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Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

Sonntag, 3. Juni 2012

Leben wie Gott im Herzogtum Burgund

Blockade in London
(Passport to Pimlico, Grossbritannien 1949)

Regie: Henry Cornelius
Darsteller: Stanley Holloway, Betty Warren, Barbara Murray, Paul Dupuis, John Slater, Jane Hylton, Raymond Huntley, Philip Stainton, Margaret Rutherford u.a.

Obwohl die Ealing Studios im Westen Londons einer langen und wechselhaften Geschichte ausgesetzt waren, bringt man sie vor allem mit ein paar Nachkriegskomödien in Zusammenhang, die unter der Leitung von Michael Balcon entstanden. Diese Komödien - es waren 17, um genau zu sein - werden auf diffuse Art als „deeply British“ empfunden, was auch die an Verehrung grenzende Einstellung erklärt, die ihnen Engländer noch heute entgegenbringen. Es fällt allerdings schwer, dieses angeblich typisch Britische in Worte zu fassen, haben wir es doch keineswegs mit einer homogenen, sich gegenseitig beeinflussenden Reihe zu tun. Manche wollen es in einer durchgehenden Feier der Gemeinschaft, die leicht exzentrisch erscheinend zusammenfindet, erkennen. Kritiker verweisen denn auch nostalgisch gestimmt auf die „Ealing tradition“, wenn sie von späteren Filmen sprechen, in denen auf harmlos-humorvolle Weise ein Gemeinschaftsgefühl beschworen wird: von „Local Hero“, 1983, über die von mir an anderer Stelle erwähnten Komödien, die an „The Full Monty“, 1997, anschliessen  - bis zu „Attack the Block“, 2011. Alleine schon die ultimative Ealing Comedy, „Kind Hearts and Coronets“ (1949), in der sich ein verarmter Aristokrat durch seine ganze Verwandtschaft mordet, zeigt jedoch, dass dieser durchgehend harmlose Humor wohl eher dem Wunsch entspringt, Ealing als „point of reverence“ für "gemütliche" Komödienmacher zu bestimmen, beinahe zwanghaft an die grosse Ealing-Zeit zu erinnern. 


Wer verstehen will, was so bezeichnend für diese Ealing Comedies ist, muss sie einerseits wohl oder übel als Produkte der späten 40er und 50er-Jahre akzeptieren, andererseits aber auch die Philosophie der Ealing Studios unter der Ägide des Patriarchen Michael Balcon berücksichtigen: Während des Zweiten Weltkriegs und kurz darauf entstanden abgesehen von ein paar verfilmten Lustspielen kaum britische Komödien. Der dominierenden Rank Organisation lag vielmehr daran, mit aufsteigenden Filmemachern Werke zu drehen, die internationalen Ansprüchen genügen sollten („Great Expectations“, 1946, „The Red Shoes“, 1948, „The Third Man“, 1949, und andere). Erst Ende der 40er Jahre kam Balcon, der die kleinen, eher auf „bescheidenere“ Kriegsfilme spezialisierten Ealing Studios 1938 übernommen hatte, auf die Idee, sich mit finanzieller Unterstützung von Rank in verschiedenen Genres zu versuchen. Die Atmosphäre bei Ealing galt als familiär (man sprach vom „studio with the team spirit“), es wurden stets die gleichen Techniker und Drehbuchautoren beschäftigt. Vor allem bemühte man sich aber auch um neue Talente, und zu diesen Talenten gehörten begabte Komiker, die sich nach dem Niedergang der Music Halls gerne der Ealing-Familie anschlossen. Komödien, die ebenfalls Weltruhm erlangen sollten, waren die Folge. Und die meisten dieser Komödien (abgesehen von den Filmen die mit dem neuen Star Alec Guinness aufwarteten) ermöglichten es einem ganzen Ensemble, mit seinem humoristischen Können zu glänzen. 

Michael Balcon, durchaus ein komplexer Produzent, war vor allem daran interessiert, der Wirklichkeitsflucht Hollywoods Filme entgegenzusetzen, die sich auf subversive Weise, wenn auch nicht aufdringlich, mit einem Stück Wirklichkeit auseinandersetzten, einen politischen Subtext einbrachten. Er sprach in diesem Zusammenhang gern von einer "mild revolution", die seine Produktionen auszeichnen sollte. Was er damit meinte, erklärte er einmal in einem Interview: "By and large we were a group of liberal-minded, like-minded people... we were middle-class people brought up with middle-class backgrounds and rather conventional educations...we voted Labour for the first time after the war: that was our mild revolution." - Man kann von einer leichten politischen Dimension reden, die sich in den Ealing Comedies Raum verschafft, manchmal beängstigende Vorstellungen entwickelnd (etwa in "The Man In the White Suit", 1951), oft einfach die sture Torheit der (Nachkriegs-)Regierung, der so leicht beizukommen war, auf die Schippe nehmend - aber nie auch nur annähernd so anarchisch wirkend wie  Monty Python, die in den 70ern mit einer zeitgemässen Kombination von Humor mit politischem Subtext antraten.  - Die Ealing-Komödien mögen dem heutigen Zuschauer wie auch die angeblich in ihrer Tradition stehenden Filme oft etwas harmlos und veraltet vorkommen. Wer sich aber die vielen "Doctor"- und "Carry On"-Filme vor Augen hält, die die britischen Zuschauer nach dem Verkauf der Ealing Studios in der zweiten Hälfte der 50er Jahre "erfreuen" sollten, wird sie zu schätzen wissen. Und er erkennt vor allem auch: Sie stecken voller Humor, der auf eigenartige Weise  nur wirkt, weil er von sich scheinbar ernst nehmenden Briten dargeboten wird. 


"Passport to Pimlico" wird gerne als "the most Ealingish of Ealing comedies" bezeichnet, und dies ist vielleicht der Grund, weshalb der Film ausserhalb Englands wenig bekannt ist und seine Gags auch von jüngeren Briten nicht ohne Erläuterungen verstanden werden. Er spielt im unmittelbaren Nachkriegs-London mit seiner übertriebenen Bürokratie, aus der sich ein paar Menschen unerwartet  befreien zu können glauben: Während einer britisch-steifen Sitzung, in der es um die Errichtung eines mit Swimming Pool ausgestatteten Kinderspielplatzes an einer vom Krieg zerstörten Stelle im Londoner Stadtteil Pimlico geht, lassen ein paar sich herumtreibende Knaben das Rad eines Traktors in ein Loch rollen und lösen eine Explosion aus. Denn im Loch befand sich eine Luftwaffe-Bombe aus dem Krieg, die nun unerwartet ein Kellergewölbe freilegt, in dem man nicht nur uralten Schmuck entdeckt, sondern auch eine Kassette mit einem Dokument. Dieses Dokument erweist sich, wie die Geschichtsprofessorin Hatton-Jones wort- und gestenreich erläutert, als authentischer und nie widerrufener Freibrief, in dem König Edward IV. (1442-1483) einen Strassenzug Pimlicos an Karl den Kühnen als burgundisches Gebiet abgetreten hatte, als dieser dort Zuflucht suchte. - Die Bewohner des Strassenzugs bemerken rasch, dass sie als „echte Burgunder“ den oft mühsamen Schikanen der Regierung, aber auch der Lebensmittelrationierung entkommen können – und bald jauchzt sogar der einzige Bobby des Distrikts: „Blimey, I’m a foreigner.“ – Doch Whitehall reagiert auf die Freiheiten, die sich der unerwartete Nachbarstaat mitten in London nimmt, keineswegs mit Begeisterung. Und als dann auch noch der Schwarzhandel dort zu blühen beginnt, entschliesst man sich zu einer Blockade des Stadtteils inklusive Grenzschliessung und Stacheldraht. Die Burgunder in London wiederum reagieren mit einer Passkontrolle der U-Bahn-Passagiere an ihrer „Grenze“. Man schaukelt sich gegenseitig hoch, bis sich eigentlich keine Partei mehr in ihrer Situation wohl fühlt. Dann erscheint auch noch der echte, äusserst gut aussehende Herzog von Burgund auf der Bildfläche und bringt die bislang typisch englisch ablaufenden Liebesgeschichten mit seinem europäischen Charme durcheinander…

T.E.B. Clarke widmete sich im ersten und angeblich besten seiner sechs Drehbücher für Ealing Comedies der Sehnsucht, an einem anderen Ort als England zu sein, zeigte aber auf lustige und deshalb nicht übermässig konservativ wirkende Weise auf, wohin die damit verbundene Freiheit ohne Verantwortung seiner Meinung nach führe: zum Bedürfnis, doch wieder Teil dieses geordneten Englands zu werden. Die ersehnte Ferne wird schon in den einleitenden Bildern auf raffinierte Weise heraufbeschworen: Ein weiss gekleideter Mann tritt zu mediterraner Musik an sein Fenster und blickt auf einen Sonnenschirm, unter dem jemand ruht, während sich eine Frau im Badekleid in der Sonne räkelt. Erst das Heraufziehen des Sonnenschutzes über einem Geschäft zeigt, dass sich der Zuschauer nicht am Mittelmeer befindet, sondern mitten im alltäglichen London, das, man glaubt es kaum, einer Hitzewelle ausgesetzt ist. Es mag auch an dieser Hitze liegen, dass sich sowohl die zukünftigen Burgunder auf Zeit als auch Whitehall („Technically, these Burgundians are aliens.“) unfähig zeigen, mit der Entdeckung des Dokuments umzugehen oder zu vernünftigen Lösungen zu gelangen. – Der Übermut bricht in einem neo-burgundischen Pub aus, wo man plötzlich auf die Idee kommt, man müsse sich nicht an die von der Regierung verordneten Öffnungszeiten halten. Als Polizist P.C. Spiller, der bald in einer eleganten weissen Uniform für „burgundische“ Bobbies herumlaufen wird, für Ordnung sorgen will, fordert man ihn auf, sich doch auch noch ein Bierchen zu genehmigen. Und um den Abend mit einem Höhepunkt abzuschliessen, verbrennt und zerreisst man die 1938 eingeführten, unbeliebten Identitätskarten (ähnlich verhielt sich 1950 ein Mann namens Clarence Henry Willcock, der sich mit der frechen Ausrede „I am a Liberal, and I am against this sort of thing“ weigerte, seine Karte zu zeigen und als letzter zu einer Strafe von zehn Schilling verdonnert wurde). 


