THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA
USA 1968
Regie: Ira Cohen
Darsteller: Ira Cohen, Angus MacLise, Hetty MacLise, Peter Birnbaum, Robert LaVigne, Tony Conrad, Beverly Grant, Jack Smith, Ziska Baum, Loren Standlee u.a.
"There is the science of mirrors and there is the magic of mirrors." (Ian MacFadyen im Booklet der DVD des Films)
"Mylar" ist der bekannteste von mehreren Handelsnamen einer speziellen Polyesterfolie, die sehr leicht und dabei besonders reißfest und in sonstiger Hinsicht widerstandsfähig ist. Mit Aluminium beschichtet, ist Mylar auch gasdicht und reflektiert bis zu 99% des auftreffenden Lichts. Die vielfältigen Anwendungen des Materials reichen von Lebensmittelverpackungen bis zur Nutzung im Weltraum, etwa in Raumanzügen der Nasa, zur thermischen Isolierung von Satelliten und als Sonnensegel zum Antrieb der Sonde Cosmos 1 (die allerdings schon beim Start abstürzte). Der New Yorker Fotograf und Poet Ira Cohen (1935-2011) hingegen kam auf eine gänzlich andere Anwendung: In seiner Wohnung in der Lower East Side von Manhattan richtete er sich Mitte der 60er Jahre mit metallbeschichteter Folie eine
Mylar Chamber ein, ein flexibles Spiegelkabinett. Dort schoss er im Lauf der Jahre Tausende Fotos, meist Portraits von Künstlern aller Art und von seinen Freunden und Bekannten. Seinerzeit recht bekannt wurde etwa ein Portrait von
Jimi Hendrix.
Hier und auf anderen Websites kann man sich einige weitere Beispiele ansehen. Aber nicht nur in der
Mylar Chamber, sondern auch auf Cohens ausgedehnten Reisen, die ihn vor allem zu damaligen Hippie-Anziehungspunkten wie Marokko, Indien und Nepal führten, kam die leichte und strapazierfähige Folie zum Einsatz. 1968 reifte der Entschluss zum nächsten Schritt: Warum nicht auch einen Film in der
Mylar Chamber drehen? Das Ergebnis, THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA, kann man getrost als ultra-psychedelisch bezeichnen.
1961 war Cohen für vier Jahre nach Marokko gegangen, wo er mit anderen Marokko-Exilanten aus der Literatur- und Subkulturszene wie William S. Burroughs, Paul Bowles und Brion Gysin in Kontakt trat, ein Magazin für Beatnik-Literatur und obskure Themen wie Exorzismus herausgab und in Zusammenarbeit mit Bowles und Gysin Tonaufnahmen marokkanischer Sufi-Musiker machte (einige Jahre später machte Stones-Gitarrist Brian Jones einen Teil dieser Musiker durch das von ihm produzierte Album Brian Jones presents the Pipes of Pan at Joujouka international bekannt) und als LP herausbrachte. Nach seiner Rückkehr nach New York 1966 veröffentlichte Cohen unter einem Pseudonym ein Hashish Cookbook, das seine damalige Freundin in Tanger geschrieben hatte, und er begann mit Mylar zu experimentieren. Cohen war damals in die Ostküsten-Avantgarde- und Underground-Szene integriert, die sich um Leitfiguren wie Andy Warhol und Jack Smith scharte, und aus diesem Kreis stammte die Mehrheit der rund 40 Beteiligten an THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA. Vor allem der Underground-Regisseur, Fotograf und Aktionskünstler Jack Smith, dessen berühmt-berüchtigter erster Film FLAMING CREATURES (1963) bei der Premiere von der New Yorker Polizei beschlagnahmt wurde (was eine heftige öffentliche Debatte auslöste), wurde zu einem Vorbild und Freund von Cohen, und er spielte auch in THUNDERBOLT PAGODA mit. Die Gesamtheit der Mitwirkenden am Film bekam von Cohen die ad-hoc-Bezeichnung The Universal Mutant Repertory Company verpasst.
Weil sich der Eindruck des Films kaum angemessen in Worte fassen lässt, zunächst
hier und
hier zwei kurze Ausschnitte auf YouTube. Es wurde keineswegs der ganze Film als Mylar-Reflexion gedreht, dafür kamen auch andere Stilmittel wie Mehrfachbelichtung und durch Prismenvorsätze erzeugte kaleidoskopische Split-Screen-Effekte zum Einsatz. Aber auch die durchaus vorhandenen
"plain" gefilmten Sequenzen wirken völlig surreal, weil alle Darsteller mit äußerst fantasievollen Masken und Kostümen versehen waren, mit merkwürdigen Objekten hantierten und sich wie in Trance oder im Drogenrausch bewegten. Hauptverantwortlicher für Masken, Kostüme und das sonstige Produktionsdesign war Robert LaVigne, ein Maler aus San Francisco, der in den 50er Jahren zum Dunstkreis der Beatniks um Allen Ginsberg gehört hatte.
