Samstag, 20. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 2: Madrid Machete Massacre

BALADA TRISTE DE TROMPETA (Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod)
Spanien/Frankreich 2010
Regie: Álex de la Iglesia
Darsteller: Carlos Areces (Javier, der traurige Clown), Antonio de la Torre (Sergio, der lustige Clown), Carolina Bang (Natalia)


Ein Soldat tötet mehrere Dutzend gegnerische Krieger in einem Gefecht – in einem entfesselten und gnadenlosen Bürgerkrieg keine wirklich bemerkenswerte Tatsache. Eher außergewöhnlich ist jedoch, dass es sich um einen lustigen Clown in einem Frauenkleid handelt, der sein blutiges Handwerk mit einer Machete verrichtet. Wenige Minuten zuvor hatte er noch kleine Kinder mit einer etwas traditionelleren Clowns-Aufführung unterhalten. Die republikanische Einheit, die ihn rekrutiert hatte, verliert das Gefecht und der Clown wird von den Faschisten gefangen genommen. Seinen kleinen Sohn schwört er darauf ein, sein Dasein fortan als traurigen Clown zu fristen und ihn zu rächen. Jahrzehnte nach der Etablierung der franquistischen Diktatur heuert der nun erwachsene und leicht pummelige Javier bei einem Wanderzirkus als trauriger Clown an. Sein Vorgesetzter, der lustige Clown Sergio, entpuppt sich als unberechenbarer Psychopath, der seine Umgebung und ganz besonders seine Freundin, die Trapez-Künstlerin Natalia, mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen terrorisiert. Natalia erträgt den Zirkus-Tyrannen mit geradezu stoischer, sogar latent masochistischer Gelassenheit, versucht aber auch offen mit Javier anzubandeln. Der lustige Clown findet dies alles andere als lustig und bearbeitet den traurigen Clown mit einem Vorschlaghammer. In dem Moment, wo er wieder auf zwei Beinen stehen kann, flüchtet Javier (in einem Hinten-Ohne-Krankenhaushemd) aus dem Hospital. Er überrascht Sergio und Natalia beim Liebesspiel (oder bei einer Vergewaltigung) und bearbeitet wiederum seinen Vorgesetzten mit einer Trompete.


Dies ist der Moment, wo es erst richtig absurd wird. Nach dem Angriff auf Sergio flieht Javier in den Wald und lebt von da an monatelang völlig nackt, wie ein Urmensch, in einer Jägerhöhle. Hier wird er von einem Oberst aus dem direkten Umfeld des Diktators Franco bei der Jagd entdeckt. Javier wird zum Jagdhund degradiert, der das geschossene Wild in seinem Maul apportieren soll. Doch er rebelliert und beisst dem Caudillo höchstpersönlich in die Hand. Er schmeckt Blut und nach einer Halluzination, in der Natalia ihn auffordert, zum Todesengel zu werden, verpasst er sich ein schickes „permanent make up“, schlüpft in ein karnevaleskes Bischofskostüm und zieht schwer bewaffnet und wild um sich ballernd durch die Straßen Madrids.

„Balada triste de trompeta“ ist keineswegs ein Meisterwerk, aber sowohl als künstlerisch anspruchsvoller Film wie auch als Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit Spaniens sollte man den Film jedoch ernst nehmen. Gerade die Opening Credits (hier zu sehen) erscheinen als ein Manifest für einen kreativen cinematographischen Umgang mit Geschichte, der auch aus der Perspektive der Erinnerungskultur absolut sinnvoll erscheinen kann. Die Vermengung von verfremdeten Fotografien aus dem Bürgerkrieg und der franquistischen Zeitgeschichte mit faschistischen Insignien, Darstellungen des katholischen Klerus sowie spanischer Kulturpersönlichkeiten, Fahndungsfotos von ETA-Terroristen, Werbebilder für Strandurlaub und nicht zuletzt Screenshots angelsächsischer Horrorfilme in einer Montage-Sequenz ist zwar oberflächlich gesehen geschmacklos, provozierend, und politisch unkorrekt. Der Zeitzeuge Iglesia kann sich aber gut daran erinnern, dass er als Kind an einem Abend eine Komödie und einen Horrorfilm im Fernsehen sah, mit dazwischen ausgestrahlten Nachrichten, ohne, dass er diese Eindrücke analytisch ordnen und filtern konnte. Die Horrorfratze von Frankensteins Monster neben das Antlitz Francos zu stellen erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur aus künstlerischer Perspektive anregend. Iglesia hat eben nicht „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen, weil er überhaupt nicht nach Authentizität sucht, sondern zutiefst persönliche Erinnerungen, Visionen und Obsessionen cinematographisch umsetzt – damit versucht eben nicht wie manch anderer, seinen Film als „authentisch“ zu legitimieren und zu adeln. Davon abgesehen weist der Regisseur in den Opening Credits auf sehr provokante Art und Weise auf die enge Verflechtung der katholischen Kirche mit dem Franco-Regime.


Nichtsdestotrotz liegt natürlich die Allegorie auf die Diktatur Francos auf der Hand: das franquistische Spanien erscheint hier als chaotischer Zirkus, das von einem tyrannischen lustigen Clown regiert wird – eine Vorstellung, die Menschen mit akuter Coulrophobie wohl ganz besonders beunruhigend finden dürften. Dieses System erscheint als die Hölle auf Erden: die Untertanen, die alle wie kleine Kinder behandelt werden, sind gezwungen, die ganze Zeit über die schlechten Witze des Oberclowns lachen. Das Nichtlachen erscheint dabei als Akt radikalen Widerstandes. Javier ist beim ersten auswärtigen Essen mit seinen neuen Arbeitskollegen der einzige, der über Sergios Witz mit dem zermatschten Kind nicht loslacht. „Ein Volltrottel versaut uns den Abend, weil er den Witz nicht versteht“, meint der lustige Clown daraufhin und verprügelt vor den Augen aller anwesenden Zirkuskollegen seine Freundin Natalia. Über die Mechanismen passiver Akzeptanz gegenüber einer Diktatur durch Gruppendynamik, ja gar über den Rückhalt oder die Massenbasis des Franquismus in der spanischen Gesellschaft ist diese schockierende Szene wahrscheinlich sehr viel aussagekräftiger, als man auf den ersten Blick denken könnte – auf jeden Fall aussagekräftiger als so „realistische“ „Das Leben der Anderen“, in dem es keinerlei Gesellschaft gibt, sondern nur böse Individuen und gute Individuen.

Die gemarterte Natalia drängt sich geradezu als Inkarnation der spanischen Nation auf. Regelmäßig wird sie von Sergio verprügelt und vergewaltigt. Ihre Reaktionen auf die Gewalttaten sind ambivalent. Sie nimmt ihren brutalen Freund in Schutz: er würde nur unter Alkoholeinfluss gewalttätig (dabei trinkt er natürlich jeden Tag). Sie scheint auf fast masochistische Weise die Gewalt zu genießen, leckt ihr eigenes Blut. Und doch rennt sie immer wieder vor dem Gewalttäter weg, zu Javier: „Bei dir fühl ich mich anders, so geborgen.“ Javier selbst ist schließlich das ungerade Element, das in einem Iglesia-Film natürlich nicht fehlen kann. Vielleicht ist gerade er noch mehr die Verkörperung Spaniens als Natalia, da er im Film nacheinander multiple Rollen ausfüllt: Bürgerkriegs-Waise, resignierter Untertan, politischer Oppositioneller, Öko-Eskapist, Terrorist, Faschist, Pieta der Nation.

