Dienstag, 3. Januar 2023

2022 im persönlichen Rückblick

Und wieder ein Jahr vorbei... ein besonders scheussliches und unangenehmes Jahr, das ich über 5 Perioden verteilt zu insgesamt fast einem Drittel krank bzw. in schleppender Genesung verbracht habe. Vier Krankheitsfälle (die zeitlich auch die meiste Zeit dieser vier Monate in Anspruch genommen haben) betrafen unmittelbar das wichtigste Organ für Filmliebhaber (neben natürlich dem Gehirn), nämlich die Augen. Kurz: etwa drei Monate dieses Jahres war ich nicht in der Lage, irgendetwas Visuelles zu machen und war weitestgehend auf mein Gehör zurückgeworfen.

Meine Krankheit zwang mich dazu, unvorstellbar viel Musik und viele Podcasts zu hören. Statt mit Filmen beginne ich also meine Jahresbestenlisten außer Reihe mit Musiktiteln aus tollen Alben, die ich dieses Jahr zum ersten Mal entdeckt habe.



Tops neu entdeckte Musiktitel 2022


"Shine On, Harvest Moon", Coleman Hawkins & Ben Webster (aus: COLEMAN HAWKINS ENCOUNTERS BEN WEBSTER, 1957)

Aus allen Alben, die ich dieses Jahr neu entdeckt habe, ist COLEMAN HAWKINS ENCOUNTERS BEN WEBSTER (aufgenommen 1957, erschienen 1959) das großartigste, das essentiellste, ein Album, das man im Jazz-Universum ruhig in einem Atemzug mit dem im gleichen Jahr erschienen Jahrhundertalbum KIND OF BLUE nennen dürfte. Jede der sieben Nummern, die die beiden Großmeister des Tenorsaxophons hier zusammen mit Oscar Petersons Band einspielen, ist ein Schmuckstück. Welches empfehlen: "Blues for Yolande"? "La Rosita"? "Tangerine"? Warum nicht den Abschluss, "Shine On, Harvest Moon".


A CHILD'S INTRODUCTION TO JAZZ, NARRATED BY JULIAN "CANNONBALL" ADDERLEY, 1961

Da KIND OF BLUE schon angesprochen wurde: der Altsaxophonist Cannonball Adderley war neben Bill Evans die Geheimzutat, die das Miles-Davis-Quintett (bzw. dann: -Sextett) in höhere Gefilde gebracht hat. Wer einige seiner Live-Alben kennt, schätzt vielleicht auch seinen Smalltalk mit dem Publikum zwischen den Nummern. A CHILD'S INTRODUCTION TO JAZZ, NARRATED BY JULIAN "CANNONBALL" ADDERLEY ist gewissermaßen Adderleys Chitchatting auf Albenlänge gebracht: Cannonball führt kindergerecht durch die Geschichte des Jazz, seine wunderbare, eloquente und pädagogisch wertvolle (er war vor seiner Musikerkarriere als Musiklehrer tätig) Stimme ist der rote Faden.


"Sack O' Woe", The Cannonball Adderley Quintet (aus: MERCY, MERCY, MERCY! LIVE AT "THE CLUB", 1966)

Cannonball Adderley konnte aber natürlich nicht nur sprechen, sondern auch toll spielen. Die Titelnummer aus dem "Fake-Livealbum" MERCY, MERCY, MERCY! LIVE AT "THE CLUB" war zwar der kommerzielle Hit des Albums (und ist natürlich wunderbar), doch die Band aus Cannonball, Nat Adderley, Joe Zawinul, Victor Gaskin und Roy McCurdy brennt das Studio gewissermaßen erst in "Sack O' Woe" nieder.


"On A Clear Day", The Wynton Kelly Trio (aus: FULL VIEW, 1966)

Einer von Cannonballs Kollegen bei KIND OF BLUE war (nur bei einer Nummer) der Pianist Wynton Kelly, der zum letzten Pianisten des Ersten Großen Miles-Davis-Quintetts wurde und sich später mit Paul Chambers und Jimmy Cobb abseilte, um selbständig zu werden. Das Trio (der kranke Chambers schon durch Ron McClure ersetzt) arbeitet sich in FULL VIEW mit der bekannten Finesse und Eleganz durch diverse Standards. "On A Clear Day" ist für mich hier das Highlight.


"Speak Low", The Wynton Kelly Trio with special guest Hank Mobley (aus: LIVE AT THE LEFT BANK JAZZ SOCIETY BALTIMORE, 1967)

Von "On A Clear Day" gibt es auch beim Baltimore-Konzert des Kelly-Trios mit Hank Mobley als Gast eine schöne Version. LIVE AT THE LEFT BANK JAZZ SOCIETY BALTIMORE demonstriert sehr schön, dass Live-Jazz eine Musik ist, die auch von ihren Schwächen, ihren Patzern, davon, dass nicht alles perfekt klappt, manchmal erst richtig lebendig wird. Es ist ein Sonntagskonzert, man wird manchmal das Gefühl nicht los, dass die Beteiligten noch leicht verkatert sind; Mobleys Zusammenspiel mit dem Trio ist eher suchend und hakelig als perfekt-passend. Und dennoch spürt man den Schweiß und ganz besonders das Herzblut aller Musiker fließen. 


"Bouncing with Bud", Art Blakey and the Jazz Messengers (aus: PARIS JAM SESSION, 1959)

Wenn wir immer noch von Leuten reden, die was mit Miles Davis zu tun hatten: in PARIS JAM SESSION findet sich die vielleicht schönste Bläser-Zusammensetzung der Jazz Messengers wieder, nämlich Wayne Shorter und Lee Morgan. Beide werden hier auf zwei von vier Nummern vortrefflich unterstützt von Barney Wilen und Bud Powell (passenderweise für "Bouncing with Bud").


"Go Down Moses", Grant Green (aus: FEELIN' THE SPIRIT, 1962)

Wer Wayne Shorter sagt und dann an das Zweite Große Miles-Davis-Quintett denkt, denkt natürlich auch an Herbie Hancock. Hancocks Zusammenspiel mit Grant Green auf dessen Spiritual-Album FEELIN' THE SPIRIT (gewissermaßen ein Soul-Jazz-Album, das den Soul nicht im Rhythm-And-Blues, sondern weiter in der Vergangenheit sucht) ist fast schon telepathisch und bringt einen Knaller nach dem anderen: "Just a Closer Walk with Thee", "Joshua Fit the Battle of Jericho" und eine tolle Version von "Nobody Knows the Trouble I've Seen"... und dann kommt noch on top "Go Down Moses".


"Idle Moments", Grant Green (aus: IDLE MOMENTS, 1963)

Grant Green steht als Gitarrist ein wenig im Schatten von Charlie Christian und Wes Montgomery. Schade, denn es gibt viel Schönes mit ihm zu entdecken. Einer meiner großen essentiellen Entdeckungen des Jahres war das Titelstück von IDLE MOMENTS, in seiner Tiefenentspanntheit und Schönheit ein idealer Begleiter, um kurz vor dem Schlafengehen in eine entspannte Atmosphäre zu kommen. Tolle Soli von Green, Duke Pearson, Joe Henderson und Bobby Hutcherson.


"Au Privave", Jimmy Smith (aus: HOUSE PARTY, 1957/1958)

Bleiben wir bei Blue Note Records: HOUSE PARTY ist gewissermaßen die B-Seite von Smiths großem Meisterwerk THE SERMON!, aufgenommen an den zwei gleichen Sessions. Wer genau hinhört, wird auch merken, dass Smiths "The Sermon" wohl eine Weiterentwicklung von Charlie Parkers "Au Privave" ist (die Bläser, Lee Morgan, Lou Donaldson und Tina Brooks, spielen in ihren Soli stellenweise die gleichen Phrasen). Gewissermaßen die Ur-Predigt.


"Hog Calling Blues", Charles Mingus (aus: OH YEAH, 1961)

Eher ur-schrei-mäßig wird es in "Hog Calling Blues": die Anweisung Mingus' an seine Bläser Roland Kirk, Jimmy Knepper und Booker Ervin lautete hier wohl, jedes Solo mit Imitationen der Schreie brünstiger Schweine abzuschließen. Das Resultat ist ein launisch-lustiger Blues, eine ideale Einführung in das, was man wohl Mingus' humorvollstes Album nennen kann.



"Comin' Home Baby", Herbie Mann (aus: AT THE VILLAGE GATE, 1961)

Bleiben wir im gleichen Jahr und bei Atlantic Records: AT THE VILLAGE GATE brachte den Flötisten und Bandleader Herbie Mann den ersten großen Hit. Die Latin-angehauchten Versionen von "Summertime" und "It Ain't Necessarily So" sind beide auch großartig, aber "Comin' Home Baby" ist natürlich erst mal der große Anheizer.


"Yasmina, A Black Woman", Archie Shepp (aus: YASMINA, A BLACK WOMAN, 1969)

Die Latin-Klänge hatte Mann nach einer Tournee durch Brasilien mitgebracht. Archie Shepp brachte aus Nordafrika Inspirationen für YASMINA, A BLACK WOMAN nach Paris mit, wo das Album aufgenommen wurde. Strukturell ist das, was Mann und Shepp gemacht haben, gar nicht so unähnlich: wie "Comin' Home Baby" ist auch "Yasmina, A Black Woman" auf seine eigene Weise vor allem ein Groove-Piece (vor allem durch das Ruf-Motiv, das Dave Burrell am Klavier und die anderen Bläser, darunter Roscoe Mitchell und Lester Bowie vom Art Ensemble of Chicago, fast durchgehend wiederholen).

Ich empfehle, die oben verlinkte Vinylversion zu hören, das Titelstück dauert bis 20:15 (andere, offenbar auf "remasterte" CD-Versionen basierend, klingen wesentlich dünner) 


"Balkanų saulė", Petras Vyšniauskas (aus: IEŠKOJIMAI IR ATRADIMAI, 1983)

Bleiben wir in Europa und free. Also zumindest in der Musik, denn wir überqueren den Eisernen Vorhang und begeben uns in die Sowjetunion und dort nach Litauen, einem der Zentren des sowjetischen Free Jazz. Das Ganelin-Trio bzw. Trio Ganelin-Chekasin-Tarasov bzw. Trio Ganelinas-Čekasinas-Tarasovas war international berühmter (auch davon sehr viel in meiner Krankheitsphase entdeckt), aber Alt- und Sopransaxophonist, Klarinettist und Pianist Petras Vyšniauskas (der auch mit Ganelin gespielt hat) hat mit "Searchings and Discoveries" einen echten Klassiker des osteuropäischen Free Jazz erschaffen: originell, luftig, kreativ, mit intensiven und leisen Momenten, und teilweise sogar tanzbar. Ja: In einer besseren Welt würde man "Balkan Sun" auf Balkan-Beats-Parties hoch- und runterspielen.

"Balkan Sun" ist im oben verlinkten Video von Minuten 19:00 bis 31:50 zu finden.


"Into the Heaven", Terumasa Hino Quintet (aus: INTO THE HEAVEN, 1970)

Verlassen wir Europa und gehen noch weiter in den Osten. Japanischer Jazz war noch eine Leerstelle, die ich 2022 nun anhand des berühmten Trompeters Terumasa Hino ein klein wenig aufgefüllt habe (Hino ist 1975 in die USA gegangen). INTO THE HEAVEN scheint fast ein wenig MILES IN THE SKY zu referenzieren: die Anspielung wäre recht adäquat, denn das Zusammenspiel des Quintetts mit Takeru Muraoka (Tenorsaxophon), Hiromasa Suzuki (Klavier), Kunimitsu Inaba (Bass) und Motohiko Hino (Schlagzeug) erreicht stellenweise die telepathische Symbiose des Zweiten Großen Miles-Davis-Quintetts.


"Little Red's Fantasy", Dexter Gordon (aus: HOMECOMING – LIVE AT THE VILLAGE VANGUARD, 1976)

Nach unserer kleinen Europa- und Asien-Tour kehren wir in die USA zurück – wie Dexter Gordon, der nach über einem Jahrzehnt in Europa in die USA zurückkehrte und dessen HOMECOMING in einer von (sehr zugespitzt formuliert) Free-Jazz-Esoterik und Fusion-Matsche (zumal nach Miles Davis' 1975 eingeleiteter Karrierepause) geprägten Jazz-Szene wie eine Bombe einschlug – oder "You can't beat tenor sax, trumpet, piano, bass and drums" (um Lou Reed zu paraphrasieren).


