Dienstag, 6. September 2011

Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 1: Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus
Teil 2: Publikumsbeschimpfung auf Japanisch

DER PROZESS (SHINPAN)
Japan 1975


Ein Mann schlägt einen ziemlich langen Nagel mitten in den Boden einer Straße. Ein anderer Mann schlägt einen Nagel in eine Wand, und im selben Moment krümmt sich ein Dritter vor Schmerz und bricht zusammen, als ob er den Nagel in den Unterleib bekommen hätte. Ein Liebespaar in einem Zimmer: Sie liegt nackt auf einem Bettgestell aus Metall ohne Matratze, er kniet daneben auf dem Boden und schlägt in regelmäßigen Abständen mit seinem Hammer auf einen Nagel; jedesmal, wenn er trifft, stöhnt die Frau auf und krümmt sich vor Lust. Ein hagerer nackter Mann, der einen riesigen gekrümmten Nagel geschultert hat, wankt damit durch eine Landschaft, die durch einen violetten Farbfilter verfremdet ist. Eine Frau im Kimono öffnet in einem Zimmer ein kleines Kästchen, das verpackt ist wie ein Geschenk; als sie sieht, dass die Innenwände des Kästchens mit kleinen Nägeln gespickt sind, erschrickt sie, als ob sie die Büchse der Pandora geöffnet hätte.


Und so geht es weiter: Nägel in allen Größen, in absurden, surreal anmutenden Situationen. Die Frau im Kimono muss hilflos und angsterfüllt zusehen, wie ein großer gekrümmter Nagel - vielleicht derselbe, den der Mann durch die Gegend trägt - scheinbar aus eigenem Antrieb in ihr Zimmer eindringt. Der zunehmend entkräftete Mann, der seinen Nagel zu tragen hat, kehrt mehrfach wieder; seine Szenen sind mit sehr schöner melodischer, aber auch etwas rätselhaft-beunruhigender Musik unterlegt - dies und die violett eingefärbte Szenerie verleihen den Sequenzen einen ungewöhnlichen ästhetischen Reiz. Ein Mann mit Vollbart und Brille, der wie ein Gelehrter wirkt, schlägt auf würdevolle Art große Nägel in ein aufgeschlagenes dickes Buch. Ein weiteres Liebespaar: Sie treiben es auf konventionelle Weise, doch dann lugt ein riesiger Nagel (wohl der größte im Film) durch das offene Fenster herein. Und noch einiges mehr - Nägel, immer wieder Nägel.


Was hat das alles zu bedeuten? Bedeutet es überhaupt irgendwas? Es ist zumindest offensichtlich, dass es eine enge Verbindung zur Sexualität gibt. Man könnte den Nagel als Phallussymbol interpretieren. In einigen Abschnitten wird diese Deutung forciert - neben den Szenen mit den beiden Liebespaaren vor allem ein Blowjob mit einem überdimensionalen Nagel (siehe fünften Screenshot). In anderen Szenen will sie nicht so recht passen, wäre zumindest recht bemüht. Ein Rezensent deutet die Nägel ähnlich, aber etwas allegorischer als Symbol der männlichen Libido - ein interessanter Gedanke, der etwas für sich hat. Aber muss es überhaupt eine geschlossene Deutung des Films geben? Eher nicht. Terayama war keiner, der seinem Publikum irgendwelche Interpretationen seiner Filme aufdrängte, sondern zu eigenem Nachdenken anregen wollte, so wie auch in seinen Theaterproduktionen das Publikum oft einbezogen wurde. "Für Terayama waren seine Arbeiten Fragen und keine Antworten", sagte Henriku (oder Henrikku) Morisaki, ein langjähriger Mitarbeiter und Freund, 2008 in einem Interview - "sie mussten durch das Publikum komplettiert werden."


So kann also jeder in den Film hineinlesen, was er will - eine "richtige" oder "wahre" Interpretation gibt es nicht. Der Titel DER PROZESS ist übrigens kein deutscher Verleih- oder Fernsehtitel, sondern ein Originaltitel, und er bezieht sich auf Franz Kafkas bekanntes Romanfragment. Der alternative Titel SHINPAN ist der übliche Titel japanischer Übersetzungen von Kafkas auch in Japan berühmtem Werk. Worin der Bezug des Films zu Kafka nun tatsächlich besteht, ist mir allerdings schleierhaft.