Von nun an kennen beide Seiten keine Gnade mehr. Die Burgunder suhlen sich im Schwarzmarkt, und Whitehall stellt ihnen im Gegenzug Wasser und Elektrizität ab. Gegnerische Autos streiten sich via Lautsprecher, während Pimlico vom Wunsch nach einer „politischen“ Ordnung in seinem Burgund ergriffen wird.  Doch die Frage, wer denn eigentlich das Sagen haben solle, führt zu einem weiteren Chaos. Am Ende wird der Geschäftsführer und Entdecker des Dokuments Arthur Pemberton zum „Prime Minister“ nach britischem Vorbild ernannt. Denn im Grunde genommen möchte man, wie es Pemberton’s Frau sehr britisch auf den Punkt bringt, Engländer und Burgunder zugleich sein, die Vorteile beider „Nationalitäten“ geniessen: „We always were English, and we'll always be English, and it's just because we are English that we're sticking up for our rights to be Burgundians!“ – Und alle sich überschlagenden Geschehnisse werden von Journalisten verfolgt, teilweise sogar angeheizt. Die immer wieder eingeblendeten Schlagzeilen diverser Zeitungen zeigen, dass die Presse Grossbritanniens schon vor Rupert Murdoch Einfluss zu nehmen verstand. Höhepunkt des Films ist eine Wochenschau, die sich ein paar Jungs aus Pimlico in einem Kino anschauen und die dem Motto „The Siege of Burgundy“ folgend nicht nur die heldenhaften Bewohner Pimlicos sondern auch reale Gestalten wie Winston Churchill (dessen Reden für diverse harmlose Gags herhalten mussten) vorstellt und mit britischem Understatement wie „Water is cut up, but liquor makes, too“ glänzt.
"Passport to Pimlico" lebt vor allem vom Spiel einst in ganz England bekannter Komiker wie Stanley Holloway, John Slater und Philip Stainton, die als stereotype Figuren für Humor sorgen. Und allein schon die in einer Nebenrolle auftretende Margaret Rutherford als ebenso neugierige wie taktlose Professorin (die Rolle sollte ursprünglich von einem Mann gespielt werden), die den Herzog von Burgund fragt, ob er Bluter sei, lohnt eine Sichtung. Ansonsten vermag die Geschichte mit ihren kleinen Anspielungen auf die Blockade Berlins heute nur noch stellenweise zu begeistern. Sie folgt vielleicht zu sehr Michael Balcon’s Philosophie einer „mild revolution“ – und legt die Betonung auf „mild“. Das scheinbar in Anarchie mündende Aufbegehren der Möchtegern-Burgunder ist von einer Nostalgie durchzogen, die nicht nur einem England gilt, sondern sogar einem England während des Kriegs, als Zusammengehörigkeit noch gelebt wurde. Diese Zusammengehörigkeit wird gegen Ende des Films gefeiert, als die eingeschlossenen Burgunder mit Unmengen von Lebensmittel-Paketen beliefert werden. Ein von einem Hubschrauber herabgelassenes Schwein, das in der Luft fliegt, deutet aber zugleich das rein Illusorische der heraufbeschworenen Stimmung  an, verweist es doch auf das Idiom „when pigs fly“ (das geschieht, wenn Schweine fliegen, also nie). – Balcon liebte diese „Was wäre wenn?“-Geschichten, die gelegentlich für harmlose Lacher sorgten, aber nicht immer ihre Zeit zu überdauern vermochten - weil sie dem "Was wäre wenn" gar nicht ernsthat nachgingen, es nicht ausloteten. – Ich hatte neulich Gelegenheit, mich mit einem Filmfreund über ein Phänomen zu unterhalten, das wir alle kennen: Wir schauen uns einen Film an, der weitum als Klassiker gefeiert wird – und sind leicht von ihm enttäuscht. „Passport to Pimlico“ gilt zumindest in England als kleiner Klassiker; mir bereitete er längst nicht das erwartete Vergnügen. Ich verstehe, dass er mehr an seine Zeit gebunden ist als zum Beispiel die grossen Ealing Studio Comedies mit Alec Guinness. Aber daran allein kann es nicht liegen. Hat es vielleicht mit der verpassten Chance zu tun, einem anarchischen Aufbegehren sein Anarchisches wenigstens teilweise zu lassen? Verliess man sich zu sehr auf die schrulligen Typen und machte  aus der Idee mit Potential das, was oft mit dem Beiwort „charming“ versehen wurde?  --- Und doch kommt man nicht umhin, an die witzelnden Filme zu denken, die England in der zweiten Hälfte der 50er heimzusuchen begannen und muss zugeben: Man hat es mit einer schätzenswerten, wenn auch zu harmlosen kleinen Komödie zu tun.

Dienstag, 28. Februar 2012

Mr In-Between

A Murder Ballad (Alternativtitel: Mr. In-Between)
(Mr In-Between, Grossbritannien 2001)

Regie: Paul Sarossy

Wir alle lassen uns gelegentlich zum Kauf eines angeblichen Geheimtipps verleiten, der gerade verdächtig günstig zu haben ist. Üblicherweise stellen wir dann rasch fest, dass wir unser Geld verschwendet haben. In seltenen Fällen hat man aber wirklich einen Geheimtipp entdeckt. Die einzige Regiearbeit des Kameramannes Paul Sarossy, der sich unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit Atom Egoyan einen Namen machte, buhlte - wie ich später herausfand - als “Geheimtipp des Fantasy Filmfests 2002” nicht nur in Deutschland, sondern auch im englischsprachigen Raum gleich mit zwei verschiedenen Titeln (“The Killing Kind”) vergeblich um Anerkennung, schien also eine meiner Fehlinvestitionen zu sein. - Und doch lässt der Film mich auch nach der dritten Sichtung verwirrt und unentschlossen zurück. Die beiden Seelen, die in meiner Brust um ihn kämpfen, tauchen freilich in Foren ebenfalls auf, scheinen sogar “Rotten Tomatoes” in Beschlag genommen zu haben - und aus diesem Grund ist die DVD wohl noch nicht längst im Müll gelandet, sondern darf sich auf weitere “Annäherungen” gefasst machen:


Jon ist ein eiskalter Auftragskiller, der seinen Beruf mit einer geradezu pedantischen Gewissenhaftigkeit ausübt und seinem Auftraggeber, der sich als sein Lehrer und zweiter Vater aufführt, vollkommen ergeben ist. Die einzige oberflächliche Verbindung zu einer Welt, die nicht mit Mord oder (Drogen-)Schlaf in seiner ebenfalls pedantisch gereinigten weissen Wohnung zu tun hat, sind zwei Kumpel, mit denen er sich wie ein harmloser Versicherungsvertreter gelegentlich im Pub trifft. Doch dann begegnet er eines Tages einem alten Klassenkameraden und dessen Frau, in die er einst verliebt war. Der Wunsch, seiner bizarren Welt wenigstens gelegentlich zu entkommen und mit normalen Menschen zusammen zu sein, nimmt überhand. Dies macht ihn aber zu einer Gefahr für seinen Boss, der die heile Welt, die seinem Killer Zuflucht gewährt, in seine Zerstörungswut miteinbezieht und Jon am Ende nur die Auswahl zwischen zwei Möglichkeiten lässt: gestossen zu werden oder selber zu springen.


Die Geschichte des Berufskillers, der aussteigen und seiner  Welt entkommen will, ist eigentlich banal und schon vielfach filmisch umgesetzt worden. Sarossy geht es bei seinem erstaunlich langsam erzählten “Mr In-Between“, der mit bemerkenswert wenig expliziter Gewalt auskommt (die Morde werden meist als bruchstückhafte Rückblenden des halluzinierenden Jon miterlebt) aber nicht um das Nachahmen eines Vorgängers, sondern um den Aufbau einer seltsamen Atmosphäre, die geradezu melancholisch wirkendes Reales mit absurd-komisch Irrealem verwischen will. Jon befindet sich zum Beispiel auch während seiner präzise durchgeführten Aufträge in einem “realen”, alltäglichen England, nimmt dieses aber nicht als solches wahr. Dies zeigt der Beginn des Films: Ein  in einem Strassenzug spielendes Mädchen entdeckt einen Mann, der scheinbar harmlos seine Fenster putzt; es ist jedoch der in einer fremden Welt "tätige" Killer, der Blutspritzer von den Scheiben entfernt. Dass dieses “normale” England nicht (mehr) seine gewohnte Welt ist, deutet neben seiner seltsam sterilen Wohnung das tropfende Kanalsystem unter den Strassen Londons an, wo sein “Lehrer”, ein Gourmet, einen Lammbraten für ihn zubereitet und ihm in der gediegenen Bibliothek die benötigten Drogen und Ratschläge (die ihr banales Leben fristenden Menschen  lassen Tausende verhungern) verabreicht. Dieser offenbar wohlhabende, der guten Gesellschaft angehörende Auftraggeber und väterliche Freund (warum haust er in einem solchen Rattenloch?) verwandelt sich wiederum in einer abgelegenen Villa in ein tätowiertes Tier, das mit kindischer Freude selber gierig mordet. Die Atmosphäre ist der Aufhänger; sie will den Zuschauer in ein seltsames "Dazwischensein" mit eigenartig-faszinierenden Bildern  locken.


Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, “Mr In-Between” erhebe den Anspruch, im Gegensatz zu “verwandten” Aussteigerfilmen nicht ein Psychodrama, sondern ein surrealistisches Kunstwerk zu sein; und man weiss nicht, ob man die diese Zwischenwelt begleitenden scheinbar tiefsinnigen Bilder und Phrasen als solche akzeptieren soll. Denn vielleicht, und auch dieser Gedanke drängt sich im Verlauf des Films auf, sind sie nur gewollt tiefsinnig, führen den Zuschauer an der Nase herum, indem sie ihm ein Universum vorgaukeln, das so hintergründig nun auch wieder nicht ist. - Dennoch: der britische Film ist hervorragend besetzt, man nimmt Andrew Howard den Soziopathen, der sich nach Normalität zu sehnen beginnt, durchaus ab. Einzelne Szenen wirken sogar auf eigenartige Weise äusserst glaubhaft, etwa die Beichte des Killers und die Reaktion des Priesters auf die Frage, ob er ihn trotz all seiner Verbrechen liebe. Dieser erteilt ihm nicht die Absolution, sondern - kotzt. --- Ein Film, über den ich kein Urteil zu fällen vermag, weil ich seine Geschichte verstehe, aber aus seiner Intention - falls er denn eine hat - nicht schlau werde. Das kommt manchmal vor, und dazu sollte man stehen. 

Mittwoch, 30. November 2011

Waking Ned Devine


Lang lebe Ned Devine!
(Waking Ned Devine, Grossbritannien, Frankreich, USA  1998)

Regie: Kirk Jones

Man bezeichnet sie als Topoi, diese seltsamen Motive, die lange Zeit lediglich als Versatzstücke ein Schattendasein führen, auf etwas verweisen (zum Beispiel auf ein: “Hey Leute, ihr habt es mit einer Wohlfühlangelegenheit zu tun!”), urplötzlich aber doch Sinn und Bedeutsamkeit anzunehmen vermögen. Und es gibt sie natürlich auch im Film. Ein solcher Topos, man könnte ihn als “Schwierige Einzelgestalten raffen sich zum Wohle aller zusammen”-Motiv bezeichnen, geisterte ab Mitte der 90er Jahre durch das englische Kino. Er erwachte in “The Full Monty” (1997) zu blühendem Leben, weil der Männer-Striptease-Geschichte daran lag, auch die sozialen Umstände, die ein solches Sich-Zusammenraffen nötig machten, miteinzubeziehen. Weitere Filme, in denen der Topos mehr oder weniger glücklich eingesetzt wurde, waren “Still Crazy” (1998), “Saving Grace” (2000), “Blow Dry” (2001) und “Calendar Girls” (2003). Von einer gegenseitigen Beeinflussung ist kaum auszugehen, eher von einer Befindlichkeit, die die Sehnsucht nach einer erfolgreichen Gemeinschaft förderte.

Auch “Waking Ned Devine”, der Erstling von Kirk Jones, bedient sich des Topos  und setzt ihn für eine recht ungewöhnliche und wenig wahrscheinliche Geschichte ein: Der ganz dem Lotto ergebene Rentner Jackie ist überzeugt, dass jemand in seinem irischen 52-Einwohner-Dorf Tullymore den Jackpot geknackt hat, und er macht es zu seiner zweifelhaften Lebensaufgabe,  den glücklichen Gewinner zu ermitteln. Als er und sein Freund Michael feststellen, dass nur einer der regelmässigen Lottospieler zu einer speziell der Informationsbeschaffung dienenden Party nicht auftauchte, steht fest: Es war Ned Devine! - Dieser hat allerdings ein kleines Problem: Der Schreck über den unerwarteten Sechser liess ihn das Zeitliche segnen. Soll, so fragt sich Jackie nun, der Gewinn wegen einer solchen Kleinigkeit verfallen, ohne dass er etwas davon hätte?  Und er lässt sich einen hinterhältigen Plan einfallen, wie man die paar Millionen der Lottogesellschaft doch noch abjagen könnte. Bald steht das ganze Dorf hinter ihm. Dann taucht die “Hexe” Lizzy Quinn am Horizont auf. Sie hat herausgefunden, wie sie selber an einen beträchtlichen Anteil des Geldes zu kommen vermag...

“Waking Ned Devine”, auf der Isle of Man gedreht, wurde zum grossen Erfolg bei den Kritikern. Tatsächlich wartet der Film mit herb-schönen Landschaften auf, zeichnet sich auch durch hervorragende Darsteller aus, die uns in kleinen Nebensträngen weitere Bewohner des abgeschiedenen Dorfes näherbringen. Im Grunde genommen ist die Geschichte jedoch banal, hat kaum Überraschungen zu bieten. Sie taugt vielleicht als belanglose kleine Komödie, die vom typischen britischen Humor Gebrauch zu machen versucht (ein kleines Beispiel: als Jackie und Michael Neds Gesichtszüge zu verschönern versuchen, fällt dessen Prothese aus dem Mund). Selbst dieser Humor ist jedoch nicht schwarz genug, um britisch zu sein. Und der an den Haaren herbeigezogene Schluss, der offenbar noch für ein wenig Spannung sorgen soll, wirkt geradezu peinlich. - Der Film mag für einen locker-bedeutungslosen Abend sorgen, reicht jedoch nicht ansatzweise an den erwähnten “The Full Monty” heran, weil es ihm an Substanz fehlt. Wer freilich - um doch noch einen Teaser zu hinterlassen - an alten Knackern, die nackt auf einem Motorrad durch die Gegend tuckern, seine Freude hat, wird von “Waking Ned Devine" nicht enttäuscht sein.


Samstag, 24. September 2011

Cole Porter in den Mühlen einer verlogenen Traumfabrik

De-Lovely - Die Cole Porter Story
(De-Lovely, USA/Grossbritannien 2004)

Regie: Irwin Winkler
Darsteller: Kevin Kline, Ashley Judd, Jonathan Price, Kevin McNally, Sandra Nelson, Allan Corduner, Keith Allen, James Wilby u.a.

Kevin Kline ist zweifellos ein mehr als beachtlicher Schauspieler, der sowohl im dramatischen Fach (“Sophie’s Choice”, 1982) als auch in Komödien (“A Fish Called Wanda”, 1988) Ausserordentliches vorzuweisen hat. Zu Beginn des Jahrtausends liess er sich jedoch zu zwei Filmen unter der Regie von Irwin Winkler hinreissen, die ich nicht nur als enttäuschend, sondern - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - als regelrechte Ärgernisse empfand. Dass ihm die angebotenen Projekte verlockend, weil prestigeträchtig und wie für ein amerikanisches Publikum gemacht, vorkommen mussten, ist nachvollziehbar. Irwin Winkler war allerdings als Regisseur nicht annähernd so gut wie als Produzent von Filmen wie “Music Box” (1989) oder “Goodfellas” (1990); dies hatte schon sein Erstling “Guilty by Suspicion” (1991) gezeigt. Was die beiden Filme mit Kevin Kline jedoch so bedenklich erscheinen lässt, ist nicht bloss ihre konventionelle, uninspirierte Machart. Eine ausführlichere Besprechung der Krebs-Schmonzette mit reaktionärer Botschaft "Life as a House" (2001), einer Zumutung für jeden Schwerstkranken, der kurz vor seinem Tod nicht mehr auf Dachbalken herumjonglieren kann, erspare ich mir hier  und beschränke mich auf das Machwerk, das sich offenbar als zeitgemässe Darstellung des Lebens eines der grossen Musical-Komponisten der Vereinigten Staaten versteht.


Zuerst ein Outing: Ich bin ein grosser Fan älterer Musicals im Film und auf der Bühne, und ich schätze Cole Porter nicht zuletzt deshalb, weil er seiner Musik einzigarte, oft rotzfreche, aber auch zärtliche Liedtexte zu unterlegen vermochte. Diese Möglichkeit verdankte er einer Zeit, in der das Motto “Anything Goes” mit einer Bedeutung erfüllt war, die in einer Musical-Verfilmung oder gar in einem Biopic deutlich zum Ausdruck kommen müsste... - Leider erwies sich das moralinsaure Hollywood stets als unfähig, diese Aufgabe auch nur annähernd zu bewältigen: Filme wie “Kiss Me, Kate” (1948) oder “High Society” (1955) kommen viel zu bieder daher; das von Michael Curtiz gedrehte Biopic “Night and Day” (1946) mit Cary Grant muss sogar eine derart überzuckerte und verlogene Schnulze sein, dass mir ein paar Ausschnitte reichten. - Im Jahre 2004 hätte man eine dem Leben des Komponisten angemessene Verfilmung, die das Schrille, Abgründige jener Zeit, in der der von inneren Dämonen gequälte Cole Porter seine grossen Erfolge feierte, nicht bloss andeutungsweise (Dekor und Kostüme) vermittelt wird, erwarten dürfen - freilich nicht unter der Regie von Irwin Winkler!

