Posts mit dem Label Österreich werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Österreich werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Samstag, 14. Juli 2012

Der zur Jahrhundertfigur erhobene Scharlatan

Hanussen
(Profeta, Ungarn/Deutschland/Österreich 1988)

Regie: István Szabó
Darsteller: Klaus-Maria Brandauer, Erland Josephson, Ildikó Bánsági, Walter Schmidinger, Károly Eperjes, Grazyna Szapolowska, Colette Pilz-Warren, Adrianna Biedrzynska, György Cserhalmi, Michal Bajor u.a.

"The movie is thick with period costumes, furniture and music, and thin on coherence and character", urteilte Vincent Canby in einer Kritik für die "New York Times". Ich stimme diesem Urteil vollumfänglich zu, würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und "Hanussen" als durch und durch verlogenes Machwerk bezeichnen, das als Abschluss einer Trilogie über die Konsequenzen des Aufstiegs von Figuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu eine Peinlichkeit ist. - Mein hartes Urteil hat nichts damit zu tun, dass der Regisseur 2006 zusammen mit Kardinal László Paskai als ehemaliger Stasi-Spitzel enttarnt wurde - obwohl ich als Schreiber, der auf die Nazi-Vergangenheit von Regisseuren hinweist, auch diesen "Flecken" in Szabós Vita nicht unerwähnt lassen darf. Es ist heute jedoch schwer zu beurteilen, was es bedeutete, in einem kommunistischen Land der 50er Jahre als IM für den Geheimdienst "Berichte" zu schreiben. Manche waren sich ihrer Tätigkeit gar nicht bewusst, andere übten sie aus purem Opportunismus aus und dachten, sie sei ihrer Karriere förderlich. Von Szabó lässt sich wenigstens sagen, dass er offenbar niemanden ans Messer geliefert hat. Er hielt aber auch ein Wort des Bedauerns nicht für nötig, sondern betonte: "Alles, was ich dazu sagen möchte, habe ich in meinen Filmen gesagt." - Seine ungarischen Verehrer gaben sich damit zufrieden.  Vielleicht enthalten seine frühen Filme tatsächlich bereits ausreichend versteckte Rechtfertigungsversuche, und die Filme, die ihn international bekannt machten, drehen sich ja immer wieder um Gesellschaften im Zeichen von Diktatur und Fremdbestimmung. "Hanussen" jedoch tut dies auf denkbar oberflächliche, lediglich scheinbare Art.

1981 präsentierte Szabó einem grösseren Publikum die Verfilmung des in der alten BRD lange Zeit verbotenen Romans „Mephisto“ von Klaus Mann, der trotz gegenteiliger Behauptungen des Autors natürlich eine Abrechnung mit dem Schauspieler Gustaf Gründgens war, an dem sich exemplarisch aufzeigen liess, wie ein lediglich an seinem Aufstieg interessierter Mann sich den Nazis auslieferte und am Ende erkennen musste, welche Konsequenzen diese Auslieferung hatte. Klaus Maria Brandauer, ein beinahe ausschliesslich durch seine Tätigkeit als Bühnenkünstler am Wiener Burgtheater bekannter Schauspieler, verkörperte die Titelrolle. Er hatte zwar nicht die geringste Ähnlichkeit mit Gründgens, wartete aber mit einer Leistung auf, die ihn weit über den deutschen Sprachraum hinaus berühmt machte. Der um Werktreue bemühte "Mephisto" erhielt – meines Erachtens zurecht – den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Denn was da über den Weg von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus in erlesene Bilder gepackt wurde, war schlicht überwältigend – und wenn man miterlebte, wie ein als Göring überragend agierender Rolf Hoppe dem „grossen“ Schauspieler zu verstehen gab, wie leicht er ihn zerquetschen könnte, wollte man einfach mehr von Szabó sehen. Tatsächlich entschloss sich dieser zu einer weiteren Zusammenarbeit mit Brandauer. Und wieder sollte es um einen Aufsteiger gehen, nämlich um Alfred Redl, der sich kurz vor dem Untergang der k. und k.-Monarchie aus ärmlichen Verhältnissen in die Oberschicht hinaufarbeiten wollte und an seiner Homosexualität scheiterte. „Oberst Redl“ (1985) – sich nicht detailliert an der Biographie der historischen Figur orientierend - wurde zwar wieder mit einer Oscar-Nomination belohnt, vermochte aber trotz Brandauers Leistung und der brisanten Story nicht an die erste Zusammenarbeit anzuknüpfen, weil er etwas arg von der k. und k.-Gemütlichkeit zerrte.

Ich vermag nicht zu sagen, ob die Idee, das Aufsteiger-Thema als Trilogie anzulegen, schon früh im Kopf des Regisseurs reifte. Auf jeden Fall wirkte die Ankündigung, man wolle die gemeinsame Zusammenarbeit mit einem Film über Hanussen beenden, mehr als verlockend. Hanussen, der Scharlatan, der sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vom Hokuspokus-Clown zum steinreichen Hellseher der Nazis mit dem für Orgien berüchtigten „Palast des Okkulten“ entwickelt hatte, um nach seiner Ankündigung des Reichstagsbrands von den Machthabern ermordet zu werden, schien wie gemacht für einen Film, der sich als abschliessender Höhepunkt des Themen-Zyklus eignete – und wer sollte die Hauptfigur besser verkörpern als Klaus Maria Brandauer? Zwar hatte sich O.W. Fischer, noch persönlich bekannt mit dem „Hellseher“, 1955 unter eigener Regie als Hanussen präsentiert; jetzt aber war es an der Zeit, die faulen Tricks und den unausweichlichen Aufstieg eines der berühmtesten Leute-Verführers des letzten Jahrhunderts filmisch festzuhalten. Schliesslich war er zu einer Legende geworden.  


Erik Jan Hanussen hiess eigentlich Hermann Chajm Steinschneider und wuchs als Sohn eines jüdischen Schmierenkomödianten im Varieté-Milieu auf. Schon früh interessierte er sich für das scheinbar Okkulte und schlich sich in das Vertrauen betrügerischer Hellseher ein. Deren Tricks entlarvte er anschliessend in der Öffentlichkeit, um sie sich später selber anzueignen. Im Ersten Weltkrieg verblüffte er seine Vorgesetzten und Kameraden mit angeblichen Zukuntsvoraussagen (er fing gegen Bezahlung Schreiben aus der Heimat ab und verkündete dann deren Inhalt unter grossem Getue). Bald darauf bewies er seine „Fähigkeiten“ als Wünschelrutengänger, um sich vor gefährlichen Einsätzen zu drücken. Nach dem Krieg rückte der Showman mit Sexappeal mit immer neuen Einfällen an und leistete sich Fehden mit seinen Rivalen. Die vorgespielten Hypnose-Akte und das Zettellesen brachten dem zum Dänen gewordenen Steinschneider aber mehrere Anzeigen wegen Betrugs ein. In dem berühmten Prozess von Leitmeritz gab er sogar zu, ein Hochstapler zu sein (ein Geständnis, das er in seiner ansonsten aus Flunkereien bestehenden Autobiographie „Meine Lebenslinie“, 1930, wiederholte). All dies tat dem Erfolg des als intelligent geltenden Mannes, der mehrere Zeitungen herausgab, keinen Abbruch. Selbst das Zerwürfnis mit seinem bisherigen Manager Erich Juhn, der bald alle seine Tricks verriet, schadete ihm nicht. Im Gegenteil: Die angeblichen Hellsehshows füllten zweimal täglich die Berliner Scala.  Als er in seinen astropolitischen Zeitschriften sogar den Aufstieg Hitlers zu unterstützen begann, spielte auch seine jüdische Herkunft keine Rolle mehr. Selbst Nationalsozialisten waren abergläubisch (es wird sogar gemunkelt, der Führer habe sich mehrmals persönlich von ihm beraten lassen), und der „Hellseher“ bot der Berliner Schickeria auf seiner Yacht willige Damen und Knaben an. Seine Voraussage des Reichstagsbrands wird mit den guten Kontakten zur SA erklärt, deren Chef Ernst Röhm an den für ihn reservierten Knaben seine grosse Freude gehabt haben dürfte. – Über die Gründe, die zu Hanussens Ermordung durch seine bisherigen Gönner führte, herrscht Uneinigkeit. Sein Tod ist vielleicht das einzige Rätsel, das der angebliche Hellseher hinterlassen hat.