Die erste Hälfte des rund 22 min langen Films wurde in der Mylar Chamber gedreht, die zweite im Freien auf einer Lichtung (aber auch hier teilweise unter Nutzung der Folie). Die letzten zwei oder drei Minuten bestehen aus gänzlich abstrakten wunderschönen bläulichen Bildern, die mit Hilfe von flüssigem Quecksilber, das auf horizontal gehaltener Folie erratisch umherfloss, gedreht wurden. Wenn man will, kann man in den Film so etwas wie eine rudimentäre Handlung, die schamanistische oder alchemistische Rituale enthält, hineinlesen, man kann es aber auch lassen. Offensichtlich ist jedoch, dass auf die Wirkung von Opium, LSD und anderen psychoaktiven Substanzen angespielt wird. Das wurde von Cohen noch betont, indem er einigen der Gestalten Namen wie The Majoon Traveler (gespielt von Cohen selbst) oder The Methedrine Cardinal gab.
Ein beträchtlicher Teil der hypnotischen Wirkung des Films beruht auf dem flirrend-fiebrigen Soundtrack, der unter Leitung von Angus MacLise von einer Combo eingespielt wurde, die ebenfalls einen ad-hoc-Namen erhielt, nämlich
The Joyous Lake. Sie bestand aus Angus und seiner Frau Hetty MacLise, Tony Conrad, Ziska Baum, Loren Standlee und drei weiteren Mitspielern - sie alle spielten auch im Film mit. Der größte Teil der Musik wurde 1968 live zu einer Vorstellung des Films in einer New Yorker Kirche eingespielt. Angus MacLise ist heute am ehesten dadurch in Erinnerung, dass er der erste Percussionist von
The Velvet Underground war. In den frühen 60er Jahren spielten er und Tony Conrad zusammen mit La Monte Young, John Cale und anderen in der Formation
Theatre of Eternal Music, auch als
The Dream Syndicate bekannt, wo sie zu Mitbegründern von
Minimal Music und
Drone Music wurden. Sein damaliger Mitstreiter John Cale holte MacLise dann zu den gerade gegründeten
Velvet Underground, aber als 1965 der erste bezahlte Auftritt anstand, verweigerte sich der radikale MacLise dieser "Kommerzialisierung" der Band, stieg aus und wurde durch Maureen Tucker ersetzt. Ähnlich wie Cohen, begab sich MacLise später zusammen mit Hetty auf ausgiebige Reisen in Länder wie Indien und Nepal. Durch langjährigen Drogenkonsum und eine Tuberkulose geschwächt, starb Angus MacLise 1979 mit 41 Jahren in Kathmandu. Sein musikalisches Werk, das
Minimal Music mit orientalischen Rhythmen verband, blieb lange weitgehend unbekannt und unveröffentlicht, erst seit Ende der 90er Jahre kam es zu CD-Veröffentlichungen. Eine CD von 1999 mit dem Titel
The Invasion of Thunderbolt Pagoda enthält als Titelstück eine 39-minütige Version des Filmsoundtracks, die man
hier auf YouTube anhören kann [leider inzwischen gelöscht].
MacLises alter Freund und Kollege Tony Conrad erweiterte unter dem Einfluss seiner damaligen Frau Beverly Grant, die als Schauspielerin in diversen Undergroundfilmen der 60er Jahre mitwirkte und zu Warhols sogenannten Superstars in der
Factory gehörte, seine Interessen von der Musik in Richtung Experimentalfilm (sein THE FLICKER von 1965 gilt als einer der ersten
Structural Films), später zur Videokunst, und er ist bis heute in verschiedenen Kunstrichtungen aktiv. Am bekanntesten wurde er wohl durch seine Zusammenarbeit mit der deutschen Band
Faust, in der die Synthese von
Minimal Music und Krautrock gelang. Das Poeten- und Musikerpaar Ziska Baum und Loren Standlee lebte Mitte der 60er Jahre in einer Hippie-Kolonie auf der Insel Formentera, dann in Paris, wo sie zur ersten Inkarnation der anglo-französischen Band
Gong gehörten, bevor sie schließlich nach New York übersiedelten und über das Filmemacherpaar Sheldon und Diane Rochlin (die auch in THUNDERBOLT PAGODA mitwirkten und die Kamera führten) zu Cohens Kreis stießen. Über Raja Samyana, Henry Flynt und Jackson Mac Low, die restlichen Mitglieder von
The Joyous Lake, weiß ich nichts zu berichten. [UPDATE: Henry Flynt ist ein Philosoph, Wissenschaftler, Konzeptkünstler, experimenteller Musiker, und ein Aktivist gegen den etablierten Kulturbetrieb. Seit Ende der 50er Jahre gehörte auch er zum Dunstkreis von Tony Conrad und La Monte Young. Mehr zu seiner Biographie und seinen Aktivitäten gibt es
hier. In seiner Musik, von der es mittlerweile einiges auf YouTube gibt, vereint er unter dem Dach der
Minimal Music Elemente von Hillbilly und Blues über Elektronik bis zu indischen Ragas. 2013 war ihm in Düsseldorf und Karlruhe
eine Ausstellung gewidmet (siehe auch
dieses einstündige Video mit ihm).]