“De-Lovely” bettet die Geschichte von Cole Porter in eine bereits vielsagende Rahmenhandlung ein: Der dem Tode nahe Komponist darf seine wichtigsten Stationen (Paris, Venedig, New York, Hollywood) noch einmal in Form einer Nummernrevue an sich vorüberziehen lassen - Regisseur ist Gabe (der Erzengel!). Und wir erleben mit ihm noch einmal in schwelgerisch-farbenfroh arrangierte Bilder (das himmlische Personal hat weder Kosten noch Mühen gescheut!) eingebettete Höhepunkte aus dem wiederum zurechtgerückten Leben eines Genies, die mit den wunderschönen, leider oft von bedeutungslosen Dialogen begleiteten Songs (sie werden z.T. von zeitgenössischen Künstlern wie Robbie Williams, Alanis Morissette, Sheryl Crowe und Natalie Cole interpretiert) der Musical-Legende angereichert sind - und ohne jeglichen Tiefgang geradezu langweilig-uninspiriert abgespult werden (selbst das berühmte Duett “Well Did You Evah!” wirkte 1955 von Bing Crosby und Frank Sinatra dargeboten wesentlich frecher, dem Geist von Cole Porter entsprechender, als hier), was den Eindruck erweckt, Winkler habe lediglich eine - allerdings kostspielige - Pflichtübung in Sachen Kitsch absolviert.

Kevin Kline und Ashley Judd spielen ihre Rollen als Ehepaar (genauer: Komponist und Muse) Cole und Linda Porter, der wohlhabenden Frau, die sich den Luxus leistete, täglich neue Handschuhe anzuziehen und ihrem Mann zu jeder Premiere ein teures Zigarettenetui zu schenken, hervorragend, überzeugen als jugendliche “Let’s Misbehave”- Europäer ebenso wie als langsam alternde und leidend-gehässige Figuren (Cole Porter war nach einem Reitunfall schwer verletzt und musste sich gegen Ende seines Lebens beide Beine amputieren lassen, die Kettenraucherin Linda starb an einer kaputten Lunge); sie wurden entsprechend auch für den Golden Globe nominiert. Die sie umgebenden Figuren, die - wie Monty Woolley, Irving Berlin oder Louis B. Mayer - für Leben und Karriere des Komponisten von grosser Bedeutung waren, wirken hingegen so blass und bedeutungslos wie die vielen Männer, mit denen Cole Porter Sex hatte (Cole war schwul, wenn er hier auch als bisexuell gezeichnet und bloss beim Sich-Anziehen nach einer Nacht mit einem russischen Balletttänzer oder beim Kuss im Halbdunkel gezeigt wird - was der reaktionären Tendenz des Films entspricht). - Das Ehepaar scheint sich jedoch nicht viel zu sagen zu haben: Cole betont höchstens alle drei Minuten, er habe den eben gehörten Song bloss für Linda geschrieben. Wie unsagbar billig, einfallslos und verlogen!


Einige Szenen deuten an, was aus “De-Lovely” hätte werden können: Ich denke etwa an die Reaktion Porter’s auf das Aufbegehren eines Schauspielers, er könne das (einen grossen Stimmumfang benötigende) Lied “Night And Day” nicht singen. Der Komponist begibt sich auf die Bühne, zeigt dem sich Beklagenden, wie man sich einfühlt - und dann performt der Junge, der nach der Premiere seinem Lehrer zur "Verfügung” steht, den Song perfekt vor Publikum. Besonders hübsch wirkt auch Cole’s Reaktion auf die Bitte von Louis B. Mayer, für den Film einfache Songs zu schreiben: Er macht ihn zum Song “Be A Clown” zum - Clown! - Andererseits verzichtet Winkler auf eine lineare Abfolge der Songs, was wenigstens die Chronologie der Erfolgsmusicals von “Paris” über “Anything Goes” bis zum nach einem langen Tief unerwarteten Comeback mit “Kiss Me Kate” rekonstruieren liesse. Stattdessen werden - und das empfand ich als grösstes, weil richtig peinlich wirkendes Ärgernis - die Songs so eingebaut, dass sie der Handlung gerade entgegenkommen: Wenn Cole mit Linda im Park spaziert, stösst man "zufällig" auf ein Klavier und trällert “Easy to Love”, wenn er eine Bar mit schwulen Strichern betritt, erklingt passend “Love For Sale” - und kurz vor seinem Tod tröstet ihn der Chor mit “Blow, Gabriel, Blow”(keine Hintergedanken, bitte!). Dass man zum Song "De-Lovely"  auch noch laute Streitereien zwischen Linda und ihrem Ex-Mann aufgetischt bekommt oder den Small Talk zum untypischen Duett "True Love" geniessen darf, macht den Film zum denkbar fragwürdigsten "Erlebnis".  - Dies sind die Momente, in denen man bereut, dass man sich anstelle der DVD nicht eine CD mit Cole Porter-Songs gekauft hat. Denn die jugendliche "Ausgelassenheit" in Europa, der dekadente Lebensstil, dem man sich an einem Swimming Pool in Hollywood hingibt und die diversen Trennungen und Erpressungen wegen der Männergeschichten füllen beim besten Willen kein offensichtlich hoffnungslos überteuertes Biopic, das zwar nicht gar so langatmig sein mag wie Taylor Hackford's "Ray" (2004) oder "Walk the Line" (2005)  von James Mangold, jedoch noch eine Spur banaler.

Die “Komische Oper Berlin” inszenierte 2008 “Kiss Me Kate” auf eine Weise, die dem Perfektionisten Cole Porter vielleicht nicht gefallen hätte, jedoch zeigte, dass man den der Musik zugrunde liegenden Geist heute sehr wohl zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln vermag: schrill, ausgelassen, wild, bewusst dekadent eben. Die Bianca umschwärmenden Männer (“Any Dick, Tom, Or Harry”) werden zu glitzernden Cowboys, einer von ihnen zieht sich hinter der Bühne gelegentlich eine Prise Koks rein und der Beginn des zweiten Akts (“Too Darn Hot”) präsentiert herrlich gelangweilt-besoffene Gestalten usw. usw. - Leider war es mir nicht möglich, mir diese heute eines Cole Porters würdige Inszenierung in Berlin anzusehen, und ich musste mich auf eine Aufzeichnung von 3sat verlassen. Sollte sich der Sender gelegentlich zu einer erneuten Ausstrahlung aufraffen: dort kann man sehen, was gezeigt werden müsste, man von einem Vertreter des neuen reaktionären Kinos wie Irwin Winkler jedoch nicht im Traum erwarten darf.

***

Eigentlich wollte ich mich mit einem fulminanten, beinahe schon dekadenten Musical in den Urlaub verabschieden. Fehlende Zeit und Energie machten es jedoch nötig, den schon an anderer Stelle veröffentlichten Verriss leicht zu modifizieren und als Ersatz anzubieten. Dies möge der Leser bitte entschuldigen!

Ich muss aus privaten Gründen leider auch auf das übliche Versprechen verzichten, mich prompt nach sechs Wochen Absenz wieder hier einzufinden und meinen Mist im gewohnten Rhythmus zu liefern. Es wird sicher wieder "Whoknows" geben, möglicherweise aber nicht mehr gar so oft und häufiger mit Kurzbesprechungen. - Aus diesem Grund möchte ich meinem Co-Admin Manfred Polak auch noch öffentlich das gestatten, was er eigentlich schon längst dürfte: grundsätzliche Änderungen am Layout nach Absprache, die Aufnahme neuer spannender Blogger in die Blogroll - und sollte er auf einen würdigen und interessierten (Teilzeit-)Mitautor (alle drei bis vier Wochen ein Beitrag) stossen, wäre dies nur in meinem Interesse. --- Mag  all das jetzt auch ein wenig  gedämpft wirken: Geniesst die Zeit ohne mich! Wir lesen uns!

Mittwoch, 14. September 2011

Kriegsfilm ohne Schauspieler: WESTERN APPROACHES

WESTERN APPROACHES
Großbritannien 1944
Regie: Pat Jackson
Darsteller: Mitglieder der britischen Handelsmarine


Vor einigen Wochen las ich einen Nachruf auf Pat Jackson, der mit 95 Jahren gestorben war - ein Regisseur, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Als sein Hauptwerk wird darin WESTERN APPROACHES (der Titel bezieht sich auf einen westlich der britischen Inseln gelegenen Abschnitt des Atlantik) gerühmt, ein unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen entstandener Kriegsfilm im semidokumentarischen Stil, der den Beitrag der Handelsmarine zum Erfolg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg feiert. Der Film wurde seinerzeit als Meisterwerk gerühmt, geriet aber etwas in Vergessenheit, bis er vom britischen Imperial War Museum zuerst auf Video und dann auf DVD veröffentlicht wurde. Da die DVD nicht viel kostet, habe ich sie bestellt, und es hat sich gelohnt.