"The Time Is Now For Change", Phil Ranelin (aus: THE TIME IS NOW!, 1974)

Speaking of "Free-Jazz-Esoterik" oder regionale Miszellen: der Posaunist Phil Ranelin war eine lokale Größe der Detroiter Jazz-Szene und jenseits der "Motor City" eher unbekannt. "The Time Is Now For Change" ist ein spannungserzeugender Groove, der die ganze Zeit das Versprechen der Spannungsauflösung in sich trägt und den Zuhörer immer weiter treibt und weiter treibt. Nach nur 13 Minuten ist das leider schon wieder vorbei. 


Zwei kleine Boni


"If There Is Something", Roxy Music (John Peele Sessions, 1972)


"Something's On Your Mind", Miles Davis (live, 1983/84/85?)



Festivalstationen des Jahres

Im April ging es auf das erste Live-goEast seit Pandemiebeginn, auf das 22. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films, wo die georgische Regisseurin Lana Gogoberidze zum Fixstern wurde. Anfang Juni dann "mein erstes Mal Hamburg" beim 38. Kurzfilmfestival Hamburg: Höhepunkt war das geradezu halluzinatorische Doppel-Programm "Ecstasy" mit einer Präsentation restaurierter und auf neue 16mm-Kopien gezogenen US-amerikanischen Experimentalfilmen aus dem Academy Film Archive in Los Angeles.

Von der Ekstase ging es dann auch eine Woche später zur Leipziger Sonderausgabe des Hofbauer-Kongresses, bevor ich dann leider wieder über einen Monat in Krankheit von der Bildfläche verschwand – um rechtzeitig wieder für das 8. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione aufzutauchen: ein Ferngespräch mit Aldo Lado nach CHI L'HA VISTA MORIRE; die unbekannten Seiten von Dario Argento als Slapstick- sowie Period- und Polit-Drama-Regisseur in LE CINQUE GIORNATE; transgressiv-zärtliche Liebesgeschichten in BESTIALITÀ; die göttliche Erlösung durch den einzig wahren (nämlich disco-tanzenden) Jesus in WHITE POP JESUS; die Coming-of-Age-Geschichte eines Körperfressers in OMICRON; das Eintauchen in einen Strudel aus Wahnsinn, Schmerz, Obsessionen und Gewalt in Lucio Fulcis meisterhaftem Melodrama IL MIELE DEL DIAVOLO; am "internationalen Tag" dann noch mehr Melodrama, aber in nördlichen Gefilden in Teuvo Tulios RAKKAUDEN RISTI und der Spaziergang durch den Friedhof ohne Rückkehr in Jean Rollins LA ROSE DE FER...

Im August ging es dann noch mal zum Kino des Frankfurter DFF zurück für ein lange erwartetes Ereignis: bei "Cinéma du combat: Das politische Genrekino von Yves Boisset" wurden 14 Boisset-Filme gezeigt, eine Mehrheit davon an einem Schwerpunktwochenende. Dafür noch mal einen großen Dank an das Filmkollektiv Frankfurt und besonders an Sebastian! Mehr zu einzelnen Filmen gibt es weiter unten zu lesen.

Beim 4. Filmarchäologen-Symposium im September floßen Tränen der Liebe in finnischen Sommernächten, Tränen des Lachens rund um die Abenteuer eines dänischen Pressefotografen, hingen wir mit Peter Fonda in LKWs auf breiten Highways und mit Susan Berman im punkigen New York der frühen 1980er Jahre rum, bevor es in das Inferno des Zwangsarbeiterinnen-Lagers in den amerikanischen Süden ging. 

Explodierende Vulkane (und explodierende Denzel Washingtons), Taubenschwärme im Kugelgewitter und fiese Menschenjagden durch die amerikanische Midwest-Pampa oder den Irak gab es dann beim 7. Karacho-Festival des Actionfilms im November.




Tops neue Filme 2022

Die für mich zwei besten Filme des Jahres 2022 waren zwei Los-Angeles-Filme, zwei sehr unterschiedliche Reisen durch die Stadt der Engel, durch die Heimat Hollywoods.


AMBULANCE (Michael Bay: USA 2022)

Ich zitiere aus meiner Rezension für Multimania: "Ein Krankenwagen, zwei Bankräuber, eine Sanitäterin, ein angeschossener Polizist und die Stadt Los Angeles: damit zaubert Michael Bay einen mitreißenden sowie verblüffend klassischen und humanistischen Verfolgungsjagd-Actionfilm. Es ist immer noch schwer, einem gewissen Teil des Publikums zu erklären, dass Bay ein begnadeter Regisseur, ein entfesselter Bilder-Ekstatiker, ein expressionistischer visueller Erzähler ist – und ein Filmemacher, der über die dunklen Seiten des Lebens im zeitgenössischen Amerika recht viel zu sagen hat. In AMBULANCE trifft sein exzessiver und doch sehr kontrollierter Regiestil auf einen reduzierten, ultraklassischen Genre-Stoff. Trotz der hohen Schnittfrequenz und der spektakulären Drohnen-Kamerafahrten, die Tempo, Tempo und noch mehr Tempo machen, erinnert AMBULANCE eher an das Beste des urbanen US-Thrillers der 1970er und 1980er Jahre als an seelenloses Blockbusterkino des 21. Jahrhunderts. In der Figurenzeichnung der zwei kriminellen Brüder und der Sanitäterin als harte, und doch moralisch zweifelnde Professionals, die in einer Extremsituation agieren, reagieren und schwere Entscheidungen treffen, weht fast ein Hauch Hawks’scher Klassizismus durch diesen visuell durch und durch Bay’schen Film."


LICORICE PIZZA (Paul Thomas Anderson: USA 2021)

Am Anfang des Jahres noch etwas geschmäht, weil ich ein eher ambivalentes Verhältnis zu Anderson habe. Nach mehreren begeisterten Reaktionen von Menschen, deren Filmurteil ich vertrauenswürdig finde, war das Interesse geweckt, doch ich wurde krank, bis der Film schon nicht mehr in den Kinos lief. Eine "Best Of 2022"-Kinowiederholung kurz vor Weihnachten erlaubte es mir schließlich doch, mich wie Gary völlig hoffnungslos in Alana zu verlieben und davon zu träumen, mit ihr in einem Umzugs-LKW die steilen Hügelstraßen von L.A. hinunterzugleiten.

Nach einem interessanten, aber dennoch extrem kalten Film wie THE MASTER (ja, zwei Anderson-Filme dazwischen fehlen mir) war LICORICE PIZZA vor allem ein überraschend warmer und warmherziger Film. Das 1970er-Jahre-Setting ist für die Geschichten Alanas und Garys notwendig, doch zu keinem Zeitpunkt macht LICORICE PIZZA daraus ein "fishing for nostalgia" oder ein Zitate-Bingo (auch wenn im letzten Drittel ein Subplot eine Art Re-Imaginierung von Betsys Arbeitsalltag als Wahlkampfhelferin in TAXI DRIVER, aus ihrer persönlichen Perspektive und nicht der des puritanischen Gewalttätters, gezeigt wird – danke an Robert für den Hinweis zu TAXI DRIVER). Geschichten ist auch ein gutes Stichwort: LICORICE PIZZA zeigt das Leben Alanas (und Garys – aber im Grunde ist es über weite Teile Alanas Film) als dichte Ansammlung kleiner Geschichten, die nicht immer zusammenhängen, nicht immer einen schlüssigen Anfang haben, nicht immer abgeschlossen werden und die nicht alle gleich intensiv erlebt werden. Eine lockere, an dramaturgischer Stringenz wenig interessierte Erzählweise, die zum Abhängen einlädt (die Laufzeit von knapp 2h15 erklärt sich dadurch). Dazu ein Film, der auch noch absolut fantastisch aussieht, selbst eine DCP-Projektion ließ noch sehr viel von der analogen 35mm-Materialität von LICORICE PIZZA spüren. Es gäbe noch so viel Schönes über LICORICE PIZZA und Alana und die Schwierigkeit des Sichverliebens im L.A. der 1970er Jahre zu schreiben...


LES CHOSES QU'ON DIT, LES CHOSES QU'ON FAIT (Emmanuel Mouret: Frankreich 2020)


Emmanuel Mourets neuster Film hatte im Sommer 2020 seine Kino-Premiere, erlebte aber erst 2022 seine deutsche, nun ja,  Direct-to-TV-Premiere. Das ist sehr schade, denn in diesem Film schafft Mouret eine atemberaubende Symbiose aus seinen bekannten leichten Liebeskomödien und dem tragischen Melodrama, das er in UNE AUTRE VIE (2013) mit meiner Meinung nach eher gemischten Resultaten ausprobiert hatte. Locker-fluffige Komödie über die Möglichkeiten der Liebe, hartes Melodrama über die Unmöglichkeit von Beziehungen gehen Hand in Hand in den Erzählungen der Figuren über glückliche, gescheiterte und fingierte Lieben.


SZELÍD (Csuja László, Nemes Anna: Ungarn/Deutschland 2022)

Ein zärtlicher Film über das harte Leben in einem gestählten Körper. Gesehen und bewundert beim goEast-Festival.


X (Ti West: USA/Kanada 2022)

Ein toller Neo-Slasher, der viel mehr ist als sein Konzept "Porn movie crew meets Texas Chainsaw Massacre" ist. Trotz der sehr happigen Gewaltmomente im letzten Drittel ist X auch ein Atmosphärenfilm, der sich in der ersten Hälfte ganz auf die Stimmung eines heiß-flirrenden Sommerabends auf einer Farm im Nirgendwo des amerikanischen Südens einlässt und von ihr einlullen lässt. In seiner Zeichnung des alten Ehepaars, das die Porno-Crew auf ihrer Farm empfängt (na ja: duldet), liegt vielleicht das Besondere von X: es ist ein Film über die Tristesse des Altseins, über die Weltmüdigkeit, über den Verlust von Begehren – und in einer unfassbaren Schlüsselszene, die sich vom nagelbeissenden Spannungsaufbau in befreienden Sex verwandelt – über das Wiederfinden von Begehren und Lust.

Es ist der erste Teil einer Trilogie. Der zweite Teil, PEARL, soll wohl eine besondere Neigung zum Melodrama haben und wurde bereits von einigen mit dem spannenden Teaser "Douglas Sirk meets Texas Chainsaw Massacre" versehen. West hat schon im ersten Teil aus einem spannenden Teaser noch sehr viel mehr rausgeholt: ich freue mich auf PEARL.


WESELE (Wojciech Smarzowski: Polen/Lettland 2021)

Polnische Zeitgeschichte und zeitgenössische Geschichtspolitik durch den cinematographischen Fleischwolf gedreht. Mit teils heruntergeklappter Kinnlade beim goEast-Festival gesehen.


OCCHIALI NERI (Dario Argento: Italien/Frankreich 2022)

Auch wenn einige es nicht sehen wollen: Dario Argento ist kein kalter, inhumaner Formalist, der sich nur für technisch virtuose Darstellungen brutaler Gewalt interessiert; nein, Argento ist auch ein Erzähler, der seine Figuren mit Herz und Seele liebt. In OCCHIALI NERI entkommt die Prostituierte Diana einem Serienkiller, verliert aber auf der Flucht bei einem Autounfall ihr Augenlicht (was für ein Schicksal im Film eines Regisseurs, dessen Werk sich immer wieder ganz zentral um das Sehen dreht). Einen guten Teil verbringt der Film dann damit, einer traumatisierten Frau dabei zu begleiten, wie sie in ihrem Alltag mit ihrer Blindheit zurecht kommt und zugleich Freundschaft mit einem kleinen Jungen schließt. Das ist dann auch der Argento, den man aus den von einigen Zuschauern als "Laber-Szenen" bezeichneten Screwball-Komödien-Momenten in PROFONDO ROSSO, aus den Badewannen-Blödeleien in 4 MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO, aus der improvisierten Slapstickgeburtshilfe in LE CINQUE GIORNATE, aber auch aus den Momenten von Annas existentieller Verzweiflung in LA SINDROME DI STENDHAL kennt. Der Thriller um die lange Verfolgung Dianas und Chins durch den Serienkiller – ja, der ist toll und spannend und kommt on top dazu. Das eigentlich Große an OCCHIALI NERI ist das gemeinsame Neuentdecken der Welt mit Diana. Gesehen als inoffizieller Warmup-Film beim Terza Visione. 