Unabhängig von möglichen Interpretationen ist DER PROZESS ein sehr schöner Film. Neben den ungewöhnlichen und fantasievollen Bildern trägt auch der gekonnte Soundtrack von Terayamas Haus- und Hofkomponisten J.A. Seazer (gelegentlich auch J.A. Caesar geschrieben) dazu bei. Einen dreisten Coup erlaubt sich Terayama mit dem Schluss. Elf Minuten vor Ende des 35-minütigen Films erreicht der nackte Mann mit dem geschulterten Nagel torkelnd bewohntes Gebiet, und das Bild verschwindet in einer Weißblende. Und dann passiert - nichts. Man lauscht der wunderschönen sanft-melodischen, fast elegischen Musik und blickt gebannt (zumindest beim ersten Sehen) auf die Leinwand oder den Monitor, weil ja noch etwas passieren muss. Aber das Bild bleibt zehn Minuten weiß, es passiert nichts, bis die End-Credits eingeblendet werden. Was soll das nun wieder? Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte ein Rückbezug auf Terayamas ersten Spielfilm WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE sein. Da ist am Anfang zunächst mal die Leinwand eine Minute lang schwarz. Dann wird ähnlich wie in LAURA die "vierte Wand" durchbrochen, und der Protagonist spricht zum Zuschauer: "Was tust Du hier? Durch herumhängen bewirkt man nichts. Die Leinwand ist komplett leer." Und dann, gegen Ende des Films: "Schaltet das Licht ein! Der Film endet hier. Jetzt bin ich an der Reihe zu reden. Wenn man darüber nachdenkt, kann ein Film nur im Dunkeln existieren. Wenn die Lichter angehen, wie jetzt, wird die Welt des Film ausgelöscht." Und ganz am Ende erscheint dann eine weiße Leinwand, wenn auch nur für eine knappe Minute, bevor die End-Credits beginnen (die in diesem faszinierenden Film auch eine ganz besondere Form haben, aber das ist ein anderes Thema). Es könnte also sein, dass Terayama dieses Motiv nochmal aufgreift und ausbaut. Auf jeden Fall gibt es einen Querbezug von DER PROZESS zu A TALE OF SMALLPOX (HŌSŌTAN), einen seiner beiden anderen Kurzfilme von 1975, denn darin kommen auch Nägel vor - etwa ein Mann mit vollständig bandagiertem Kopf, in den Nägel geschlagen werden.


Von allen Kurzfilmen Terayamas ist DER PROZESS für mich der interessanteste. Seine sämtlichen Kurzfilme (bis auf den ersten von 1960, der verschollen ist) sind in einer Box mit vier DVDs in Japan erschienen, die jedoch nicht mehr erhältlich ist. Einige Kurzfilme und Ausschnitte aus den Spielfilmen findet man bei YouTube.

Samstag, 3. September 2011

Publikumsbeschimpfung auf Japanisch

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 1: Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus
Teil 3: Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

LAURA (alternativ ROLLER, jap. RŌRA)
Japan 1974


Drei leicht bekleidete Grazien (von denen eine ein Transvestit sein könnte) in einem abgedunkelten Bühnenraum fast ohne Einrichtungsgegenstände. Sie durchbrechen die "vierte Wand" und sprechen den Zuschauer vor der Leinwand direkt an:

"Du da, in der zweiten Reihe von vorne! Womit fummelst Du da herum? Wir sind genau vor dir. Wir können dich perfekt sehen. Hör auf damit! Warum kommst Du nicht her? Mach es nicht selbst! Es ist schlecht für dich. Was, wenn es den Kerl vor dir trifft? Er müsste dann so heimgehen. [Gelächter] Und was ist mit dir? Glotz nicht! Tu nicht so, als ob Du nicht würdest! [...] Wir sind nicht nur Licht und Schatten auf der Leinwand. Wir haben Augen genau wie Du. Wir kennen die Typen, die in Experimentalfilme kommen. [...] Andere Kerle glauben, "Avantgarde" bedeutet eine nackte Frau! [Lachen] Ich lass dich mal schauen, wenn Du willst. Das ist es, was manche von ihnen wollen. Wir haben auch Geschäftsleute als perverse Spanner. Und ehrgeizige Literaturkritiker. [...] All die Möchtegernkritiker in der Menge kommen in Filme wie diesen."

Und so weiter. Etwas später wird einer der Geschmähten auf unergründliche Weise durch die Leinwand zu den drei Vamps gezogen. Mit sanfter Gewalt ziehen sie ihn aus und verlustieren sich an ihm, seinen halbherzigen Protesten zum Trotz. Am Ende entschwindet der Gebeutelte auf die selbe Art, wie er gekommen ist, wieder in den Zuschauerraum. Und die drei Grazien kündigen für das nächste Mal ein Melodram an ...


Ich fühlte mich durch den Film etwas an Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" erinnert - um genau zu sein, an den Schluss dieses Sprechstücks, in dem das Publikum die meiste Zeit über gar nicht beschimpft wird. Das ist kein abwegiger Gedanke. Terayama war sehr an zeitgenössischer europäischer, auch deutschsprachiger, Literatur interessiert, und in der posthum veröffentlichten Essaysammlung "Hakaba made nan mairu?" (How Many Miles to the Graveyard) erwähnt er die "Publikumsbeschimpfung" ausdrücklich. Vielleicht kannten sich Terayama und Handke sogar persönlich, denn beide waren im Juni 1969 beim experimentellen Theaterfestival "experimenta 3" in Frankfurt am Main anwesend (Terayamas Theatertruppe Tenjō Sajiki führte zwei Stücke auf). Die "Publikumsbeschimpfung" war drei Jahre zuvor am selben Ort bei der "experimenta 1" uraufgeführt worden. Ich weiß aber nicht, ob sich Handke und Terayama tatsächlich kennenlernten - Handke schrieb nach der "experimenta 3" einen Artikel darüber in der Zeit, und darin wird Terayama gar nicht erwähnt. Wie dem auch sein mag - LAURA ist ohnehin ein eigenständiges Werk. Kein übermäßig tiefschürfendes, aber eine witzige und freche Auseinandersetzung mit Avantgardefilmen und ihren Zuschauern. Was übrigens die nackten Frauen (und auch Männer) betrifft: Die gab es in Terayamas Filmen tatsächlich immer wieder, einschließlich sichtbarer Genitalien und Schamhaare - im japanischen Film eigentlich ein Tabu. Shūji Terayama war eben ein Enfant terrible, ein Grenzgänger zwischen "Hochkultur" und anarchischem Underground.