So außergewöhnlich THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA ist, ist er doch nicht im luftleeren Raum entstanden. An Vorgängern würde ich zunächst Kenneth Angers INAUGURATION OF THE PLEASURE DOME benennen. Von den Filmen, die ich kenne, ist jedoch CHUMLUM (1964), der letzte Film des jung verstorbenen Ron Rice, THUNDERBOLT PAGODA am ähnlichsten. Es gibt auch personelle Verbindungen zwischen den Filmen: Angus MacLise war auch bei CHUMLUM für den Soundtrack verantwortlich, und Beverly Grant und Jack Smith spielten mit. Den auf manchen Websites behaupteten Einfluss von Sergej Paradschanow auf Cohens Film halte ich dagegen für eher unwahrscheinlich.
Wie schon angedeutet, machte Cohen lange Reisen, die ihn nach Äthiopien, Japan, Indien oder Nepal (wo er in Kontakt mit den dort lebenden MacLises stand) führten, lebte auch eine Zeit lang in Amsterdam, und zwischendurch immer wieder in New York. Er fotografierte weiterhin und schrieb Gedichte, und gelegentlich gab er Magazine und handwerklich hochwertig produzierte Bücher heraus. Dagegen drehte er nur noch einen Film, nämlich eine Doku über das Kumbh-Mela-Fest in Indien, das von den Teilnehmerzahlen her das größte religiöse Fest der Welt ist. Ein einstündiges Fernsehgespräch mit ihm darüber kann man
hier ansehen. An einer digitalen Veröffentlichung von THUNDERBOLT PAGODA hatte er lange kein Interesse, aber Mitte der 2000er Jahre konnte er dazu überredet werden. Der in der IMDb als Produzent von THUNDERBOLT PAGODA bezeichnete Will Swofford hat in Wirklichkeit nicht den Film, sondern die 2006 erschienene DVD produziert. In Cohens Wohnung fanden sich auch noch rund vier Stunden an Outtakes, die zur Anreicherung der DVD genutzt wurden. Einerseits fügte Cohen dem doch recht kurzen Film einen optionalen achtminütigen Prolog hinzu, der einen eigenen neuen Soundtrack erhielt, und der nicht farbig, sondern monochrom in Sepia viragiert ist. Er zeigt die Protagonisten überwiegend nicht in den Masken und Kostümen des Hauptfilms, sondern in schlichter Aufmachung bei merkwürdigen Verrichtungen im Schlamm, die an Rituale von Stammesangehörigen in Neuguinea denken lassen. Wer schon mal das
Bild in meinem Google-Profil genauer betrachtet hat, wird bei Ansicht des Prologs ein
Déjà-vu haben ...
|
Prolog: Angus MacLise (links oben), Ira Cohen |
Und andererseits montierte Swofford aus Teilen der Outtakes einen 30-minütigen Bonusfilm mit dem Titel BRAIN DAMAGE, ebenfalls mit neuem Soundtrack. Eine Slideshow von Mylar-Fotos, ein konfuses Kurzportrait von Cohen, das einer seiner Söhne und Swofford drehten, und ein schön gestaltetes Booklet bilden weiteres Bonusmaterial. Für den eigentlichen Film gibt es auch zwei zusätzliche alternative Soundtracks. Der eine wurde 2003 von Acid Mothers Temple SWR, einer Fraktion des verzweigten japanischen Band-Projekts Acid Mothers Temple, bei einem Festival in Schottland live eingespielt. Der andere wurde 2006 von der US-Band Sunburned Hand of the Man, die in den 2000ern Cohen auch gelegentlich bei Lesungen seiner Gedichte begleitet hatte, ebenfalls live aufgenommen. Die Original-DVD von 2006 ist inzwischen out of print und wird stark überteuert gehandelt, es scheint aber neuerdings eine Neuauflage zu geben.