Bekanntlich haben Konvois aus Frachtschiffen, die von Kriegsschiffen begleitet wurden, durch die Lieferung von Kriegsmaterial und sonstigen Gütern aus Nordamerika nach Großbritannien dazu beigetragen, dass die Briten den Zweiten Weltkrieg siegreich überstanden. Gefahr drohte von deutschen U-Booten - es starben im Weltkrieg mehr Mitglieder der britischen Handelsmarine als Angehörige der Royal Navy oder der anderen Teilstreitkräfte. WESTERN APPROACHES verfolgt zunächst parallel zwei unabhängige Handlungsstränge: Während sich ein Konvoi von New York aus auf den Weg über den Atlantik macht, kämpft die Besatzung der versenkten Jason in einem Rettungsboot ums Überleben. Da ein Funkgerät intakt und die eigene Position bekannt ist, besteht Hoffnung auf Rettung, aber die Vorräte sind knapp. Unterdessen verliert ein Frachtschiff im Konvoi, die Leander, den Anschluss und damit den militärischen Schutz. Die Handlungsstränge kreuzen sich, als die Leander, allein unterwegs, einen Funkspruch mit Positionsmeldung aus dem Rettungsboot empfängt. Doch in unmittelbarer Nähe des Rettungsbootes taucht ein deutsches U-Boot, das den Funkspruch ebenfalls aufgefangen hat. Das Rettungsboot wird als zu mickrige Beute ignoriert, dafür legt sich das U-Boot auf die Lauer, um das zur Rettung herannahende Schiff zu torpedieren. Doch einer der Männer der Jason entdeckt das Periskop des U-Boots, und es gelingt, die Leander noch zu warnen. Das U-Boot hat nur noch zwei Torpedos an Bord, von denen einer danebengeht und der andere zwar trifft, aber die Leander nur beschädigt, so dass sie manövrierfähig bleibt. Der Kapitän des U-Boots will der Leander mit seiner Bordkanone den Rest geben, aber auch die Leander hat eine Kanone an Bord. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt ...


Pat Jackson entstammt der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre. Keimzelle der Bewegung war die von John Grierson geleitete Filmabteilung des General Post Office (GPO), in der Regisseure wie Grierson, Humphrey Jennings, Harry Watt und Alberto Cavalcanti den Dokumentarfilm als eigenständiges künstlerisches Genre etablierten. Jackson stieß noch als Jugendlicher zu dieser Truppe und war z.B. an der Entstehung von NIGHT MAIL (1936), einem der erfolgreichsten dieser Filme, beteiligt, und ab 1938 inszenierte er selbst kurze Dokumentarfilme. WESTERN APPROACHES war sein erster Spielfilm. Als der Kriegsausbruch zunehmend Dokumentarfilme mit kriegsbezogenem oder propagandistischem Inhalt hervorbrachte, wurde GPO Films dem Informationsministerium eingegliedert und in Crown Film Unit umbenannt, und die Crown Film Unit war es, die WESTERN APPROACHES produzierte, mit Unterstützung der Handels- und der Kriegsmarine. Zunächst war ein reiner Dokumentarfilm geplant, und die Marine wünschte Harry Watt (der mit TARGET FOR TONIGHT (1941) schon eine die Royal Air Force feiernde Dokumentation gedreht hatte) als Regisseur, aber Produzent Ian Dalrymple setzte Pat Jackson durch.


Der dokumentaristische Hintergrund von Jackson und der Crown Film Unit manifestierte sich vor allem in zwei Aspekten. Erstens wurden alle auf See spielenden Szenen - und das ist bis auf drei oder vier Szenen in einem Besprechungsraum und in der Einsatzzentrale der Konvois der gesamte Film - auch tatsächlich in der irischen See gedreht - wie eingangs schon erwähnt, unter gefährlichen und sehr schwierigen logistischen Bedingungen. (Die in Jacksons IMDb-Biographie erwähnten Aufnahmen mit Modellen im Studio sind nichts als Unsinn.) Und zweitens wurde der Film gänzlich ohne professionelle Schauspieler gedreht. Vielmehr besteht die Besetzung aus echten Matrosen, Unteroffizieren und Offizieren der Marine, die sich - innerhalb einer fiktionalen Handlung - mehr oder weniger selbst spielen (einzige Ausnahme ist Pat Jackson, der selbst eine Rolle in seinem Film übernahm). Die unverbrauchten Gesichter, die authentische Sprache (die Seeleute durften ihre Dialoge innerhalb eines gewissen Rahmens improvisieren) und die automatisch sitzenden Bewegungsabläufe sorgen für eine ungemeine Authentizität des Films. (Was die Sprache betrifft, so erhob das British Board of Film Censors an mehreren Stellen Einwände wegen zu drastischer Ausdrücke. Die Authentizität wird etwas getrübt dadurch, dass die Besatzung des deutschen U-Boots, die im Film nur Deutsch spricht, von Holländern gespielt wird, was unsereins am Akzent leicht bemerkt. Da das dem britischen Publikum kaum auffallen konnte, sollte man dem Film diesen kleinen Schönheitsfehler nachsehen.) Und es ergeben sich atmosphärisch äußerst dichte Momente, die das Zusammengehörigkeitsgefühl und den schwierigen Alltag der Seeleute wiedergeben, wie das ein mit Stars besetzter Film eines großen Studios kaum könnte.


Zwei andere Aspekte des Films verweisen jedoch darauf, dass WESTERN APPROACHES auch ein spannender Spielfilm ist: Zum einen die symphonische Musik von Clifton Parker, die dramatische Akzente an den richtigen Stellen zu setzen weiß (wie in so vielen britischen Filmen wurde sie vom Routinier Muir Mathieson eingespielt). Vor allem aber beeindruckt die grandiose Kameraarbeit. WESTERN APPROACHES wurde in Technicolor gedreht - bei britischen Filmen der Kriegsjahre ein seltenes Privileg (einziges anderes mir bekanntes Beispiel ist Laurence Oliviers HENRY V). Die Kamera führt kein Geringerer als Jack Cardiff, und ihm gelingen eindrückliche und stimmungsvolle Aufnahmen, die sowohl dokumentarische als auch dramatische Qualitäten aufweisen. Die gelungene Kombination dieser beiden Aspekte insgesamt ist es, was WESTERN APPROACHES zu einer sehenswerten Ausgrabung macht.


Wie oben schon erwähnt, ist WESTERN APPROACHES in einer DVD-Reihe des Imperial War Museum erschienen. Die Scheibe enthält einen Audiokommentar, der von Pat Jackson und Toby Haggith, einem Historiker aus dem Filmarchiv des Imperial War Museum, gemeinsam bestritten wird, sowie einen Bonusfilm.

Montag, 25. Juli 2011

Frühsozialisten, Puritaner und ein Amateurfilm: WINSTANLEY

WINSTANLEY
Großbritannien 1975
Regie: Kevin Brownlow und Andrew Mollo
Darsteller: Miles Halliwell (Winstanley), Jerome Willis (Fairfax), David Bramley (Platt), Alison Halliwell (Mrs. Platt), Phil Oliver (Will Everard), Terry Higgins (Tom Haydon), Dawson France (Capt. Gladman), Sid Rawle (Ranter)


There's really not much to be said for WINSTANLEY, except that it's the most mysteriously beautiful English film since the best of Michael Powell (Jonathan Rosenbaum, 1976)

Im letzten November erhielten nicht nur Jean-Luc Godard und Eli Wallach einen Ehrenoscar für ihr Lebenswerk, sondern auch Kevin Brownlow - letzterer für seine Verdienste als Filmhistoriker, -restaurator und -journalist. In Büchern und Fernsehsendungen hat er dem modernen Publikum die Welt des Stummfilms nahegebracht, und Brownlow ist es zu verdanken, dass Abel Gances Monumentalwerk NAPOLÉON heute wieder in einer mehr als fünfstündigen Version vorliegt. Weniger bekannt ist, dass er gemeinsam mit seinem Freund Andrew Mollo auch zwei Spielfilme außerhalb der Filmindustrie inszeniert hat, und dass er vielleicht professioneller Regisseur geworden wäre, wenn Angebote von den Studios gekommen wären - doch die blieben aus.


England 1649, als die Puritaner unter Oliver Cromwell die Monarchie abgeschafft und eine Herrschaft des Parlaments errichtet hatten, aus der bald eine Diktatur unter dem "Lordprotektor" Cromwell wurde. Auf St. George's Hill, einem bislang unbewohnten Hügel in der Grafschaft Surrey, lässt sich eine Gruppe von Leuten nieder, die radikale Ideen vertritt, und beginnt, mit primitiven Mitteln Landwirtschaft zu treiben. Nach dem Bürgerkrieg hatten die sogenannten Levellers ("Gleichmacher") soziale und politische Reformen gefordert. Als diese ausblieben, insbesondere das Wahlrecht weiterhin den Grundbesitzern vorbehalten blieb, war es zu einer Meuterei der Levellers innerhalb Cromwells New Model Army gekommen, die gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die Neuankömmlinge auf dem Hügel bildeten eine Splittergruppe mit noch weiterreichenden Forderungen, die auf einen christlichen Kommunismus hinausliefen, der aus der Bibel heraus (im Wesentlichen einige Sätze aus der Apostelgeschichte) begründet wurde. Die Gruppe nennt sich zunächst True Levellers, wird aber wegen ihrer landwirtschaftlichen Aktivitäten bald Diggers ("Buddler") genannt und übernimmt diese Bezeichnung schließlich selbst. Die Diggers bestehen aus durch den Bürgerkrieg verarmten Bauern und Handwerkern, aus Veteranen der New Model Army, die wenig Sold erhielten und nun vor dem Nichts stehen, und aus ihren Frauen und Kindern. Ihr Anführer ist der charismatische Gerrard Winstanley, ein durch den Krieg ruinierter Schneider und Stoffhändler aus London. In Pamphleten und theologischen Traktaten entwirft er das Programm der Diggers.