Donnerstag, 1. September 2011

Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 2: Publikumsbeschimpfung auf Japanisch
Teil 3: Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

THE WAR OF JAN-KEN-PON (JANKEN SENSŌ)
Japan 1971


Zwei junge Männer in militärischen Uniform-Jacken und -Mützen - aber ohne Hosen - spielen das bekannte Schere-Stein-Papier-Spiel, das wohl jeder von uns als Kind schon mal gespielt hat. Aber bei dem Duell der beiden Jünglinge handelt es sich offenbar nicht um einen harmlosen Zeitvertreib, sondern um einen verbissenen Kampf. In einer leeren Lager- oder Fabrikhalle attackieren sie sich bald auch körperlich - und zwar in der Manier von Schimpansen. Und draußen an einem Fenster der Halle stehen Leute und schauen interessiert, aber auch distanziert herein - so wie man eben dem Treiben der Affen im Zoo zuschaut. Immer wilder kaspern die beiden herum, bis sie völlig verdreckt und derangiert sind. Als Soundtrack des zwölfminütigen Films erklingt wagnerianische Musik, phasenweise unterlegt mit Grunzlauten und mit Gegröle von Adolf Hitler.


Shūji Terayama, ein Avantgardist par excellence, hat neben seiner Arbeit als Gründer und Leiter der experimentellen Theatertruppe Tenjō Sajiki, als Dichter und Schriftsteller und in weiteren Aktivitäten, auch mehrere Spielfilme und ca. 15 Kurzfilme gedreht. THE WAR OF JAN-KEN-PON - der Titel bezieht sich auf den japanischen Namen des Schere-Stein-Papier-Spiels (das vermutlich aus China stammt und von Japan aus den Weg nach Europa fand) - wurde nicht als eigenständiger Film gedreht, sondern er ist ein Auszug aus der 72-minütigen Langfassung des wüsten und kontroversen EMPEROR TOMATO KETCHUP (TOMATO KECHAPPU KŌTEI) von 1970, in dem die Kinder in einer bewaffneten Revolte die Macht übernehmen und den Erwachsenen merkwürdige Gesetze aufoktroyieren. Lediglich der Soundtrack wurde für die zwölfminütige Version neu erstellt. Während die meisten Filme von Terayama vielschichtig und schwer zu entschlüsseln sind, drängt sich mir hier eine Interpretation geradezu auf: Terayama verhöhnt jeglichen Militarismus als Affenzirkus.

Mittwoch, 24. August 2011

Dekadenz bei Kerzenschein

Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (Alternativtitel: Rossini)
(Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief, Deutschland 1997)

Regie: Helmut Dietl
Darsteller: Götz George, Mario Adorf, Heiner Lauterbach, Gudrun Landgrebe, Veronica Ferres, Joachim Król, Hannelore Hoger, Armin Rohde, Jan Josef Liefers, Martina Gedeck, Meret Becker u.a.

Sie zelebrieren sich und ihre Neurosen, und sie tun es dort, wo jeder Vorübergehende den Tanz der ihre Leere Feiernden  bestaunen kann: im Glaspalast Rossini, dem Edelrestaurant, das sich die Schickeria als zweites Wohnzimmer zugelegt hat. Regisseur Uhu Zigeuner, dem der Padrone seine Stammgäste verdankt, kriegt keinen hoch, wenn er nicht an einem Film arbeiten kann, eine abgetakelte Klatschkolumnistin benötigt den täglichen Orgasmus gegen ihre Migräne (weshalb sie diverse Vergewaltigungsversuche unternimmt) und der scheue Schriftsteller Jakob Windisch zieht sich ins Separée zurück, weil er gar keinen Sex will (“Ich will nichts erleben. Ich bin Schriftsteller.”) - um sich dann doch von der Kellnerin Serafina verführen zu lassen. --- Die Schönheit Valerie wiederum, die an dem einen Sommerabend, der dem Zuschauer einen Einblick ins Treiben der Gesellschaft gewährt, mindestens zum dritten Mal ihren 40. Geburtstag feiert, benötigt gleich zwei sie begehrende Männer, die zwar die Ursache für ihre Verstopfung sind, sie aber ins vom Licht  unzähliger weisser Kerzen verzauberte Ristorante begleiten: den jungen Dichter mit Dreitagebart Bodo, der ihr hymnische Verse ins Ohr flüstert, und den Filmproduzenten Oskar Reiter, von dem sie sich, obwohl er bis zum Hals in Schulden steckt, wertvollen Schmuck schenken lässt. Sie lässt sich sogar auf dem Boden von dem einen ficken, damit sie dem anderen ein “Hab ich dich befriedigt oder nicht?”   entlocken kann. - Und Paolo Rossini, der in herrischer Manier gewöhnlich Sterbliche von der Pforte seines Tempels verscheucht, vor der versnobten Bande  aber wie ein Lakai buckelt (man könnte sich jederzeit von ihm abwenden), gibt sich als Frauenfeind, lässt jedoch augenblicklich italienische Balladen in seinem schmelzenden Herzen erklingen, als der Traum eines jeden Mannes, die heilige Hure in Weiss, im Kerzenschimmer vor ihm auftaucht und Brecht zitierend (“Doch man sieht nur die im Lichte; die im  Dunklen sieht man nicht”) mit leiser Stimme Einlass begehrt.

