Freitag, 2. November 2018

Ein Film aus der Bretagne und ein toter Regisseur

Vor knapp 60 Jahren ertrank Alain Kaminker

LA MER ET LES JOURS (VERBÜNDETE DES MEERS)
Frankreich 1958
Regie: Alain Kaminker und Raymond Vogel
Darsteller: Bewohner der Île de Sein

Wer war Alain Kaminker? Er war zunächst einmal, um einen bekannteren Namen in die Runde zu werfen, der jüngere Bruder von Simone Signoret, die eigentlich Simone Henriette Charlotte Kaminker (oder auch Henriette Charlotte Simone Kaminker, je nach Quelle) hieß, Signoret war der Mädchenname ihrer Mutter. Aber natürlich ist das nicht der Grund, warum hier an Alain Kaminker erinnert werden soll.


1958 machten sich drei Männer auf zur kleinen bretonischen Île de Sein, die 8 km von einem der westlichsten Zipfel der Bretagne entfernt im Meer liegt, um im Herbst und Winter dieses Jahres über und mit den Fischern und ihren Familien einen Dokumentarfilm zu drehen. Der 1930 geborene Alain Kaminker und Raymond Vogel waren die Regisseure, André Dumaître (1920-1997) ihr Kameramann. Die heute bekanntesten Mitwirkenden an LA MER ET LES JOURS kamen erst nach dem Dreh zum Einsatz: Henri Colpi besorgte den Schnitt, Georges Delerue schrieb die Musik und Chris Marker den Kommentartext. André Dumaître hatte schon Erfahrung in seinem Metier, für Kaminker dagegen war es anscheinend der erste Film. Und Raymond Vogel? Laut IMDb soll er 1915-1988 gelebt haben und außer LA MER ET LES JOURS nur einen anderen Film inszeniert haben, nämlich (zusammen mit einem anderen Regisseur) DES HOMMES COMME LES AUTRES (1954). Doch nach dieser Seite, die einen gut informierten Eindruck macht, ergibt sich ein anderes Bild. Danach wurde Vogel 1927 in Basel geboren, und er starb 1995. Und er hat etliche Filme mehr gedreht. Vogel war längere Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). 1949 drehte er zusammen mit René Vautier in der Elfenbeinküste den antikolonialistischen AFRIQUE 50 (der in Frankreich Jahrzehnte verboten war, und für den Vautier für ein Jahr ins Gefängnis ging), und danach, meist in Zusammenarbeit mit anderen Regisseuren, weitere engagierte bis radikale Filme. Nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 trat Vogel aus der PCF aus. In den 60er Jahren war er an Spielfilmen beteiligt, u.a. mit Alain Robbe-Grillet, aber was er da genau gemacht hat, weiß ich nicht. Noch später betätigte er sich als Schriftsteller. In der IMDb wird Vogel ein Auftritt in einem TATORT von 1979 nachgesagt, aber ich nehme mal an, dass da ein anderer Raymond Vogel am Werk war (vielleicht einer, der 1915-1988 gelebt hat).


Doch zurück zu LA MER ET LES JOURS. Der Film ist derzeit noch bei arte zu betrachten.


