CINQUE GIORNATE, aber auch aus den Momenten von Annas existentieller Verzweiflung in LA SINDROME DI STENDHAL kennt. Der Thriller um die lange Verfolgung Dianas und Chins durch den Serienkiller – ja, der ist toll und spannend und kommt on top dazu. Das eigentlich Große an OCCHIALI NERI ist das gemeinsame Neuentdecken der Welt mit Diana. Gesehen als inoffizieller Warmup-Film beim Terza Visione. 





Top 10 Neuentdeckungen 2022 (chronologisch nach Premierendatum geordnet)


TINI ZABUTYCH PREDKIV – Shadows of Forgotten Ancestors (Serhij Paradžanov: Sowjetunion 1965)

Eine (leider, leider, leider!) beängstigend leere 35mm-Vorstellung des Film e.V. Jena, die bei den wenigen Anwesenden dennoch fiebrige Rauschzustände hervorrief und ihnen immer wieder Schauer über den Rücken jagte. Einer der Co-Zuschauer schlug danach vor, diesen Film statt der aktuellen Oscar-Gewinner und der lauen französischen Komödien beim Open-Air der Jenaer Kulturarena zu zeigen, auf dass die hypnotischen Töne der huzulischen Berghörner (die einen Teil des Scores bilden) laut und echoend durch die ganze Jenaer Innenstadt schallen.

Mehr zu lesen zu diesem Film gibt es in Manfreds Text in diesem Blog.


SECONDS (John Frankenheimer: USA 1966)

Letztes Jahr hat mir Manfred wärmstens SECONDS empfohlen als Film, in dem man Rock Hudson außerhalb des bekannten Komödien- und Melodramen-Spektrums neu kennenlernt. Was kann ich sagen: Holy shit, was für ein wilder Trip! SECONDS hat mich noch einige Stunden nach der Sichtung völlig verstört, benommen, schwindelig zurückgelassen. Neben den furchteinflößenden, paranoiden Schwarzweißbildern James Wong Howes ist dann auch in der Tat Rock Hudsons Jahrhundertdarstellung das Sahnehäubchen.


ROULETTE D'AMOUR (Frits Fronz: Österreich 1969)

aka "Baron Pornos nächtliche Freuden" oder wenn Sexploitation meets DETOUR meets Arthur Schnitzlers "Der Reigen" mit einem großen Schuss Melancholie. Mehr dazu in meinen Ausführungen zum Leipziger Hofbauer-Kongress.


Boisset-Double-Feature:

DUPONT LAJOIE (Yves Boisset: Frankreich 1975)

FOLLE À TUER (Yves Boisset: Frankreich/Italien 1975)

Boissets anarchistisch gefärbtes Kino ist geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber staatlichen Ordnungsinstitutionen, die entgleiten und in einer Art Autopilot über Individuen brutal hinweg rollen: seien es Geheimdienste (ESPION LÈVE-TOI), die Polizei (UN CONDÉ), die Judikative (LE JUGE FAYARD DIT "LE SHÉRIFF") oder die Armee (ALLONS Z'ENFANTS) – und Männer, die eine Ehrenlegion am Revers tragen, sind sowieso dubios (ich habe im Verlauf des Boisset-Schwerpunktwochenends bestimmt vier bis fünf rote Abzeichen an Knopflöchern gezählt). Seine Filme sind auch von Skepsis geprägt gegenüber den gewaltsamen und repressiven Tendenzen einer Gesellschaft bzw. einzelner Gemeinschaften.