Top 10 Neuentdeckungen 2022 (chronologisch nach Premierendatum geordnet)


TINI ZABUTYCH PREDKIV – Shadows of Forgotten Ancestors (Serhij Paradžanov: Sowjetunion 1965)

Eine (leider, leider, leider!) beängstigend leere 35mm-Vorstellung des Film e.V. Jena, die bei den wenigen Anwesenden dennoch fiebrige Rauschzustände hervorrief und ihnen immer wieder Schauer über den Rücken jagte. Einer der Co-Zuschauer schlug danach vor, diesen Film statt der aktuellen Oscar-Gewinner und der lauen französischen Komödien beim Open-Air der Jenaer Kulturarena zu zeigen, auf dass die hypnotischen Töne der huzulischen Berghörner (die einen Teil des Scores bilden) laut und echoend durch die ganze Jenaer Innenstadt schallen.

Mehr zu lesen zu diesem Film gibt es in Manfreds Text in diesem Blog.


SECONDS (John Frankenheimer: USA 1966)

Letztes Jahr hat mir Manfred wärmstens SECONDS empfohlen als Film, in dem man Rock Hudson außerhalb des bekannten Komödien- und Melodramen-Spektrums neu kennenlernt. Was kann ich sagen: Holy shit, was für ein wilder Trip! SECONDS hat mich noch einige Stunden nach der Sichtung völlig verstört, benommen, schwindelig zurückgelassen. Neben den furchteinflößenden, paranoiden Schwarzweißbildern James Wong Howes ist dann auch in der Tat Rock Hudsons Jahrhundertdarstellung das Sahnehäubchen.


ROULETTE D'AMOUR (Frits Fronz: Österreich 1969)

aka "Baron Pornos nächtliche Freuden" oder wenn Sexploitation meets DETOUR meets Arthur Schnitzlers "Der Reigen" mit einem großen Schuss Melancholie. Mehr dazu in meinen Ausführungen zum Leipziger Hofbauer-Kongress.


Boisset-Double-Feature:

DUPONT LAJOIE (Yves Boisset: Frankreich 1975)

FOLLE À TUER (Yves Boisset: Frankreich/Italien 1975)

Boissets anarchistisch gefärbtes Kino ist geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber staatlichen Ordnungsinstitutionen, die entgleiten und in einer Art Autopilot über Individuen brutal hinweg rollen: seien es Geheimdienste (ESPION LÈVE-TOI), die Polizei (UN CONDÉ), die Judikative (LE JUGE FAYARD DIT "LE SHÉRIFF") oder die Armee (ALLONS Z'ENFANTS) – und Männer, die eine Ehrenlegion am Revers tragen, sind sowieso dubios (ich habe im Verlauf des Boisset-Schwerpunktwochenends bestimmt vier bis fünf rote Abzeichen an Knopflöchern gezählt). Seine Filme sind auch von Skepsis geprägt gegenüber den gewaltsamen und repressiven Tendenzen einer Gesellschaft bzw. einzelner Gemeinschaften.

In DUPONT LAJOIE (den man auch "Unersättliche Triebe besorgter Bürger" nennen könnte) lullt Boisset die Zuschauer zunächst in einer Art satirischen Portrait französischer Kleinbürger in einer mediterranen Urlaubskolonie ein. Nachdem einer der Urlauber die Tochter eines Bekannten vergewaltigt und aus Versehen tötet (und das alles dann vertuscht), sammeln sich die besorgten Urlauber, um in den benachbarten Baracken algerischer Gastarbeiter einen Lynchmord zu verüben. DUPONT LAJOIE, eine Reaktion auf eine Welle rassistischer Gewalttaten in Frankreich 1973, dürfte Boissets vielleicht direktester und krassester Film sein: trotzdem kann man ihn kaum als Thesenfilm bezeichnen, dafür ist er viel zu sehr von Zufällen und Zufälligkeiten her gedacht und inszeniert und von seinen individuellen Charakteren getrieben (gespielt von großartigen Darstellern wie Jean Carmet als durchaus immer wieder selbstzweifelnder "Titelheld", Jean Bouise als ambivalenter Polizeiinspektor, Michel Peyrelon als selbstsicherer Schmierlappen, Jean-Pierre Marielle als TV-Animator, Victor Lanoux als witzig-prolliger und doch überaus gewalttätiger Algerien-Veteran).

FOLLE À TUER stellt Julie (Marlène Jobert) in den Mittelpunkt, eine Frau, die frisch aus der Psychiatrie entlassen wird, eine Stelle als Nanny für den kleinen Sohn eines reichen Unternehmers bekommt und prompt zusammen mit ihrem Schützling entführt wird in einer Intrige, bei der sie, die "Verrückte", als Schuldige zurückgelassen werden soll. Sie steht dann alleine, als Frau in einer Männerwelt, als "Verrückte" unter lauter "Normalen", als kleine Angestellte in einer Welt, in der die Reichen das Sagen haben, als zerbrechliche Marlène Jobert, die von einem brutalen Tomás Milián verfolgt wird – doch der Film steht ganz auf ihrer Seite und inszeniert ihren Weg, ihre Flucht auch als ultraspannenden, nägelkauenden Thriller. Ein wunderbarer Film, auch in der leider schon leicht erröteten Kopie.


LE DOSSIER 51 (Michel Deville: Frankreich/BRD 1978)

Ein quasi-experimenteller Spionagefilm und Paranoia-Thriller, der einen großen Teil der klassischen Erzählung durch fast abstrakte Rekonstruktionen von Observationsberichten und Abhörprotokollen ersetzt. Die dehumanisierenden, bürokratischen Strukturen staatlicher Überwachungsapparate macht er dadurch unmittelbar spürbar, ohne sie jedoch zu fetischisieren: LE DOSSIER 51 vergisst nie, dass es um menschliche Schicksale geht. Der große Triumph des Films ist dann auch, dass seine experimentelle Form niemals selbstzweckhaft oder langweilig wird, sondern im Gegenteil einen ganz eigenen faszinierenden Flow entwickelt.


BODY DOUBLE (Brian De Palma: USA 1984)

Bei der Erstsichtung hat mir ein bisschen was gefehlt für die große Begeisterung. Aber bei der Zweitsichtung, einer der ersten Filme, die ich nach Genesung meiner dritten Krankheitsphase sah (als ich mich sehr nach Filmen über Voyeurismus, über die Freuden und Perversionen des Sehens sehnte) – die Offenbarung: ein ganz großer De Palma; ein wunderbarer Film über das Sehen, die Geilheit des Sehens, die Macht des Sehens, die Ohnmacht des Sehens; ein herrlich quatschkopfiger Film.


IL MIELE DEL DIAVOLO (Lucio Fulci: Italien/Spanien 1986)

Nach über einem Jahr schwerer Krankheit leitete Lucio Fulci mit diesem Meisterwerk die finale Phase seiner Filmkarriere ein: ein intensives Erotik-Melodrama über eine junge Frau, die den Arzt entführt, der das Leben ihres Geliebten auf dem OP-Tisch nicht retten konnte. In der intensiven, sadomasochistischen Beziehung mit ihrem Gefangenen durchlebt sie in trauernder Erinnerung selbst Stationen ihres Beziehungslebens mit ihrem verstorbenen Geliebten, eine Beziehung, die von Gewalt, Misshandlung, emotionaler Erpressung und Missbrauch gekennzeichnet war. Fulci war ein Regisseur der Extreme, und IL MIELE DEL DIAVOLO ist in seiner emotionalen Intensität einer seiner extremsten Filme: von Trauer und Verzweiflung, von zwanghaftem Begehren und Hassliebe überwältigt. Gesehen beim 8. Festival des italienischen Genrefilms "Terza Visione": zweifelsohne einer der großen Höhepunkte in der Geschichte des Festivals. Und einer der essentiellen Filme Fulcis.


Gogoberidze-Double-Feature:

VALSI PECHORAZE – The Waltz on the Petschora (Lana Gogoberidze: Georgien 1992)

OKROS DZAPI – Golden Thread (Lana Gogoberidze: Georgien/Frankreich 2019)

Über Gogoberidzes autobiografisch angehauchten Coming-of-Age-Film im Umfeld des stalinistischen Terrors und ihr in Gelassenheit, Ruhe und Entspannung schwebendes Familiendrama schrieb ich schon ausführlich in meinem Bericht zum goEast 2022.


LIBERTÉ (Albert Serra: Frankreich/Portugal/Spanien/Deutschland 2019)

Einige exilierte französische Libertins organisieren in einem Wald südlich von Potsdam eine nächtliche Orgie und verlieren sich komplett in ihrem Treiben – mit ihnen auch Zuschauer, die bereit sind, sich diesem extrem langsamen Film mit seiner hypnotischen Mischung aus Voyeurismus und meditativer Kontemplation weit über zwei Stunden hinzugeben.


PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU (Céline Sciamma: Frankreich 2019)

Ein wunderschöner Liebesfilm, der Hand in Hand geht mit einem leisen Female-Buddy-Movie (in der Dreiecksbeziehung der Malerin, der Adeligen und der Dienerin). Ein schöner Film über das Filmemachen (auch, wenn es von Portraitmalerei im 18. Jahrhundert handelt) und über kreative Schöpfung als kollektiver Akt. Ein extrem intensiver Film der obsessiven und begehrenden Blicke, der auf sehr elegante Weise dies expliziert, was bei De Palma (das passendste Double-Feature zu Sciammas Film aus meiner 10er-Liste wäre wohl tatsächlich BODY DOUBLE) und natürlich auch schon bei Hitchcock angedeutet war: wenn man lange genug auf sein Objekt der Begierde schaut, wird es irgendwann genauso intensiv zurückblicken und wer wen anschaut, ist irgendwann nicht mehr eindeutig klar.




Einige weitere schöne Neuentdeckungen 2022 (nach Sichtungsreihenfolge geordnet)


BLIND HUSBANDS (Erich von Stroheim: USA 1919)

Stroheim stroheimt stroheimig durch die Berge: Das macht richtig Spaß!


THE 5,000 FINGERS OF DR. T. (Roy Rowland: USA 1953)

Ein kunterbuntes, im besten Sinne kindliches Spektakel, das einfach nicht aufhört, immer wieder mit neuen fantastischen Set-Designs zu verblüffen. Mehr zu diesem Film gibt es in diesem Blog in Manfreds Text zu lesen.


BONJOUR TRISTESSE (Otto Preminger: USA 1958)

Schwierig zu sagen, was die Faszination dieses Films ausmacht: natürlich gibt es die tollen Farben, die meisterhafte Nutzung des Cinemascope, die großartige Darstellerriege. Trotzdem kann ich es nicht wirklich festnageln. Ein mysteriöses "je ne sais quoi".


ELMER GANTRY (Richard Brooks: USA 1960)

Ein Duell der Extraklasse zwischen Burt Lancaster und Jean Simmons in einem Film, der sich (leider) noch sehr zeitgenössisch anfühlt.


THE COLLECTOR (William Wyler: UK/USA 1965)

Ein in seiner Konzentration absolut anbetungswürdiger Kammerspiel-Thriller. Der Moment, als der Protagonist von Freude betrunken über seine gelungene Entführung in seinem Garten unter strömendem Regen tanzt: Ekstase und Schrecken gehen hier eine schauererregende Symbiose ein. Bewundernswert ist auch, dass ein dreifach Oscar-prämierter Hollywood-Altmeister im 40. Jahr seiner Regiekarriere sich mit der Energie eines 25-jährigen Bilderstürmers eines (für 1965) solch "schwierigen" Stoffs angenommen hat und einen so durch und durch modernen Film erschaffen hat.


LA NUIT DES TRAQUÉES (Jean Rollin: Frankreich 1980)

Keine Vampire, kein Strand bei Pourville, sondern nur eine verlorene Frau, die ihr Gedächtnis immer wieder neu verliert und durch einen dystopischen Alptraum aus brutalistischen Hochhäusern schreitet, in denen Verlorene wie sie weggesperrt oder ermordet werden. Ja, Rollin war wesentlich politischer, als ihm gemeinhin zugestanden wird: seine Sympathie gehört immer den Verlorenen, den Ausgestoßenen, den Verfluchten. Und in dieser ganzen Hoffnungslosigkeit findet er trotzdem kleine Gesten der Zärtlichkeit und der Solidarität, wenn etwa eine Frau mit gestörtem Gedächtnis einer ihr völlig unbekannten Frau mit stark eingeschränkter Motorik ihre Freundschaft gibt und ihr beim Essen hilft.