„Balada triste de trompeta“ kann auch als Rache- bzw. Amoklauf-Thriller gesehen werden, geht es doch letztlich auch um einen Mann, der unter den Bedingungen der Diktatur seine Trauer, seinen Zorn und seine Frustrationen in sich fressen musste und zur tickenden Zeitbombe wurde. Und der schlußendlich mit einem Schlag wirklich explodiert und fürchterliche Gewalttaten begeht. In seinem Blutrausch wird Javier selbst zum Faschisten und er gibt dies schließlich Natalia gegen Ende des Films offen zu: er wolle wie Sergio werden, auf dass sie ihn, den traurigen Clown, begehre. Im Gegensatz zu Gerd Wiesler wird Javier für seine Sünden vom Regisseur auf eine fast klassisch moralische Art zur Verantwortung gezogen: er wird zum ewigen Traurigsein verurteilt. Dem Schlachtfeld, das Javier und Sergio in ihrem Endkampf (hochsymbolisch: auf dem Heiligen Kreuz beim "Tal der Gefallenen") gegeneinander gelassen haben, ist schlussendlich auch Natalia/Spanien zum Opfer gefallen: durch eine Zweiteilung. In der erschütternden finalen Filmszene sitzen sich die beiden völlig entstellten Clowns in einem Polizeiwagen gegenüber. Der arg entstellte Leichnam Natalias wird vor ihnen Augen abtransportiert. Sergio fängt an zu lachen, während Javier bitter zu weinen beginnt. Lachen und Weinen können aber nahe beieinander liegen: bei der Erstsichtung schien mir, dass beide lachten. Erst die Zweitsichtung machte deutlich, dass Javier von einem hysterischen Lachen in ein verbittertes Weinen gleitet. Wie diese ambivalente Schlussszene auch immer zu interpretieren ist – vielleicht als zynischer Kommentar darüber, dass sich die führenden Franquisten lachend vor der Verantwortung für ihre Massenverbrechen entziehen konnten –, sie entlässt den Zuschauer mit einem höchst unguten Gefühl aus dem Film. Dieses extreme Unbehagen ist ein weiterer Punkt, der „Balada triste de trompeta“ emotional radikaler und intellektuell anregender macht als „Das Leben der Anderen“.


Vielleicht ist aber Iglesia trotzdem mit der Transition zufrieden – nicht in allen Aspekten, jedoch in ihrer grundlegenden, friedlichen Form. Sein Film lässt sich schließlich auch als ein kontrafaktisches Experiment sehen: was, wenn es einen zweiten Bürgerkrieg gegeben hätte? „Balada triste de trompeta“ spielt dabei auch sehr direkt auf den urbanen Terrorismus der baskischen ETA an (Iglesia ist übrigens selbst baskischer Herkunft). Diese wählte einen gewaltsamen Weg des Widerstandes gegen den Franquismus. Ihr berühmtestes Attentat in der Franco-Zeit war die Ermordung des Regierungspräsidenten und informellen Stellvertreter Francos, Luis Carrero Blanco. Das Bombenattentat auf seine Limousine wird im Film auch dargestellt und bildet einen Hintergrund für den urbanen Amoklauf Javiers. Während dieser zum Titelthema aller Medien avanciert, wird Sergio zu einer fast bemitleidenswerten Figur. Die Bearbeitung seines Gesichts mittels einer Trompete hat eine erstaunliche Wandlung herbeigeführt. Sie hat ihm die hübsche Maske des lustigen Verführer-Playboys und Alpha-Männchens entrissen. Übrig geblieben ist ein hässlicher Freak, der kleine Kinder mit seinem entstellten Gesicht zwar erschrecken kann, von den Erwachsenen jedoch ausgelacht und gemieden wird. Dies ist ein überaus interessanter Kommentar des Zeitzeugen Iglesia auf den seit Anfang der 1970er Jahre immer offensichtlicheren körperlichen Verfall Francos, der sich vor allem gegen Ende zunehmend als geradezu groteskes und latent peinliches öffentliches Spektakel gestaltete. Der Clown hatte ausgedient, der Clown ging.

Die Gewalt im Film ist omnipräsent, extrem, unberechenbar und zerstört manchmal jäh Momente des Lachens oder der Rührung. Was manch Zuschauer als unnötige Übertreibungen ansieht, fängt im Grunde sehr viel ein über die latente Gewalt des Franquismus, einem Regime, das zwar ab den 1950er Jahren individuellere Formen der Repression ausübte, dessen Gründungsjahre jedoch von Massenterror geprägt waren. Subtil ist eine solche Darstellung nicht, doch sie drückt wahrscheinlich einiges über die Traumatisierungen der spanischen Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg aus.

Wie eingangs erwähnt ist „Balada triste de trompeta“ keineswegs ein Meisterwerk. Das liegt vor allem an einem sehr grundlegenden Problem seiner Machart – der Film leidet an einer Wohlstandskrankheit, die seit mehreren Jahren vor allem in Actionfilmen grassiert: Shakycameritis. Die Wackelkamera wird ja immer wieder gerne zwecks „Realismus“ oder „Immersion“ herangezogen („als wäre man mittendrin im Geschehen“). Dabei wird gerne übersehen, dass es für die meisten Menschen nicht sehr realistisch ist, mit drei Promille Blutalkoholkonzentration durch die Gegend zu torkeln (das Gefühl, dem die ausgerechnet dafür von Karl Freund und Friedrich Wilhelm Murnau erfundene Shakycam wohl am nächsten kommt). Richtig unerträglich, mittlerweile aber von manchen Kritikern gar als „state of art“ bezeichnet, wird die Wackelkamera in Kombination mit Nah- bzw. Extremnahaufnahmen und Stakkato-Schnitt im Dreiviertelsekunden-Takt. Leider sabotiert sich „Balada triste de trompeta“ selbst, indem er diesem völlig lächerlichen und nervenden Trend immer wieder nachgibt. Das führt dazu, dass die Eingangs-Szene mit dem Macheten-Clown ein unübersichtliches Misch-Misch aus zittrig-unfokussierten Bildern ist, statt eine gute Action-Sequenz, die der Absurdität ihres Inhalts entsprechen würde. Immer wieder dringt diese Tendenz durch, und zerstört damit sowohl jegliche plastische Räumlichkeit der Bilder wie auch Entfaltungsmöglichkeiten für die durchgehend überzeugenden Darsteller.

Nicht zuletzt verlängert Shakycameritis auch die gefühlte Länge des Films massiv. Wer vor einer Leinwand voller Bilder sitzt, deren visueller Informationsgehalt gegen Null tendiert, langweilt sich tendenziell schneller. Das liegt aber sicherlich auch daran, dass dem Film eine gewisse Straffung des Drehbuchs gegen Ende wohl gut getan hätte. Was die Bilder an Emotionen jedoch nicht einfangen können, kann die absolut großartige Musik Roque Baños‘ zum Teil wieder wettmachen (hier ein Hörbeispiel). Sie etabliert sich mit ihrem einfachen Leitmotiv als ruhigen, melancholischen und nachdenklichen Kontrapunkt gegen den grotesken Gehalt der Handlung.

„Balada triste de trompeta“ spielt auf das Lied „Balada de la trompeta“ aus dem spanischen Musical-Film „Sin un adios“ aus dem Jahre 1970 an (hier der Ausschnitt). Dieser Film läuft in einem Kino, das Javier während seines Amoklaufes besucht. Der Ausschnitt des Films, den er sieht, rührt ihn zu Tränen: seit seiner Verwandlung der einzige Moment, in dem er kurz innehält – bevor er wenige Sekunden später freilich einem anderen Kinozuschauer die halbe Hand wegreisst. Der deutsche Verleihtitel ist vielleicht griffiger und kürzer als der Originaltitel, dieser jedoch fängt die tiefe Grundmelancholie und die Traurigkeit – die immer wieder von Groteske und Gewalt unterbrochen werden – des Films sehr viel passender ein. Endet „Balada triste de trompeta“ doch schließlich damit, dass eine Figur weint, wie vielleicht noch nie jemand in einem Film geweint hat...