In DUPONT LAJOIE (den man auch "Unersättliche Triebe besorgter Bürger" nennen könnte) lullt Boisset die Zuschauer zunächst in einer Art satirischen Portrait französischer Kleinbürger in einer mediterranen Urlaubskolonie ein. Nachdem einer der Urlauber die Tochter eines Bekannten vergewaltigt und aus Versehen tötet (und das alles dann vertuscht), sammeln sich die besorgten Urlauber, um in den benachbarten Baracken algerischer Gastarbeiter einen Lynchmord zu verüben. DUPONT LAJOIE, eine Reaktion auf eine Welle rassistischer Gewalttaten in Frankreich 1973, dürfte Boissets vielleicht direktester und krassester Film sein: trotzdem kann man ihn kaum als Thesenfilm bezeichnen, dafür ist er viel zu sehr von Zufällen und Zufälligkeiten her gedacht und inszeniert und von seinen individuellen Charakteren getrieben (gespielt von großartigen Darstellern wie Jean Carmet als durchaus immer wieder selbstzweifelnder "Titelheld", Jean Bouise als ambivalenter Polizeiinspektor, Michel Peyrelon als selbstsicherer Schmierlappen, Jean-Pierre Marielle als TV-Animator, Victor Lanoux als witzig-prolliger und doch überaus gewalttätiger Algerien-Veteran).

FOLLE À TUER stellt Julie (Marlène Jobert) in den Mittelpunkt, eine Frau, die frisch aus der Psychiatrie entlassen wird, eine Stelle als Nanny für den kleinen Sohn eines reichen Unternehmers bekommt und prompt zusammen mit ihrem Schützling entführt wird in einer Intrige, bei der sie, die "Verrückte", als Schuldige zurückgelassen werden soll. Sie steht dann alleine, als Frau in einer Männerwelt, als "Verrückte" unter lauter "Normalen", als kleine Angestellte in einer Welt, in der die Reichen das Sagen haben, als zerbrechliche Marlène Jobert, die von einem brutalen Tomás Milián verfolgt wird – doch der Film steht ganz auf ihrer Seite und inszeniert ihren Weg, ihre Flucht auch als ultraspannenden, nägelkauenden Thriller. Ein wunderbarer Film, auch in der leider schon leicht erröteten Kopie.


LE DOSSIER 51 (Michel Deville: Frankreich/BRD 1978)

Ein quasi-experimenteller Spionagefilm und Paranoia-Thriller, der einen großen Teil der klassischen Erzählung durch fast abstrakte Rekonstruktionen von Observationsberichten und Abhörprotokollen ersetzt. Die dehumanisierenden, bürokratischen Strukturen staatlicher Überwachungsapparate macht er dadurch unmittelbar spürbar, ohne sie jedoch zu fetischisieren: LE DOSSIER 51 vergisst nie, dass es um menschliche Schicksale geht. Der große Triumph des Films ist dann auch, dass seine experimentelle Form niemals selbstzweckhaft oder langweilig wird, sondern im Gegenteil einen ganz eigenen faszinierenden Flow entwickelt.


BODY DOUBLE (Brian De Palma: USA 1984)

Bei der Erstsichtung hat mir ein bisschen was gefehlt für die große Begeisterung. Aber bei der Zweitsichtung, einer der ersten Filme, die ich nach Genesung meiner dritten Krankheitsphase sah (als ich mich sehr nach Filmen über Voyeurismus, über die Freuden und Perversionen des Sehens sehnte) – die Offenbarung: ein ganz großer De Palma; ein wunderbarer Film über das Sehen, die Geilheit des Sehens, die Macht des Sehens, die Ohnmacht des Sehens; ein herrlich quatschkopfiger Film.


IL MIELE DEL DIAVOLO (Lucio Fulci: Italien/Spanien 1986)

Nach über einem Jahr schwerer Krankheit leitete Lucio Fulci mit diesem Meisterwerk die finale Phase seiner Filmkarriere ein: ein intensives Erotik-Melodrama über eine junge Frau, die den Arzt entführt, der das Leben ihres Geliebten auf dem OP-Tisch nicht retten konnte. In der intensiven, sadomasochistischen Beziehung mit ihrem Gefangenen durchlebt sie in trauernder Erinnerung selbst Stationen ihres Beziehungslebens mit ihrem verstorbenen Geliebten, eine Beziehung, die von Gewalt, Misshandlung, emotionaler Erpressung und Missbrauch gekennzeichnet war. Fulci war ein Regisseur der Extreme, und IL MIELE DEL DIAVOLO ist in seiner emotionalen Intensität einer seiner extremsten Filme: von Trauer und Verzweiflung, von zwanghaftem Begehren und Hassliebe überwältigt. Gesehen beim 8. Festival des italienischen Genrefilms "Terza Visione": zweifelsohne einer der großen Höhepunkte in der Geschichte des Festivals. Und einer der essentiellen Filme Fulcis.