Wer nun freilich erwartete, Szabó habe diese mehr als reichhaltige Vita tatsächlich zum Anlass genommen, den Aufstieg eines Scharlatans im Schatten eines noch weitaus gefährlicheren Scharlatans, Hitler, darzustellen, sah sich getäuscht. Das Gegenteil war der Fall. Denn was der Zuschauer da vorgesetzt bekam, war nicht nur die schamlos zusammengewürfelte Lebensgeschichte eines Märtyrers, die – wiederum in erlesenen Bildern - zum Teil sogar auf Hanussens Autobiographie basierte; es zeugte, und das macht das Lügengebilde weitaus schlimmer als die nicht ganz der Wahrheit entsprechende „Redl“-Geschichte, von einem unerschütterlichen Bemühen, die seherischen Fähigkeiten Hanussens als echt hervorzuheben, ein Bemühen, das so viel Raum in Anspruch nahm, dass zeitgeschichtliche Abläufe nur noch für den „Hellseher“ von Bedeutung waren, während die Angst eines Juden vor der Zukunft kurz mit einem vorübereilenden Trupp der SA abgetan wurde, den ein Blick aus dem Fenster zeigte. Denn im Mittelpunkt stand Erik Jan Hanussen, der hier vom Scharlatan in den Rang einer von ihren Visionen beherrschten Jahrhundertfigur erhoben wurde: 

Im Ersten Weltkrieg zieht sich der Österreicher Klaus Schneider bei einem Gefecht eine Kopfverletzung zu. Der ihn behandelnde Arzt Dr. Bettelheim erkennt rasch, dass sein Patient über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügt („Schneider ist in jeder Hinsicht ein interessanter Fall.“), und er möchte ihm mit Hypnose helfen. Tatsächlich erweist sich Schneider, der ständig von Ahnungen redet, nicht nur bald als Frauenheld (er spannt dem Doktor dessen Freundin, Schwester Betty, aus), er liefert auch einen Beweis seiner Macht zur „Willensübertragung“, indem er einen lebensmüden Soldaten davon abhält, sich und das ganze Lazarett mit einer Handgranate in die Luft zu jagen. Nowotny, ein Hauptmann, ist von diesem Ereignis begeistert und überredet Schneider, bei einem Fronttheater für Unterhaltung zu sorgen. – Nach dem Krieg wird Nowotny zum Manager des Mannes, der sich jetzt Hanussen nennt. Man klappert gemeinsam die Grenzstädte ab (die gelungene Aufnahme eines Spaziergangs durch Karlsbad zeigt, wie gefragt damals Varieté-Künstler und Hellseher waren), und als Hanussen eine Schiffskatastrophe voraussagt, erlangt er nicht nur Berühmtheit sondern zeigt sich auch ob seiner „Gabe“ völlig überwältigt. In einem Prozess führt er dem Staatsanwalt vor, dass er mit seiner Willenskraft sämtliche Zuschauer zum Aufstehen zu bewegen vermag. - Die Weltstadt Berlin, wo sich alles trifft, was sich schon vom Krieg her kannte, ruft. Von nun an splittert sich der Film vornehmlich in unzusammenhängende Episoden auf, die den Weg des „Hellsehers“ durch die esoterische Szene der 20er und frühen 30er Jahre nachzeichnen und dessen herausragende Fähigkeiten beleuchten sollen: Er setzt einen Störenfried unter Hypnose und fordert ihn auf der Stuhllehne zum Krähen auf, wandelt durch das dekadente Reich einer Inderin und betont in einem Gespräch mit Politikern: „Ich interessiere mich nicht für Politik“ – um dann doch Hitler als nächsten Reichskanzler zu „sichten“. Die politische Äusserung führt zum Bruch mit seinem Manager, was jedoch am Aufstieg des „Hellsehers“ nichts ändert: An seiner legendären „astrologischen Bar“ lässt er sein Medium verkünden, die neue Zeit bringe Ordnung. Und dann geht er einen Schritt zu weit. 

Es wäre eigentlich faszinierend, die Etappen des wiederbelebten Esoterischen zu verfolgen, spielte es doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Rolle (ich erinnere nur an den Kreis um den selbsternannten Dichter-Propheten Stefan George oder an Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie). Auch die Vereinnahmung dieses Esoterischen durch den ohnehin einem Mystizismus huldigenden Nationalsozialismus (der ältere irische Dichter W. B. Yeats, der sich sein esoterisches Weltbild aus verschiedenen Kulturen zusammengebastelt hatte, fühlte sich regelrecht geehrt, als man zu erkennen glaubte, er habe in seinem unverständlichen Gedicht „The Second Coming“ das Herannahen des „Dritten Reichs“ vorausgesehen) liesse sich an der Figur des Mannes, der als Hanussen in die Geschichte einging, eindrücklich darstellen. Was Szabó aber bietet, ist eine sich durch das gewohnt sanfte Licht der Bilder und belanglose Dialoge auszeichnende langatmige Huldigung an den Scharlatan der Nazis. Dabei versucht er dessen Glaubwürdigkeit („Der Reichstag wird in Kürze in Flammen stehen!“) noch zu erhöhen, indem er das Feuer als Motiv den ganzen Film durchziehen lässt (Höhepunkt: der Hellseher bringt in einer seiner Shows eine Zuschauerin dazu, den Bühnenvorhang in Brand zu setzen). 