Alle diese Leiden und Nöte beziehungsunfähiger Exhibitionisten, die uns Helmut Dietl in seinem zweiten Kinofilm nach der herrlichen Hitler-Tagebuch-Persiflage “Schtonk!” (1992) präsentiert (und es wären ein paar weitere hinzuzufügen), sind auf lockere Weise miteinander verbunden, wobei sich, wie schon die “Zeit” 1997 in einer lesenswerten Besprechung feststellte, im Verlaufe des Abends drei Hauptstränge entwickeln, die das hysterische Treiben des Packs als Vorwand für andere Dinge aufzudecken scheinen: Im Mittelpunkt des ersten Strangs steht der Erfolgsroman “Die Loreley”, von dem Reiter meint, er sei “mehr als die Bibel” und den er  unbedingt mit Zigeuner als Regisseur auf die Leinwand bringen möchte, damit er die Bankiers, die ihm bereits den Strick um den Hals legen, beruhigen kann. Uhu Zigeuner soll dem jeder Verfilmung abholden Jakob Windisch, der von Joachim Król grandios wie ein störrisches, ängstliches Kind mit Kulleraugen verkörpert wird, die Rechte abjagen. Hinter all dem leeren (oft frauenfeindlichen) Wortwitz, der den Abend prägt, versteckt sich also auch schnödes Business, und zwar Business, bei dem es beinahe um Leben und Tod geht.

Der zweite Strang dreht sich um die rätselhafte Schönheit Schneewittchen, die an diesem Abend im “Rossini” auftaucht, um sich auf raffinierte Weise vom Kellertheater bis zum deutschen Grossfilm hochzuschlafen. Vermutlich sprechen sie, diese Blondinen, immer wieder für die Rolle der “Loreley” vor; aber Schneewittchen weiss sie als unschuldige Hure auch zu leben. Mit zärtlichen Worten  wendet sie sich von ihrer Geliebten (Meret Becker) ab und beraubt den Restaurantbesitzer seines Verstandes, um dann dort ihre Beine breit zu machen, wo Aussicht auf Erfolg besteht. Produzent Reiter sieht in ihr die Idealbesetzung, Uhus Schwanz richtet sich empor, als befände er sich bereits mitten in den Dreharbeiten. - Und doch wird man den Eindruck nie los, schon am nächsten Abend werde ein anderes Schneewittchen die Glieder der Sippschaft zum Stehen bringen und als ideale Loreley gefeiert werden...

Diesen Eindruck des sich dauernd Wiederholenden erweckt auch der dritte, die Leere auf intensivste Weise aufdeckende Strang, der die Geschichte einer Selbstmörderin erzählt. Sie hat alles, und sie will als Gefangene der Schickeria noch mehr, nämlich den Widerspruch: “Ich will Lust bis zur Besinnungslosigkeit - und Ruhe. Leidenschaft bis zum Wahnsinn - und Frieden.” - Der hoffnungslos in sie verliebte Schönheitschirurg Dr. Sigi Gelber, vom Rest nur benutzt und belächelt, möchte ihr zwar nach all den Ausschweifungen Ruhe und Frieden schenken; als er am Morgen an ihrer Haustür erscheint, um ihr seine Schätze zu Füssen zu legen, hat sie ihren Frieden jedoch bereits in der Badewanne mit aufgeschnittenen Pulsadern gesucht. - Und man weiss: das Fest der Eitelkeiten setzt sich am nächsten Abend fort. Einer fehlt (es hätte auch eine andere Figur treffen können), man wird Ersatz finden.


Helmut Dietls Film "Rossini", einer der grossen Erfolge des Jahres 1997, wurde mit Auszeichnungen regelrecht überhäuft, erhielt jedoch von der Kritik  nicht nur Beifall. Während sich der Schweizer Kritiker Urs Jenny in einer SPIEGEL-Rezension  zum Ausruf  verleiten liess, “Rossini” feiere nach diversen seichten Produktionen endlich die “Wiedergeburt des deutschen Kinos aus der Komödie”, taten ihn andere als oberflächlich, seicht und banal ab. - Man muss zugeben: die “Entlarvung”der Mediengesellschaft bietet Wortwitz und schauspielerische Glanzleistungen im Übermass. Die Kamera, die munter durch ein Lichtermeer fegt, fängt den Reigen der Schickeria überdies so kunstvoll ein, dass sich der Zuschauer rund zwei Stunden lang auch nicht einen Augenblick langweilt. - Aber haben wir es wirklich mit einer “Entlarvung” zu tun?