BORN YESTERDAY (George Cukor: USA 1950)

Eine etwas humanistischere und lustigere Version von MY FAIR LADY, mit Judy Holliday als Audrey Hepburn und William Holden als Rex Harrison (sozusagen) und mit Cukor, der ohne 70mm-Breitformat, sondern "nur" im Academy-Format auf teils sehr verblüffende Weise die Raumtiefe nutzt, wenn Figuren durch überdimensionierte Hotelzimmer oder durch Washington huschen. Der unglaublichste Moment ist aber das Gin-Rummy-Spiel (siehe den Ausschnitt hier), bei dem Judy Holliday unter anderem durch blitzschnelles Neuordnen ihrer Karten Broderick Crawford irritiert (ein Teil davon in einem ungeschnittenen 3-minütigen Take).


LADY BEWARE (Karen Arthur: USA 1987)

Mehr zu diesem außergewöhnlichen Rape-and-Revenge-Thriller in meinen Ausführungen zum Leipziger Hofbauer-Kongress.


LE CINQUE GIORNATE (Dario Argento: Italien 1973)

LE CINQUE GIORNATE ist so etwas wie Dario Argentos großer unterschlagener Film: ein komödiantischer Polit-Historienfilm, in dem ein Mailänder Dieb (Adriano Celentano) und ein Bäckergehilfe in den Strudel der 1848er-Revolution geraten. In einem Paralleluniversum wäre Argentos Versuch, sich nach drei Gialli von seinem Ruf als Thriller-Spezialist zu lösen, nicht katastrophal in den Kinos gefloppt, sondern hätte seinen Weg in andere Genres eröffnet: weitere Komödien, vielleicht auch Polizei-/Gangsterfilme, dazwischen möglicherweise ein Melodrama. Doch LE CINQUE GIORNATE floppte – und Argento kehrte 1975 mit PROFONDO ROSSO zum Giallo zurück (der Rest ist Geschichte). Der Flop des Films ist schade, aber auch verständlich, denn "einfach" ist Argentos Revolutionsfilm auf keinen Fall: für eine Komödie wird er in der zweiten Hälfte zu ernst, brutal und tragisch, für einen "respektablen" Politfilm ist er in der ersten Hälfte zu slapstickhaft (der Marsch Celentanos durch die Straßen mit einer italienischen Fahne über der Schulter, bei dem immer mehr Leute, ohne, dass er es merkt, sich ihm anschließen, während eine elektronische Version von Rossinis "La gazza ladra" das ganze vertont, ist genau ein Kino-Meisterstück, den man von Dario Argento erwartet). Erschienen ist er pünktlich zum 125. Jubiläum der 1848er-Revolution, doch als "Gedenkfilm" der Glorie von 1848 taugt er absolut nicht, dafür ist sein Blick auf die italienische Politik viel zu ernüchtert (und gegen Ende wirkt er immer mehr wie ein bitterer, verzweifelter und tragischer 1968er-Katerfilm).

Gesehen beim 8. Terza Visione, also dort, wo es auch mit einem bekannten Namen wie Dario Argento immer wieder verblüffende Überraschungen geben kann.


BESTIALITÀ (Peter Skerl: Italien 1976)

Als "transgressiver" Film des 8. Terza Visione angekündigt, hat sich BESTIALITÀ besonders in der zweiten Hälfte vor allem als sehr eigensinnig erzählter und inszenierter Ehekrisen-Erotik-Drama im Urlaubsinsel-Setting entpuppt. Im letzten Drittel löst er sich teilweise komplett in reine Bilderpoesie auf (definitiv ein Grund, warum mir mittlerweile auch viele Details aus dem Film entgleitet sind).


OMICRON (Ugo Gregoretti: Italien/Frankreich 1963)

Die Coming-of-Age-Geschichte eines Körperfressers, der die Funktionen seines menschlichen Körpers nach und nach entdeckt – oder: eine wahnwitzige Slapstick-Komödie mit einem verblüffenden Renato Salvatori in der Titelrolle und ein unerwarteter Publikumsknüller beim 8. Terza Visione.


CONFIDENTIAL REPORT (Orson Welles: Frankreich/Spanien/Schweiz 1955)

Ich finde TOUCH OF EVIL zwar ganz gut, aber doch irgendwie auch leicht überschätzt im Welles- und Film-Noir-Kanon, irgendwie zu "normal" – während CONFIDENTIAL REPORT tatsächlich ein herrlich eskalierender und delirierender Fieberwahn-Noir ist, sichtbar von einem der ultimativen Hollywood-Rebellen inszeniert.


KISS ME, STUPID (Billy Wilder: USA 1964)

Von der Catholic Legion of Decency verurteilt – zurecht, denn Wilder ist mit seinem wahrscheinlich "schmutzigsten" Film nicht weniger als ein Schmier-Meisterwerk gelungen. Das Dauerfeuerwerk an visuellen Gags, schlüpfrigen Zweideutigkeiten und schieren Unfassbarkeiten ist schon sehr beglückend. Was den Film richtig groß macht, ist, dass er trotzdem zärtliche und reife Aspekte hat: wenn Kim Novak, die sich für einige Momente (bevor Dino wieder reinplatzt) in ein alternatives, gutbürgerliches und respektables Leben verliert, dann ist KISS ME, STUPID auch verblüffend anrührend – und sein Blick auf die Möglichkeiten, Eheprobleme zu diskutieren (am Schluss) ist von einer für 1964 verblüffenden Offenherzigkeit.


AGE OF CONSENT (Michael Powell: UK/Australien 1969)

Nach dem Skandal von PEEPING TOM war Michael Powells Filmkarriere ruiniert – so die gängige Sichtweise. Aber für einen kleinen, aus dem Ärmel geschüttelten Strandurlaub-Abhängfilm (der sich als Spätwerk eines Meisters im exotischen Setting gut mit solchen Abhängfilmen wie John Fords DONOVAN'S REEF und Howard Hawks' HATARI! einreihen könnte) hat es allemal noch gereicht.


LA TRAVESTIE (Yves Boisset: Frankreich 1988)

Vielleicht der "film maudit" Boissets (sein eklatanter kommerzieller Misserfolg läutete das Ende seiner Kinokarriere ein), mindestens aber sein (nach meinem aktuellen Kenntnisstand von 12 Boisset-Filmen) außergewöhnlichster: eine Anwaltsgehilfin betrügt einige ihrer Geliebten, macht sich mit dem Geld nach Paris auf, um dort als Mann zu leben, fängt eine Freundschaft/Liebesbeziehung zu einer Prostituierten an, flüchtet nach deren gewaltsamen Tod in eine neue Beziehung mit einer gutbürgerlichen Hausfrau und kommt um zwei Ecken zu einem Lehrer... Ja, Boissets außergewöhnlichster und vor allem sein in der Inszenierung und Erzählung anarchischster Film: LA TRAVESTIE ähnelt seiner Protagonistin und verweigert sich fast komplett jeglichem Zugriff. Es ist das psychologische Portrait einer Figur, die komplett mysteriös bleibt. Ein Film, der zwischen verspielter Gaunerkomödie, ernsthaftem Drama über Gender-Identitäten, voyeuristischem Prostitutionsmelodrama, Rohmer'ianische Abhängkomödie und ultrafinsterem Stalker-Thriller mühelos wechselt. Ein äußerst bizarrer, schwieriger, sperriger, undurchdringlicher und doch extrem lohnenswerter Film, dessen Mysterien mich nach der Sichtung noch stundenlang wachhielten.


CARNAL KNOWLEDGE (Mike Nichols: USA 1971)

Es ist zunächst die sehr verblüffende und raffinierte Art, wie Nichols das Cinemascope-Format einsetzt, die mich für CARNAL KNOWLEDGE eingenommen hat (in langen, langen Takes, die sehr schön Figuren im Raum verorten einerseits, andererseits in sehr intimen Nahaufnahmen von Gesichtern). Natürlich ist es auch entfesseltes Schauspielerkino mit Jack Nicholson in his prime, einem immer wieder wunderbaren Art Garfunkel (auch wenn seine Rolle natürlich weniger komplex und ambivalent ist als in Roegs BAD TIMING) und einer in der ersten Hälfte rührenden Candice Bergen. Und ein sehr bitterer 68er-Katerfilm.


VIVRE POUR SURVIVRE aka WHITE FIRE (Jean-Marie Pallardy: Frankreich/Türkei/USA 1984)

Die inzestgeschädigte Schmier-Version von VERTIGO meets eine Räuberpistole rund um einen Superdiamanten: Robert "The Exterminator" Ginty geilt die Wiedergeburt seiner Schwester an, schlitzt einigen üblen Gangstern bei einem Straßenkampf mit einer Kettensäge den Bauch auf, philosophiert mit Jess Hahn über Ketchup. Eine unfassbare Wundertüte des obskuren Exploitationkinos.


NIGHTMARE IN BADHAM COUNTY (John Llewellyn Moxey: USA 1976)

Durch eine unglückliche Verkettung von Zufällen finden sich zwei Studentinnen auf Urlaubstour in einem Südstaaten-Zwangsarbeiterinnenlager wieder: ein beeindruckend intelligenter Vertreter des Frauenknast-Subgenres mit einem sehr differenzierten Blick für gesellschaftliche Gewaltstrukturen – umso interessanter, dass der Film "nur" für das Fernsehen produziert wurde.


HILJA – MAITOTYTTÖ (Toivo Särkkä: Finnland 1953)

"Liebe einer Sommernacht" (engl.: "The Milkmaid") ist ein wunderschön fotografiertes und von einem beeindruckenden inszenatorischen Gestaltungswillen (er wirkt stellenweise sehr Hitchcock'ianisch) geprägtes Melodrama um die Liebe zwischen dem Milchmädchen Hilja und einem Kunststudenten im Sommerurlaub – die Dorfgemeinschaft und ein gewalttätiger Landarbeiter, der Hilja für sich haben möchte, trüben das Liebesglück. Vielleicht könnte man das Klischee des "unterkühlten Finnen" etwas aufbrechen, wenn solche starke Melodramen aus Finnland öfter gezeigt würden.


OPEN SEASON (Peter Collinson: UK/Spanien/USA 1974)

Ein besonders grimmiger Blick auf die USA der Vietnam- und Watergate-Ära: drei gutbürgerliche Vietnamveteranen (Peter Fonda, John Philip Law, Richard Lynch) verbringen alljährlich einen Urlaub, bei dem sie Menschen auf eine entlegene Jagdhütte entführen, demütigen und missbrauchen und anschließend in der Wildnis jagen. Der Vietnamkrieg hat sie nicht traumatisiert, sondern ihren ohnehin schon bestehenden Appetit auf Gewalt nur gesteigert. Dieses Jahr ist ein Paar an der Reihe, ein älterer verheirateter Mann mit seiner Liebhaberin, und in der ersten Hälfte lotet OPEN SEASON besonders die ambivalenten, unbequemen Beziehungsdynamiken zwischen Entführern und Entführten aus, bevor es in der zweiten Hälfte actionreicher wird (der Film lief beim 7. Karacho-Festival des Actionfilms). Das fulminante Ende hat in seiner meta-kinogeschichtlichen, symbolischen Wucht noch stundenlang an mir genagt.


WATASHI NO SEX-HAKUSHO – My Sex Report: Intensities (Sone Chusei: Japan 1976)

Wieder ein Pink-Film, bei dem sich die Frage stellt "Ist das noch Exploitation oder schon Avantgarde?": unfassbare Cinemascope-Tableaus mit fantastischen Set-Designs und wilde Montagen erzählen in impressionistischen Schnipseln die Geschichte einer Krankenschwester, die im Großstadtmoloch Tokio ihren schwerkranken Bruder versorgen muss und irgendwie überleben muss.