Freitag, 12. Oktober 2012

Ditte - Neorealismus auf Dänisch

DITTE MENNESKEBARN (BRD-Titel DITTE - EIN MENSCHENKIND, DDR-Titel DITTE MENSCHENKIND)
Dänemark 1946
Regie: Bjarne Henning-Jensen
Darsteller: Tove Maës (Ditte), Edvin Tiemroth (Lars Peter Hansen), Karen Lykkehus (Sørine), Karen Poulsen (Maren), Rasmus Ottesen (Søren), Ebbe Rode (Johannes), Maria Garland (Karen), Preben Neergard (Karl), Kai Holm (Wirt), Jette Kehlet (= Jette Ziegler, Ditte als Kind)


Das mit dem Neorealismus sollte man nicht zu wörtlich nehmen: DITTE MENNESKEBARN ist keine Kopie italienischer Klassiker wie OSSESSIONE oder ROM, OFFENE STADT; andere Hauptwerke des Neorealismus wie FAHRRADDIEBE oder BITTERER REIS entstanden ohnehin etwas später. (Wenn ich überhaupt irgendeinen italienischen Film als Vergleich heranziehen müsste, dann vielleicht am ehesten LA STRADA.) Aber DITTE MENNESKEBARN durchzieht in Handlung und Bildsprache ein realistischer Gestus; der Film reiht sich damit nahtlos ein in die realistische Strömung, die in etlichen europäischen Ländern, vor allem eben in Italien, den Film der Nachkriegszeit prägte - laut dem Filmhistoriker Ib Monty ist DITTE MENNESKEBARN der erste dänische Film, für den das zutrifft. Einzelne Szenen scheinen dem zuwiderzulaufen, vor allem eine kurze Traumsequenz, in der sich Ditte als Aschenputtel sieht, die vom Prinzen erwählt wird. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch: Es ist gerade die im Film geschilderte bittere soziale Not, die solche Träume gebiert. Es gibt keinen einzelnen großen Spannungsbogen, sondern der episodisch aufgebaute Film folgt dem Leben seiner Heldin von der Geburt bis zum Alter von vielleicht 16 oder 17 Jahren.

Mit Geld regelt sich alles
DITTE MENNESKEBARN ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Andersen Nexø (gelegentlich auch Nexö geschrieben), des bedeutendsten dänischen Arbeiterschriftstellers, von dem auch die Romanvorlage zu Bille Augusts PELLE, DER EROBERER stammt. Um genau zu sein, der Film beruht auf den ersten drei Bänden des Romans, der von 1917 bis 1921 in fünf Bänden erschien. Andersen Nexø war zunächst Sozialdemokrat, nach dem ersten Weltkrieg dann Kommunist (er verbrachte seine letzten Jahre in der DDR, wo er etliche Ehrungen erhielt), und er schildert in seinen Romanzyklen die harschen Lebensbedingungen der dänischen Arbeiter, Bauern und Fischer und die krassen Klassengegensätze in den Zeiten vor und nach der vorletzten Jahrhunderwende. Während etwa seine Romanhelden Pelle oder Morten Kämpfernaturen sind, übernimmt Ditte die Opferrolle, mit der sie alle Unbill klaglos erträgt.

Klein-Ditte und ihre Großmutter
Der humanistische Geist, der Martin Andersen Nexøs Romane durchzieht, wurde von den Henning-Jensens souverän auf den Film übertragen. DITTE MENNESKEBARN ist ein Familienunternehmen: Bjarnes Frau Astrid Henning-Jensen, seit 1938 mit ihm verheiratet, war Regieassistentin. Beim nächsten und drei weiteren Spielfilmen des Paars fungierte Astrid als gleichberechtigte Co-Regisseurin, wie schon zuvor bei einigen Dokumentarfilmen, und auch bei DITTE MENNESKEBARN dürfte ihr Anteil an der Inszenierung größer gewesen sein, als es der offizielle Titel der Regieassistentin nahelegt. DITTE MENNESKEBARN machte das Paar auch international bekannt, und Astrid überflügelte Bjarne bald an Bedeutung. Während er sich nach den gemeinsamen Filmen mit Astrid in den 50er Jahren wieder dem Dokumentarfilm zuwandte, mit dem er Anfang der 40er Jahre begonnen hatte, inszenierte sie seitdem ihre Spielfilme alleine, und sie wurde die bekannteste dänische Regisseurin ihrer Zeit. Nach einigen Flops in den 60er Jahren sank ihr Stern, aber mit Alterswerken wie VINTERBØRN (dt. WINTERKINDER) lief sie wieder zu großer Form auf. Für diesen Film gewann sie 1979 bei der Berlinale einen Silbernen Bären für die beste Regie, und 1981 saß sie in Berlin in der Jury.

Ditte bekommt einen Papa
DITTE MENNESKEBARN beginnt mit Dittes Geburt. Ihre Mutter Sørine, die Tochter eines armen Fischers, ist nicht verheiratet. Der Vater des Kindes ist der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, und er denkt nicht daran, Sørine zu ehelichen. Ihr Vater Søren bricht entschlossen zum Gutshof auf, um den Kindsvater zur Hochzeit mit seiner Tochter aufzufordern, aber als er kleinlaut zurückkehrt, hat er nur ein Bündel Geldscheine in der Hand, mit dem er abgespeist wurde, und damit ist die Sache erledigt. Die uneheliche Geburt wird auch offiziell in der Geburtsurkunde festgehalten - ein Stigma, das Sørine und Ditte ein Leben lang anhaften wird. Um die 200 Kronen vom Gutsbesitzer nicht vorschnell aufzubrauchen, werden sie in eine Bettdecke eingenäht, und Søren, der sich eigentlich schon aufs Altenteil zurückgezogen hat, beginnt wieder als Fischer zu arbeiten. Doch die schwere Arbeit zehrt an seinen Kräften, und nach einigen Jahren stirbt er an Erschöpfung. Ditte, jetzt ca. vier oder fünf Jahre alt, lebt nun allein bei ihrer Großmutter Maren, der Witwe von Søren. Sørine lebt und arbeitet anderswo, um dem Gerede im Dorf zu entgehen, und hat kaum Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Tochter. Ditte und Maren stützen sich im schweren Alltag gegenseitig und haben ein inniges Verhältnis zueinander, aber Ditte leidet darunter, dass sie keinen Vater hat wie all die anderen Kinder. Umso mehr freut sie sich, als der Fisch- und Lumpenverkäufer Lars Peter Hansen bei Maren auftaucht und erzählt, dass er mit Sørine zusammenlebt und sie heiraten will. Lars Peter ist ein einfacher, aber ungemein liebenswerter Mann, der sich sofort mit Maren und Ditte versteht. Etwas später will Sørine Ditte zu sich holen. Lars Peter ist der Meinung, dass sie eigentlich bei Maren besser aufgehoben ist, aber Sørine setzt sich durch, und so zieht Ditte zu Lars Peter und ihrer durch die lange Trennung entfremdeten Mutter.

Familienleben im Krähennest
Einige Jahre später. Lars Peter und Sørine, inzwischen verheiratet, haben drei weitere Kinder bekommen, und Ditte muss bei der Versorgung ihrer Stiefgeschwister mithelfen, was sie aber gerne übernimmt. Sørine ist durch die Arbeit und die Armut permanent überlastet, durch den niedrigen sozialen Status ihrer Familie verbittert, und ihr Verhältnis zu Ditte bleibt unterkühlt. Als sie Ditte wegen einer Lappalie übel verprügelt, verhindert Lars Peters energisches Eingreifen weitere derartige Exzesse. Eines Tages erinnert sich Sørine an die 200 Kronen, die noch immer in der Bettdecke eingenäht sind, und teils aus Not, teils aus Gier fordert sie von Maren die Herausgabe. Diese weigert sich, weil sie das Geld erst der erwachsenen Ditte als eine Art Mitgift aushändigen will. Es kommt zum Kampf um das Geld, und im Tumult erwürgt Sørine die eigene Mutter, mit Ditte als unfreiwilliger Zeugin. Ditte sagt zu niemandem etwas, und Sørine tut so, als ob nichts gewesen sei. Aber Nachbarn haben ihre Anwesenheit bemerkt, und bald wird Sørine von der Polizei abgeholt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.