Ich verweise noch einmal auf Urs Jennys Worte über den Regisseur, der erst spät zu einer bedeutenden Gestalt des deutschen Films wurde, weil er lange Zeit die Kleinform der TV-Serie (unter anderem “Monaco Franze - Der ewige Stenz”, 1983, und “Kir Royal”,  1986) für seine legendär giftigen Spitzen gegen eine übersättigte (Münchner) Bussi-Bussi-Gesellschaft vorgezogen hatte: “Der tiefste Grund dafür, dass er im Lauf von 25 Berufsjahren so beklagenswert wenig produziert hat, ist wohl, dass ihm nur selten eine Sache gut genug und der Mühe wert erscheint. Wenn es dann aber sein soll und muss, setzt er ... die Hürde so hoch wie irgend möglich.” - Nun waren es gerade die erwähnten TV-Serien auch zweifellos wert, zusammen mit seinem Co-Autor Patrick Süskind sorgfältig und wirklich entlarvend komponiert zu werden (man erinnert sich noch nach vielen Jahren an Details!); auch die Jahrhundert-Blamage, die sich die Illustrierte “Stern” mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern leistete, galt es gnadenlos verulkend als "Schtonk!" ins Kino zu bringen. Im Falle des scheinbar dem bewährten entlarvenden Muster folgenden “Rossini” sah die Sache jedoch ein wenig anders aus:

Dietl ordnete zwar die von ihm geschilderte Schickeria nicht einer bestimmten Stadt zu, und er reagierte - als wittere er die Gefahren, die von einem Eingeständnis ausgehen könnten -  mit einem “Bullshit!”, wenn er auf Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen angesprochen wurde. Tatsächlich musste jedoch auch “Rossini” in seinen Händen zu einem für jeden offenkundigen Schlüsselfilm werden. - Das Film-Restaurant “Rossini” hatte sein Vorbild im Münchner “Romagna Antica”,  in dem sich die lokale Film- und Presseschickeria der 80er Jahre allabendlich versammelte, um sich, ihre Bedeutungslosigkeit kaschierend, "darzustellen". Und dort fand man sie, all die im Film trotz ihrer koketten Veränderungen so leicht zu erkennenden Grössen, die auch bei ihrer Verewigung auf Zelluloid die gierigen Finger im Spiel haben sollten: Hinter dem mit schwarzer Weste auftretenden Uhu Zigeuner (George darf zwar berlinern) steckt ganz offensichtlich der meist in Schwarz anzutreffende Dietl selber, Heiner Lauterbach darf als Reiter den Erfolgsproduzenten Bernd Eichinger, der von Dietls engem Freund und Co-Autor Patrick Süskind (im Film Jakob Windisch) jahrelang vergeblich - wäre es doch dabei geblieben! - die Filmrechte für den Welterfolg “Das Parfum” erhalten wollte, geben - und der Lyriker Wolf Wondratschek, dessen Ergüssen die Verlängerung des Filmtitels entnommen wurde, kann sich, Werbung für weitere Verse machend, in dem die schöne Valerie beflüsternden Bodo  wieder erkennen. - Eine der glanzvollen Damen soll sich damals sogar tatsächlich ins Jenseits befördert haben, und alle seien sie am nächsten Abend wieder dämlich schwatzend und sich für wichtig haltend im Romagna Antica aufgetaucht...


Betrachtet man nun “Rossini” von diesem Blickpunkt aus (und es scheint mir der ihm angemessene zu sein), entdeckt man keine “Entlarvung” mit giftigen Spitzen, keine Abrechnung mit der Münchner Schickeria der 80er Jahre. Zu viele Gestalten, die sich damals im In-Restaurant “die Ehre gegeben” hatten, waren in die aufwändige Film-Produktion (alleine schon die Dreharbeiten zogen sich wegen der illustren Besetzung ewig hin) verwickelt. Es entsteht deshalb eher der Eindruck, man führe sich - weil man ums Verrecken nicht davon ablassen kann - selber noch einmal genussvoll vor, suhle sich in seiner eigenen Dekadenz, als setze man dem, was man in den 80ern war, ein leicht ironisches Denkmal. Und diese Selbstdarstellung macht “Rossini” trotz seines Unterhaltungswerts tatsächlich zu einem billigen, oberflächlichen Film, der einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Denn er glorifiziert auf pompöse Art  eine Vergangenheit  und setzt sie der nüchternen Gegenwart entgegen. - Vor allem aber verbieten sich die immer wieder auftauchenden und seltsam anmutenden Vergleiche mit Robert Altman’s  Meisterwerk “Short Cuts” (1993).

Schlüsselfilme zum Medienrummel können durchaus auf hämische oder bittere Weise entlarvend sein. Ich erinnere nur an Vincente Minnelli’s “The Bad and the Beautiful” (1952), dessen Hauptfigur sich zweifellos am Egomanen David O. Selznick orientiert, an Tom Toelles “Das Millionenspiel” (1970) oder eben an Altman's "The Player" (1992). Dietls sich selber beweihräuchernder “Rossini” ist, kommt man ihm erst einmal auf die Schliche, weit von solchen Werken entfernt. Verständlich aber auch schade, dass sich derart bedeutende deutsche Filmschauspieler für das auf den ersten Blick einnehmende Spektakel hergaben! --- Ich variiere zum Abschluss den Rat, den ein Medienhändler dem Kritiker Fred Maurer gegeben haben soll: Schaut euch den Film an! Staunt über die Wirkung, die er im ersten Moment zu entfalten vermag! Und schenkt ihn dann jemandem, den ihr nicht leiden könnt.