Die Diggers sind bald Anfeindungen ausgesetzt. Der Hügel gehört zu den Commons, ist also Gemeineigentum, und die Diggers wollen zwar langfristig das Privateigentum abschaffen, achten aber darauf, bestehendes Eigentum nicht zu verletzen. Doch formal verletzen sie das Gesetz, denn Commons dürfen nur als Viehweide benutzt, aber nicht bebaut oder zum Holzeinschlag benutzt werden. Die ortsansässigen Bauern fühlen sich von den Diggers bedroht, weil diese weidendes Vieh von ihren neu angelegten Feldern vertreiben, und sie attackieren die Siedlung der Diggers gewaltsam. Ebenfalls beunruhigt fühlen sich die reichen Grundbesitzer der Gegend, deren mächtigster der adelige Francis Drake ist. Zum größten Feind der Diggers wird jedoch der presbyterianische Pfarrer John Platt. Erstens gehört auch er zu den wohlhabenden Grundbesitzern. Zweitens ist es ihm, dem ordinierten Priester, zutiefst suspekt, wenn Laien theologische Abhandlungen verfassen. Drittens sind bereits einige seiner Schäflein zu den Diggers übergelaufen. Und viertens schließlich sympathisiert seine Frau Margaret, mit der er eine durch starre Konventionen geprägte Ehe führt, offen mit den Diggers - selbst am Mittagstisch liest sie aus Winstanleys Abhandlung "The New Law of Righteousness", und sie kündigt sogar an, sich den Diggers anschließen zu wollen.


Als die Grundbesitzer eine Beschwerde über die Diggers an den Staatsrat in London richten, erscheint ein Trupp Soldaten unter Captain Gladman am Hügel und fordert den Abzug der Siedler. Winstanley und sein Freund Will Everard werden daraufhin bei Lord General Fairfax vorstellig, dem derzeitigen Oberbefehlshaber in England (Cromwell führt gerade Krieg in Irland). Fairfax ist von der Courage und Offenheit der beiden beeindruckt und gibt den Diggers eine Chance. Gladman wird mit ein paar Leuten beim Hügel stationiert, um den Frieden zu sichern. Doch er hält es mit den Gegnern der Diggers, und die Übergriffe gehen weiter - immer wieder werden Diggers verprügelt, werden ihre Hütten und Felder verwüstet. Als bei einem der Überfälle sogar ein Mann und ein Kind erschlagen werden, beschwert sich Winstanley bei Fairfax über Gladman und erhält die Zusicherung, dass sich Derartiges nicht mehr wiederholen wird. Doch die Schikanen haben damit kein Ende: Winstanley und zwei seiner Mitstreiter werden von Francis Drake wegen Trespassing, unerlaubten Betretens von Land, vor Gericht zitiert. Schon der in Latein gehaltene Auftakt des Prozesses zeigt, wo es langgeht. Die drei Diggers haben kein Geld, um sich einen Anwalt zu leisten, dürfen sich jedoch nicht selbst verteidigen, und gelten deshalb als nicht erschienen, obwohl sie im Gericht anwesend sind. Nach zweimaliger Vertagung wird der Prozess formal in ihrer Abwesenheit geführt. Natürlich verlieren sie und werden zu einer für sie astronomischen Geldstrafe verurteilt. Weil sie nicht bezahlen können, werden die wenigen Kühe der Diggers beschlagnahmt, und ihre Versorgungslage wird langsam prekär. Ohnehin ist der Boden auf dem Hügel unergiebig, der oft peitschende Wind und der sprichwörtliche englische Regen machen den Siedlern das Leben schwer, und die Angriffe auf die Felder tun ein Übriges.


In der Siedlung der Diggers treffen fünf Neuankömmlinge ein: Ranters, Mitglieder einer besonders radikalen, anarchischen und libertären Gruppierung (deren Existenz von manchen Historikern bestritten wird). Die bisher ungetrübte Eintracht unter den Siedlern wird von den aggressiven Ranters, die von den anderen misstrauisch beäugt werden, nun auf die Probe gestellt. Will Everard, der die Siedlung nach einem der Überfälle verlassen hat, bringt unterdessen die Nachricht, dass sich in einigen Orten in verschiedenen Grafschaften neue Diggers-Kolonien gebildet haben. Mrs. Platt hat inzwischen ihre Ankündigung wahrgemacht und ist ins Lager der Diggers gezogen. Doch die radikalen Ansichten über das Privateigentum gehen ihr bald doch zu weit, und als einer der Ranters sie obszön beleidigt und nackt vor ihr herumturnt, sucht sie entsetzt das Weite und kehrt reumütig zu ihrem Mann zurück. In einer Überreaktion beschuldigt sie nun alle Diggers des zügellosen Verhaltens der Ranters. Platt fühlt sich im Aufwind und holt zum nächsten Schlag aus: Auf seine Veranlassung hin verkaufen die Ladenbesitzer der Gegend den Diggers keinerlei Waren und Lebensmittel mehr, und diese leiden nun, kurz vor dem Winter, an akuter Unterversorgung - die Kinder sind bereits unterernährt und krank. In dieser verzweifelten Situation beschließt ein Teil der Diggers unter Tom Haydon, einem tatkräftigen früheren Soldaten, einen Laden zu plündern. Winstanley ist entsetzt - er weiß, dass dies das Ende der Diggers bedeuten würde. Vergeblich versucht er, Haydon und seine Gefolgschaft zurückzuhalten. Einsam und traurig steht er auf dem windumtosten Hügel, blickt den Davonziehenden hinterher und scheint den prasselnden Regen nicht zu bemerken. Es kommt, wie es kommen muss: Haydon und seine Leute werden inhaftiert, und Pfarrer Platt triumphiert - Fairfax hat nun keine andere Wahl, als den Schutz der Diggers zu beenden. Ein großer Trupp Soldaten, angeführt von Platt persönlich, erscheint auf dem Hügel, vertreibt die restlichen Diggers, und macht die Siedlung dem Erdboden gleich. Den anderen Diggers-Kolonien ergeht es ähnlich. Pfarrer Platt zieht im Triumph durch seine Ortschaft und lässt sich von den Bewohnern als Held feiern. Am Ende des Films bedeckt frisch gefallener Schnee den menschenleeren Hügel.


Was im Film nicht mehr gezeigt wird: Winstanley veröffentlicht 1652 ein letztes Pamphlet, in dem er seine Ideen noch einmal darlegt, danach schließt er sich den Quäkern an und führt ein bürgerliches Leben, zuletzt wieder als Händler in London, wo er 1676 stirbt. Denn es gab sie wirklich, Gerrard Winstanley und die Diggers. Sie blieben als eine der ersten sozialistischen oder kommunistischen Bewegungen in Europa in Erinnerung und wurden so zu Vorbildern und Namensgebern späterer Verfechter von alternativen Gesellschaftsentwürfen, insbesondere von Hippies in den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Eine seinerzeit bekannte Gruppe englischer Hippies nannte sich Hyde Park Diggers oder New Diggers. Einer ihrer Anführer war der 2010 verstorbene Sid Rawle, ein Friedensaktivist, passionierter Land- und Hausbesetzer, Veranstalter freier Musikfestivals, und in späteren Jahren ein New-Age-Apologet im Dunstkreis von Stonehenge. Er spielt in WINSTANLEY den Wortführer der Ranters, eine Rolle, für die er sich kaum verstellen musste. Auch die übrigen Ranters wurden von Rawles Hippie-Freunden gespielt, die er selbst für die Rollen aussuchte. Unter den Hippies in San Francisco gab es ebenfalls eine besonders aktivistische und anarchische Fraktion, die sich Diggers nannte, und zu deren Aktivitäten auch improvisiertes Straßentheater gehörte. Mitgründer und bekanntestes Mitglied war der Schauspieler Peter Coyote. 1961 veröffentlichte der englische Schriftsteller David Caute, damals Sozialist, seinen Roman "Comrade Jacob" über Winstanley und die Diggers, und zog darin implizit Parallelen zwischen den Geschehnissen im 17. Jahrhundert und der Gegenwart. Das Buch wurde zum Anstoß und zur Vorlage für Brownlows und Mollos Film.


Der 1938 geborene Brownlow fand mit 11 Jahren zu seiner Filmleidenschaft, als er in einem Trödelladen zwei stumme Filmrollen im Format 9.5mm erstand, die Szenen aus dem Leben Napoleons zeigten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Fragmente von Gances NAPOLÉON von 1927. Brownlow war von dem, was er da sah, begeistert, und er machte sich auf eine intensive Suche nach weiteren Teilen des Films. Im Alter von 15 hatte er schon eine eineinhalbstündige Version auf 9.5mm zusammengeschnitten, damals die längste bekannte Fassung dieses fast verschollenen Meisterwerks. Brownlow führte die Arbeit an NAPOLÉON fort, und wie schon erwähnt, existiert seit über 15 Jahren wieder eine mehr als fünfstündige Version auf 35mm. Leider wird diese Fassung aufgrund eines langwierigen Rechtsstreits, in den Francis Ford Coppola involviert ist, weitgehend unter Verschluss gehalten.


Zwischen 1952 und 1955 realisierte Brownlow seinen ersten eigenen Amateurfilm mit Spielhandlung auf 9.5mm (das Format wird von manchen Amateurfilm-Enthusiasten bis heute benutzt). THE CAPTURE ist eine Adaption einer Kurzgeschichte von Guy de Maupassant, verlegt in die 1940er Jahre, mit immerhin schon fast 100 Amateurdarstellern, und finanziert durch Honorare für Artikel in einer Amateurfilmzeitschrift. Der 17-jährige Brownlow erntete dafür Lob von professioneller Seite, u.a. Lindsay Anderson, was ihn zu einem noch ambitionierteren Projekt ermutigte. Nachdem er eine Ausbildung als Cutter bei einer Londoner Dokumentarfilmfirma absolviert hatte, nahm Brownlow IT HAPPENED HERE in Angriff, einen Film aus dem Bereich der Speculative Fiction - "was wäre, wenn?" In diesem Fall: Was wäre, wenn Deutschland 1940 die Luftschlacht um England gewonnen, die britischen Truppen bei Dünkirchen vernichtet und dann Großbritannien erobert hätte? Der Film spielt unter dieser Voraussetzung im Jahr 1944, und es gibt in England nun Kollaborateure, Mitläufer und Widerstandskämpfer - insgesamt entwirft der Film ein nicht unbedingt schmeichelhaftes, aber vermutlich realistisches Bild. Brownlow hatte für die Nazis zunächst die erstbesten Uniformen, Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenstände genommen, die er auftreiben konnte. Doch dann kam der zwei Jahre jüngere Andrew Mollo ins Spiel, der mit 16 bereits ein Experte für militärgeschichtliche Themen, insbesondere für Uniformen, war. Er überzeugte Brownlow, dass alle diesbezüglichen Details falsch waren, und so verwarf Brownlow das bereits gedrehte Material, mit Ausnahme einer Sequenz, die er bei einer Versammlung von echten britischen Neonazis am Trafalgar Square in London gedreht hatte. Brownlow begann also nochmal von vorn, und Mollo wurde zum Art Director und bald zum gleichberechtigten Co-Regisseur befördert.