Einzelne Szenen lassen durchaus erahnen, was ein solcher Film zu bieten hätte: Das Treffen mit der Männerkleidung tragenden Fotografin Henni Stahl, die zuerst nackte Arierkörper zu Riefenstahl’schen Pyramiden formiert und anschliessend am Hellseher herausfinden möchte, worin das Geheimnis des Charismas liegt (kurz darauf lässt sich Hitler in den Posen ablichten, die für Hanussen charakteristisch sind). Solche zeitgeschichtlich aufschlussreiche Momente (Hitler muss sich das Charisma aneignen!) sind allerdings eine Rarität in dem Film, von dem Szabó zwar sagte, er sei keine Dokumentation, sondern eine Modellgeschichte, dessen Verlogenheit aber nichts mehr mit der Devise zu tun hat: „Wenn wir über unsere Gegenwart sprechen wollen, müssen wir wissen, von wo wir gekommen sind“ (zitiert nach „Der Spiegel“, 42/1988). Dass statt Hanussen sein sich in Berlin ängstigender Arzt zum Juden gemacht wird oder der „Hellseher“ sein Geburtsdatum mit dem des Führers teilt, gehört zum harmlosen Teil der Flunkereien, die der angeblichen Devise des Ungarn widersprechen. Wichtiger ist: Es geht ihm einzig um die Verherrlichung des Scharlatans, er ist an der Vergangenheit gar nicht interessiert, weist nur am Rande - mit einem Propagandaminister, dessen sympathische Ausstrahlung geradezu pervers wirkt - auf sie hin. Und man kommt um die Frage nicht herum: Was macht diese Figur so faszinierend, dass für den letzten Teil der Aufsteiger-Trilogie sämtliche Grundsätze über Bord geworfen wurden, die man einem ehemaligen Stasi-Spitzel eigentlich hoch anrechnen würde?


Der Verdacht liegt nahe, es sei Szabó und Brandauer zum Abschluss der gemeinsamen Arbeit nicht nur um eine Verherrlichung der Hauptfigur, sondern vor allem um eine des Darstellers gegangen. Brandauer war kurz zuvor mit einer Oscar-Nomination geehrt worden („Out of Africa“, 1985), und der zum Weltstar avancierte Bühnenkünstler hatte offenbar seine „One Man Show“ verdient. Tatsächlich entdeckt man in „Hanussen“ (wie auch in einigen seiner späteren Filme) weniger das grosse Können des Schauspielers als die wohl unvermeidliche Eitelkeit, die mit dem Ruhm einhergeht. Und diese Eitelkeit führt zu unnötig eindringlichen Gesichtsausdrücken im falschen Augenblick, zu hysterischem Herumschreien, ja sogar zu einem regelrecht dämlichen Lächeln, wenn er seine Bettgefährtin auffordert, aus dem Fenster zu springen. Er mag gelegentlich galant wirken, überzeugend ist er nie als geschwätziger Alleinunterhalter. Und für diese verlogene Brandauer-Show wurden Schauspieler wie Erland Josephson verheizt, die wahrlich bessere Rollen in besseren Filmen verdient hätten. – Vielleicht wäre Klaus Maria Brandauer sogar eindrucksvoller gewesen, wenn er den Hellseher wirklich als Scharlatan hätte geben dürfen. So aber bleibt die letzte Zusammenarbeit mit Szabó eine Enttäuschung, ein schicker und belangloser Untergang des Abendlandes, für den sich wohl nur Leute begeistern können, die als Reinkarnation von Hanussen durchs Internet geistern. Soll uns so etwas helfen, wenn wir wissen wollen, von wo wir gekommen sind?

Dienstag, 31. Januar 2012

Jetzt schlägt's 13

Jetzt schlägt's 13 (Alternativtitel: Es schlägt 13)
(Jetzt schlägt's 13, Österreich 1950)

Regie: E.W. Emo

Mit dem Rat “Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!” verabschiedet sich der soeben entlassene Hausdiener und Nietzsche-Kenner Max von seinem ehemaligen Herrn, der das harte Los der Ehe gezogen hat. Und tatsächlich: Dessen Angetraute soll rasch dafür sorgen, dass sich die vom "jungen Glück" bewohnte Villa Sonnenschein in eine (vermeintliche) Mördergrube verwandelt, die es mit jeder Edgar Wallace-Spelunke aufnehmen kann - woran Max selber allerdings auch nicht ganz unschuldig ist...


Es war nicht zuletzt der während des Dritten Reichs als linientreu geltende Komödienspezialist und Hausregisseur der Wien-Film E.W. Emo (eigentlich Emerich Josef Wojtek), der mit leichten Unterhaltungsfilmen (Theo Lingen bezeichnete sie als “Limonadenfilme”) dafür sorgte, dass dem deutschsprachigen Publikum das Lachen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht abhanden kam. Das Muster, nach dem diese Filme gestrickt waren, darf als denkbar einfach bezeichnet werden. Sie standen in der Tradition des  Schwanks, wie ihn etwa die Autoren Arnold und Bach (“Die spanische Fliege”, 1913, “Der wahre Jakob”, 1924) im frühen 20. Jahrhundert geprägt hatten: Man lasse ein scheinbar geregeltes Familienleben durch ein unvorhergesehenes Ereignis aus dem Lot geraten und sorge dafür, dass ein schier hoffnungsloses Tohuwabohu mit mehreren Beteiligten entsteht, das sich am Ende erstaunlicherweise zur Zufriedenheit aller auflöst. Emos Trümpfe waren zwei hervorragende Komiker, die er wegen der denkbar unterschiedlichen Typen, die sie verkörperten, gerne (gelegentlich mit Heinz Rühmann) zusammen einsetzte und gegeneinander ausspielte: der nuschelnde österreichische Volksschauspieler Hans Moser mit seinem griesgrämigen Gesicht und der näselnde, oft als versnobbter Kleinbürger daherkommende Hannoveraner Theo Lingen. Diese beiden Schauspieler sollten auch nach dem Krieg für Erfolge garantieren; und dies, “brave 50er" hin oder her, wesentlich schneller, pointenreicher, gelegentlich sogar etwas schlüpfriger als unter Goebbels’ totaler Kontrolle. So entstanden ein paar Filme, die trotz des bescheidenen Budgets, das zur Verfügung stand, noch heute entschieden grösseren Unterhaltungswert besitzen als so manche Operette oder Heimatschnulze der Zeit. Deshalb lohnt es sich, an den weitgehend vergessenen E.W. Emo zu erinnern.

Im Hause des erst seit drei Wochen verheirateten Schriftstellers und Verfassers des Buchs “Das Glück in der Ehe” Mario Jaconis herrscht Krieg. Seine eifersüchtige Frau Hedy weiss sehr wohl, dass ihm sein treuer Diener Max, ein gieriger Zeitungsleser und Verschlinger seines Horoskops,  dabei hilft, ehemalige Liebschaften zu verheimlichen und - nicht wörtlich nehmen! - zu erledigen. Der Gehilfe muss weg, ein neuer Hausdiener her. Dieser findet sich im braven Ferdinand, dessen einzige Leidenschaft Kriminalromane sind und der leider betont,  seine früheren Herrschaften seien alle verstorben. - Die Verwechslung zweier Koffer hat zur Folge, dass beide Diener zu der Überzeugung gelangen, der andere sei ein Raubmörder und es sei ihre Pflicht, die Herrschaft vor dem jeweiligen Bösewicht zu schützen. Max kehrt in die Villa Sonnenschein zurück, und als dann noch eine alte Freundin von Hedy nebst Jaconis neuem Verleger eintreffen, bricht das Chaos aus: Ferdinand fühlt sich plötzlich vergiftet, versucht sich mit Milch zu entgiften und lässt sich sogar zu einem “Ich bin lieber feig als tot” (man stelle sich diesen Satz in einer Komödie der Nazi-Zeit vor!) hinreissen. Max wiederum vergeht die Lust, mit den Hausmädchen zu flirten (“Bei jedem jungen Mädchen werde ich mich gerne deiner erinnern”), und die Herrschaften verdächtigen sich noch mehr der gegenseitigen Untreue als zuvor. Werden am Ende nur noch Leichen im Kohlenkeller und unter dem Tisch liegen - oder hilft doch ein spezielles Gemüse: Rhabarber?