Freitag, 19. August 2011

Kurzbesprechung: Buddenbrooks (1959)


Buddenbrooks
(Buddenbrooks, Deutschland 1959)

Regie: Alfred Weidenmann

Es ist sicher ein Ding der Unmöglichkeit, Thomas Manns 1901 erschienenem Roman “Buddenbrooks”, der über vier Generationen hinweg den “Verfall” einer Lübecker Kaufmannsfamilie schildert und - weit mehr als eine Abrechnung mit der eigenen Familie - für das ganze Jahrhundert von grosser Bedeutung sein sollte, mit dem Medium Film auch nur annähernd gerecht zu werden. Die am meisten um Werktreue bemühte Adaption sollte 1979 Hans Peter Wirth ermöglicht werden, der den Stoff als elfstündige Miniserie für das Fernsehen umsetzte, allerdings in Danzig drehen musste. - Wer sich den “Buddenbrooks” in etwas kürzerer Form und einen “lockeren” Umgang mit der Vorlage in Kauf nehmend annähern möchte, vom pompösen Ausstattungsstück, das uns Heinrich Breloer 2008 bot, jedoch abgeschreckt wurde, sollte vielleicht wieder einmal an Alfred Weidenmanns Verfilmung aus dem Jahre 1959 denken.

Weidenmann verzichtet wie später auch Breloer auf die erste Generation und beginnt mit dem widerlichen Schleimer Bendix Grünlich, der sich mit seinem Backenbart an Antonia Buddenbrook (Tony genannt) heranmacht, um vom Reichtum ihres Vaters zu profitieren. Im weiteren Verlauf konzentriert sich der Film auf den “innerlichen Verfall” der Familie und weist nur grob darauf hin, dass man auch zunehmend von der Geschäftsmaxime “Sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber verrichte nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können” Abstand nimmt. Wichtige Figuren und Episoden (Tonys Aufenthalt im Internat) werden nur grob gezeichnet oder ignoriert. Es kommt auch - wiederum wie bei Breloer, der sogar einzelne Szenen hinzuerfand - zu gewissen Umstellungen: So stirbt nicht Sohn Hanno als letztes Familienmitglied, sondern Thomas bei seiner Vereidigung zum Senator (statt im Strassendreck nach der Zahnbehandlung). --- Immerhin konnte Weidenmann, der wie viele Regisseure der 50er Jahre auffällig braune Flecken an seiner "weissen" Weste vorzuweisen hatte, auf die Mitarbeit von Erika Mann, die das Drehbuch absegnen musste, zählen. Erika durfte - kein Witz! - ihre Stimme sogar dem Papagei in der Zahnarztpraxis leihen.

Das grosse Plus an diesem Film: Es scheint, als hätten die späten 50er das ideale Staraufgebot für eine Verfilmung von “Buddenbrooks” geliefert. Weidenmanns äusserst unterhaltsame Version, die überdies mit ausgezeichneten Decors aufwartet, ist bis auf die kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzt: Man bewundert sogar einen Joseph Offenbach, der als Bankier Kesselmeyer Grünlich mit hellem Lachen dessen Bankrott verkündet. Hanns Lothar, der als Christian Buddenbrook sein “That’s Maria!” singend am Ende in der Klapsmühle landet, ist ein unvergessliches Erlebnis, ebenso Robert Graf als Tonys geldgieriger Bewunderer und erster Gatte. Die ältere Generation ist mit Lil Dagover und Werner Hinz würdig vertreten; ich halte im Gegensatz zu manchen Kritikern auch Hansjörg Felmy in der Rolle des Thomas Buddenbrook für überzeugend (er kann natürlich gar nicht sämtliche Facetten der äusserst komplexen, sich in inneren Monologen entfaltenden Romanfigur abdecken). Und Nadia Tiller ist als geheimnisvoll musizierende Gerda eine Schönheit, die wie ein Fremdkörper in der bodenständigen Familie wirkt. --- Einzig Liselotte Pulver will mir als im Film stark hervorgehobene Tony nicht gefallen. Das liegt nicht daran, dass sie Schweizerin ist; es hat vielmehr damit zu tun, dass Lilo zwar über ein erstaunlich breites Rollenspektrum verfügt, jedoch schlicht keine Figur spielen kann, die im Roman äusserst ironisch angelegt ist, über die man sich also hinter vorgehaltener Hand hämisch lustig macht. Man identifiziert sich mit jeder Schnute, die Lilo als Tony zieht, lacht mit ihr, wenn sie sich naiv aufführt - aber man lacht nie über das eigentlich einfältigste Familienmitglied, das sich sogar noch für weise hält. Und das ist schade. - Man fragt sich bei dieser Gelegenheit, ob sich keine weniger bekannte Darstellerin finden liess, die die Tony besser verkörpert hätte.

Ansonsten halte ich die 1959er Version für ausserordentlich gelungen, geradezu erstaunlich professionell gemacht für die Zeit. Ich schaue sie mir immer wieder mit grossem Vergnügen an, was wohl nicht so ganz zu einem literarischen Puristen passt. Aber, um es mit Permaneder zu sagen: “Es is halt a Kreiz!”. Man kann seinen Prinzipien nicht immer treu bleiben.

Sonntag, 14. August 2011

SCREAMPLAY - wenn Horror-Drehbücher wahr werden ...