IL RITORNO DI RINGO (Duccio Tessari: Italien/Spanien 1965)

Nach dem sehr enttäuschenden UNA PISTOLA PER RINGO war IL RITORNO DI RINGO (mit der gleichen Crew sofort im Anschluss gedreht, erzählerisch allerdings komplett unabhängig) eine Überraschung: eine Art Western-Adaption der Odyssee, mit einem Bürgerkriegssoldaten, der zu Kriegsende nach Hause zurückkehrt, um sein Dorf von Banditen belagert und seine Ehefrau vom Banditenchef umgarnt wiederzufinden. Trotz der Comic-Relief-Figur des Blumenhändlers, der seine ganze Wohnung mit Gadgets ausgestattet hat, ein zutiefst trauriger und melancholischer Film (stellenweise gar ein tränenreiches Melodrama um zwei Liebende, die sich nach langer Trennung unter widrigen Umständen wiederfinden), der erst im Showdown am Ende eine explosive Erlösung findet.


LAWMAN (Michael Winner: USA 1971)

Ein außergewöhnlicher Western über eine sich aufgrund des Unwillens der Beteiligten immer mehr steigernde Eskalationsspirale der Gewalt. Burt Lancaster ist besonders toll in der Titelrolle, bei dem man nie so ganz sicher sein kann, ob er ein steifer, verstockter Bürokrat, ein melancholischer Loner, der es im Leben oft zu schwer hatte oder ein sadistischer Psychopath ist. LAWMAN enthält eines der wohl verblüffendsten Fisch-Frühstücke der Kinogeschichte und einen wahrhaft exzentrischen, völlig überraschenden, schockierenden und schockierend brutalen Shootout am Ende.



Mit dem Zweiten sieht man besser

FEMME FATALE (Brian De Palma: Frankreich/USA 2002)

Was für ein Narr, ein Idiot, wie blind war ich doch, die überbordende und völlig offensichtliche Schönheit dieses Films nicht schon beim ersten Mal (Mai 2016) erkannt zu haben. Bei der Zweitsichtung, im Kino, mit einer kristallinen 35mm-OmU-Kopie – die augenöffnende Offenbarung. Ein Film wie ein Spiel, das süchtig macht. Eine Wundertüte voller Blicke (und Blicke der Blicke, und Blicke der Blicke der Blicke etc.). Ein unglaublich liebevoller Frauenfilm mit einer alles vereinnahmenden und alle verführenden Protagonistin, der eigentlich alle Leute Lügen strafen sollte, die De Palma als Frauenfeind bezeichnen (genau solche Diskussionen trotzdem auch nach dieser Vorstellung geführt). Unter all der Verspieltheit, der Stilisierung, den unzähligen Hommagen an und Querverweisen auf Hitchcock, den Film Noir etc., ja auch unter dem ganzen Quatsch (De Palma ist so ein liebenswerter Quatschkopf, er ist zum Umarmen und Drücken) auch ein klassischer, zeitloser Film und eben keineswegs ein "trashiges" Zeitdokument der frühen 2000er Jahre, was man sich darunter auch immer genau vorstellen mag (auch diese Diskussionen nach dieser Vorstellung geführt).

Wie kann man denn nicht sehen, was für ein großartiger Film FEMME FATALE ist? Wie?

(als weiterführende Lektüre empfehle ich Michael Koreskys Text aus seiner Reihe "Queer and Now and Then")

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Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern von Whoknows Presents ein schönes (und nicht zu vergessen: gesundes) Jahr 2023 mit vielen schönen Filmen.

Samstag, 24. Dezember 2022

Zärtlich, lustvoll und wüst in der Messestadt

Bericht vom außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos im Luru-Kino, Leipzig, 9.-12. Juni 2022


Editorische Notiz:

Zwischen dem Leipziger Hofbauer-Kongress und der Veröffentlichung dieses Textes ist viel Zeit vergangen. Teile des Berichts wurden am Montag und Dienstag, dem 13. und 14. Juni 2022, entworfen. Andere Teile kamen später, als die Erinnerung an die entsprechenden Filme bereits etwas verblasst war. Starke Qualitätsschwankungen im Text kommen (unter anderem) daher.



Nach über zwei Jahren pandemiebedingter Pause lud das Hofbauer-Kommando im frühen Sommer 2022 recht kurzfristig zu einem neuen Kongress unter dem Motto "Zärtlich, lustvoll, wüst" ein – und gönnte sich dabei ein Auswärtsspiel im Leipziger Luru-Kino. Zu entdecken gab es ein schönes, kleines, atmosphärisches Kino auf einem ehemaligen Industriegelände im Westen Leipzigs. Ein wunderbares Feature: auf dem kleinen Platz vor dem Kinoeingang konnten Filme spätabends in Open-Air-Vorstellungen gezeigt werden. 



Der leicht versteckte Eingangsbereich des Luru-Kino


Donnerstag, 9. Juni 2022


20.00 Uhr


CLAUDE ET GRETA ("Greta – Die Fremde kam nackt")

Regie: Max Pécas

Frankreich 1970

91 Minuten, 35mm, DF

Die naive schwedische Studentin Greta kommt nach Paris, wo sie unter die Protektion der reichen Lesbierin Claude gerät. Die ohnehin angespannte Beziehung zwischen den beiden Frauen wird herausgefordert, als Greta sich in Jean verliebt – der wiederum in einer angespannten Beziehung mit dem schwulen Künstler Mathias lebt.

Eine Sexploitation-Geschichte für das Bahnhofskino, erzählt in den erlesenen, slicken Bildern des hochpreisigen "Qualitäts"-Kino: visuell ist CLAUDE ET GRETA – auch trotz des leichten Rotstichs bei der gezeigten Kopie – absolut makellos, ja vielleicht sogar etwas zu makel- und kantenlos. Die Sexszenen sind durch Schleier fotografiert und wirken dadurch gleichzeitig sehr geschmackvoll, aber eben auch ein bisschen körperlos...

Da ich mir zu diesem Film keine Notizen gemacht hatte, fällt es mir viele Monate später sehr schwer, mich an Einzelheiten zu erinnern. Nur ein wohliges Gefühl schöner Bilder bleibt. Und ein sehr unwohliges Gefühl bezüglich seiner moralisierend-reaktionärer Heteronormativität, die weniger unterschwellig als sehr prononciert ist: der Film legt es schon drauf an, die beiden homosexuellen Figuren als wahlweise intrigant-manipulativ oder lächerlich darzustellen (wenn er dabei scheitert, Claude und Mathias also offensichtlich entgegen den Absichten des Films ein Eigenleben als würdige Charaktere entfalten, ist der Film am interessantesten – während Greta und Jean schon eher fade Trüblinge bleiben).



Vorbereitetes Open-Air am Luru-Kino



22.00 Uhr

Open Air


DAS STACHELTIER: DAS GROSSE ABENTEUER

Regie: Richard Groschopp

DDR 1953

10 Minuten, 35mm

Ein Bayer fährt zu einer Messe nach Leipzig, voller Angst, von der Stasi verhaftet und nach Sibirien deportiert zu werden.

Ein interessanter Film darüber, wie sich Ostdeutsche in der Hochphase des Kalten Kriegs (und noch im Stalinismus) den Ottonormal-Bayern vorgestellt haben: mit Lederhose und einem großen Proviant an Bier im Reisegepäck ausgestattet, etwas trottelig, aber eigentlich auch herzensgut. Die "Stasi-Leute", die ihn "verhaften" kommen, entpuppen sich als Mitbewohner für das Zimmer im messebedingt ausgebuchten Hotel – beruhigt kann da das Reiseproviant an Bier und Weißwürsten gemeinsam vernichtet werden! Wäre der Handelsreisende bloß in Leipzig geblieben – denn zurück in Bayern gerät er richtig in Schlamassel!



HUT AB, WENN DU KÜSST!

Regie: Rolf Losansky

DDR 1971

86 Minuten, 35mm

Die Automechanikerin Petra (Angelika Waller) wird von ihrem Verlobten, dem Ingenieur Fred (Alexander Lang) regelmäßig gerügt, weil sie sich zu männlich benehme. Ihres trüben Fiancés überdrüssig lässt sich Petra nur allzu gerne den Hof machen von Juan (Rolf Römer), dem Neffen eines spanischen Konsuls, der zu Besuch bei der Leipziger Messe weilt.

HUT AB, WENN DU KÜSST! stellte eine Premiere beim Hofbauer-Kongress dar: der erste abendfüllende Film aus der DDR, der bei dieser Veranstaltung lief. Nun, Sexfilme gab es in der DDR offiziell natürlich nicht... doch Lust, Begehren und Erotik konnten sich natürlich doch in der einen oder anderen Form in eine Komödie oder in ein Melodrama einschleichen (siehe dazu einige meiner Ausführungen zu DIE SCHÖNSTE, DU UND ICH UND KLEIN-PARIS, REIFE KIRSCHEN und DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR, die beim 1. Jenaer Paradies-Filmfestival liefen). Der Leipziger Kongress griff nun also zu dieser Leipziger RomCom, um das sleazologische Terrain der DEFA zu erkunden. Die Aussicht war schön, wenn auch nicht sonderlich spektakulär: zu sehen gab es eine Neo-Screwball-Komödie, die dank eines hohen Tempos und vieler witziger Ideen ein sehr kurzweiliges Vergnügen bereitete (auch wenn der Film ein verblüffend reaktionäres Bild von Geschlechterbeziehungen und Ehe hat: hier gut vergleichbar mit REIFE KIRSCHEN – und möglicherweise Ausdruck einer konservativen Familienpolitik in der DDR der 1970er?). Szenen, die in Schwarzweiß mit schneller Klaviermusik zu kleinen Slapstick-Nummern stilisiert werden; einige witzig-amouröse Verfolgungsjagden durch ein internationales Messe-Hotel; ein sehr denkwürdiges gemeinsames Duschen des enttäuschten und traurigen Fred mit einem Arbeitskollegen in der Werksdusche, bei der das tröstende Gespräch mit der Vernichtung rauher Mengen an Radeberger-Pils einhergeht; dazu immer wieder Verwechslungssituationen, wenn Petra wahlweise in "männlichem" Mechanikeroverall oder "weiblicher" Abendgarderobe von Leuten nicht erkannt wird. Und der große Höhepunkt: Petras lange, singende und sehr befreiende Radtour durch die Leipziger Innenstadt, gefilmt in einer einzigen langen und ausgelassenen Plansequenz on location.




Freitag, 10. Juni 2022


14.00 Uhr


SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT – "KARTOFFELSUPP, KARTOFFELSUPP"

Regie: Erich Schönfelder

Deutschland 1931

77 Minuten, 35mm

Im Internat der Baronin Wittenau sind zwar Lola, Fritzi, Vera und Elsa untergebracht – aber ein Mann, das fehlt! Das ändert sich, als eine Armeeeinheit mit vielen feschen, jungen Soldaten für ein nahegelegenes Manöver einquartiert wird.

Die sleazologischen Expeditionen des Hofbauer-Kommandos im deutschen Kino haben bei diesem Kongress zum ersten mal in die DDR geführt – das Vorkriegskino wird schon länger ausgelotet. Dass das Weimarer Kino mehr ist als Expressionismus und Fritz Lang, hat diese schöne Ausgrabung wieder einmal deutlich gemacht: eine frische, spritzige, vergnügliche, teils verblüffend moderne und teils erstaunlich pikante Komödie. Atmosphärisch und inhaltlich wird einiges abgedeckt: es gibt Gesangseinlagen, Slapstick, Romantik, leises Begehren und derbe Erotik, subtile Gags und schenkelkopfenden Klamauk – und an jeder Ecke lauert eine Verwechslung.

Es beginnt damit, dass Ida Wüst breitbreinig in einem androgynen Reiterkostüm eine Reitgerte lustvoll verbiegt und mehrmals sehr bestimmt "Wir brauchen Männer!" sagt. Ida Wüst wird dann auch ein wenig der schauspielerische Fixstern des Films bleiben: das fetischistische Kostüm wird sie dann gegen klassische Hausherrin- und eleganter Abendgarderobe tauschen, aber ihre charismatische Präsenz wird die gleiche bleiben. Als ich meinte, der Film sehe sehr modern aus, meinte ich besonders die Stellen, in denen Wüst scheinbar aus der Rolle fällt, vor unkontrollierbaren Lachkrämpfen durchgeschüttelt wird: Szenen, die normalerweise einen Retake bräuchten, hier aber im Film geblieben sind (und diese Momente sehen viel frischer als ein "sauberer" Take aus).