Sørine; neues Familienmitglied: Johannes
Ditte muss jetzt vollends die Mutterrolle für ihre Geschwister ausfüllen. Im bescheidenen Anwesen der Hansens, das von den Nachbarn abfällig "Krähennest" genannt wird, taucht ein viriler und flamboyanter Scherenschleifer auf. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Lars Peters Bruder Johannes, zu dem er schon sehr lange keinen Kontakt mehr gehabt hat. Johannes wird zum Bleiben eingeladen, und er revanchiert sich mit der Geschäftsidee, sich zusammen mit Lars Peter als Abdecker und Pferdemetzger für die reicheren Bauern der Gegend zu betätigen. Zunächst kommt dadurch tatsächlich Geld herein, doch der unstete Johannes bringt letztlich kein Glück. Durch das Hantieren mit den stinkenden Tierkadavern sinkt das ohnehin schon sehr niedrige Prestige von Lars Peter und seiner Familie noch weiter ab, und als Johannes betrunken Lars Peters Pferd schlägt, kommt es zum Kampf und fast zur Messerstecherei zwischen den Brüdern. Johannes wird fortgejagt, und dabei stellt sich auch heraus, dass er die gemeinsamen Einnahmen aus dem Geschäft durchgebracht hat.

Dänische Landschaften
Lars Peter steht jetzt vor dem Ruin, und er lässt das Krähennest und einen Teil der Einrichtung versteigern. Mit den Habseligkeiten, die auf seinen Pferdewagen passen, zieht er mit seinen Kindern in ein Dorf an der Küste. Dort verdingt er sich als Fischer bei einem reichen und schmierigen alten Gastwirt, den alle in der Gegend nur "Menschenfresser" nennen. Ditte, inzwischen eine Jugendliche, muss nun auch Geld verdienen. Nach ihrer Konfirmation geht sie als Dienstmädchen auf den Bakkegård-Hof, der von der rustikalen Witwe Karen geführt wird. Deren Sohn Karl ist ein sensibler und nicht unsympathischer junger Mann, aber auch ein frömmelnder Schwächling, der sich in keiner Weise gegen seine Mutter durchsetzen kann. Eines Tages taucht auf dem Hof Johannes auf, macht Karen schöne Augen, und die lässt sich auf ihn ein. Nach einem Fress- und Saufgelage der beiden gibt es eine Fortsetzung im Schlafzimmer. Karl ist wegen des "sündhaften" Verhaltens seiner Mutter aufs äußerste deprimiert und zerknirscht. Ditte versucht, ihn zu trösten, und daraus ergibt sich, dass sie mit ihm schläft. Karls schwache Stunde bleibt nicht ohne Folgen: Ditte wird schwanger. Und nun zeigt sich, dass diejenigen, die das Geld haben, auch bestimmen, was "Moral" ist: Ditte wird wegen ihrer "Sünde" von Karen mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt, und Karl sieht nur tatenlos zu.

Ditte badet nackt - 1946 in Dänemark kein Skandal
Ditte bleibt nichts anderes übrig, als zu Lars Peter zurückzugehen, wo sie immer willkommen ist und auch jetzt Verständnis findet. Dort ist inzwischen auch Sørine angekommen, die kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das Wiedersehen von Mutter und Tochter verläuft zunächst kühl, aber dann gibt es doch spröde Signale einer Wiederannäherung zwischen Ditte und der durch die Haft sichtlich gealterten und geschwächten Sørine. Vielleicht wird aus den Hansens wieder eine richtige Familie - und damit endet der Film. (Dieser verhalten positive Ausblick wird im Roman nicht eingelöst. Im 4. und 5. Band muss Ditte ihr erstes Kind an eine Pflegefamilie abgeben. Sie geht nach Kopenhagen, wo sie zum Lumpenproletariat gehört, und nach viel Mühsal und Entbehrungen stirbt sie schon mit 25 Jahren.)


Wie oben schon geschrieben, ist DITTE MENNESKEBARN trotz mancher poetischen Verzierung ein durchweg realistischer Film. Überzeugend gefilmte Schauplätze, authentische Ausstattung und glaubwürdig und natürlich agierende Darsteller tragen dazu bei, dass der Film im Trend der damaligen Zeit lag und in Dänemark ebenso wie im Ausland Erfolg hatte. Einige Quellen berichten, dass er 1946 bei den Festspielen in Venedig einen Preis gewonnen hat, aber das könnte eine Ente sein. Laut ital. Wikipedia lief er nicht 1946, sondern 1947, zusammen mit DE POKKERS UNGER (VERFLIXTE RANGEN), dem gemeinsam inszenierten nächsten Film der Henning-Jensens, und letzterer gewann dort einen Regie-Preis, DITTE MENNESKEBARN dagegen nicht. Unbestritten ist dagegen eine andere Ehrung: In einem vom dänischen Kultusministerium erstellten "Kulturkanon", der herausragende nationale Kulturleistungen ehren soll, ist DITTE MENNESKEBARN einer der zwölf enthaltenen Filme.

Karen und Johannes; Wiedersehen mit Sørine
DITTE MENNESKEBARN ist in Dänemark auf einer DVD mit engl. Untertiteln erschienen. - Kuriosum am Rande: Ein Asteroid, der 1979 von einem russischen Astronomen entdeckt wurde, wurde von diesem zu Ehren von Martin Andersen Nexø und seiner Heldin auf den Namen Ditte getauft.

Samstag, 6. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 1: Vom Destillieren des Arschschweißes

DAS LEBEN DER ANDEREN
Deutschland 2006
Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Darsteller: Ulrich Mühe (Gerd Wiesler), Sebastian Koch (Sebastian Koch/Georg Dreyman), Martina Gedeck (Martina Gedeck/Christa-Maria Sieland), Ulrich Tukur (Ulrich Tukur/Anton Grubitz)


Ich mag „Das Leben der Anderen“ nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Von der Hauptrolle abgesehen sind die Schauspieler im allerbesten Fall mittelmäßig und der Film strotzt nur so vor kitschigen Klischees, auch wenn er das kläglich zu verbergen versucht. Er ist mindestens zwanzig Minuten, wenn nicht gar eine halbe oder dreiviertel Stunde zu lang und seine geradezu verkrampfte Bierernstigkeit lässt ihn fast wie ein bildungspolitischer Lehrfilm aussehen – oder wie eine schlecht gemachte Parodie davon. Nicht zuletzt ist er in seiner Verknüpfung von geschichtspolitischem Statement und Filmkunst grandios gescheitert, was mich dazu verführt hat, ihn neben Andrzej Wajdas „Katyń“ zu meinem Lieblings-Beispiel für schlechte „Vergangenheitsbewältigungs“-Filme zu ernennen – und ihn in einigen Texten auch als solches zu gebrauchen.

Als positive Gegenbeispiele nannte ich einmal „Gomarët e kufirit“ (Der Grenzesel, Kosovo 2010), eine absurde Komödie über Sex- und Politik-Intrigen an der jugoslawisch-albanischen Grenze; „Churgoschin“ (Blei, Uzbekistan 2011), eine Mischung aus expressionistischem film noir, romantischem Liebesfilm und experimentellem Theater über den stalinistischen Terror in Uzbekistan; und nicht zuletzt „Balada triste de trompeta“ (Mad Circus, Spanien 2010), ein groteskes Splatterhorror-Komödien-Liebesmelodrama über die Franco-Diktatur. Keiner der drei Filme ist ein Meisterwerk oder perfekt. Aber alle drei zeigen, dass kryptische Genre-Verwirrungen und absurder und politisch garantiert unkorrekter Humor eine ernsthafte intellektuelle Beschäftigung mit problematischer Diktaturgeschichte keinesfalls behindern, sondern dieser sogar sehr viel förderlicher sein können als ein (meist nur oberflächlich) „ernster“ Zugang – und letztlich Werke schaffen, die cinematographisch weitaus interessanter und geglückter sind. Aus diesen Motiven und aufgrund der verfügbaren Recherche-Materialien werde ich also den bissigen „Balada triste de trompeta“ „Das Leben der Anderen“ gegenüberstellen.