SCREAMPLAY
USA 1984
Regie: Rufus Butler Seder
Darsteller: Rufus Butler Seder (Edgar Allen), Katy Bolger (Holly), George Kuchar (Martin), Eugene Seder (Al Weiner), M. Lynda Robinson (Nina Ray), Bob White (Lot), Ed Callahan (Kleindorf), George Cordeiro (Sgt. Blatz), Basil J. Bova (Cassano)


Edgar Allen hat eine glänzende Zukunft als Drehbuchautor vor sich - hofft er zumindest. Doch sein erstes Script muss der junge Neuankömmling in Hollywood erst noch schreiben. Welche Art von Filmen ihm vorschweben, zeigt sich daran, dass er gleich mal im erstbesten Kino ein Triple Horror Feature besucht - gezeigt werden NOSFERATU, DER GOLEM und DAS CABINET DES DR. CALIGARI. Und danach umtänzelt er auf dem Hollywood Walk of Fame die in den Boden eingelassenen Sterne von Boris Karloff, Bela Lugosi und Peter Lorre. Um zunächst mal ein Dach über dem Kopf zu haben, verdingt sich Edgar als Hausmeister und Mädchen für Alles in einem drittklassigen Appartementhaus, dessen Verwalter Martin, einen unappetitlichen und gewalttätigen Kerl, er unter bizarren Umständen kennengelernt hat.


Wenn ihm jemand zu sehr auf die Nerven geht, reagiert der fantasiebegabte Edgar auf sehr eigene Weise: Er greift spontan zur Schreibmaschine und entwirft eine Drehbuch-Szene, in der die betreffende Person auf brutale und absonderliche Weise ermordet wird. Dazu hat Edgar nun reichlich Gelegenheit, denn das Appartementhaus wird von merkwürdigen und unangenehmen Zeitgenossen bewohnt. Neben Martin, der ihn ständig zur Arbeit drängt und so vom Schreiben abhält, ist da etwa Nina Ray, eine alternde und leicht nymphomanische Schauspielerin. Als sie sich aggressiv über ihn hermacht, während er den Wasserhahn ihrer Badewanne repariert, schreibt er anschließend eine Szene, in der sie in eben dieser Badewanne von einem maskierten Mörder ertränkt wird, nachdem er zuvor schon ihren Pudel zur Strecke brachte. Dann wäre da Lot, ein abgehalfterter Rockstar und jetzt eine Art Guru, der ständig Weltuntergangsprophezeiungen verbreitet, seine Mitbewohner penetrant zur "Umkehr" auffordert, und sich dabei auf der E-Gitarre begleitet. In seinem Appartement huldigt er ausführlich den gods of ganja. Als er beim Versuch, Edgar zu "läutern", diesem die Hand verbrennt, bekommt er eine Szene spendiert, in der er in bekifftem Zustand vom maskierten Killer mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und abgefackelt wird. Ein weiterer zwielichtiger Bewohner ist der aufdringliche Kleindorf, der ständig im Bademantel herumläuft. Die einzige Normale und Sympathische im Appartementhaus ist offenbar Holly, eine Schauspiel-Elevin, die sich ständig gegen Martins Grapschereien zur Wehr setzen muss.


Es dauert nicht lange, dann wird Edgar das begonnene Script mit den bizarren Morden entwendet. Und bald darauf wird Nina Ray ertränkt in ihrer Badewanne aufgefunden - unter exakt den Umständen, die Edgar beschrieben hatte! Er ist verständlicherweise beunruhigt. Und auch Lot erleidet schnell den ihm zugedachten Drehbuchtod in der Realität. Sgt. Blatz von der Mordkommission ist ob der steigenden Zahl an Leichen zunehmend ungehalten, und er hat bald einen Hauptverdächtigen, denn er erfährt von Edgars Drehbuch-Morden. Aber weil es keine handfesten Beweise gibt, bleibt Edgar auf freiem Fuß. Kleindorf will aus den Geschehnissen Kapital schlagen, und als er deshalb Edgar unter Druck setzt, bekommt auch er seinen Mord, in dem eine Art Shredder, der Küchenabfälle zerkleinert, eine Rolle spielt. Natürlich dauert es nicht lange, bis Kleindorf tatsächlich das Schicksal ereilt. Edgar ist ratlos, aber als ihm Al Weiner, ein heruntergekommener Agent, das noch gar nicht fertige Drehbuch abkaufen will, fasst er einen kühnen Plan: Er wird das Script fertig schreiben, und um den geheimnisvollen maskierten Killer zu enttarnen, wird dieser am Ende ihn, Edgar, selbst umbringen! Natürlich will sich Edgar nicht wirklich ermorden lassen, doch seine Gegenmaßnahmen sind nicht sehr professionell: Er legt sich nur einen schweren Hammer bereit, um sich zu wehren, wenn sich der Killer von hinten anschleicht, um ihn zu erwürgen, wie es die Szene vorsieht. Die Nacht der Entscheidung bricht an, und am nächsten Morgen werden weitere Leichen abtransportiert ...