Gogoberidze-Double-Feature:

VALSI PECHORAZE – The Waltz on the Petschora (Lana Gogoberidze: Georgien 1992)

OKROS DZAPI – Golden Thread (Lana Gogoberidze: Georgien/Frankreich 2019)

Über Gogoberidzes autobiografisch angehauchten Coming-of-Age-Film im Umfeld des stalinistischen Terrors und ihr in Gelassenheit, Ruhe und Entspannung schwebendes Familiendrama schrieb ich schon ausführlich in meinem Bericht zum goEast 2022.


LIBERTÉ (Albert Serra: Frankreich/Portugal/Spanien/Deutschland 2019)

Einige exilierte französische Libertins organisieren in einem Wald südlich von Potsdam eine nächtliche Orgie und verlieren sich komplett in ihrem Treiben – mit ihnen auch Zuschauer, die bereit sind, sich diesem extrem langsamen Film mit seiner hypnotischen Mischung aus Voyeurismus und meditativer Kontemplation weit über zwei Stunden hinzugeben.


PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU (Céline Sciamma: Frankreich 2019)

Ein wunderschöner Liebesfilm, der Hand in Hand geht mit einem leisen Female-Buddy-Movie (in der Dreiecksbeziehung der Malerin, der Adeligen und der Dienerin). Ein schöner Film über das Filmemachen (auch, wenn es von Portraitmalerei im 18. Jahrhundert handelt) und über kreative Schöpfung als kollektiver Akt. Ein extrem intensiver Film der obsessiven und begehrenden Blicke, der auf sehr elegante Weise dies expliziert, was bei De Palma (das passendste Double-Feature zu Sciammas Film aus meiner 10er-Liste wäre wohl tatsächlich BODY DOUBLE) und natürlich auch schon bei Hitchcock angedeutet war: wenn man lange genug auf sein Objekt der Begierde schaut, wird es irgendwann genauso intensiv zurückblicken und wer wen anschaut, ist irgendwann nicht mehr eindeutig klar.




Einige weitere schöne Neuentdeckungen 2022 (nach Sichtungsreihenfolge geordnet)


BLIND HUSBANDS (Erich von Stroheim: USA 1919)

Stroheim stroheimt stroheimig durch die Berge: Das macht richtig Spaß!


THE 5,000 FINGERS OF DR. T. (Roy Rowland: USA 1953)

Ein kunterbuntes, im besten Sinne kindliches Spektakel, das einfach nicht aufhört, immer wieder mit neuen fantastischen Set-Designs zu verblüffen. Mehr zu diesem Film gibt es in diesem Blog in Manfreds Text zu lesen.


BONJOUR TRISTESSE (Otto Preminger: USA 1958)

Schwierig zu sagen, was die Faszination dieses Films ausmacht: natürlich gibt es die tollen Farben, die meisterhafte Nutzung des Cinemascope, die großartige Darstellerriege. Trotzdem kann ich es nicht wirklich festnageln. Ein mysteriöses "je ne sais quoi".


ELMER GANTRY (Richard Brooks: USA 1960)

Ein Duell der Extraklasse zwischen Burt Lancaster und Jean Simmons in einem Film, der sich (leider) noch sehr zeitgenössisch anfühlt.


THE COLLECTOR (William Wyler: UK/USA 1965)

Ein in seiner Konzentration absolut anbetungswürdiger Kammerspiel-Thriller. Der Moment, als der Protagonist von Freude betrunken über seine gelungene Entführung in seinem Garten unter strömendem Regen tanzt: Ekstase und Schrecken gehen hier eine schauererregende Symbiose ein. Bewundernswert ist auch, dass ein dreifach Oscar-prämierter Hollywood-Altmeister im 40. Jahr seiner Regiekarriere sich mit der Energie eines 25-jährigen Bilderstürmers eines (für 1965) solch "schwierigen" Stoffs angenommen hat und einen so durch und durch modernen Film erschaffen hat.