|
Abstrakte Bilder am Schluss |
Du liebe Güte! Wenn ich das so lese, beginne ich zu verstehen, warum die "Hare Krishna"-Szene in Forman's "Hair" (1979) als veraltet kritisiert wurde. Ich war zur Zeit der "Thunderbolt Pagoda" zehn Jahre alt, hatte also höchstens entfernte Verwandte, die das Leben lebten, dem mein geschätzter Co-Admin und Spät-Hippie ein wenig hinterhertrauert. Ob ich mich in diesem psychedelischen Rausch, den es ausschnittsweise auf YouTube zu geniessen gibt, wohlgefühlt hätte? - Sicher: Die phallischen Aspekte sprechen mich an. Aber sonst bin ich froh um mein biederes Dasein. :D
AntwortenLöschenEiner der von dir aufgezählten Gestalten begegnete ich sogar einmal im wirklichen Leben "auf Augenhöhe": Unser Englischprofessor ertappte Allen Ginsberg, als der sich gerade auf einer Europa-Tour befand (muss in den frühen 80ern gewesen sein). Es kam zu einer Lesung in einem der intimen Seminarräume in Basel. Ich wohnte ihr natürlich schon deshalb bei, weil ich wusste, dass Ginsberg schwul war. Als ich ihn jedoch zu Angesicht bekam, gab ich mir alle Mühe, hetero zu wirken. Das heisst: Ich bemühte mich um O-Beine und machte auf John Wayne.
Soll ich nun Schlussfolgerungen aus deinem Blogger-Profil auf deinen Schwabinger-LSD-Lebensstil ziehen?
Tja, für mich ist das geistiges "Mann und Ambrosia". Es war einfach nur fantastisch Leiber übereinander zu schlingen, zu lecken, zu schminken, zu tanzen, zu ficken, zu LEBEN! Es hat mich Überwindung gekostet, dieses Lebenskonzept aufzugeben. :( Ich bin dankbar, dass mir diese Form der Kunst es am Leben erhält!
AntwortenLöschenDu bist natürlich auch rund 100 Jahre jünger als ich, Aussi. Verständlich, dass du da auf Erinnerungen zurückgreifst, die bei mir zu tief in der Vergangenheit begraben liegen. Ich bin heute froh, wenn ich in einem Spitalzimmer liege, in dem sich nachts nicht noch zwei weitere Leiber befinden - geschweige denn sich übereinander schlingen. Da bietet sich die Flucht in die Biederkeit an.
AntwortenLöschenWas aber betont werden muss: Da hat Manfred mal wieder ein herrlich-artifizielles Stück Zeitgeschichte ausgepackt, an das erinnert zu werden sich lohnt. Ich weiss zwar nicht, ob ich es mir ansehen möchte; aber Beschreibung und Einordnung lesen sich wirklich spannend. :)
Ich dachte, es wären nur 18 Jahre, die uns trennen. :)
AntwortenLöschenDass Du in Deinem Leben in Deiner Situation andere Sorgen hast, ist mir klar. In Verbindung mit Deinem FF-Posting war ich nur verwundert, dass ein Freidenker wie Du so konservative Ansichten äußert. Deine Einstellung zu diesen Dingen und Deinen Gesundheitszustand hatte ich da jetzt nicht in Beziehung zueinander gesetzt. Mein Fehler.
Von Fehler kann keine Rede sein, lieber Aussenseiter, eher von Pech und der etwas zynischen Biederkeit, die ich aus diesem "Pech" ziehe. Weder die ihre Lebenslust entdeckenden Leute (vor allem Männer!) der späten 60er noch die 70er, die die daraus gewonnene Freiheit weniger kunstvoll als dekadent weiterführten, konnten ahnen, dass ihre Freiheit Tödliches mit sich brachte. Es war Pech, von dem zum Beispiel die amerikanischen Fundamentalisten ("die Strafe Gottes") zu profitieren versuchten, aber auch bei Betroffenen eine neue Wertschätzung des Daseins auslöste.
LöschenNimm also meine "Biederkeit" nicht zu ernst! Ich scheine sie ein wenig als Ausrede für das zu benutzen, woran etwas in mir nicht mehr denken möchte.
Klingt ja wie eine etwas dichtere Alternative zu Mantis in Lace. Mal den Dealer nach fragen und bei Gelegenheit auf den Trip begeben.
AntwortenLöschen