SCREAMPLAY ist eine gekonnte und liebevolle Hommage an die billigen Horrorfilme der 30er bis 50er Jahre, die stilistisch vom expressionistischen Stummfilm beeinflusst waren. Zugleich ist es aber auch eine ebenso witzige wie grimmige Abrechnung mit Hollywood. Letzterer Aspekt kulminiert in einem dreisten Wortspiel am Ende des Films, das ich hier nicht wiedergeben kann, ohne heftig zu spoilern - man kann es bei den Quotes in der IMDb nachlesen. Rufus Butler Seder begann im zarten Alter von 12, Kurzfilme zu drehen. Schon als Jugendlicher und junger Mann gewann er für seine Kurzfilme mehrere Preise, SCREAMPLAY ist sein erster und einziger Spielfilm. Nach einer Ausbildung an der School of the Museum of Fine Arts in Boston und Kursen am American Film Institute in Los Angeles wollte er sich ab 1980 als Regisseur in Hollywood versuchen, doch das wurde zu einer frustrierenden Erfahrung. Seine preisgekrönten Kurzfilme beeindruckten dort niemanden, er bekam keinen Job, und nach zwei Jahren zog es ihn zurück ins heimatliche Massachusetts. Nun wollte er es den Profis in Hollywood zeigen, und er nahm SCREAMPLAY als privates Projekt mit Minimalbudget in Angriff. Das Drehbuch hatte er in den Grundzügen mit seinem Freund Ed Greenberg bereits 1976 geschrieben. Seders Wohnung in Boston wurde zu einem Mini-Studio mit einfachsten Kulissen umgerüstet - nur wenige Sekunden des Film wurden tatsächlich in Hollywood gedreht. Alle Mitwirkenden waren Freunde, Bekannte und Verwandte von Seder, und als Darsteller waren praktisch alle Laien, aber etliche hatten in irgendeiner Form mit Film oder sonstigen Künsten zu tun. Manche Beteiligte übten mehrere Rollen aus, so wurde von George Cordeiro und Basil J. Bova, den Darstellern von Sgt. Blatz und seinem schießwütigen Kollegen Cassano, auch die Musik geschrieben und eingespielt, und Dennis Piana war Produzent, Kameramann und Statist. Und Seder selbst war nicht nur Hauptdarsteller, Regisseur, Co-Autor und Cutter, er fertigte auch einen Teil der Matte Paintings, die nötig waren, um den Aufwand an Kulissen so gering wie möglich zu halten. Der bekannteste Mitwirkende war George Kuchar. Er und sein Zwillingsbruder Mike drehten seit ihrer Jugend in den 50er Jahren Independent-Filme, die zwischen Trash, Underground und Avantgarde angesiedelt sind. Seder hatte Kuchar in Kalifornien kennengelernt und sich mit ihm befreundet.


Das Budget des Films betrug weniger als 50.000 Dollar, und davon entfielen auch noch 11.000 Dollar auf medizinische Behandlungskosten für Kuchar, der sich bei den Dreharbeiten einen Knöchel brach. Das Geld wurde rein privat von den Mitwirkenden und deren Freunden und Angehörigen aufgebracht, so spendierte etwa Katy Bolgers Vater mehrere tausend Dollar. Seder und seine Mitstreiter bemühten sich mit großem Einsatz und technischen Tricks, die finanziellen Beschränkungen zu umgehen. Seders Vater Eugene, ein Journalist, Fotograf und Erfinder, spielte nicht nur die Rolle des Al Weiner, er bastelte auch eine Ausrüstung, mit der das eigentlich recht aufwendige Verfahren der Front Projection auch mit der billigen 16mm-Ausrüstung funktionierte, mit der der Film gedreht wurde (er wurde erst nachträglich zum Verleih auf 35mm aufgeblasen). Trotz allen Einsatzes ist SCREAMPLAY das mickrige Budget jederzeit anzusehen. Doch wenn man das Ziel einer Hommage an alte B-Filme und die liebevoll erdachte aberwitzige Handlung bedenkt, sollte das nicht weiter stören.


SCREAMPLAY wurde auf einigen kleineren Festivals gezeigt, erhielt jedoch schlechte Kritiken und fand zunächst keinen Verleih. Schließlich kaufte Troma die Rechte, eine Firma, die auf Trash und Schlock spezialisiert ist, und brachte den Film in Umlauf. Troma fügte dazu einen neuen Vorspann hinzu, in dem sich die Troma-Bosse Lloyd Kaufman und Michael Herz frech als Produzenten des Films bezeichnen, obwohl sie mit dessen Entstehung nicht das geringste zu tun hatten. Das wird auf der DVD noch getoppt, wo in einem Vorspann vor dem Vorspann Lloyd Kaufman mit irgendeiner Dame zwei Minuten lang herumkaspert. SCREAMPLAY bekam sowas wie die zweite Luft, als er auf einigen europäischen Festivals lief, sich eine kleine Kult-Gefolgschaft eroberte, und von einem deutschen Fernsehsender ausgestrahlt wurde. (Wenn ich mich richtig erinnere, im ZDF als "Das kleine Fernsehspiel". Damals, vor mehr als 20 Jahren, hab ich ihn auch das erste mal gesehen.) Die Einnahmen daraus gingen an Troma, Seder und seine Mitstreiter verdienten an dem Film keinen Cent. Die frustrierenden Erfahrungen in Hollywood und nach der Premiere von SCREAMPLAY bewogen Seder, seine Filmkarriere zu beenden. Stattdessen fand er eine andere Berufung: Er erfand Lifetiles, eine Art von Glaskacheln, mit denen sich Fassaden so gestalten lassen, dass sich aus verschiedenen Blickwinkeln völlig verschiedene Ansichten bieten. Diese Erfindung vermarktet Seder seither exklusiv, und er gestaltet damit Fassaden von Museen, Bahnhöfen und dergleichen. Auf Seders persönlicher Website und der seiner Firma erfährt man mehr darüber. So sehr ich Seder seinen Erfolg mit den Lifetiles gönne - es ist schade, dass er uns nicht mehr Filme beschert hat.


Wie schon angedeutet, ist SCREAMPLAY in den USA bei Troma auf DVD erschienen. Die Scheibe enthält jede Menge störendes Troma-Beiwerk, aber auch einen Audio-Kommentar von Seder.