Nach anfänglicher Skepsis seitens der Inselbewohner wurden Kaminker, Vogel und André Dumaître herzlich aufgenommen, und sie haben gute Arbeit geleistet. Spektakuläre Bilder wie die geradezu abenteuerliche Auswechslung der Leuchtturmwärter, nüchterne Betrachtungen des Alltags und poetische Impressionen wechseln sich in einer ausgewogenen Mischung ab. Die Bilder erinnern teilweise an andere Filme aus ähnlichem Milieu, von Robert Flahertys MAN OF ARAN bis zu NAZARÉ von Manuel Guimarães, und natürlich an ältere Filme aus der Bretagne, etwa die von Jean Epstein wie FINIS TERRÆ. Wie sich der Neuling Kaminker und der schon erfahrenere Vogel die Regie aufteilten, ist mir nicht bekannt, ebensowenig, ob sie im Geist des Cinéma vérité nur weitgehend das Vorgefundene abfilmen ließen, oder ob sie selbst in stärkerem Maße inszenierend eingriffen (so wie das Flaherty immer gemacht hatte). Das Schiffsunglück im Film ist jedenfalls nicht inszeniert. Der Trawler Anne-Gaston lief am 15. November 1958 auf einen Felsen auf und sank. Drei Seeleute ertranken, die restlichen Besatzungsmitglieder wurden von den Bewohnern von Sein in einer nächtlichen Rettungsaktion geborgen. Der damalige Schiffsjunge der Anne-Gaston, der gerettet wurde (während sein Vater unter den Opfern war), erinnert sich hier an das Unglück.


Am 11. Dezember 1958, als die Dreharbeiten schon weit fortgeschritten waren und ein Sturm tobte, fiel der seekranke Kaminker ausgerechnet vom Rettungsboot der Île de Sein in das aufgewühlte Meer und ertrank. Eine stundenlange Suchaktion blieb zunächst erfolglos, erst einen Tag später wurde seine Leiche an einem Strand der Insel aufgefunden. Alain Kaminker wurde auf Wunsch seiner Familie auf dem Dorffriedhof von Sein bestattet, als erster nicht Ortsansässiger, wie es heißt. - René Vautier (1928-2015), Raymond Vogels oben schon erwähnter Mitstreiter bei AFRIQUE 50, der selbst aus der Bretagne stammte, drehte 1971 (laut IMDb 1973, aber 1971 ist richtig) zusammen mit einer Nicole Le Garrec die 45-minütige Doku MOURIR POUR DES IMAGES über die Dreharbeiten zu LA MER ET LES JOURS und den Tod von Kaminker. Neben Bewohnern der Île de Sein tritt auch Kameramann André Dumaître darin auf. - Die Bretagne besitzt eine eigene Cinémathèque, die 1986 gegründet wurde. Aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums wurden 2016 einige alte Filme mit Bezug zur Bretagne restauriert und, wo sinnvoll, mit englischen Untertiteln versehen und in dieser Form wieder veröffentlicht, darunter auch bei arte - neben LA MER ET LES JOURS beispielsweise auch der (vermutlich per Pathécolor) colorierte kurze IM LAND DER FISCHER von 1910. Das oben eingebettete Video von LA MER ET LES JOURS soll aber nur noch bis zum 18.12.2018 verfügbar sein (und das ist der Grund, warum ich diesen Artikel etwas vorgezogen habe).

2 Kommentare:

  1. Warum in der Ferne suchen, wenn die arte-Mediathek Interessantes parat hält :-)
    Der Off-Kommentar von LA MER ET LES JOURS erschien mir an manchen Stellen etwas zu sehr mit Pathos und blumigen Metaphern überladen, aber die Bilder sind tatsächlich sehr schön. Besonders die Nachtszenen (vielleicht eher Dämmerung) – so tiefdunkel mit schwarzen Silhouetten, wie man es gewöhnlich nur selten sieht.
    RACLEURS D'OCÉANS ("Die Fischverarbeiter") der Meereskundlerin Anita Conti, der auch gerade im bretonischen arte-Themenblock drin ist, scheint auch interessant zu sein:
    https://www.arte.tv/de/videos/051939-211-A/die-fischverarbeiter/

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    1. Übertrieben pathetische oder auch etwas bemüht poetische Kommentare sind mir bei älteren französischen Dokumentarfilmen schon ein paar mal aufgefallen. Vielleicht hat da das "Kino der Qualität" auf den Doku-Sektor abgefärbt. Wie auch immer, RACLEURS D'OCÉANS ist in dieser Hinsicht jedenfalls erfrischend bodenständig. Da erzählt einer einfach, was ihm zu den Bildern einfällt.

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