Weil alle Darsteller bis auf eine Ausnahme Laien waren, die ihren Berufen nachgehen mussten, wurde fast nur an Wochenenden gedreht. Deshalb, und wegen der stets knappen Kasse, zogen sich die Arbeiten an IT HAPPENED HERE Jahre hin, doch Brownlow und Mollo konnten mit ihrem Enthusiasmus das Projekt organisatorisch und stilistisch zusammenhalten. Über den Fortgang wurde in Amateurfilmzeitschriften und gelegentlich auch in der Tagespresse berichtet, und manchmal gab es professionellen Beistand. So spendierte Stanley Kubrick Filmmaterial, das bei einem seiner Filme übriggeblieben war, und Tony Richardson sorgte mit einer Geldspende dafür, dass der Schluss des Films, der weitgehend auf 16mm gedreht wurde, sogar auf 35mm realisiert werden konnte. 1964 war der 1956 begonnene Film schließlich fertig, 30 Jahre vor Chris Menauls FATHERLAND, der eine ähnliche Thematik verfolgt, und die Gesamtkosten betrugen gerade mal lächerliche 7000 Pfund. IT HAPPENED HERE wurde auf verschiedenen europäischen Filmfestivals gezeigt und überwiegend positiv aufgenommen, doch es gab auch heftige Kontroversen. Diese entzündeten sich an der fünfminütigen Szene mit den englischen Nazis vom Trafalgar Square, die von vielen als schockierend empfunden wurde. Manche erhoben sogar den absurden Vorwurf, Brownlow und Mollo seien selbst Faschisten. Der Film wurde mit eineinhalb Jahren Verspätung von United Artists vertrieben, jedoch nur unter der Auflage, dass die Szene vom Trafalgar Square herausgeschnitten wurde (auf der inzwischen vorliegenden DVD ist sie wieder drin). Der Film lief erfolgreich in London, doch die Einnahmen wurden von den Werbungskosten aufgefressen, so dass am Ende für Brownlow und Mollo nichts übrigblieb.


Die quasi-dokumentarische Anmutung von IT HAPPENED HERE brachte viel Lob von den Kritikern, aber die Filmindustrie blieb ob der eigenwilligen Arbeitsweise der beiden Regisseure skeptisch, und die erhofften Angebote für kommerzielle Spielfilme blieben aus. Brownlow ging neben der Arbeit an IT HAPPENED HERE seinem erlernten Beruf als Cutter von Dokumentarfilmen nach, und 1962 drehte er selbst eine kurze Dokumentation für das British Film Institute (BFI): NINE, DALMUIR WEST, über das Ende der Trambahn in Glasgow (sie wurde durch Busse ersetzt). Ab 1965 war er auch Cutter bei zwei Kurzfilmen und einem Spielfilm von Lindsay Anderson und Tony Richardson bei Woodfall Films, der zentralen Firma des Free Cinema bzw. der British New Wave. 1968 veröffentlichte er gleich zwei Bücher, "How It Happened Here" über die Entstehung von IT HAPPENED HERE, sowie "The Parade's Gone By ..." über Hollywoods Stummfilmära. Für dieses Buch hatte er in den USA viele noch lebende Mitwirkende an den Stummfilmen interviewt. Auf diese Idee war zuvor niemand gekommen, und so wurde Brownlow zu einem Pionier der modernen Stummfilmrezeption. Ebenfalls 1968 drehte er für die BBC eine Dokumentation über sein Idol Abel Gance. Mollo betrieb unterdessen seine militärgeschichtlichen Studien, schrieb Bücher zu diesen Themen, und wirkte gelegentlich als Berater oder Art Director an größeren Filmprojekten mit, von David Leans DR. SCHIWAGO über John Sturges' DER ADLER IST GELANDET bis zu Roman Polanskis DER PIANIST, Oliver Hirschbiegels DER UNTERGANG, und zuletzt für JOHN RABE.


Doch neben all diesen Aktivitäten wollten Brownlow und Mollo auch wieder einen Spielfilm drehen, und die Arbeiten daran begannen schon 1966. Miles Halliwell, ein Lehrer aus London, hatte eine kleine Rolle in IT HAPPENED HERE gespielt, und er war mit Andrew Mollo befreundet. Halliwell war es, der Mollo David Cautes "Comrade Jacob" als ein Buch vorschlug, das zu einer Verfilmung geeignet schien. Mollo und Brownlow waren davon begeistert, und Mollo dachte bei der Titelrolle auch gleich an Halliwell. Brownlow war in diesem Punkt skeptisch, aber nach einer Probeaufnahme in einem historischen Kostüm war auch er restlos von Halliwell überzeugt. Zu Recht, denn Halliwell ging geradezu in seiner Rolle auf und wirkt ungemein präsent. Mrs. Platt wird übrigens von Halliwells Frau Alison gespielt.


Woodfall Films finanzierte die Erstellung eines Drehbuchs, wollte dann aber den Film nicht produzieren. Auch United Artists und sonstige potentielle Finanziers sagten ab. Nach Jahren, als die Realisierung schon fraglich war, kam Hilfe von unerwarteter Seite. Eine Geldspritze des Kultusministeriums ermöglichte es dem British Film Institute, nicht nur kurze Dokumentationen, sondern auch experimentelle Spielfilme auf bescheidenem finanziellen Niveau zu produzieren. Neuer Leiter der Produktionsabteilung des BFI wurde Mamoun Hassan, der bereits als Kameramann bei NINE, DALMUIR WEST für Brownlow gearbeitet hatte. Hassan wusste von Brownlows Nöten, rief ihn an und bot die Finanzierung von WINSTANLEY an. So wurde der Film vom BFI produziert, mit Hassan als ausführendem Produzenten. Das Gesamtbudget betrug bescheidene 24.000 Pfund. Wie schon bei IT HAPPENED HERE waren alle Darsteller mit einer Ausnahme Laien, die völlig umsonst arbeiteten. Die eine Ausnahme war der vielbeschäftigte Fernsehschauspieler Jerome Willis, der Lord General Fairfax spielt. Die Figur war ihm vertraut, denn Willis hatte bereits 1962 in einer experimentellen TV-Fassung von "Comrade Jacob" in der BBC-Serie STUDIO 4 Fairfax gespielt [KORREKTUR: Willis spielte in diesem Film Captain Gladman, dagegen spielte er tatsächlich Fairfax in THE CRUEL NECESSITY, ebenfalls ein Fernsehfilm der BBC von 1962]. Willis war an dem Projekt WINSTANLEY sehr interessiert und verlangte nur den von der Schauspielergewerkschaft vorgeschriebenen Mindestlohn. Tatsächlich wollten Brownlow und Mollo eigentlich mehr professionelle Darsteller verwenden, doch alle, die kontaktiert wurden, fanden entweder das Drehbuch schlecht, oder ihre Agenten legten schon den Hörer auf, als sie hörten, dass nur der Mindestlohn gezahlt werden konnte. Die meisten Laiendarsteller kamen aus der Gegend des Drehortes in Surrey, doch manche wurden auch von Mollo oder Brownlow buchstäblich in der Londoner U-Bahn aufgegriffen, und dazu kamen Rawle und seine Hippies. Gecastet wurde ausschließlich nach der passenden physischen Erscheinung, nicht nach den schauspielerischen Fähigkeiten.


Eine frühe Drehbuchfassung hielt sich eng an Cautes Roman, doch dann entfernten Brownlow und Mollo alle Bezüge zur Gegenwart zugunsten eines möglichst tiefen und authentischen Eintauchens in die Welt des 17. Jahrhunderts. Auch alle fiktionalen Elemente wurden weitgehend eliminiert, bis auf kleine Details, die den Figuren Leben einhauchen, ohne spekulativ zu sein. Im Film wird ausgiebig aus Winstanleys Schriften, die auch tagebuchartige Einträge enthalten, zitiert. Die materielle Welt um 1650 wurde mit geradezu fanatischer Genauigkeit rekonstruiert. Während bei kommerziellen Filmprojekten Wortmeldungen von irgendwelchen Experten oft als lästige Besserwisserei abgetan werden, nahmen Brownlow und Mollo jede derartige Hilfe dankbar an. So konsultierten sie einen im Museum des Tower of London beschäftigten Fachmann, was schließlich dazu führte, dass sie historische Waffen und Uniformen in großer Zahl entleihen durften - ein sehr seltenes Privileg. Die Kühe, Schweine und Hühner der Diggers gehörten historischen Rassen an, die es nur in speziellen Zuchtanstalten gab (Jerome Willis verglich die sehr robusten und willensstarken Schweine in einem Interview mit "kleinen Elefanten"). Die Gerichtsverhandlung wurde im damals ältesten echten noch existierenden Gerichtsgebäude Englands in Malmesbury gedreht, die restlichen Innenaufnahmen in Chastleton House, einem Herrenhaus mit hervorragend erhaltener Inneneinrichtung aus dem 17. Jahrhundert. Und eine historische Scheune in Essex wurde mit Hilfe von Schulkindern zerlegt und in Surrey wieder aufgebaut. St. George's Hill kam als Drehort nicht in Frage, weil er inzwischen von umzäunten Villen gesäumt war, doch nur 30 oder 40 Kilometer entfernt fand sich ein hervorragend geeigneter Hügel. Und Mollos Vater besaß in unmittelbarer Nähe ein Haus mit großem Grundstück, auf dem die Siedlung der Diggers errichtet und für Monate stehengelassen werden konnte. Diejenigen Kostüme, die nicht von irgendwelchen Museen oder Privatsammlern geliehen werden konnten, wurden nach historischen Vorlagen in Handarbeit gefertigt, die meisten von Mollos Frau Carmen.