Der andere schauspielerische Fixstern des Films ist Oscar Sabo (?) als Feldwebel, der seine Soldaten gerne bestialisch beschimpft (so heftig, dass ihn sein Vorgesetzter ermahnt, weniger Tierbegriffe zu benutzen) und überhaupt als Soldat ein ziemliches Arschloch ist, aber in zwei Bereichen einen unstillbaren Hunger hat: Essen und junge Frauen. Die Köchin der Baronin entpuppt sich als eine frühere Liebschaft und ein ganzer Nebenplot des Films dreht sich dann darum, wie der Feldwebel den Avancen seiner früheren (und – wie er selbst natürlich – nicht mehr blutjungen) Geliebten zu entkommen versucht, um den jüngeren Bewohnerinnen des Internats nachzustellen – UND gleichzeitig aber auch versucht, in den Genuss der kulinarischen Köstlichkeiten zu kommen, die ihm besagte Ex-Geliebte zubereitet, weil Liebe ja durch den Magen geht. Die Köchin, die ja nicht auf den Kopf gefallen ist, merkt das und versucht ihn dann (durchaus erfolgreich) mit Dirty-Talk heiß zu machen: "Erinnere dich an meine Kartoffelpuffer... und an den Schweinebauch!". Als Worte nicht mehr reichen, um ihn in der Küche festzuhalten, bereitet sie ihm dann auch was zu: "Kalbsbraten... Kalbsbraten... Kalbsbraten" – ihm den Teller mit besagter Köstlichkeit unter die Nase haltend lockt sie ihn auch erfolgreich an den Küchentisch. Schweinebauch, Kalbsbraten, Kartoffelpuffer und natürlich die titelgebende Kartoffelsuppe (die allerdings sowohl die vier Internatsschülerinnen wie auch die Soldaten praktisch jeden Tag essen müssen und deshalb verschmähen) wurden unter den Kongressniki zu den gastronomischen Bonmots dieses Kongresses (wie "Kakao" beim 18. Kongress).

SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT kam 1931 heraus und wurde Opfer einer Schmutzkampagne aus nationalkonservativen und rechtsradikalen Kreisen: mit einem antisemitischen Grundton (der Regisseur, der Drehbuchautor und der Produzent des Films waren jüdischer Herkunft) wurde dem Film eine Verunglimpfung der Armee vorgeworfen. Trotz der antiautoritären Frische, die durch den Film weht, ist dieser Vorwurf aus heutiger Sicht wenig haltbar. Die Soldaten und Offiziere sind eher als überzogene Genretypen (wie die Keystone-Kops) und weniger als wirkliche Vertreter einer realen Institution gezeichnet. Zumindest in den USA schien der Film ein Kritikererfolg zu sein. Wie er dies- und jenseits des Atlantiks beim Publikum ankam, ist mir unbekannt. Die gezeigte 35mm-Kopie war gut in Schuss – aber er ist offenbar doch ein weiterer Film, der von offiziösen Filmrestaurationsbemühungen ignoriert wird, weil METROPOLIS nach der 22. Restauration nun auch die 23. braucht.




16.00 Uhr


RANDY

Regie: Phillip Schuman, Zachary Strong

USA 1980

72 Minuten, 35mm, OV

Randy, eine junge Frau, die Schwierigkeiten hat, zum Orgasmus zu kommen, bietet sich an, bei einem Forschungsinstitut als Versuchsperson teilzunehmen. Dort findet man heraus, dass sie beim Kommen eine sehr potente Substanz namens "Orgasmin" produziert, was lustvolle Leute und Verrückte mit Weltherrschaftsfantasien auf den Plan bringt.

Auch hier (leider) eine große Gedächtnislücke: ein sehr schick fotografierter Film mit schönen Bildern, schönen Menschen bei lustvollen (Softcore-)Akrobatiken, fetziger Musik, einigen durchaus recht gelungenen humoristischen Einlagen und Dialogen und einer recht entspannten, vor sich hinfließenden Atmosphäre – auch wenn ich mich an Details kaum noch zu erinnern vermag. Das größte Rätsel beim Abendessen danach war, ob es eine Hardcore-Version gibt, aber dagegen spricht, dass viele Szenen sehr offensichtlich mit Softcore-Kamerawinkeln fotografiert waren.




20.00 Uhr


GEFÄHRDETE MÄDCHEN

Regie: Wolfgang Glück

BRD 1958

94 Minuten, 35mm, französische Fassung mit englischen Untertiteln

Wiener Mädeln verlassen ihre schöne Operetten-Stadt, um in harten Hanseatischen Gefilden, genauer gesagt in Hamburg, St. Pauli, ihr Glück als Animiermädchen zu versuchen – und verschwinden spurlos, zumindest, bis eine ermordet wieder aufgefunden wird. Eine Wiener Polizistin ermittelt incognito im Milieu...

Möglicherweise der schwächste Film des Kongresses dieses Jahr. Auch hier sind mir Details (und eigentlich auch große Teile des Films) weitestgehend entglitten, wobei sich das hier eher nach Erdulden als nach gemütlichem Dahinfließen fühlte. Dafür folgte nach einer Pause der Höhepunkt des Kongresses und einer der besten Filme, die ich dieses Jahr sehen durfte.




22.00 Uhr

Open Air


BEVOR DER STRIP STIRBT

Regie: Günter Weiss-Thiele

BRD 1966

14 Minuten, 35mm

Was ist denn dieses Strip-Tease? Kurze Umfragen unter Passanten und dokumentarische Impressionen aus Lokalen sorgen für Klärung.



ROULETTE D'AMOUR ("Baron Pornos nächtliche Freuden")

Regie: Frits Fronz

Österreich/BRD 1969

73 Minuten, 35mm

Ein alter, obdachloser Mann läuft durch Wien, und erinnert sich an die Zeit, als er noch Alexander von Wartenberg war, der beliebteste Playboy der Wiener Nachtlokale – und daran, wie ihn die Liebe zu einer Tänzerin in den Ruin trieb. Oder spinnt sich das der obdachlose Mann beim Anblick der schicken, teuren, unerreichbaren Luxusgegenstände in den Boutiquenschaufenstern einfach nur zusammen?

Edgar Ulmers DETOUR meets Arthur Schnitzlers bzw. Max Ophüls' LA RONDE? Der obdachlose und unzuverlässige Erzähler, die Rückblendenstruktur, die Mischung aus galligem Humor und Fatalismus, der sehr selbstbewußt an die Zuschauer gerichtete Off-Kommentar, die (budgetbedingt) ultrastilisierten Dekore, eine wiederkehrende Melodie als Leitmotiv, die Erzählung vom Fall in die Gosse und die Nutzung von Matching-Cuts zur Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit haben mich zumindest strukturell stark an Ulmers B-Movie-Meisterwerk erinnert. Das Wienerische Setting und die Kettenstruktur der Geschichte (mit Objekten statt mit Personen) lassen hingegen den "Reigen" grüßen.

"Es war ein zärtlicher..." – Mund, Kuss etc. – so beginnt der Off-Kommentar jedes neue Kapitel in der Gegenwartshandlung, jeder Satz wie eine schwermütige, melancholische Gedichtrezitation vorgetragen. Den Weg in die Vergangenheit (oder in die Fieberfantasie) und wieder zurück ebnet immer wieder ein Matching-Cut mit einem bestimmten Gegenstand: ein silbern glitzernder Damenschuh, eine Packung Zigaretten, rote Rosen, ein Kofferradio. Die Erinnerungen / Fantasien breiten sich dann immer wie statische Tableaus aus – statisch nicht nur in den Momenten mit ruhiger Kamera, sondern auch in den wilden Montagen, weil der Film das Gefühl eines Fiebertraums mit sich bringt, eines Alptraums, in dem man auch beim Rennen trotzdem an Ort und Stelle stehen bleibt. Traum ist hier das zentrale Stichwort: ROULETTE D'AMOUR ist ein schwermütig-traumartiger, tranceähnlicher Film, der seine (eigentlich sehr banale und generische) Geschichte weniger linear und klassisch mit einer klaren Dramaturgie erzählt, sondern eher in losen Traumfragmenten (daher finde ich meine Interpretation, dass wir hier eine Fieberfantasie und keine reale Vergangenheit sehen, zunehmend schlüssig).

Dabei sind die unterschiedlichen Tempi beeindruckend: frenetische Montagen von Impressionen beim Prater, experimental anmutende Momente, in denen sogar mehrere Bilder übereinander gelegt werden auf der einen Seite, dann wieder die völlig entschleunigten, einlullenden Tableaus mit dem "Baron" an seinem Stammtisch, mit seinen ihn (solange er Getränke bezahlt) feiernden Groupies, dann die Bilder des mühsamen Schlurfens durch das nächtliche Wien. Der Traum-Modus hat viele Varianten, bleibt aber im Kern sehr konsistent.

Passen dazu zwei sich wiederholende Musikstücke: ein melancholisches Chanson (teils gesungen bzw. gesummt vom "Baron" selbst) und ein schnelles Tanzstück mit knüppelhartem Beat. Es gibt eine besonders denkwürdige Abwechslung zu diesen zwei Melodien: eine Orgel-Performance, bei der der Organist in kaleidoskopartig überlagerten Bildern zunehmend intensiver in die Tasten haut, sich geradezu in Trance spielt (für viele im Publikum ein großer Höhepunkt des Films). Ansonsten trägt gerade die Wiederholung der beiden Hauptmelodien noch weiter zum tranceartigen Gefühl von ROULETTE D'AMOUR bei.

Jeder Traum muss enden. Die Sonne erhebt sich über Wien. Der Baron geht ans Ufer der Donau. Vielleicht könnte er sich reinstürzen, doch stattdessen nähert sich ihm ein anderer nächtlicher Streuner. Und so schreiten der Baron und der Straßenköter am Ende nach einer langen Nacht zusammen dem Sonnenaufgang entgegen.


Die folgenden Screenshots sind aus Manfreds Text über Frits Fronz ausgeliehen:


Der Obdachlose erinnert sich – oder fantasiert im nächtlichen Wien

Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Frits Fronz als Alexander von Wartenberg




Samstag, 11. Juni 2022


14.00 Uhr


ICH SUCHE EINEN MANN

Regie: Alfred Weidenmann

BRD 1966

87 Minuten, 35mm

Barbara ist von den Männern enttäuscht und wendet sich an ein professionelles Institut, das mit solch modernen Techniken wie einer Lochkartendatenbank garantiert die richtige Person findet... oder – wie Barbara bei ihren vielen Match-Dates herausfindet – vielleicht auch nicht?

Tinder-Date gone wrong im Dutzend könnte man im heutigen Neudeutsch wohl sagen. ICH SUCHE EINEN MANN ist tatsächlich über weite Strecken eine Aneinanderreihung loser kleiner Vignetten von Barbaras "Treffern".

Da ist der feine Adelige, der sich nach einem gepflegten Restaurant-Dinner als potentieller Date-Rapist entpuppt. Ein bayerischer Landwirt und Hotelier, der sich für Barbaras Körper, ihre Person und ihre Gesundheit vor allem aus der Perspektive interessiert, seine Wirtschaft am Laufen zu halten. Der Lehrer, der Kniebeugen liebt und um den "gesunden Volkskörper" besorgt ist (und im übrigen in der Öffentlichkeit von seinen spöttischen Schülern verfolgt wird). Der Student, der sich nur für Tandemradfahren und Bowling interessiert. Und nicht zu vergessen: der trauernde Witwer, der Barbara gerne als hintere Zebrahälfte (gemeint ist eine Zirkusnummer mit einem Zebrakostüm) hätte, weil die "Nummer muss ja weiter gehen". Und außerhalb der Treffer natürlich der Angestellte des Eheinstituts, der sich um Barbaras Fall kümmert: ein Traum an Professionalität, hinter dem sich ein schüchterner, gar zu schüchterner Verehrer verbirgt (bzw. der wunderbare Harald Leipnitz).

Das klingt nach nicht viel, wird aber mit einem ordentlichen Tempo inszeniert und mit gut gewürzten Dialogen abgeschmeckt, dass es die hellste Freude ist: ein fluffiges Wölkchen von einer Komödie und sicherlich der perfekte Einstieg in den programmatisch schönsten Tag des diesjährigen Kongresses.