LA NUIT DES TRAQUÉES (Jean Rollin: Frankreich 1980)

Keine Vampire, kein Strand bei Pourville, sondern nur eine verlorene Frau, die ihr Gedächtnis immer wieder neu verliert und durch einen dystopischen Alptraum aus brutalistischen Hochhäusern schreitet, in denen Verlorene wie sie weggesperrt oder ermordet werden. Ja, Rollin war wesentlich politischer, als ihm gemeinhin zugestanden wird: seine Sympathie gehört immer den Verlorenen, den Ausgestoßenen, den Verfluchten. Und in dieser ganzen Hoffnungslosigkeit findet er trotzdem kleine Gesten der Zärtlichkeit und der Solidarität, wenn etwa eine Frau mit gestörtem Gedächtnis einer ihr völlig unbekannten Frau mit stark eingeschränkter Motorik ihre Freundschaft gibt und ihr beim Essen hilft.


BORN YESTERDAY (George Cukor: USA 1950)

Eine etwas humanistischere und lustigere Version von MY FAIR LADY, mit Judy Holliday als Audrey Hepburn und William Holden als Rex Harrison (sozusagen) und mit Cukor, der ohne 70mm-Breitformat, sondern "nur" im Academy-Format auf teils sehr verblüffende Weise die Raumtiefe nutzt, wenn Figuren durch überdimensionierte Hotelzimmer oder durch Washington huschen. Der unglaublichste Moment ist aber das Gin-Rummy-Spiel (siehe den Ausschnitt hier), bei dem Judy Holliday unter anderem durch blitzschnelles Neuordnen ihrer Karten Broderick Crawford irritiert (ein Teil davon in einem ungeschnittenen 3-minütigen Take).


LADY BEWARE (Karen Arthur: USA 1987)

Mehr zu diesem außergewöhnlichen Rape-and-Revenge-Thriller in meinen Ausführungen zum Leipziger Hofbauer-Kongress.


LE CINQUE GIORNATE (Dario Argento: Italien 1973)

LE CINQUE GIORNATE ist so etwas wie Dario Argentos großer unterschlagener Film: ein komödiantischer Polit-Historienfilm, in dem ein Mailänder Dieb (Adriano Celentano) und ein Bäckergehilfe in den Strudel der 1848er-Revolution geraten. In einem Paralleluniversum wäre Argentos Versuch, sich nach drei Gialli von seinem Ruf als Thriller-Spezialist zu lösen, nicht katastrophal in den Kinos gefloppt, sondern hätte seinen Weg in andere Genres eröffnet: weitere Komödien, vielleicht auch Polizei-/Gangsterfilme, dazwischen möglicherweise ein Melodrama. Doch LE CINQUE GIORNATE floppte – und Argento kehrte 1975 mit PROFONDO ROSSO zum Giallo zurück (der Rest ist Geschichte). Der Flop des Films ist schade, aber auch verständlich, denn "einfach" ist Argentos Revolutionsfilm auf keinen Fall: für eine Komödie wird er in der zweiten Hälfte zu ernst, brutal und tragisch, für einen "respektablen" Politfilm ist er in der ersten Hälfte zu slapstickhaft (der Marsch Celentanos durch die Straßen mit einer italienischen Fahne über der Schulter, bei dem immer mehr Leute, ohne, dass er es merkt, sich ihm anschließen, während eine elektronische Version von Rossinis "La gazza ladra" das ganze vertont, ist genau ein Kino-Meisterstück, den man von Dario Argento erwartet). Erschienen ist er pünktlich zum 125. Jubiläum der 1848er-Revolution, doch als "Gedenkfilm" der Glorie von 1848 taugt er absolut nicht, dafür ist sein Blick auf die italienische Politik viel zu ernüchtert (und gegen Ende wirkt er immer mehr wie ein bitterer, verzweifelter und tragischer 1968er-Katerfilm).

Gesehen beim 8. Terza Visione, also dort, wo es auch mit einem bekannten Namen wie Dario Argento immer wieder verblüffende Überraschungen geben kann.