Florian Henckel von Donnersmarck Debütfilm wurde bekanntlich vielseitig gelobt. In einem kollektiven „Wir sind Oscar“-Rausch konnte „man“ in Deutschland froh sein, dass endlich sich jemand jenseits von so genannter Spreewaldgurken-Ostalgie „ernsthaft“ mit der DDR und ihren politischen Repressionsmechanismen beschäftigte. Da war von „Geschmackssicherheit“ die Rede, von „Perfektion, ein „schauspielerischer Glamour“ wurde ausgemacht, Donnersmarck hätte seinen Film „wie ein Historiker recherchiert“ und ihn „authentisch“ – „als wäre er selber dabei gewesen“ –, „mit großem Gespür für Spannungsdramaturgie“, „wie ein Musikstück“ und ohne „die üblichen Klischees“ inszeniert. Ihm sei „großes Kino, wie man es hierzulande nur selten hinbekommt“ und ein „emotional erschütternder DDR-Geheimdienst-Thriller“ gelungen. Ach ja: und in dem Film gäbe es „keine Spreewaldgurken“.

„Authentizität“: ein sehr schönes Wort. Auf Filme angewendet jedoch auch ein sehr dünnes Kleid, das sich sehr schnell Risse einfangen und beim geringsten Luftzug rasch zu Staub zerbröseln kann. Wer wie Donnersmarck „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen hat, muss sich nun einmal die Frage gefallen lassen, warum die ostdeutsche Staatssicherheit wie ein Ein-Mann-Unternehmen dargestellt wird, dessen primäre Existenzberechtigung darin besteht, fetten Klischee-Parteibonzen sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Gerade der dargestellte „OV“ (nur um Verwechslungen vorzubeugen, hier: Operativer Vorgang), den die Hauptfigur Gerd-„Ich bin die Super-Stasi“-Wiesler organisiert, sieht sehr verdächtig aus: der Hauptmann richtet sich mit seiner Hightech-Anlage im Dachboden über seinem Observierungsziel, dem Schriftsteller Georg Dreymann, ein. Tage- und nächtelang hört Wiesler ihn und seine Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland, ab, postiert sich stundenlang vor deren Wohnung, rennt durch die Treppen des Hauses hoch und runter und tippt mit einer guten, alten und tönenden Schreibmaschine seine Berichte knapp drei Meter über den Köpfen seiner Observierungsobjekte. Konspirativer hätte es selbst Lenin nicht hinbekommen!


Nebenbei muss Wiesler aber auch noch Nachwuchs-Stasis darin unterrichten, wie man „Feinde des Sozialismus“ im Verhör so kleinkriegt, bis nur noch Arschschweiß von ihnen übrig bleibt und seinem Vorgesetzten in der Kantine Bericht erstatten. Bei einem solch dichten Terminplan grenzt es an ein Wunder, dass da noch Zeit übrig bleibt, um Brecht-Gedichte zu lesen und volkeigene Huren zu vögeln. Angesichts der Arbeitsbelastung hätte der Stasi-Hauptmann also die Pillen, mit denen sich sein weibliches Neben-Observierungsobjekt „CMS“ volldröhnt, wohl irgendwie dringender nötig gehabt.

Eine etwas klischeebeladene Darstellung der Berliner Stasi also, in der solche Dinge wie Arbeitsteilung anscheinend nicht existiert haben sollen! Nebenbei verwechselt „Das Leben der Anderen“ auch Ursache und Wirkung in der Beziehung zwischen Ideologie, Opportunismus und sexueller (Selbst-)Befriedigung. Zur mangelnden Arbeitsteilung und völligen Überbelastung materieller Ressourcen und mittlerer Offiziere kommt hinzu, dass die Stasi keineswegs als das bürokratische Repressionsorgan dargestellt wird, die sie in den 1980er Jahre war, sondern als ein Ersatz-Hofstaat für Samenstau-geplagte Parteibonzen. Mit anderen Worten: das Politische ist privat, und politische Repression in der DDR wird im Grunde genommen auf das Niveau einer Sexkomödie heruntergebrochen. Die Stasi-Unterdrückung als erotischen Klamauk zu inszenieren, ist an und für sich keine schlechte Grundidee, hätte aber besser zu einem Film gepasst, der auf FSK-12-Kennzeichnung, Lobhudelei der Bundeszentrale für politische Bildung, den Oscar und nicht zuletzt auf „Authentizitäts“-Anspruch verzichtet.

„Das Leben der Anderen“ scheitert aber nicht nur an seinen eigenen geschichtspolitischen Ansprüchen, sondern auch als figuren-zentriertes Drama. Das in der zeitgenössischen Kritiker-Publizistik immer wieder als Negativfolie genutzte „Good Bye, Lenin“ bringt im Vergleich zu „Das Leben der Anderen“ hochgradig komplexe Figuren mit vielschichtigen Problemen hervor. Denn Donnersmarcks Debüt erstickt den Zuschauer geradezu mit ganzen Lastwagenladungen an Klischees, auch wenn viele das gar nicht gemerkt haben – „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ müsste man wohl sagen. Da ist zunächst Dreymann: ein zweifelndes Weichei ohne großes Talent, das keine eigene Meinung hat, bei niemandem anecken will, sondern es vielmehr allen recht machen möchte (und dadurch letztlich niemandem!). Kein Wunder, dass er nach der Wende so erfolgreich ist: sagt die Figur doch mehr über die entideologisierte, entpolitisierte und „alternativlose“ Schröder-Merkel-Große-Koalitions-Ära aus, als über die DDR. Warum Dreymann doch noch ein Paar Eier in seiner Hose findet (wenngleich nicht seine ganze Potenz), muss hingegen ein Rätsel bleiben. Sebastian Koch spielt ihn konsequent, „alternativlos“ und zum Gähnen langweilig mit genau einem einzigen Gesichtsausdruck und dem immerzu gleichen Dackelblick.

Ganz im Gegensatz zu Dreymann steht sein Schriftsteller-Kollege Hauser: geradezu eine Karikatur des idealistischen, strengen und asketischen Dissidenten, der ganz genau weiß, dass er immer recht hat und die anderen nicht. Dieser wahrscheinlich unfreiwillige „comic-relief“ wird hingegen von Hans-Uwe Bauer ganz passabel dargestellt. Martina Gedeck spielt jedoch Martina Gedeck, gemäß Drehbuch aber Christa-Maria Sieland: die geile, künstlerisch und promiskuitiv veranlagte Liebhaberin mit einem viel zu schwachen Charakter und einem viel zu starken Drogenproblem, die den Mitleid der Zuschauer erregen soll, aufgrund ihrer Verfehlungen aber natürlich am Ende sterben muss. Nicht zuletzt, weil sie sich vom fetten, altersgeilen und sexbesessenen Kulturminister besteigen lässt, dessen narrative Funktion im Film hauptsächlich darin besteht, fett, altersgeil und sexbesessen zu sein. Und ab und zu noch seinen Hofstaat rumzukommandieren. Hier kommt Ulrich Tukur als Ulri... als Anton Grubitz ins Spiel: ein Typus des prinzipienlosen, prollig-dumpfbackigen und im Grunde völlig unfähigen Karriere-Opportunisten. Er soll deutlich machen, dass es in der – hier so „authentisch“ dargestellten – Stasi keine „gewöhnlichen“ Menschen gab, sondern, na ja, nur Dumpfbacken und leblose Berufspedanten.

Es ist paradox, dass Ulrich Mühe mit seiner tatsächlich großartigen schauspielerischen Leistung (das Interessanteste am ganzen Film) das größte Klischee des Films darstellen muss: ein kaltes, pflichtbewusstes, gefühlloses, pedantisches, blind gehorchendes Repressionsinstrument ohne eigenes Privatleben, das doch noch sein goldenes Herz entdeckt und zum Menschen wird. Damit gerät nicht nur die Figur grob holzschnittartig, sondern damit wird politische Repression in der DDR entpolitisiert, entbürokratisiert sowie jeglichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entrissen: Das Böse war böse weil es böse war. Und plötzlich wurde es doch gut. Andreas Dresen meinte dazu einmal, dass die Darstellung eines „normalen“ Stasi-Beamten mit Frau und Kindern und einem „normalen“ Arbeitsalltag sehr viel lohnender gewesen wäre; und sehr viel schmerzhafter. Da der Böse am Schluss ja nicht mehr der Böse ist, sondern der Gute, braucht er sich hingegen nicht mehr mit seinen früheren Taten auseinander zu setzen: CMS ist dann eh schon lange tot!