Das wirkliche Leben der schon während des Dritten Reichs höchst erfolgreichen Komiker Hans Moser und Theo Lingen zeichnete sich übrigens durch alles andere als unbeschwerte Komik aus: Beide waren mit Frauen jüdischer Herkunft verheiratet und durften sich nur weiterhin als Schauspieler betätigen, weil der Propagandaminister einsah, wie bedeutend sie für das deutsche Lustspiel waren. Der stille, intellektuelle Lingen, in den frühen 30ern in ernsten Rollen von Fritz Lang geschätzt,  konnte mit seiner Frau, einer Halbjüdin, unter Entbehrungen zusammenbleiben, die Frau des Grantlers Hans Moser, der als Mitglied diverser Wanderbühnen Jahre bitterer Armut hinter sich hatte, emigrierte bis Kriegsende nach Ungarn.  - In den 50er Jahren sollten die beiden Schauspieler noch in ein paar sehenswerten Lustspielen wie “Jetzt schlägt’s 13” (ganz auf sie zugeschnitten, weshalb der junge Josef Meinrad als Jaconi erstaunlich blass wirkt) glänzen; als aber die deutsche Komödie nicht zuletzt “dank” sich für Schauspieler haltender Sänger immer mehr ins Seichte abglitt, sank der begnadete Theo Lingen mit ihr und gab sich für peinliche Erzeugnisse wie “Wenn mein Schätzchen auf die Pauke haut” (1971) her. Kein schöner Abschluss einer wirklich bemerkenswerten Karriere! -  Obwohl “Jetzt schlägt’s 13” in mancher Beziehung veraltet und stereotyp wirken mag, nimmt er es tempomässig rasch mit einer amerikanischen Komödie dieses Jahrtausends auf und spart auch nicht mit herrlichen Pointen. Ein Rhabarber-Film, der noch immer für einen heiteren Abend sorgt:

Sonntag, 8. Januar 2012

Kurzbesprechung: Venedig im Wasser

VENEDIG
Österreich 1961
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)

Selbstverständlich liegt Venedig im Wasser - das weiß man doch. Was soll also der Titel? Steinwendners 11-minütiger Film besteht nur aus Ansichten von Venedig, ohne Handlung, ohne Kommentar. Das Besondere: Die Stadt wird nicht direkt gefilmt, sondern als Reflexion im mehr oder weniger gekräuselten Wasser der Lagune und der Kanäle. So ergeben sich Bilder von leicht verzerrt bis völlig abstrakt. Die Kamera wurde dafür kopfüber gehalten, so dass die gespiegelten Bilder wieder aufrecht stehen. Einmal fiel die Kamera ins Wasser, aber sie konnte geborgen werden, und nach gründlicher Reinigung in den Arri-Werken in München konnte es weitergehen. Dass die poetischen Impressionen nicht ins Süßliche abgleiten, dafür sorgt auch die avantgardistische Musik, die von einem Eric Siday stammt, der wohl in den 60er Jahren ein Pionier auf frühen Modellen des Moog-Synthesizers war [siehe Update unten]. Die frühere Vorliebe Steinwendners für das nicht nur in WIENERINNEN eingesetzte Heliophon findet hier seine logische Weiterentwicklung. Die Einrichtung der Musik für den Film, also Tonschnitt etc., übernahm Steinwendners zweite Frau, die frühere Burgschauspielerin Antonia Mittrowsky. Der originelle und extravagante Film erhielt 1962 bei der Berlinale einen Silbernen Bären. Wie schon im Artikel über WIENERINNEN erwähnt, ist VENEDIG als Bonusfilm auf einer DVD enthalten, die als Beilage einer Monographie über Steinwendner erhältlich ist. Und jetzt sollen die Screenshots für sich sprechen.

UPDATE, Januar 2017: In den Credits von VENEDIG wird der Komponist "Eric Sidey" genannt (und so nannte auch ich ihn hier bis jetzt), im Steinwendner-Büchlein dagegen "Erik Sidey". Als ich den Artikel schrieb, habe ich mich darüber gewundert, dass ich so wenig über diesen Herrn zutage fördern konnte. Inzwischen kenne ich die Lösung: Beide Schreibweisen sind falsch, denn er hieß in Wirklichkeit Eric Siday. Er war in der Tat ein Pionier der elektronischen Musikerzeugung, der beispielsweise Musik zur Frühphase der Serie DR. WHO beisteuerte, der in seinen jungen Jahren aber auch ein fähiger Jazzgeiger war. Als Robert Moog im Oktober 1964 seinen ersten Synthesizer auf einer Tagung von Toningenieuren in New York vorstellte, wurden zwei der Geräte vom Fleck weg bestellt - der zweite Besteller war Eric Siday. Er besaß damals ein gut gehendes Tonstudio in New York, das elektronische Musik und Jingles für Radio- und TV-Werbung produzierte. Als der bestellte Synthesizer von Moog persönlich in Sidays Wohnung in Manhattan, die schon mit elektronischen Geräten vollgestopft war, abgeliefert wurde, bekam Sidays Frau einen hysterischen Anfall und schrie "Eric, more shit in this house!" - so erzählte es jedenfalls Moog in späteren Jahren. Der Soundtrack von VENEDIG entstand aber natürlich vorher, konnte also nicht mit einem Gerät von Moog produziert worden sein. Eine Auswahl von Sidays elektronischer Musik ist 2014 unter dem Titel The Ultra Sonic Perception auf CD und LP erschienen.

Nun aber endlich zu den Screenshots:










Dienstag, 3. Januar 2012

Neorealismus, Noir und Schund: WIENERINNEN

WIENERINNEN (Alternativtitel: SCHREI NACH LIEBE, WIENERINNEN IM SCHATTEN DER GROSSSTADT, VIER FRAUENSCHICKSALE, FÜNF FRAUENSCHICKSALE)
Österreich 1952
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)
Darsteller:
ANNI: Elisabeth Stemberger (Anni), Hans Lazarowitsch (Fritz), Hilde Rom (Annis Schwester), Maria Eis (Annis Mutter), Heinz Moog (Annis Vater)
HELENE: Edith Prager (= Edith Klinger, Helene), Karlheinz Böhm (Walter), Ilka Windisch (Edith)
GABRIELE: Helmi Mareich (Gabriele), Hans Putz (Paul Rosenauer), Rudolf Rösner (Hans Friedmann), Wolfgang Hutter (Maler)
OLGA: Margit Herzog (Olga), Kurt Jaggberg (Anton), Rudolf Rhomberg (Carlo), Ellen Umlauf (Vera)
THERESE (nicht mehr vollständig erhalten): Anni Weltner (Therese), Elfe Gerhart (Jacqueline), Rolf Wanka, Florl Leithner, Michael Toost

Anni (l.o.), Helene (r.o.), Gabriele (l.u.), Olga
Der Film beginnt mit Postkartenansichten Wiens: Der Stephansdom, Schloss Schönbrunn, weitere Sehenswürdigkeiten als Hintergrundbilder für die Credits, unterlegt mit Walzermusik. Doch das dient nur als vorab eingespritztes Kontrastmittel. Die Walzerklänge enden abrupt und gehen in merkwürdige elektronische Klänge über, und es wird von einer Statue auf das verzerrte Gesicht von Anni überblendet. Dazu ein Sprecher aus dem Off: "Anni war Ziegeleiarbeiterin im anderen Wien." Das "andere Wien" ist das Wien der schmucklosen Arbeiterviertel und der tristen Industrieanlagen an der Peripherie der Donaumetropole. "Die riesigen Fabriksanlagen mit ihren hochragenden Schloten, die Seilbahnen und Schwungräder, die Häuser der Arbeiter bilden eine eigene Stadt. Der rote Ziegelstaub bedeckt alles, auch das Brot, das dort gegessen wird." Damit ist die intendierte Grundstimmung des Films vorgegeben: Die des Neorealismus. Erzählt werden nun vier (ursprünglich fünf) unabhängige Episoden, die jeweils nach der weiblichen Hauptfigur benannt sind.