BESTIALITÀ (Peter Skerl: Italien 1976)

Als "transgressiver" Film des 8. Terza Visione angekündigt, hat sich BESTIALITÀ besonders in der zweiten Hälfte vor allem als sehr eigensinnig erzählter und inszenierter Ehekrisen-Erotik-Drama im Urlaubsinsel-Setting entpuppt. Im letzten Drittel löst er sich teilweise komplett in reine Bilderpoesie auf (definitiv ein Grund, warum mir mittlerweile auch viele Details aus dem Film entgleitet sind).


OMICRON (Ugo Gregoretti: Italien/Frankreich 1963)

Die Coming-of-Age-Geschichte eines Körperfressers, der die Funktionen seines menschlichen Körpers nach und nach entdeckt – oder: eine wahnwitzige Slapstick-Komödie mit einem verblüffenden Renato Salvatori in der Titelrolle und ein unerwarteter Publikumsknüller beim 8. Terza Visione.


CONFIDENTIAL REPORT (Orson Welles: Frankreich/Spanien/Schweiz 1955)

Ich finde TOUCH OF EVIL zwar ganz gut, aber doch irgendwie auch leicht überschätzt im Welles- und Film-Noir-Kanon, irgendwie zu "normal" – während CONFIDENTIAL REPORT tatsächlich ein herrlich eskalierender und delirierender Fieberwahn-Noir ist, sichtbar von einem der ultimativen Hollywood-Rebellen inszeniert.


KISS ME, STUPID (Billy Wilder: USA 1964)

Von der Catholic Legion of Decency verurteilt – zurecht, denn Wilder ist mit seinem wahrscheinlich "schmutzigsten" Film nicht weniger als ein Schmier-Meisterwerk gelungen. Das Dauerfeuerwerk an visuellen Gags, schlüpfrigen Zweideutigkeiten und schieren Unfassbarkeiten ist schon sehr beglückend. Was den Film richtig groß macht, ist, dass er trotzdem zärtliche und reife Aspekte hat: wenn Kim Novak, die sich für einige Momente (bevor Dino wieder reinplatzt) in ein alternatives, gutbürgerliches und respektables Leben verliert, dann ist KISS ME, STUPID auch verblüffend anrührend – und sein Blick auf die Möglichkeiten, Eheprobleme zu diskutieren (am Schluss) ist von einer für 1964 verblüffenden Offenherzigkeit.


AGE OF CONSENT (Michael Powell: UK/Australien 1969)

Nach dem Skandal von PEEPING TOM war Michael Powells Filmkarriere ruiniert – so die gängige Sichtweise. Aber für einen kleinen, aus dem Ärmel geschüttelten Strandurlaub-Abhängfilm (der sich als Spätwerk eines Meisters im exotischen Setting gut mit solchen Abhängfilmen wie John Fords DONOVAN'S REEF und Howard Hawks' HATARI! einreihen könnte) hat es allemal noch gereicht.


LA TRAVESTIE (Yves Boisset: Frankreich 1988)

Vielleicht der "film maudit" Boissets (sein eklatanter kommerzieller Misserfolg läutete das Ende seiner Kinokarriere ein), mindestens aber sein (nach meinem aktuellen Kenntnisstand von 12 Boisset-Filmen) außergewöhnlichster: eine Anwaltsgehilfin betrügt einige ihrer Geliebten, macht sich mit dem Geld nach Paris auf, um dort als Mann zu leben, fängt eine Freundschaft/Liebesbeziehung zu einer Prostituierten an, flüchtet nach deren gewaltsamen Tod in eine neue Beziehung mit einer gutbürgerlichen Hausfrau und kommt um zwei Ecken zu einem Lehrer... Ja, Boissets außergewöhnlichster und vor allem sein in der Inszenierung und Erzählung anarchischster Film: LA TRAVESTIE ähnelt seiner Protagonistin und verweigert sich fast komplett jeglichem Zugriff. Es ist das psychologische Portrait einer Figur, die komplett mysteriös bleibt. Ein Film, der zwischen verspielter Gaunerkomödie, ernsthaftem Drama über Gender-Identitäten, voyeuristischem Prostitutionsmelodrama, Rohmer'ianische Abhängkomödie und ultrafinsterem Stalker-Thriller mühelos wechselt. Ein äußerst bizarrer, schwieriger, sperriger, undurchdringlicher und doch extrem lohnenswerter Film, dessen Mysterien mich nach der Sichtung noch stundenlang wachhielten.