Die zentrale und wichtigste Zutat dieses wohlschmeckenden, spritzigen Cocktails war am Ende die bezaubernde Ghita Nørby. Ihre Figur ist natürlich erst mal ganz gut geschrieben, aber sie macht aus Barbara mit ihrem Charisma tatsächlich einen überlebensgroßen Charakter zum Mitlachen, Mitfühlen und Mitlieben.




16.00 Uhr


VERBOTENE SPIELE AUF DER SCHULBANK (Softcore-Fassung)

Regie: Jürgen Enz

BRD 1980

72 Minuten, 35mm

In die Abiturklasse kommt eine Neue – und verdreht prompt ihren Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrern den Kopf.

VERBOTENE SPIELE AUF DER SCHULBANK wurde beim Hofbauer-Kongress nun zum "anderthalbten" Mal gezeigt: beim 16. Kongress im Jahr 2017 lief der Film in der Hardcore-Fassung, die für Angst und Schrecken und Entsetzen sorgte. "Enz war kein Typ für harten Sex", so Hofbauer-Kommandant und Enzologe Christoph bei seiner wunderbaren und liebevollen Einführung über einen der wichtigsten HK-Säulenheiligen. Die "Director's Cuts" von Jürgen Enz waren stets die Softcore-Fassungen: Hardcore-Inserts wurden von Assistenten inszeniert oder komplett nachgedreht und nach dem Ziehen der Softcore-Kinokopien in das Negativ reingeschnitten.

Die Vorführung war auch eine Hommage an den Ende 2020 verstorbenen Regisseur. In einer Vorführung dieses Films konzentriert sich eine Essenz der Hofbauer-Kongresse. Man sitzt dort, sieht, staunt, und merkt, dass hier ein vollkommen zu Unrecht vergessenes Schlüsselwerk der deutschen Kinogeschichte gezeigt wird, das Meisterwerk eines Filmemachers mit einer extrem persönlichen Handschrift: die geradezu aufreizende Langsamkeit, tranceartig vorgetragene Dialoge, eine Inszenierung mit einem manchmal geradezu obsessiv-manischen Gestaltungswillen, die viele Szenen fast wie belebte Installationskunst aussehen lassen, die fast dystopisch anmutenden Abscheulichkeiten bundesdeutscher Spießbürgerwohnzimmer mit kackbraun-olivfarbenen Couch-Garnituren und kitschigen Deko-Elementen, die repetitive, einlullende, hypnotisierende Musik (die sich ein wenig so anhört, als hätte John Carpenter seine düsteren elektronischen Scores in heiteren Bierzelt-Versionen eingespielt) und nicht zuletzt die fast grenzenlose, naive Zärtlichkeit für alle Figuren, die in dieser tristen Umwelt immer wieder von ihren sexuellen Trieben überwältigt werden und nicht anders können, als auf den erwähnten scheusslichen Couch-Garnituren wie Tiere zu kopulieren.

Enz' große Zärtlichkeit zeigt sich wieder darin, wie er "unwichtigen" Figuren ganze Subplots schenkt. Das Pendant der beiden dauergeilen Schlossangestellten in WAIDMANNSHEIL IM SPITZENHÖSCHEN sind hier der Deutschlehrer und die Biologielehrerin, die ihren eigenen Score (eher upbeat und fröhlich) erhalten, wenn sie übereinander herfallen. Auch hier wieder Figuren, deren Äußeres nicht unbedingt 100%ig kompatibel ist mit den Ansprüchen eines kommerziellen Sexfilms und die vor allem auch die Funktion des Comic-Relief haben (sie sind leicht tollpatschig, was zu quasi-slapstickhaften Situationen führt) – und dennoch, wenn er sie im Wald während des Schulausflugs (dieser Schulausflug: Stoff für ganze filmwissenschaftliche Abhandlungen!) von hinten nimmt, sie sich an zwei jungen Bäumen dabei festhält und die Montage zwischendurch offenbart, wie die beiden Baumwipfel wackeln, dann ist das pure Kinomagie.


Oben: Die Biologielehrerin und der Deutschlehrer haben sich lieb
Unten: Lehrkörper und Schülerschaft in tristen Wohnlandschaften (mit Paprika als Deko-Elementen)


Oben: beim Schulausflug geht es zwischen Lehrkörper und Schülerschaft heiß her
Unten: Enz' Regie lässt viele Bilder immer wieder wie belebte Installationskunst aussehen



19.30 Uhr


LADY BEWARE ("Hautnah")

Regie: Karen Arthur

USA 1987

108 Minuten, 35mm, DF

Die Schaufensterdekorateurin Katya beginnt in einem Pittsburgher Kaufhaus eine neue Anstellung. Mit ihren unverhohlen erotischen Installationen zieht sie sehr effizient die Aufmerksamkeit der Passanten an – darunter auch eines Stalkers, der ihr nachspürt, ihre Post öffnet, sie mit obszönen Anrufen traktiert und schließlich sogar in ihre Wohnung einbricht. Nach einer kurzen Begegnung mit ihm beschließt Katya, zurückzuschlagen.

In den 1990er Jahren gab es auf dem französischen Sender TF1 am späten Samstagabend eine Sendereihe namens "Hollywood Night". Da liefen entgegen des Namens keine Hollywood-Klassiker (die liefen eher am späten Sonntagabend auf FR3): die Werbetrailer, die ich als Junge sah, versprachen Crime, Sex & Violence der Kategorie Direct-to-Video, und tatsächlich liefen US-amerikanische Actionfilme, Thriller und Erotikthriller der späten 1980er und frühen 1990er Jahre (darunter z. B. Filme aus dem Hause PM Entertainment). Ich glaube nicht, dass LADY BEWARE bei "Hollywood Night" mal gelaufen ist, aber Karen Arthurs Erotikthriller dürfte – jetzt im Erwachsenenalter – die ultimative Wunscherfüllung der damaligen Jungsfantasie gewesen sein, die in den Werbetrailern eine prickelnde Mischung aus Erotik, Seediness und süßem Verbotenem hineinprojizierte.

Ein urbaner US-Thriller der 1980er Jahre – das würde man wohl in New York oder in Los Angeles ansiedeln, aber LADY BEWARE spielt in Pittsburgh: kein überzeichnetes Großstadt-Moloch, sondern eine gutbürgerliche "kleine Großstadt", in der Innenstadt voller arbeitender Menschen aus den peripheren Wohngebieten: Katya etwa pendelt jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit, und fährt dabei über eine der zahlreichen ikonischen Brücken der Brückenstadt; der Stalker wohnt in einem Viertel, in dem man sich tatsächlich Ärzte ohne Ansprüche auf repräsentativen Luxus vorstellen kann. Beide Kontrahenten treffen schließlich bei ihrer "ersten" Begegnung (der ersten, bei der Katya ihn endlich sehen kann) auch auf einer der Pittsburgher Brücken, getaucht in rötlichem Dämmerlicht.

Das bedrohliche Szenario, das LADY BEWARE auffährt, hat seinen Ursprung nicht in den Nebengassen des Großstadt-Slums, sondern hat ein gutbürgerliches Gesicht: der Stalker, Jack, ist kein Creep aus dem dunklen Keller, sondern ein Arzt in der Röntgenabteilung einer städtischen Klinik (die direkt gegenüber von Katyas Kaufhaus liegt). Von Beruf aus schaut er also schon sehr genau auf Menschen, blickt nicht nur auf sie, sondern in sie hinein – bis auf die Knochen. Mit seinem Stalking-Objekt Katya lebt er eine sexuelle Fantasie aus, die er nicht mit seiner respektablen Ehefrau in seinem langweiligen Familienleben ausleben kann. LADY BEWARE macht deutlich, dass wir hier keine Fassade sehen, sondern naheliegend Aspekte der gleichen Person: tagsüber Arzt, abends Stalker. Ein obszöner Anruf, während nebenan die Tochter spielt (er lässt sie sogar die Nummer eingeben). Interferenzen nicht ausgeschlossen: in einer wahrlich unglaublichen Szene ruft er Katya an, spielt bereits an sich herum – und nachdem er den Hörer aufgelegt hat, eilt er erregt zu seiner Frau in die Küche und fällt lustvoll über sie her. Insofern ist es sehr geschickt von Katya, dass sie ihren Stalker dort angreift, wo es ihm richtig weh tut – in den Weichteilen seiner bürgerlichen Existenz.

LADY BEWARE hat die Logik und Struktur eines Rape-and-Revenge-Films, ohne, dass es eine "klassische" Vergewaltigung gibt, sondern etwas viel Tiefgreifenderes, Strukturelleres. "Ich bin in dich drin, und ich ficke mich von innen nach außen" sagt Jack seinem Opfer Katya lustvoll am Telefon. Nach vielen obszönen Anrufen, nachdem er in ihrer Post einen Brief des Vaters abgefangen hat, ihn ihr am Telefon vorliest und eine Missbrauchsgeschichte zwischen den Zeilen liest, auf die Katya sichtlich mimisch reagiert (ein Element, das nie wieder aufgegriffen wird) kommt die ultimative Grenzüberschreitung: er bricht in ihrer Abwesenheit in ihren Loft ein, inspiziert die Wohnung, schnüffelt an ihren Kleidern, trinkt genüsslich ihren Wein, gönnt sich in ihrer Badewanne ein entspannendes Schaumbad, putzt sich mit ihrer Zahnbürste die Zähne und schließlich, noch triefend nass und mit nur einem Badetuch um die Hüften, beginnt er zur Musik, die er aufgelegt hat, ekstatisch zu tanzen – der abgründige, fiese kleine Bastard-Bruder von Tom Cruises legendärem Tanz in RISKY BUSINESS: enthemmter, erotischer und von furchterregender Schönheit. Michael Woods' Körper wird von der Kamera in diesem Moment genauso erotisiert und fetischisiert wie Diane Lanes Körper, wenn sie nackt und bereit für Sex mit ihrem Liebhaber ist (und dabei von Jack heimlich beobachtet wird). Die beiden Antagonisten sind nicht nur Charaktere, sondern auch Körper, lustvolles Fleisch.

Während der Stalker seine sexuellen Fantasien in tätlichen Angriffen auf fremde Menschen auslebt, tut das Katya in ihrer Kunst – heißt: in ihren Schaufensterdekorationen, mit denen sie Parfüms, Schmuck und Joghurts bewirbt. Transgressive Kunst oder zumindest provokante Kunst in einem hyperkommerziellen Umfeld der Kaufhausschnäppchen; Kunst und Begehren vs. Kommerz. Wir sind hier fast schon am Rande der Meta-Kunst, des Meta-Kinos (Lukas Foerster bringt Brian De Palma als Stichwort zum Vergleich). Kunst, nicht nur als etwas Schönes und Erhabenes, sondern auch als Kommunikationsplattform: auf eine gewisse Weise kommunizieren Katya und Jack über Katyas Kunstinstallationen, und Jacks partielle Verwüstung von Katyas Wohnung mit sorgfältigen Arrangements der dort vorhandenen Schaufensterpuppen "liest" sich wie ein künstlerischer Kommentar.

Diane Lane ist neben Ghita Nørby (und ein bisschen auch Lina Romay) die große weibliche Figur des diesjährigen Kongresses: eine fantastische Schauspielerin, die mich anfänglich etwas an Kathleen Turner in BODY HEAT erinnert hat. Keine Femme Fatale, sondern eher der Typ der gequälten Künstlerin, die sich zwar ohne weiteres einen Liebhaber anlächeln kann, diesen dann aber nicht braucht, um sich zu wehren. Während einer Zwangsbeurlaubung gittert sie beim Höhepunkt ihrer Verzweiflung nicht nur alle Fenster ihrer Wohnung zu, sondern spannt auch eine Art Schutzkokon aus Gaze um den Kern ihres Wohnbereichs (um einige der tragenden Säulen). Nach einigen Tagen im fiebrigen Paranoiawahn und offenbar einer Metamorphose in diesem Kokon erlebt sie eine Art Wiedergeburt als entschlossene Rächerin in eigener Sache, ohne, dass sie ihre Identität als Künstlerin aufgibt. Kann man es vielleicht als einen Akt der Zärtlichkeit, der Wertschätzung, des Respekts sehen, dass sie ihrem Stalker eine eigene Kunstinstallation im Schaufenster widmet? Und ihn dann damit sogar fängt?