Für 1952 relativ viel Haut
Anni
Die lebenslustige und attraktive Anni ist Arbeiterin in einem Ziegelwerk. Sie beginnt ein Verhältnis mit Fritz, dem Sohn des Werkmeisters. Was jedoch außer Annis Mutter niemand weiß: Die Mutter, früher selbst Arbeiterin in der Ziegelei, wurde einst vom Werkmeister vergewaltigt, und Anni ist das Ergebnis davon - Anni und Fritz sind also Halbgeschwister. Dem Wahnsinn nahe, drängt die Mutter ihren Mann, einen dumpfen Saufkopf, die unselige Verbindung mit Gewalt zu unterbinden. Und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf ...

Helene
Helene leitet ein kleines Puppentheater für Kinder, mit dem sie in Wiener Schulen auftritt. Sie liebt den jungen Komponisten Walter, der auf einem Akkordeon das Kasperltheater begleitet. Doch Walter fürchtet, dabei zu versauern, statt seine Karriere voranzubringen. Als ihn die neue Kollegin Edith im Stil einer femme fatale umgarnt, widersteht er nicht lange, und er verlässt das Puppentheater. Helene, verzweifelt und nachts in einer Schule allein, spielt wie im Delirium mit ihren Puppen die Dreiecksgeschichte nach. Erst ein Schüler, der nächtens in die Schule einsteigt, um heimlich auf Walters Akkordeon zu spielen, holt sie in die Realität zurück.

Gabriele
Gabriele ist Aktmodell für Maler. Ihr Verlobter Hans wurde für einen Mord verurteilt, doch sie glaubt an seine Unschuld. Sie will einen gewissen Paul Rosenauer aufsuchen, einen Bekannten des Mordopfers, weil der etwas über den Mord wissen könnte. Unterdessen gelingt Hans bei einem Gefangenentransport auf einem verschneiten Bahnhofsgelände die Flucht. Als sich die Wege der drei Personen kreuzen, eskalieren die Ereignisse.

Olga
Olga ist Prostituierte in der Gegend eines Speicherhafens an der Donau. Doch sie sehnt sich nach der "reinen Liebe", und als ihr Carlo, der Kapitän eines Schleppers, das Angebot macht, mit ihm an Bord zu gehen, um ein neues Leben anzufangen, ist sie nicht abgeneigt. Doch ihr eifersüchtiger Zuhälter Anton kommt ihr auf die Schliche. Als Olga Carlos Angebot annimmt, will Anton sie in einem Getreidespeicher für immer verschwinden lassen.

Therese
In dieser nur mehr teilweise existierenden Episode geht es nicht um Mord und Totschlag oder sonstige Abgründe, sondern um Heurigenmusiker (zwei Komponisten tauschen untereinander ihre Sängerinnen aus, oder etwas in der Art). Laut zeitgenössischen Presseberichten soll die Episode recht kitschig gewesen sein, trotz des Bemühens, die üblichen Klischees der Heurigenseligkeit zu vermeiden.
Schräge Perspektiven, Ober- und Untersicht
WIENERINNEN ist eine hochinteressante, aber unausgegorene Mischung verschiedener stilistischer Mittel. Die sachlich-nüchterne Kameraführung des italienischen Neorealismus war Steinwendners Sache nicht. Im Gegenteil: Er und seine beiden Kameramänner (Walter Partsch filmte GABRIELE und THERESE, Elio Carniel die restlichen drei Episoden) griffen tief in die filmgeschichtliche Kiste. Viele Aufnahmen zeigen sehr ungewöhnliche Perspektiven, extreme Ober- oder Untersicht oder verdrehte Blickwinkel, die Kritiker zu Vergleichen mit dem Konstruktivismus veranlassten. Manche Sequenzen sind mit sehr beweglicher Kamera (möglicherweise Handkamera) realisiert, und dann gibt es wieder Szenen mit grellen Kontrasten von Licht und Schatten, die Regisseuren und Kameramännern des Film noir wie Robert Siodmak oder John Alton zur Ehre gereicht hätten, und die in den extremsten Ausprägungen gar an den Expressionismus der Stummfilmzeit heranreichen. Es war übrigens Steinwendners schon im Vorfeld explizit geäußerte Absicht, möglichst viel visuell zu erzählen und die Dialoge knapp zu halten. In der nächtlichen Szene mit Helene wird das naturkundliche Zimmer einer Schule als surreales Gruselkabinett inszeniert. Steinwendner und Carniel arbeiten hier nicht nur mit sehr harten Schlagschatten, sondern sie verwenden auch Unschärfefilter und verzerrende Linsen oder Spiegel. Der von Paul Kont und Gerhard Bronner geschriebene Soundtrack wurde zum größten Teil von dem Musiker und Erfinder Bruno Helberger auf dem von ihm konstruierten Heliophon (ein mit Vakuumröhren bestücktes elektronischen Instrument mit zwei Tastenmanualen) eingespielt. Besonders subtil ist diese Musik allerdings nicht - manchmal werden allzu aufdringliche Akzente gesetzt, auf dass der Zuseher einen dramatischen Höhepunkt auch ja nicht verpasse. Was damals sicher fremdartig und zukunftsweisend klang, wirkt auf mich heute eher altbacken.