CARNAL KNOWLEDGE (Mike Nichols: USA 1971)

Es ist zunächst die sehr verblüffende und raffinierte Art, wie Nichols das Cinemascope-Format einsetzt, die mich für CARNAL KNOWLEDGE eingenommen hat (in langen, langen Takes, die sehr schön Figuren im Raum verorten einerseits, andererseits in sehr intimen Nahaufnahmen von Gesichtern). Natürlich ist es auch entfesseltes Schauspielerkino mit Jack Nicholson in his prime, einem immer wieder wunderbaren Art Garfunkel (auch wenn seine Rolle natürlich weniger komplex und ambivalent ist als in Roegs BAD TIMING) und einer in der ersten Hälfte rührenden Candice Bergen. Und ein sehr bitterer 68er-Katerfilm.


VIVRE POUR SURVIVRE aka WHITE FIRE (Jean-Marie Pallardy: Frankreich/Türkei/USA 1984)

Die inzestgeschädigte Schmier-Version von VERTIGO meets eine Räuberpistole rund um einen Superdiamanten: Robert "The Exterminator" Ginty geilt die Wiedergeburt seiner Schwester an, schlitzt einigen üblen Gangstern bei einem Straßenkampf mit einer Kettensäge den Bauch auf, philosophiert mit Jess Hahn über Ketchup. Eine unfassbare Wundertüte des obskuren Exploitationkinos.


NIGHTMARE IN BADHAM COUNTY (John Llewellyn Moxey: USA 1976)

Durch eine unglückliche Verkettung von Zufällen finden sich zwei Studentinnen auf Urlaubstour in einem Südstaaten-Zwangsarbeiterinnenlager wieder: ein beeindruckend intelligenter Vertreter des Frauenknast-Subgenres mit einem sehr differenzierten Blick für gesellschaftliche Gewaltstrukturen – umso interessanter, dass der Film "nur" für das Fernsehen produziert wurde.


HILJA – MAITOTYTTÖ (Toivo Särkkä: Finnland 1953)

"Liebe einer Sommernacht" (engl.: "The Milkmaid") ist ein wunderschön fotografiertes und von einem beeindruckenden inszenatorischen Gestaltungswillen (er wirkt stellenweise sehr Hitchcock'ianisch) geprägtes Melodrama um die Liebe zwischen dem Milchmädchen Hilja und einem Kunststudenten im Sommerurlaub – die Dorfgemeinschaft und ein gewalttätiger Landarbeiter, der Hilja für sich haben möchte, trüben das Liebesglück. Vielleicht könnte man das Klischee des "unterkühlten Finnen" etwas aufbrechen, wenn solche starke Melodramen aus Finnland öfter gezeigt würden.


OPEN SEASON (Peter Collinson: UK/Spanien/USA 1974)

Ein besonders grimmiger Blick auf die USA der Vietnam- und Watergate-Ära: drei gutbürgerliche Vietnamveteranen (Peter Fonda, John Philip Law, Richard Lynch) verbringen alljährlich einen Urlaub, bei dem sie Menschen auf eine entlegene Jagdhütte entführen, demütigen und missbrauchen und anschließend in der Wildnis jagen. Der Vietnamkrieg hat sie nicht traumatisiert, sondern ihren ohnehin schon bestehenden Appetit auf Gewalt nur gesteigert. Dieses Jahr ist ein Paar an der Reihe, ein älterer verheirateter Mann mit seiner Liebhaberin, und in der ersten Hälfte lotet OPEN SEASON besonders die ambivalenten, unbequemen Beziehungsdynamiken zwischen Entführern und Entführten aus, bevor es in der zweiten Hälfte actionreicher wird (der Film lief beim 7. Karacho-Festival des Actionfilms). Das fulminante Ende hat in seiner meta-kinogeschichtlichen, symbolischen Wucht noch stundenlang an mir genagt.