Aus Rücksicht auf die Laiendarsteller wurde wie schon bei IT HAPPENED HERE fast nur an Wochenenden gedreht. Die Dreharbeiten dauerten ungefähr ein Jahr, was den Vorteil bot, alle Jahreszeiten zur Verfügung zu haben. Es war eine Bedingung des BFI, dass nur solche Filmtechniker verwendet werden sollten, die noch nicht bei kommerziellen Spielfilmen mitgearbeitet hatten. Sinn war es wohl, diesen sozusagen ein Praktikum zu verschaffen, um ihnen den Berufsstart zu erleichtern. Kameramann bei WINSTANLEY war der in Ungarn geborene Ernie Vincze. Das war ein Glücksfall, denn in Absprache mit den Regisseuren entwarf er einen visuell ungemein schönen Stil für den Film, der von klaren Aufnahmen mit großer Tiefenschärfe geprägt ist. Wie die Laiendarsteller musste auch Vincze einem Broterwerb nachgehen und war deshalb manchmal längere Zeit abwesend, etwa, als er für eine Dokumentation auf dem Flugzeugträger Ark Royal drehte. Es kam aber nicht in Frage, ihn zu ersetzen - es wurde einfach gewartet, bis er wieder da war. WINSTANLEY ist auch deshalb ein sehr visueller Film, weil Dialoge recht sparsam gesetzt sind. Das geschah nicht nur, um die Laiendarsteller mit ihren meist begrenzten schauspielerischen Fähigkeiten nicht zu überfordern, es war auch eine bewusste Stilentscheidung von Brownlow und Mollo. Als ästhetische Vorbilder für den visuellen Stil dienten dem Stummfilmexperten Brownlow vor allem zwei Filme, Arthur von Gerlachs ZUR CHRONIK VON GRIESHUUS von 1925 und Carl Theoder Dreyers DIE PASTORENWITWE von 1920. Mollo orientierte sich bei seinen Entwürfen auch an historischen Radierungen und Kupferstichen, vor allem solchen von Jacques Callot. So beginnt WINSTANLEY mit einem kurzen Prolog, der die Ereignisse von 1646 bis 1649 zusammenfasst, und darin gibt es die Hinrichtung eines Levellers, die sehr eng einer Radierung aus Callots Zyklus "Die großen Schrecken des Krieges" nachempfunden ist.


Wie es nicht anders sein konnte, fanden die Dreharbeiten in sehr familiärer Atmosphäre statt. Für die Verpflegung war hauptsächlich Brownlows Frau Virginia zuständig. Es gab keine ausgeprägten Hierarchien - Brownlow und Mollo waren gleichberechtigt und sowieso immer einer Meinung, und sie machten eher Vorschläge, statt Anweisungen zu geben. Vieles entschieden Halliwell oder Vincze selbst. "... a lack of hierarchy that occasionally bordered on the anarchic", schreibt Marina Lewycka, die als Beraterin für die Sprache des 17. Jahrhunderts, als Komparsin und gelegentlich als Teeköchin und Mädchen für alles an den Dreharbeiten beteiligt war. 1975 war der Film schließlich fertig. Er lief wie IT HAPPENED HERE auf einigen Festivals, aber die Aufnahme war gemischt. Neben enthusiastischen Kritiken wie der von Jonathan Rosenbaum (die er später etwas relativiert hat) gab es auch viel Ablehnung. Und Angebote aus der Filmindustrie blieben abermals aus. Erstaunlich positiv war dagegen die Rezeption in Frankreich, wo WINSTANLEY monatelang in den Kinos lief und 1976 einen Prix Georges-Sadoul gewann. Brownlow konzentrierte sich nach WINSTANLEY auf seine Tätigkeit als Filmhistoriker und -journalist. In zwei Serien über den amerikanischen resp. europäischen Stummfilm, in Fernsehfilmen über Charlie Chaplin, Buster Keaton, D.W. Griffith und weitere Persönlichkeiten, die er meist gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen David Gill realisierte, sowie in weiteren Büchern war er unermüdlich für die Popularisierung des Stummfilms tätig, was schließlich in den wohlverdienten Ehrenoscar mündete.


WINSTANLEY ist digital restauriert und mit erstklassigem Bonusmaterial versehen in England beim BFI auf DVD und Blu-ray erschienen. Es gibt auch eine ältere US-DVD.


Mittwoch, 29. Juni 2011

Kurzbesprechung: Absolution


Absolution
(Absolution, Grossbritannien 1978)

Regie: Anthony Page

Father Goddard waltet über seine ihm Anbefohlenen  in einer katholischen Knabenschule mit fester Hand, erweist sich jedoch für einen gottesfürchtigen Priester nicht als sonderlich gerecht. Während er seinen “Liebling” Benjamin sogar mit Privatstunden fördert, verachtet er den mit einer Beinschiene ausgestatteten und von den Mitschülern gemiedenen Arthur Dyson als Krüppel, obwohl doch gerade dieser um seine Zuneigung buhlt. Benjamin wiederum treibt sich lieber mit einem Hippie im Wald herum, und als die Vorwürfe des Lehrers wegen seines Umgangs drängender werden, der Hippie sogar offensichtlich vertrieben werden soll, lässt sich das Engelsgesicht ein perfides Spiel einfallen. Er erzählt seinem Priester und Lehrer unter Berufung auf das Beichtgeheimnis von Dingen, die Goddard immer häufiger in den Wald treiben, wo er beim Buddeln Dinge entdeckt, die sein ohnehin schon fahles Gesicht noch fahler aussehen lassen...

Richard Burton hatte in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein eher unglückliches Händchen  bei seiner Rollenwahl selbst in auf den ersten Blick viel versprechenden Filmen. Zu diesen gehörten der damals eigenartigerweise recht grosses Aufsehen erregende “Equus” (1977), die mit Schockelementen versehene Verfilmung eines heute jeder Logik entbehrenden Bühnenstücks von Peter Shaffer, aber auch der sich vor allem durch Längen auszeichnende unentschlossene Genre-Mix “The Medusa Touch” (1978), in dem er über telekinetische Fähigkeiten verfügte, damit das Spiel von Lee Remick jedoch nicht zu verbessern vermochte.  “Absolution”  nach einem Drehbuch von Anthony Shaffer, dem Bruder von Peter und Verfasser des grandiosen “Sleuth”, muss als trauriger Tiefpunkt in dieser Reihe von Filmen, aus denen vielleicht etwas hätte werden können, betrachtet werden. - Dass er völlig misslang, mag zum Teil bereits am Drehbuch gelegen haben, ist aber sicher auch der lieblosen Regie von Anthony Page zuzuschreiben, der später eher durch seine Arbeiten fürs Fernsehen von sich reden machen sollte.

Burton legt die Rolle des Priesters (er hatte sich bekanntlich schon in "Exorcist II: The Heretic", 1977, darin geübt) grundsätzlich gut an, entwickelt sich aber viel zu rasch vom strengen Lehrer zum psychischen Wrack, das anlässlich jeder Beichte mehr und mehr in sich zusammenfällt und nächtens voller Panik  die Schlafräume seiner Schüler betritt, um sich zu vergewissern, ob auch alles in Ordnung sei. Die Privatstunden, die er seinem Liebling Benjamin gibt, wirken wenig glaubhaft, müssten wenigstens andeutungsweise Gründe für die Bevorzugung des Schülers (unterdrückte sexuelle Zuneigung?) liefern. Der Zuschauer dürfte überhaupt schon damals in der schwülen Atmosphäre eines Internats ein wenig Erotik erwartet haben, wenn sie filmisch auch erst mit "Another Country" (1984) in aller Deutlichkeit durchzubrechen begann. Aber die Versuche des verkrüppelten Arthur, sich Schülern wie Lehrer anzubiedern, entbehren hier  jeder Begründung, was mit der Reduktion des Ganzen auf eine vor sich hin plätschernde Thriller-Ebene zu tun hat, die sich wiederum auf das Herumrennen des Priesters mit seiner Schaufel im Wald beschränkt, sonst aber nichts bietet, was die Spannung aufrecht zu erhalten oder durch Überraschungen zu erhöhen vermöchte. Man wartet denn auch eher gelangweilt als gefesselt auf des Rätsels Lösung, die so unerwartet nun wirklich nicht ist. - Ein grosser Schauspieler, verheizt in einem jämmerlichen Film, der sich überhaupt nicht um atmosphärische Glaubwürdigkeit bemüht und ganz darauf setzt, man gebe sich mit dem zufrieden, was so alles ausgebuddelt wird.