Bilder wie aus einem Film noir
Nach der Premiere im Februar 1952 drosch die österreichische Presse auf den Film ein. Die Kritik richtete sich hauptsächlich gegen die Handlung der einzelnen Episoden, die tatsächlich über Kolportage nicht hinauskommt. Dramaturgie und Figurenzeichnung lassen doch sehr zu wünschen übrig. So gerät etwa Annis Mutter fast zur Karikatur einer Hexe, als sie zur Beute des Wahnsinns wird. Gelobt wurden dagegen die Kameraführung und merkwürdigerweise auch die Musik, sowie einige der Schauspieler. Es wurde allgemein abgestritten, dass Steinwendner den (auch schon im Vorfeld in Presse-Statements) behaupteten (neo-)realistischen Anspruch einlöste. Die konstruierte Pseudodramatik hätte mit dem Geist des echten Neorealismus nichts zu tun, wurde nicht zu Unrecht vorgebracht. "Bittere Ziegel" höhnten Kritiker, in Verballhornung von "Bitterer Reis", dem Klassiker von Giuseppe de Santis. Nicht nur der stilistische, sondern auch der tatsächliche Realismusgehalt des Films wurde angezweifelt. Die Ziegeleiarbeiter in ANNI sind Proleten, die in verdreckten Wohnungen hausen und sich nur mit Alkohol und Sex vergnügen. Gegen die Darstellung "schwelender Sinnenfreude" (so ein Vorbericht 1951) protestierte der Betriebsrat der Firma Wienerberger, auf deren Gelände am Laaer Berg ANNI gedreht wurde, schon während der Dreharbeiten und verwies auf soziale Errungenschaften wie Bildungseinrichtungen für die Arbeiter. Die Firmenleitung schloss sich dem an, drohte mit rechtlichen Schritten und verlangte eine Probesichtung der Episode, um ggf. imageschädigende Szenen entfernen zu lassen. Möglicherweise mit Erfolg, denn in einem Bericht im Spiegel vom Oktober 1951 ist von Ratten die Rede, die ich im Film bisher nicht erspähen konnte - vielleicht habe ich sie aber auch nur übersehen. Auch nach der Premiere giftete die Presse gegen die "Verleumdung" der Arbeiter, und mindestens ein linkes Blatt witterte darin eine reaktionäre Tendenz. Steinwendner dagegen beharrte darauf, die Realität abgebildet zu haben: "Aber es entspricht durchaus dem Eindruck, den ich schon beim ersten Besuch im Werk hatte. 3000 Menschen leben in dieser fast hermetisch vom übrigen Wien abgeschlossenen Gemeinschaft und heiraten meist untereinander. Und was die sinnliche Atmosphäre anbetrifft - eine originalgetreue Schilderung würde keine Zensur durchlassen. [...] Die Trinkerfamilie gibt es wirklich, davon hat mir der Volksbildungsreferent, der mich herumführte, gleich erzählt. [...] Im Ziegelwerk fand ich eben keine 'herzige' Heurigenparty, sondern ein bacchantisches Geburtstagstrinkgelage verschwitzter Arbeiterinnen."

Noir zum zweiten
Was die Presse ebenfalls übelnahm, war die für damalige Verhältnisse ziemlich freizügige Darstellung nackter Haut, die dramaturgisch kaum motiviert, also recht spekulativ war. Der Kritiker von Der Abend wetterte, "[...] treiben den Wiener Belzebub des seichten Heurigenkitsches mit dem ungleich bösartigeren Hollywooder Satanas des Schmutz- und Schundfilms aus" (dabei wären Darstellungen wie in WIENERINNEN in einem Hollywoodfilm von 1952 überhaupt nicht möglich gewesen), und fand das Ergebnis "niederschmetternd". Aber ungeachtet der übertriebenen Polemik erweist sich WIENERINNEN in der Handlung tatsächlich als ein Vorläufer des "Schundfilms" der 60er Jahre, wie er in seiner österreichischen Ausprägung etwa von Eddy Saller und Frits Fronz repräsentiert wurde. So bleibt ein zwiespältiges Fazit. Je nachdem, ob man dem Inhalt oder der formalen Gestaltung den Vorrang gibt, kann man WIENERINNEN als auf hohem Niveau gescheitert oder als gelungen mit kleinen Schönheitsfehlern betrachten. Wie auch immer - mit seinem ungestümen Kunstwillen und seinem zeitgeschichtlichen Nährwert ist der Film allemal interessanter und sympathischer als fast alles, was Steinwendners Mainstream-Kollegen von Franz Antel bis Ernst Marischka in den 50er Jahren hervorbrachten.

Edith (Ilka Windisch, l.o.), ein Maler (Wolfgang Hutter), Vera (Ellen Umlauf, unten)
Die Initiative zu WIENERINNEN ging nicht von Steinwendner, sondern vom Produzenten Ernest Müller aus. Inspiriert wurde Müller wahrscheinlich von Harald Röbbelings ASPHALT (1951), der ebenfalls in fünf Episoden und in neorealistischem Gestus (und mit Walter Partsch an der Kamera) das Abgleiten von Jugendlichen in Prostitution und Kriminalität schildert. Ursprünglich sollte jede Episode von WIENERINNEN von anderen Autoren und Regisseuren gestaltet werden. Aber die eingereichten Bücher von Steinwendners Mitbewerbern waren wohl nicht besonders brauchbar, und nachdem er ANNI abgedreht hatte, bekam er auch den Auftrag für den restlichen Film. Laut Credits hatte August Rieger die "künstlerische Oberleitung" der Dreharbeiten. Was das genau bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht war er nur Ernest Müllers Aufpasser, der dafür sorgte, dass Steinwendner das äußerst knapp bemessene Budget nicht überzog. Jedenfalls war Rieger nicht nur durch langjährige künstlerische Zusammenarbeit mit Müller verbunden, er war auch Prokurist in dessen Produktionsfirma. Gedreht wurde fast nichts im Studio, sondern an Originalschauplätzen - neben dem Laaer Berg (ANNI) etwa am Franz-Josefs-Bahnhof (GABRIELE), am Alberner Hafen und dem nahegelegenen "Friedhof der Namenlosen" (OLGA). Zur Kostenersparnis trug auch bei, dass neben einigen schon arrivierten Schauspielern viele Nachwuchsdarsteller verplichtet wurden - so hatten Elisabeth Stemberger (eine Tante zweiten Grades von Julia und Katharina Stemberger) und Kurt Jaggberg ihren ersten Filmauftritt, und auch Karlheinz Böhm spielte eine seiner ersten Rollen. In neorealistischer Manier wurden auch Laiendarsteller eingesetzt.

ANNI (l.o. Maria Eis und Heinz Moog als Annis Eltern)
Bei der Premiere im Februar 1952 wurden gar nicht alle fünf Episoden gezeigt, sondern nur ANNI, OLGA, GABRIELE und THERESE (in dieser Reihenfolge, die von der heutigen abweicht). Warum HELENE damals fehlte, ist mir nicht bekannt, ebenso, wann und warum THERESE (von dem es noch ein Fragment geben soll) entfernt wurde. Die diversen Alternativtitel des Films legen jedenfalls nahe, dass er eine etwas verworrene Schnitt- und Aufführungsgeschichte hinter sich hat. Ein Presseartikel von 1954 behauptet, dass nur auf Drängen des Produzenten eine Heurigenepisode (also THERESE) aufgenommen wurde. Steinwendner behauptete dagegen zumindest damals, dass WIENERINNEN "in völliger Harmonie" mit Müller entstanden sei. Vielleicht war es trotzdem er, der THERESE irgendwann loswerden wollte.