Auch die hochgelobte Inszenierung von „Das Leben der Anderen“ entpuppt sich bei genauer Betrachtung als Mogelpackung. Was sich als „subtil“ geben möchte, fühlt sich an manchen Stellen wie ein in den Rachen geschobener Mastschlauch an. Die DDR war ganz unlustig: deshalb wird der ganze Film von „dezenten“ Grau- und Brauntönen so „durchherrscht“, wie es sich die SED von ihrem Staat nur träumen konnte. Der Stasi-Mann ist böse: deshalb ist seine Wohnung auch grau-braun und ungemütlich. Der nette Schriftsteller mit dem Dackelblick ist gut: deshalb sind seine vier Wände gemütlich eingerichtet, mit wärmerem Licht und wärmeren Brauntönen. Die Zwischeneinblendungen, Straßen- und Gebäudeschilder, Zeitungsausschnitte, die eingangs und besonders in der letzten Viertelstunde gehäuft auftreten, um Ort und Zeit der Handlung zu definieren, sollen die tiefe Verwurzelung der Handlung in deutsch-deutsche Historie „dezent“ aufzeigen, demonstrieren aber vor allem Unfähigkeit Donnersmarcks, dies über das rein Visuelle zu vermitteln.

An manchen Stellen zerplatzt die „subtile Un-Subtilität“ jedoch regelrecht und legt einen geradezu unfassbaren Klamauk an den Tag. Wenn CMS auf die Straße rennt, direkt in den einzigen Lastwagen, der durch die sonst während des ganzen Films völlig verkehrsfreie Straße fährt. Wenn Herbert Knaup auftaucht und aussieht, als würde Heiner Lauterbach einen Spiegel-Redakteur spielen (oder war es ein anderer? Jedenfalls irgendeines der Gesichter, die die deutsche Fernseh- und Kinolandschaft bevölkern wie groteske, fast unbewegliche Figuren den Hintergrund von David-Lynch-Filmen). Wenn Volker Michalowski als Zack, der sächsische Stasi-Schreibmaschinenexperte von nebenan bzw. aus der Sat.1-Sendung „Zack! Comedy nach Maß“ auftaucht. Diese Momente wirken unglaublich befreiend, beseitigen sie doch jeglichen Zweifel daran, dass man „Das Leben der Anderen“ einfach in keiner Weise Ernst nehmen kann.


Ja: es gibt keine Spreewaldgurken in „Das Leben der Anderen“. Doch in einem Punkt unterschiedet sich dieser Film nicht besonders grundlegend von „Good Bye, Lenin!“ oder „Sonnenallee“: auch hier wird die DDR nicht als „Normalität“, sondern als Märchen dargestellt, als „Märchen vom guten Menschen“. Nur, dass Donnersmarcks Debüt aufgrund seiner Authentizitäts-Aura sehr viel heuchlerischer ist.

„Das Leben der Anderen“ scheitert kläglich an seinem Wunsch, ein ambitionierter Film zu sein: es sei denn, er wollte von Anfang an ein für Schüler ab der 10. Klasse produzierter „pädagogisch wertvoller“ Streifen sein, der sich auf seinen auf nationale und internationale Preisverleihungen ausgerichteten glattgebügelten Look mächtig einen runter... ähm, was einbildet. Ein Look, der übrigens auch nicht mehr bietet als TV-Niveau (die entsprechenden Schauspieler hat er ja). Einen Vorteil gängiger Fernsehfilme hätte sich „Das Leben der Anderen“ jedoch gerne zum Vorbild nehmen können: die Dauer von 90 Minuten. Selbst die Überlänge soll Seriosität vorgaukeln...

Zwei psychotische Clowns versuchen, sich gegenseitig mit Fäusten, Fleischerhaken, Vorschlaghämmern, Maschinenpistolen und Trompeten zu massakrieren. Warum der groteske Splatter-Rachethriller „Balada triste de trompeta“ als Kino-Film besser und interessanter ist als "Das Leben der Anderen" und diesen als künstlerische Beschäftigung mit Diktaturgeschichte bei weitem schlägt, folgt in Kürze im zweiten Teil des Beitrags „Diktaturgeschichte für Cinephile“...

Dienstag, 18. September 2012

Bizarr, bizarr! Ein sonderbarer Fall!

EIN SONDERBARER FALL (DRÔLE DE DRAME)
Frankreich 1937
Regie: Marcel Carné
Darsteller: Michel Simon (Irwin Molyneux), Louis Jouvet (Archibald Soper), Françoise Rosay (Margaret Molyneux), Jean-Louis Barrault (William Kramps), Jean-Pierre Aumont (Billy), Nadine Vogel (Eva), Pierre Alcover (Chief Inspector Bray), Jeanne Lory (Tante McPhearson)

Ein scheinheiliger Bischof
London um 1900. Eine schlimme Unsitte hat sich zur Wende vom viktorianischen zum edwardianischen Zeitalter breitgemacht: Der Kriminalroman! Zu denen, die gegen diese verwerfliche Schundliteratur ankämpfen, gehört Archibald Soper, der anglikanische Bischof von Bedford. In einer allerdings nur spärlich besetzten Versammlungshalle hält er eine Rede, in der er vor allem Felix Chapel anprangert, den erfolgreichsten und geheimnisumwitterten Autor von Mördergeschichten, den noch niemand, nicht einmal sein Verleger, zu Gesicht bekommen hat. Neben alten Jungfern zollt ihm auch ein junger Mann mit Fahrrad Beifall. Es handelt sich um William Kramps, einen gesuchten Massenmörder, der mit Vorliebe Metzgern den Bauch aufschlitzt und sie ausweidet, so wie sie es mit geschlachteten Tieren tun. Seiner Meinung nach ist er erst durch die Lektüre von Chapels Roman "Das perfekte Verbrechen" auf die schiefe Bahn geraten, und dafür will er sich nun rächen, indem er auch Chapel den Magen aufschlitzt. Ebenfalls anwesend ist Sopers Cousin Irwin Molyneux, ein biederer gutsituierter Botaniker, der sich scheinbar nur für seine fleischfressenden Mimosen interessiert. Wie sich jedoch schnell erweist, ist Molyneux niemand anderer als der Autor, der unter dem Pseudonym Chapel jene Romane verfasst. Das Einkommen daraus sichert ihm und seiner eingeweihten Frau ihren großbürgerlichen Lebensstil, denn seine halbsenile Erbtante hat offenbar vor, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Allerdings stellt sich noch später heraus, dass das mit der Autorschaft nicht ganz stimmt. Der sympathische junge Milchmann Billy stellt sich auffallend oft im Haus von Molyneux ein, weil er dessen hübscher Assistentin Eva schöne Augen macht. Bei der Gelegenheit unterhält er die Hausangestellten immer mit selbst erfundenen erschröcklichen Schauergeschichten, die über den Umweg Eva den eigentlich fantasielosen Molyneux inspirieren.