WATASHI NO SEX-HAKUSHO – My Sex Report: Intensities (Sone Chusei: Japan 1976)

Wieder ein Pink-Film, bei dem sich die Frage stellt "Ist das noch Exploitation oder schon Avantgarde?": unfassbare Cinemascope-Tableaus mit fantastischen Set-Designs und wilde Montagen erzählen in impressionistischen Schnipseln die Geschichte einer Krankenschwester, die im Großstadtmoloch Tokio ihren schwerkranken Bruder versorgen muss und irgendwie überleben muss.


IL RITORNO DI RINGO (Duccio Tessari: Italien/Spanien 1965)

Nach dem sehr enttäuschenden UNA PISTOLA PER RINGO war IL RITORNO DI RINGO (mit der gleichen Crew sofort im Anschluss gedreht, erzählerisch allerdings komplett unabhängig) eine Überraschung: eine Art Western-Adaption der Odyssee, mit einem Bürgerkriegssoldaten, der zu Kriegsende nach Hause zurückkehrt, um sein Dorf von Banditen belagert und seine Ehefrau vom Banditenchef umgarnt wiederzufinden. Trotz der Comic-Relief-Figur des Blumenhändlers, der seine ganze Wohnung mit Gadgets ausgestattet hat, ein zutiefst trauriger und melancholischer Film (stellenweise gar ein tränenreiches Melodrama um zwei Liebende, die sich nach langer Trennung unter widrigen Umständen wiederfinden), der erst im Showdown am Ende eine explosive Erlösung findet.


LAWMAN (Michael Winner: USA 1971)

Ein außergewöhnlicher Western über eine sich aufgrund des Unwillens der Beteiligten immer mehr steigernde Eskalationsspirale der Gewalt. Burt Lancaster ist besonders toll in der Titelrolle, bei dem man nie so ganz sicher sein kann, ob er ein steifer, verstockter Bürokrat, ein melancholischer Loner, der es im Leben oft zu schwer hatte oder ein sadistischer Psychopath ist. LAWMAN enthält eines der wohl verblüffendsten Fisch-Frühstücke der Kinogeschichte und einen wahrhaft exzentrischen, völlig überraschenden, schockierenden und schockierend brutalen Shootout am Ende.



Mit dem Zweiten sieht man besser

FEMME FATALE (Brian De Palma: Frankreich/USA 2002)

Was für ein Narr, ein Idiot, wie blind war ich doch, die überbordende und völlig offensichtliche Schönheit dieses Films nicht schon beim ersten Mal (Mai 2016) erkannt zu haben. Bei der Zweitsichtung, im Kino, mit einer kristallinen 35mm-OmU-Kopie – die augenöffnende Offenbarung. Ein Film wie ein Spiel, das süchtig macht. Eine Wundertüte voller Blicke (und Blicke der Blicke, und Blicke der Blicke der Blicke etc.). Ein unglaublich liebevoller Frauenfilm mit einer alles vereinnahmenden und alle verführenden Protagonistin, der eigentlich alle Leute Lügen strafen sollte, die De Palma als Frauenfeind bezeichnen (genau solche Diskussionen trotzdem auch nach dieser Vorstellung geführt). Unter all der Verspieltheit, der Stilisierung, den unzähligen Hommagen an und Querverweisen auf Hitchcock, den Film Noir etc., ja auch unter dem ganzen Quatsch (De Palma ist so ein liebenswerter Quatschkopf, er ist zum Umarmen und Drücken) auch ein klassischer, zeitloser Film und eben keineswegs ein "trashiges" Zeitdokument der frühen 2000er Jahre, was man sich darunter auch immer genau vorstellen mag (auch diese Diskussionen nach dieser Vorstellung geführt).

Wie kann man denn nicht sehen, was für ein großartiger Film FEMME FATALE ist? Wie?

(als weiterführende Lektüre empfehle ich Michael Koreskys Text aus seiner Reihe "Queer and Now and Then")

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Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern von Whoknows Presents ein schönes (und nicht zu vergessen: gesundes) Jahr 2023 mit vielen schönen Filmen.