HELENE - Karlheinz Böhm in einer frühen Rolle
Kurt Steinwendner (1920-92) war ursprünglich Maler und Bildhauer. Er gehörte zur dynamischen Avantgarde-Szene junger Künstler, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien um ein paar ältere Leitfiguren wie Albert Paris Gütersloh (bei dem Steinwendner studiert hatte) formierte. Seinen ersten Film DER RABE (1951) drehte Steinwendner zusammen mit dem Psychologen, Fotografen und späteren Journalisten Wolfgang Kudrnofsky. Es handelt sich um eine 14-minütige avantgardistische Interpretation von Edgar Allan Poes Gedicht. DER RABE markiert den Beginn des österreichischen Nachkriegs-Experimentalfilms, der sich mit Regisseuren wie Ferry Radax und Peter Kubelka zu beachtlichen Höhen aufschwang. Nach WIENERINNEN drehte Steinwendner mit FLUCHT INS SCHILF (1953) einen weiteren bemerkenswerten Spielfilm. Es folgten noch eine Reihe von Kurzfilmen, wie der experimentelle Tanzfilm GIGANT UND MÄDCHEN (1955), die preisgekrönte Impression VENEDIG (1961), und diverse Werbe- und Industriefilme. Aber in den 60er Jahren wandte er sich zunehmend der Objektkunst zu und feierte damit Erfolge. 1969 nahm er offiziell das Pseudonym Curt Stenvert an, das schon 16 Jahre zuvor jemand für ihn erfunden hatte. Unter diesem Namen wurde er auch international zu einer anerkannten Größe im Kunstbetrieb. Sein letzter Film VORSTOSS INS NIEMANDSLAND ist eine Art Selbstportrait des Künstlers Stenvert. Seit 1977 lebte und arbeitete er in Köln, wo er auch starb. Während der Künstler Stenvert Erfolge feierte, geriet der Regisseur Steinwendner etwas in Vergessenheit. Das lag auch daran, dass WIENERINNEN lange als verschollen galt. Aber 1989 wurde eine wieder aufgefundene und in der jetzigen Form rekonstruierte Kopie vom Filmarchiv Austria präsentiert und wenig später vom ORF in der Reihe "Kunststücke" ausgestrahlt, wodurch der Regisseur und sein Film auch einem breiteren Publikum zugänglich wurden.

GABRIELE (oben Rudolf Rösner als Hans, r.u. Hans Putz als Paul Rosenauer)
WIENERINNEN ist mit DER RABE als Bonusfilm in der vorbildlichen DVD-Reihe "Der österreichische Film" erschienen. In den letzten Wochen bekam die Rezeption von Steinwendner/Stenvert neuen Schwung: Das Filmarchiv Austria veranstaltete im November und Dezember eine Retrospektive seiner Filme, parallel dazu läuft noch bis Mitte Januar im Wiener Schloss Belvedere eine Ausstellung, die sich dem Objektkünstler Stenvert widmet, und im November erschien erstmals eine Monographie über Steinwendner - vielleicht wird darin ja etwas Licht in die mysteriöse Geschichte von WIENERINNEN nach der Premiere gebracht. Das Büchlein enthält als Beigabe eine DVD mit WIENERINNEN, die nicht mit der aus der Edition "Der österreichische Film" identisch ist, denn statt DER RABE sind andere Kurzfilme Steinwendners als Bonus enthalten.

OLGA (r.o. Rudolf Rhomberg als Carlo, unten Kurt Jaggberg als Anton)
UPDATE, 8. Januar:
Ich konnte nicht widerstehen und hab mir das Büchlein (160 kleinformatige Seiten) über Steinwendner besorgt. Allein schon wegen der DVD hat es sich gelohnt. Das Fragment von THERESE mit einer Länge von immerhin neun Minuten ist als Bonus enthalten. Anscheinend handelt es sich um die kompletten letzten neun Minuten der Episode. Und ja - sie ist kitschig. Sie, und damit ursprünglich der ganze Film, endet sogar mit einem Schwenk über liebliche Weinberge vor den Toren Wiens, was ja den restlichen Film völlig konterkariert. Steinwendner bestätigt auch in einem Interview von 1989, das im Buch abgedruckt ist, dass ihm THERESE von Ernest Müller aufgenötigt wurde. HELENE wurde bei der Premiere nicht gezeigt, weil es diese Episode da noch gar nicht gab. Sie war in Steinwendners Drehbuch vorhanden, wurde aber von Ernest Müller zugunsten seines Heurigen-Schmarrns abgelehnt. Als nach der Premiere die Kritiken zu THERESE besonders negativ waren, sah Müller seinen Fehler ein, und Steinwendner erhielt den Auftrag, HELENE als Ersatz nachzudrehen. Gelegentlich wurde der Film dann aber auch mit allen fünf Episoden gezeigt, wie deutsche Pressekritiken von 1953 belegen, und wie ja auch der Alternativtitel FÜNF FRAUENSCHICKSALE schon nahelegte. Steinwendner hatte damit nichts mehr zu tun. Nachdem er den Film ablieferte, lagen alle Rechte bei Müller, mit dem sich Steinwendner auch bald verkrachte. Tatsächlich sah er WIENERINNEN nach 1952 erst 1989 in der rekonstruierten Fassung wieder.

THERESE: l.o. Anni Weltner als Therese, r.o. Elfe Gerhart als Jacqueline,
unten ganz rechts Michael Toost
Die DVD zum Buch enthält außer WIENERINNEN und dem Fragment von THERESE noch ALFRED KUBIN - ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER (1955) - ein eigenwilliges 12-minütiges Portrait des Zeichners - und WAS WÄRE OHNE..?! (1957) - eine sehr schräge 13-minütige Auftragsarbeit, die Propaganda für den Ausbau der Wasserkraft in Österreich macht (u.a. mit Helmut Qualtinger in Mini-Rollen wie ein singender Cowboy, Hans-Moser-Imitator und japanischer Judo-Kämpfer!). Höhepunkt neben WIENERINNEN ist aber VENEDIG, dem ich deshalb eine Kurzbesprechung spendiere.

Sonntag, 31. Juli 2011

Bundesrat von Steigers Boot - Gedanken zum Schweizer Nationalfeiertag (1. August)

Das Boot ist voll
(Das Boot ist voll, Schweiz/Deutschland/Österreich 1980-1981)

Regie: Markus Imhoof
Darsteller: Tina Engel, Hans Diehl, Martin Walz, Curt Bois, Mathias Gnädinger, Michael Gempart, Renate Steiger u.a.

Es gibt “blumige” Umschreibungen, die nie hätten gemacht werden dürfen, weshalb sie, die niedrige Gesinnung Einzelner, einer ganzen Gesellschaftsgruppe oder gar einer Nation entlarvend, mit Recht in pointierter Form Eingang in die Geschichtsbücher finden. Zu diesen Umschreibungen gehört ein Vergleich, mit dem Bundesrat Eduard von Steiger 1942 einen folgenschweren Bruch mit der traditionellen Flüchtlingspolitik der Schweiz  zu rechtfertigen versuchte: “Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er sie nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt...”

Worum ging es?  - Die Schweiz, stolz auf ihre “humanitäre Tradition”, die sie seit Jahrhunderten verpflichtete, politisch oder religiös Verfolgten ein Ort der Zuflucht zu sein,  gewährte auch zwischen 1939 und 1945 über 28 000 Juden meist vorübergehend Asyl. Doch viele Tausende hätten noch vor dem sicheren Tod gerettet werden können, wäre dies nicht von zwei fremdenfeindlich und vor allem antisemitisch gesinnten Juristen verhindert worden.  Am 13. August 1942 erliess Heinrich Rothmund, Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, der schon 1919 vor einer “Verjudung” der Schweiz gewarnt hatte, eine totale Grenzsperre für Flüchtlinge. Sein Vorgesetzter Eduard von Steiger lockerte nach Protesten aus der  Bevölkerung zwar bald darauf diese Sperre, sorgte aber de facto dafür, dass Juden bis 1944 nicht als politische, sondern lediglich als “Flüchtlinge aus Rassengründen” galten, was kein ausreichender Grund für eine Aufnahme in der Schweiz darstellte. Seine Begründung: das Boot Schweiz sei überfüllt. - Privatpersonen wie der St.Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger und einzelne Organisationen verhalfen dennoch Juden zur Einreise; im Ganzen spielten aber der Nazi-freundliche Bundesrat von Steiger und sein willfähriger Angestellter der vorherrschenden antisemitischen Stimmung in der Schweiz in die Hände. Die Zahl der Flüchtlinge, die gleich an der Grenze wieder abgeschoben und von deutschen Spezialeinheiten nach Osten deportiert wurden, ist umstritten. Es waren an die 30 000. - Nazi-Bundesrat Eduard von Steiger aber blieb bis zum Jahre 1951 im Amt. Und die Schweiz musste zwar während des Zweiten Weltkrieges auf vieles verzichten, kam aber dank ihrer "guten Beziehungen" zum Mann mit dem Schnauzbart im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gut davon, hätte also trotz des Geschreis, das die Kriegsgeneration nach Veröffentlichungen historischer Untersuchungen jeweils wie eingeübt anstimmte, problemlos noch Platz für viele verfolgte Juden im angeblich überfüllten Boot gefunden.