Ein Botaniker, ein Mörder und ein als Matrone verkleideter Polizist unter den Zuhörern
Soper nutzt die Begegnung mit Molyneux, um sich bei diesem selbst zum Essen einzuladen. Das kommt zum denkbar schlechtesten Moment, denn die Köchin und der Butler haben gerade im Streit den Haushalt verlassen. Um gegenüber dem öligen und blasierten Soper die Fassade aufrechtzuerhalten, kocht Molyneux' Frau Margaret heimlich selbst, und Irwin erzählt eine Räuberpistole von einem Besuch seiner Frau bei masernkranken Freunden. Dabei verwickelt er sich schnell in Ungereimtheiten, Soper wird misstrauisch und quittiert Molyneux' fadenscheinige Erklärungen mit einem mehrmals geäußerten "bizarre, bizarre". Die Szene ist so grandios gespielt, dass der englische Titel des Films BIZARRE, BIZARRE lautet. Als sich der überforderte Molyneux nächtens zu einem Treffen mit Margaret davonschleicht und von Soper dabei beobachtet wird, zieht der Bischof falsche Schlüsse: Er ist überzeugt, dass sein Cousin seine Frau vergiftet hat und nun die Flucht ergreift, und er informiert Scotland Yard. Der herbeigeeilte Chief Inspector Bray hat leider überhaupt keinen Durchblick. In Ermangelung des abwesenden Molyneux verhaftet er den zufällig vorbeigekommenen Billy - denn man weiß ja, dass Milch ein Gegenmittel für verschiedene Gifte ist, und wer soviel Milch vorbeibringt, muss ein Komplize des sinistren Molyneux sein! Unterdessen bemerkt Archibald Soper ein Missgeschick: Bei seinen detektivischen Bemühungen ist ihm ein Programmheft eines Varietés mit dem Bild einer leicht bekleideten Tänzerin abhanden gekommen, das eine persönliche Widmung dieser Dame für "ihren" Soper enthält. Wenn das Programm in die falschen Hände geriete, wäre der Bischof als scheinheiliger Patron entlarvt.

Billy erzählt Schauergeschichten
Molyneux und seine Frau sind inzwischen in Londons Chinatown untergetaucht, aber hier treibt sich auch William Kramps herum. Molyneux erhält in seiner Inkarnation als Chapel von seinem Verleger den telefonischen Auftrag, einen Artikel über den "Mordfall Molyneux" zu schreiben und dafür am Tatort zu recherchieren. Mit einem angeklebten falschen Bart getarnt macht er sich auf zu seinem eigenen Haus, mehr wegen seiner Mimosen als wegen des Artikels. Der "Fall" ist mittlerweile allgemeiner Gesprächsstoff. Schaulustige belagern das Haus, eine Bänkelsängerin trägt schon eine Moritat über Molyneux' bevorstehende Hinrichtung vor, und Eltern drohen ihren Kindern, dass sie von Molyneux geholt werden, wenn sie ihre Suppe nicht aufessen. Im Haus wimmelt es von Journalisten und Polizisten, aber der vertrottelte Chief Inspector merkt immer noch nichts. Er erzählt "Felix Chapel" noch, die Theorie, dass Mörder immer an den Ort der Tat zurückkehren, sei nichts als Unsinn, und zieht dann mit seinen Mannen ab. Unterdessen trifft Kramps auf die allein zurückgebliebene Margaret Molyneux. Der etwas übergeschnappte, aber eigentlich recht liebenswürdige Bauchaufschlitzer verliebt sich in sie, ohne zu ahnen, dass es sich einerseits um das vermeintliche Mordopfer und andererseits um die Frau des von ihm noch immer gesuchten "Felix Chapel" handelt. Doch dann liest er in der Zeitung eine Notiz, dass sich Chapel zu Ermittlungen im Haus Molyneux aufhält, und er macht sich dorthin auf, um ihn hinzumeucheln. Und noch jemand bricht zu Molyneux' Haus auf: Bischof Soper hat seiner sittenstrengen Frau Gemahlin den Verlust des kompromittierenden Programmhefts gebeichtet und wird nun von ihr abkommandiert, es unter allen Umständen wiederzubeschaffen, damit die Familienehre nicht befleckt werde. In einer absurden Verkleidung mit Sonnenbrille und schottischer Uniform schleicht er ins Haus, doch damit bringt er sich erst richtig in die Bredouille. Die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende versucht ein wütender Mob, das Haus zu stürmen und abwechselnd mal diesen und mal jenen der Anwesenden für seine Untaten zu lynchen ...

Showdown zwischen Kramps und "Chapel"
Marcel Carné war bekanntlich ein Hauptvertreter des "Poetischen Realismus", der den französischen Film der 30er Jahre dominierte. Neben dem fast schon mythischen Über-Film LES ENFANTS DU PARADIS (KINDER DES OLYMP) war es vor allem eine Serie von drei düster-fatalistischen Dramen, bei denen jeweils mindestens einer der Protagonisten am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt, die ihn in die Filmgeschichte eingehen ließen: LE QUAI DES BRUMES, HÔTEL DU NORD und LE JOUR SE LÈVE, die alle 1938/39 herauskamen. Da mag es erstaunen, dass es sich bei seinem 1937 erschienenen zweiten Spielfilm um eine ausgelassene, um nicht zu sagen durchgeknallte Farce handelt. Wie bei den obengenannten Filmen, abgesehen von HÔTEL DU NORD, und bei einigen Filmen Carnés nach dem zweiten Weltkrieg, stammt auch bei DRÔLE DE DRAME das Drehbuch von Jacques Prévert. Als Vorlage diente der Roman "His First Offense" des britischen Schriftstellers und Historikers J. Storer Clouston. DRÔLE DE DRAME vereint Elemente des Schwanks mit satirischer Schärfe, sprühendem Witz und etwas Frivolität (in einer Szene ist kurz Jean-Louis Barraults nackter Hintern zu sehen - in einem deutschen oder amerikanischen Film jener Zeit völlig undenkbar) zu einer schwarzhumorigen Groteske von hohem Tempo. Vor allem aber lebt der Film von seinen grandiosen Darstellern. Mit Michel Simon, Louis Jouvet und Jean-Louis Barrault kommt es zu einem Gipfeltreffen von gleich drei Legenden der französischen Theater- und Filmlandschaft, die nicht nur in dramatischen Rollen glänzen konnten, sondern die auch begnadete Komödianten waren, und auch die weiteren Rollen sind ausgezeichnet besetzt. Wer Filmen wie beispielsweise ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN etwas abgewinnen kann, wird auch diesen SONDERBAREN FALL genießen können.


DRÔLE DE DRAME ist in den USA, England und Frankreich auf DVD erschienen, jeweils mit engl. Untertiteln (auch in den ersteren beiden Fällen unter dem Originaltitel und nicht als BIZARRE, BIZARRE).

Archibald Soper als Schotte verkleidet

Donnerstag, 13. September 2012

Kleine Erklärung, die bestimmt zum Epos ausarten wird

Liebe Leserin, lieber Leser! Werte Freunde (so es euch gibt)!


Ihr werdet das kurze Schweigen von Whoknows/Zodiac bestimmt nicht vermisst haben, gibt es doch viele und wesentlich klügere Stimmen zum Thema „Film“ im virtuellen Raum. Speziell für meine Freunde (insbesondere für den, der sich via PN nach meinem Verbleib erkundigte) möchte ich aber doch den Grund für meine Abwesenheit erläutern:

Stellt euch vor, ihr leidet seit Wochen unter einer Lethargie, die sich später als unerklärlicher Abfall des Hämoglobins erweist! Ihr fragt euch, weshalb ihr euch einfach nicht an die Besprechung  eines versprochenen Buñuel machen könnt, obwohl ihr genau wisst, was ihr schreiben wollt – und kompensiert eure Müdigkeit mit dummen Sprüchen (@The Critic: Weisst du noch, wie du dich über meine Bemerkung, der Arzt habe mich mit einem „Hallo Leiche!“ begrüsst, geärgert hast?), die man im Nachhinein als Vorahnung interpretieren könnte.

Dann setzt an einem Sonntag die leichte Temperatur ein, begleitet von Gliederschmerzen und einem unangenehmen Husten. Ein Grund, zum Doktor zu gehen? Besonders jetzt, wo ihr eure Mutter am Mittwoch zum Friseur begleiten sollt (das alte Mädchen behauptet nämlich, es sei nicht in der Lage, den Bahnhofplatz allein zu überqueren). - Am Mittwoch steht ihr mit einem starken Schwindelgefühl auf. Nach dem dritten Versuch kommt ein heiseres „Du musst den Termin verschieben!“ raus. Splatti  ruft den Hausarzt an, und der will augenblicklich eine Ambulanz.