Regisseurin Karen Arthur hat mit LADY BEWARE ein lang gehegtes Herzensprojekt realisiert – und sich tragischerweise schließlich vom fertigen Film distanziert, nachdem das Studio den Film umschnitt. Mehr Nacktszenen mit Diane Lane wurden hinzugefügt, Szenen mit Cotter Smith (Katyas Liebhaber) wurden herausgeschnitten. Ich wäre dazu geneigt, beide Entscheidungen gutzuheißen: dass beide Protagonisten als körperliche, sexuelle Charaktere dargestellt werden, halte ich für ganz zentral für das Funktionieren des Films. Was Cotter Smith betrifft (der wie ein gemeinsamer Cousin von Billy Cristal und John Leguizamo aussieht): er spielt sicherlich nicht die interessanteste Figur, und dass im letzten Drittel alles sich nur noch um Katya und Jack dreht, spiegelt ihre zunehmende Obsession nach Rache. Es verschwinden auch der stockschwul-extravagante Arbeitskollege Katyas (die etwas peinlichen schwulen Stereotype stehen gegenüber der Tatsache, dass er ein absolut klarer Sympathieträger ist und die wohl "normalste" Figur in einem Film voller "Kaputter") und die schüchterne, schwarze Arbeitskollegin, ebenso der onkelige Chef. Diese Verdichtung macht den Film im letzten Drittel umso stärker, so dass man ihn auch "on the edge of the seat" und vor Anspannung nägelkauend sehen kann.




22.00 Uhr

Open Air


"Gli italiani si voltano"

Regie: Alberto Lattuada

Italien 1954

14 Minuten, 35mm, OV

Impressionen von Italienerinnen, die durch Rom spazieren und von Männern, die ihnen nachblicken.

Diese Episode aus L'AMORE IN CITTÀ lief bereits beim 18. Hofbauer-Kongress. Wieder ein fluffig-leichter Film, der im letzten Drittel ins Bedrohliche und Düstere kippt. Ihn – natürlich nach einer Pause – direkt nach LADY BEWARE zu schauen, war schon ziemlich passend, und hat das Unbehagliche des letzten Drittels, als eine junge Frau plötzlich zu einer echten Protagonistin wird, die hartnäckig von einem einzelnen Mann durch die ganze Stadt verfolgt wird, noch potenziert.



GRIECHISCHE FEIGEN

Regie: Siggi Götz

BRD 1977

95 Minuten, 35mm

Patricia soll nach einem Griechenland-Urlaub mit den Eltern allein nach München zurückfliegen, um dort ihr Studium zu beginnen. Stattdessen begibt sie sich auf eine lange Spritztour durch Griechenland, um Spaß zu haben und Männer aufzureissen – und lernt schließlich Tom kennen.

GRIECHISCHE FEIGEN war auf gewisse Weise der perfekte Film, um an einem warmen Frühsommertag ein Festivaltag im Freien ausklingen zu lassen (gleichwohl die Temperaturen zu später Stunde etwas sanken): ein sommerlicher Film, der größtenteils unter freiem Himmel spielt. Ein eher lose vor sich hintreibendes Roadmovie, das Etappe für Etappe, Episode für Episode ruhigen Schrittes erkundet. Die Stimmung ist insgesamt heiter, auch wenn während des ganzen Films dunkle Wolken am Horizont zu sehen sind und die Wärme immer wieder droht, in Gewitter und Unwetter umzuschlagen. Vielleicht liegt es an der zweiten Begegnung, die Patricia auf den Straßen des ländlichen Griechenlands macht: zwei Deutsche (es ist schlimm: sie sind überall! Von ein paar Engländern und einigen griechischen Komparsen abgesehen ist praktisch jede sprechende Rolle im Film deutsch) nehmen sie im Auto mit und versuchen sie schon nach wenigen Hundert Metern zu vergewaltigen – Patricia kann ihnen zwar entkommen und sie sogar der Lächerlichkeit preisgeben, aber es bleibt doch immer ein Nachgefühl von Bedrohung, das nie ganz verschwindet (auch, weil der weitere Weg der zwei Männer immer wieder zwischendurch eingeblendet wird).

Mit dem Segler Tom findet Patricia für einige Tage eine kleine Utopie des Liebesglücks. Doch auch hier ziehen Wolken auf, als Eifersucht, Besitzansprüche und teils auch einfach nur bedauernswerte Missverständnisse die Idylle angreifen.

Die größte Schwäche von GRIECHISCHE FEIGEN ist vielleicht, dass Patricia schon eine sehr, sehr unsympathische, egozentrische, teils schlichtweg asoziale Figur ist – und manchmal auch eine echte Heuchlerin, hinter deren Rebellentum und Unangepasstheit sich auch repressives Spießertum verbirgt, wenn sie etwa gegen Ende eine andere junge Frau, die fast wie ihr eigenes Spiegelbild wirkt und nun ihren Platz an Toms Seite genommen hat (wohlgemerkt nachdem sie Tom selbst zum Teufel gejagt hat) auf aggressive und demütigende Weise zur Sau macht. Insofern wirkt GRIECHISCHE FEIGEN auch ein bisschen wie ein 68er-Katerfilm: von den einstigen Träumen von freier Gesellschaft und freier Liebe sind nur Äußerlichkeiten geblieben – und auch diese blättern schnell ab, wenn der Widerstand zu groß, die Konflikte zu komplex, die Umstände zu ungünstig werden.




Sonntag, 12. Juni 2022


15:00 Uhr


PAPAYA DEI CARAIBI ("Papaya, Liebesgöttin der Kannibalen")

Regie: Joe D'Amato

Italien 1978

86 Minuten, 35mm, DF

Auf einer karibischen Insel soll ein Kernkraftwerk errichtet werden, doch das Projekt gerät ins Stocken, weil die leitenden Projektingenieure nach und nach unter mysteriösen Umständen ermordet werden. Der neue Ingenieur Vincent (Maurice Poli) soll nun das Projekt weiterführen. Zusammen mit der Journalistin Sara (Sirpa Lane) versucht er auch, das Geheimnis um die Morde zu lüften und bekommt prompt Unterstützung von der Einheimischen Papaya (Melissa Chimenti). Diese bietet ihre Hilfe nicht ganz uneigennützig an: sie ist eine der Anführerinnen des konspirativen Aufstands gegen das Kraftwerk und stets bereit, ihre gefährlichste Waffe (ihren Körper) einzusetzen.

Nach GRIECHISCHE FEIGEN ging es mit den sommerlichen Filmen nun weiter: noch höhere Temperaturen, ein noch langsameres Tempo und noch viel mehr nackte Haut leiteten den letzten Tag des Leipziger Kongresses ein. PAPAYA DEI CARAIBI mag wesentlich langsamer sein als GRIECHISCHE FEIGEN, sein revolutionärer Spirit war allerdings intakter und auch roher: die selbstherrlichen kolonialen Imperialisten, die für ihre Profite und die in Kauf genommene Umweltverschmutzung irgendetwas von "Fortschritt" faseln, werden verführt, bekommen ihren Penis abgebissen und werden dann noch lebendig verbrannt.

Die große "pièce de résistance" des Films kommt in der Mitte, als Vincent und Sara nach einer Autofahrt, einem längeren Spaziergang durch eine kleine Stadt, die gerade von einem feierlichen Umzug belebt wird, ein paar Mal zu viel "falsch" abbiegen, in ein Haus eintreten, dort überfallen und unter Drogen gesetzt werden und in ihrem Rausch einer sehr wilden, eskalierenden Voodoo-Zeremonie beiwohnen müssen. Wenn Vincent und Sara dann hilf- und wehrlos dem wilden Treiben zusehen müssen, befinden wir uns als Zuschauer in einer ähnlichen Position: die sublimen Bilder haben uns eingelullt, wir wussten, dass das nicht "gut" endet, aber wir konnten uns einfach diesem Flow nicht entziehen. In PAPAYA DEI CARAIBI sieht man wieder, welch großartiger Kameramann Aristide Massaccesi  (so Joe D'Amatos bürgerlicher Name, unter dem er seine eigenen Regiearbeiten auch fotografierte) war: ja, das ist der Mann, der L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE fotografiert hat (und natürlich auch EVA NERA, von den mir bislang bekannten D'Amato-Filmen der schönste). Einen erheblichen Teil zum Vergnügen trägt Stelvio Ciprianis wunderschöner Score, der sich für den Rest des Tages als sanfter Ohrwurm in meinem Kopf eingebrannt hat.

Eine deutliche Trübung des Vergnügens brachte der leider schon recht fortgeschrittene Rotstich (und Kontrastverlust) der Kopie, der die vermutlich satten karibischen Farben in ein gedämpftes Sepia verwandelte.




17:00 Uhr


LA ESCONDIDA ("Die Rebellenbraut")

Regie: Roberto Gavaldón

Mexiko 1956

99 Minuten, 35mm, DF

Mexiko, Anfang des 20. Jahrhunderts. Felipe und Gabriele wollen bald heiraten. Doch die revolutionären Wirren treiben sie auseinander: Felipe wird zum Revolutionär, Gabriele lässt sich – zunächst, um Felipe zu retten – auf eine Affäre mit einem brutalen General ein.

Die "carte blanche" des LURU-Kino hat mich persönlich gepflegt gelangweilt. Die Liebesgeschichte im Zentrum dieses Revolutionsmelodrama hat mich leider eher kalt gelassen: zu groß war in meinem Kopf die Kluft zwischen dem hölzernen Felipe-Darsteller Pedro Armendáriz, den der Film als bewundernswerter Held darstellte, und der eigentlich ganz guten Maria Félix, deren Gabriele der Film als durch und durch verdorbenes, intrigantes und teuflisches Luder zeichnete, ohne ihr freilich dabei den Glamour einer femme fatale zuzustehen.

Die Kopie war allerdings farbecht, die mexikanische Sonne brannte unerbittlich auf die trockenen und staubigen Feldwege, und eine ausgelassene Karnevalsfeier bei Nacht erstrahlte frenetisch (ja gar fast stroboskopisch) in den knalligsten Farben. Also irgendwie auch schön anzusehen.




19:00 Uhr


MIDNIGHT PARTY ("Heiße Berührungen")

Regie: Jess Franco

Frankreich/Schweiz 1975

63 Minuten, 35mm, DF

Eine Stripperin (Lina Romay) bandelt mit zwei Nachtclubkunden an, und gerät dabei in eine haarsträubende Mord- und Spionageintrige.


Joseph von Sternberg und Marlene Dietrich, Yasujiro Ozu und Setsuko Hara, Jean-Luc Godard und Anna Karina, John Cassavetes und Gena Rowlands... Alles bekannte Duos aus Regisseur und Schauspielerin, doch keines dürfte in der Intensität, Dauer und dem schieren Output an jenes von Jess Franco und Lina Romay reichen, die über fast 40 Jahre eine dreistellige Anzahl an Filmen drehten.

Vor der Vorstellung gab es eine wunderschöne Einführung von Hofbauer-Kommandant Christoph, der von der Schönheit des leidenschaftlich-obsessiven Kinos Jess Francos schwärmte und die Zuschauer passend auf den Film einstimmte. Die gezeigte deutsche Kopie hat leider viele Federn gelassen, offenbar vor allem aus den interessantesten Teilen des Films: Lina Romay, die in einer Art Rahmen-Kommentar zum Film sich in rotes Licht getaucht nackt in einem Bett räkelt, die vierte Wand brechend mit den Zuschauern im Kino plaudert, sie teils sanft anteast, teils roh anbaggert und teils einfach nur entspannt rumblödelt.

Dazwischen gibt es eine völlig haarsträubende Räubergeschichte um eine Verschwörung und eine Mordintrige, die die Protagonistin immer wieder aus den Klamotten und ins Bett treibt – Hindernisse werden gegebenenfalls mit Mitteln des Slapsticks überwunden: Luststöhnen und prustendes Gelächter sind in MIDNIGHT PARTY nie weit voneinander entfernt.

Das Ende ist dann pure Eskalation: wilde Verfolgungsjagden, Figuren werden erschossen, aber werden kurz darauf wieder lebendig. Das schwindelerregende Spielen mit den Genre-Motiven hat was von Godard (den Franco verehrte), bloß in etwas beschwingter. Kino ist Spaß, Kino ist Lust, Kino ist Entspannung, Kino ist Leben.