1967 veröffentlichte der Schweizer Journalist Alfred A. Häsler, der schon während des Weltkriegs gegen die Nationalsozialisten angeschrieben und Flüchtlingsbewegungen unterstützt hatte, eine wegweisende Darstellung zur Schweizerischen Flüchtlingspolitik, der er den Titel “Das Boot ist voll” gab und die zum Entsetzen der damaligen Regierung Betroffenheit auslöste, weil sie menschliche Schicksale ins Zentrum rückte. Häslers Buch regte den Schweizer Regisseur Markus Imhoof zu einem Film an, der sich, an Marvin J. Chomsky’s Fernsehfilm “Holocaust” (1978) anschliessend, mit der Vergangenheit des eigenen Landes auseinandersetzen sollte:

Im Kriegssommer 1942 gelingt einer sechsköpfigen zusammengewürfelten Häftlingsgruppe, darunter ein desertierter Soldat und ein Junge, der nur französisch spricht, die Flucht aus einem deutschen Transportzug, der durch die Schweiz fährt. Anführerin der Entkommenen ist die Jüdin Judith, deren Mann bereits als internierter Flüchtling in der Schweiz lebt. - Man findet Unterschlupf in einem Landgasthof, dessen Besitzer zwar wenig begeistert sind, ihnen aber vorläufig das Waschhäuschen als Versteck anbieten. Während der ruppige Wirt Franz gleich nach dem Dorfpolizisten schicken lässt, sich  letztlich aber nach anfänglichem Misstrauen doch der Entflohenen annimmt, sucht seine Frau Rat beim Dorfpfarrer, der ihr den Hinweis gibt, dass Eltern mit Kindern nicht ausgewiesen werden dürfen. Also wird aus den sechs Fremden flugs eine Familie konstruiert, und mit etwas Komplizenschaft einiger Dörfler wird durch Rollen- und Kleidertausch ein Verstellspiel organisiert, das anfänglich zu funktionieren scheint. Bald wird den “ausländischen Schmarotzern”, über die die wildesten Gerüchte kursieren (jede vorübergehend verschwundene Katze wurde angeblich von ihnen gemetzget),  jedoch mit unverhohlener Ablehnung begegnet - und der Polizist waltet buchstabengetreu seines Amtes. Die Gruppe wird zurück zur deutschen Grenze eskortiert, wo sie der Tod im Konzentrationslager Treblinka erwartet.

“Das Boot ist voll”, dem der Bund einen Förderungsbeitrag verweigerte, ist sicher nicht grosses Kino; man kann ihn nicht einmal als Imhoofs besten Film bezeichnen. Trotz einzelner herausragender schauspielerischer Leistungen (Mathias Gnädinger wirkt als bärbeissiger Naturschweizer ebenso überzeugend wie Tina Engel als zu allem entschlossene jüdische Frau, die zu ihrem Mann will) mutet das im Schaffhausischen aufgenommene Drama  über weite Strecken leider doch wie gut gemeintes Volkstheater an. Dies mag teils am Drehbuch liegen, teils auch an dessen filmischer Umsetzung. Dass “Das Boot ist voll” 1982 eine Oscar-Nominierung als bester fremdsprachiger Film erhielt, ist deshalb eher dem Thema und seiner ehrlichen, geradezu nüchternen Aufarbeitung zuzuschreiben als künstlerischer Grösse. Der ebenfalls um Aufarbeitung bemühte, jedoch wesentlich bessere Film “Reise der Hoffnung” (1990) von Xavier Koller, der sich  den Oscar dann auch tatsächlich holte, scheint diese These zu bestätigen - was Schweizer, die sich Auszeichnungen für Kuschelfilme wie “Vitus” (2005) oder “Die Herbstzeitlosen” (2006) erhofften, zum Nachdenken anregen sollte.

Dass Imhoofs Film trotz seiner Schwächen heute noch geradezu beängstigend aktuell wirkt, hat mit einem hasserfüllten Zeitgeist zu tun, der seit den 50er Jahren die Geschichte der Schweiz trotz aller Aufklärung durchzieht und sich  immer wieder bemerkbar macht, wenn Ausländer angeblich das "Boot" zu überfüllen scheinen. In den 50er Jahren waren es die Italiener, die man als Gastarbeiter geholt hatte und die sich, ihre Familien mit sich bringend, plötzlich bei uns niederliessen (Max Frisch meinte dazu: “Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen”). Später waren es Spanier und Türken, die all die Arbeiten verrichteten, an denen sich die Schweizer die Finger nicht dreckig machen wollten - und denen man im Gegenzug sämtliche hier begangenen Verbrechen anlastete. Als dann Tamilen und Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien bei uns anklopften, durften sie, ungeachtet ihres tatsächlichen Lebenswandels, die Rolle des Verbrecher-Kollektivs, das die saubere Schweiz übervölkerte und verludern liess, übernehmen. Selbst einem anständigen Krankenpfleger, dessen Name auf -ic endete, wurde die Einbürgerung verwehrt.

Mittlerweile können wir die Männer aus Angola, Nigeria oder Algerien, die mit dem Vorsatz in unser Land kommen, hier zu delinquieren, tatsächlich nicht mehr unter Kontrolle halten. Dass dem so ist, verdanken wir jener Partei, die lauthals gegen sämtliche Ausländer anschreit, statt zwischen echten Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden; die lediglich der Machterhaltung eines alten Milliardärs ohne Schnauzbart, aber mit Froschmaul dienenden  Stimmenfang mit Ausländerhass betreibt - und deren drei Buchstaben man hier nicht mehr nennen muss, werden doch ihre Plakatkampagnen gerne von den rechtsextremen Parteien anderer Länder übernommen. Diese Partei argumentiert nicht mehr mit dem überfüllten Boot, obwohl sie, wenn es nicht gerade um steinreiche Ausländer geht, denen man Steuererleichterungen gewährt, gerne auf die "Übervölkerung" hinweist; sie findet neue, entschieden weniger “blumige” Umschreibungen: schwarze Schafe, die man mit einem Tritt in den Arsch aus der Schweiz hinausbefördert, Minarette, die das drohende Aussehen von Mittelstreckenraketen erhalten oder ausländische Verbrecher, die das Schweizer Kreuz auseinanderreissen. - Und sie hat damit Erfolg, was einiges über die seit dem Zweiten Weltkrieg unveränderte Gesinnung vieler Schweizer aussagt...