Noch im Ambulanzwagen stöhnt ihr, es wäre auch mit Taxi gegangen, und ihr jammert, jetzt gehe Mutti bestimmt nicht zum Friseur. Der Sanitäter beruhigt. – Auf der Notfallstation meint nach Stunden die Oberärztin, sie hätten im Blut Anzeichen einer kleinen Infektion entdeckt; und sie fragt: Was machen wir nun mit Ihnen, Herr Vögelin? Schicken wir Sie nach Hause, und Sie werden in zwei Tagen erneut eingeliefert? Oder behalten wir Sie für zwei Nächte hier? – Da Splatti mir mittlerweile am Handy mitgeteilt hat, sie habe den Sprung über den Bahnhofplatz doch gewagt und befinde sich mit neuem Haarschnitt bereits auf dem Heimweg, ist mir jetzt wurscht, was sie mit mir machen.

Ich werde in den 6. Stock verfrachtet, wo ich erst noch unter den  Fittichen des HIV-Spezialisten gesunden soll. Der denkt sich – wie er mir später erzählt - nach der Untersuchung, ich sei ein Fall für zwei Nächte. Dass ich ihm den Schock seines jungen Lebens verpassen werde, ahnt er noch nicht. - In meinem Zimmer befindet sich ein Herr aus dem Waldenburgertal, dessen öde Sprüche ich mit höflichem Lächeln über mich ergehen lasse. Ich höre mir an, wie viele Mieter er und seine Frau schon aus dem Haus vertrieben haben, in dem sie eine Eigentumswohnung (mit verglastem Balkon!) besitzen, nehme zur Kenntnis, dass der Spitalkoch keine Ahnung habe, wie  man für unter Zölliakie Leidende koche – und schwebe mit meinen Gedanken davon. Nach dem Essen kann ich mich wenigstens auf die Seite drehen und schlafe ein.

Mitten in der Nacht muss ich zur Toilette gehen.  Ich will aufstehen, huste zugleich – und falle aus dem Bett. Trotz aller Versuche gelingt es mir nicht, mich wieder halbwegs aufzurichten, und ich muss förmlich auf dem Arsch zur Türe hopsen, damit ich mich in den Korridor legen und auf eine Schwester hoffen kann. Irgendwann kommt tatsächlich eine vorbei und ruft: „Was ist denn mit Ihnen los, Herr Vögelin?“ Ich murmle etwas von Husten; aber sie fasst mir an die Stirn und meint, es sei das hohe Fieber. – Wer nicht nach einer Schwester läutete, sondern meine Versuche genussvoll beobachtete, war der Herr aus dem Waldenburgertal. Er wird dafür umgehend ein eigenes Zimmer verlangen, weil er es mit einem Schwerstkranken wie mir nicht aushält. Dafür bin ihm dankbar. Mit seinen öden Sprüchen im Hintergrund wäre ich nicht in der Lage gewesen, zu meiner Gesundung beizutragen. (Man steckte ihn in ein Viererzimmer.)

Ich weiss vieles von  dem, was folgte, nicht, oder habe nur bruchstückhafte  Erinnerungen. Man soll mich auf die onkologische Untersuchungsstation gebracht haben, ich konnte nur noch unter stärksten Schmerzen schlucken, und die Hälfte des Geschluckten kam wieder hoch. Der HIV-Spezialist (es gab später ein paar „intimere“ Gespräche, und ich lernte einen unglaublich lieben Menschen kennen, für den der Beruf Arzt nicht Titel und Karriere bedeutet) wollte Krebs bei meiner Vorgeschichte unbedingt ausschliessen. Ich wurde im Rollstuhl in die HNO-Abteilung gefahren (dies trotz meines Protests, dazu sei ich nicht in der Lage) und dachte auf dem holprigen Weg: „Jetzt fahren sie mich sogar im Rollstuhl zum Krematorium!“). Man verlieh mir eine Tapferkeitsmedaille bei der Knochenmarkentnahme, obwohl ich – naiv – dachte, die andere Seite würde ich nicht mehr aushalten. Die Schwester war entsetzt, weil ich nur die Hälfte des Kontrastmittels für die CT zu trinken vermochte, was aber dort unten cool zur Kenntnis genommen wurde – Zusätzlich verdonnerte man mich, als das Fieber langsam auf 39° Grad runterging, zum Inhalieren mit einer Wasserpfeife und Cortison. Mein HIV-Spezialist schaute vorbei und sagte, er wolle nun noch eine Lungenspiegelung machen, um jede Form von Krebs ausschliessen zu können. Dann würde ich nämlich unter etwas leiden, was sich bei einem nicht immungeschwächten Menschen als schwere bakterielle Bronchitis äussere, bei mir – vermutlich ohne es zu wollen – tödlich hätte  verlaufen können. Ich fragte nach dem Namen des Bakteriums, weil ich wenigstens via Internet mit ihm abrechnen wollte. Er meinte, wir würden seinen Namen wohl nie erfahren, weil ich es schon  vor Wochen eingeatmet hätte und es nach getaner Arbeit wieder entschwunden sei. Zurückgeblieben war ein Körper,  bereit für die schwere Entzündung.

Nach der Lungenspiegelung (völlig abwesend) fragte mich die Schwester, die am Morgen meinen Blutdruck (75/35) zu überwachen hatte, ob ich hungrig sei. Erstaunlicherweise  war ich es, musste aber vorher ein Stündchen ruhen. Dann kam sie mit dem Tablett herein und meinte entschuldigend, es sei eben das Eintrittsmenu. Ich sah Kalbsgeschnetzeltes und schmale Nudeln, zwei gedämpfte Tomatenhälften und Karotten in Ringen. Zum Dessert ein Schoko-Flan. – Und ich frass und frass, soff literweise Wasser (obwohl ich wegen meiner Austrocknung doch intravenös mit  genügend Flüssigkeit versorgt wurde). Die Schwester soll (kleine  Indiskretion einer Kollegin!) beinahe hysterisch in der  Gegend herumgerannt sein und gerufen haben: „Er hat alles aufgegessen! Er hat alles aufgegessen!“ – Ich begann unsere Spitalküche zu würdigen und bekam am Sonntag Hirschragout mit Spätzli und Rosenkohl in einer Qualität vorgesetzt, für  die man sonst in eine Nobel-Spelunke gehen müsste.

Dass ich langsam lernen musste, wie das Gehirn die richtigen Befehle an die Beine weiterleitet, versteht sich. Am Anfang lief ich rum wie ein besoffener Donald Duck; als ich gestern nach meiner Entlassung unbedingt die verordneten Medikamente im Städtchen Liestal holen wollte, schaffte ich schon John Wayne in „Rio Bravo“. Und jetzt sitze ich vor meinem Laptop und schreibe den Bericht, den ich im Blog  und bei filmforen.de (dort im Off-Topic) veröffentlichen möchte.

Ihr werdet verstehen, dass ich mit noch immer bescheidenen Hämoglobin-Werten, aber hoffentlich rasch ansteigenden CD4-Helferlein noch nicht in der Lage bin, über Filme zu schreiben, sondern mich zuerst mal ein wenig erholen muss. Erholen heisst jetzt insbesondere: Ich werde mir abends gemütlich einen Film reinziehen. Unter anderem wurde extra für Mutti „Ferris Bueller’s Day Off“ bestellt, weil mich der junge Matthew Broderick an meinen HIV-Spezialisten erinnert, der sich grün und blau ärgerte, wenn ich ihn neckisch als „Koryphäe“ bezeichnete. --- Ich verspreche aber (dies @Bastro/mono.micha): Der erste Film, den ich hier wieder bespreche, wird „Los olvidados“ sein. Gelobte ich sogar in der Spitalkapelle, die ich – wie bei mir in religiösen Dingen üblich – am Montag mit einem Tag Verspätung besuchte.  Und sollte Gott zufällig gerade anwesend gewesen sein, dürfte ihn  mein „Danke!“-Flennen definitiv vertrieben haben.

Euer
Whoknows, Zodiac, Bruno Vögelin

13.9.2012