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Montag, 9. November 2015

Themerson & Themerson - fast verlorene polnische Avantgarde

Auch die Autoren dieses Films [die Themersons selbst] versuchten während ihres ganzen Lebens, rückwärts zu gehen, aber vorwärts zu kommen. (Stefan Themerson unter Bezug auf DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)

Schon mal von Stefan und Franciszka Themerson gehört? Als regelmäßiger Arte-Seher vielleicht, aber sonst wohl nicht unbedingt. Dabei sind die Themersons keineswegs vergessen: In ihrer Heimat Polen und ihrer Wahlheimat England erinnert man sich durchaus an sie, vielleicht auch in Frankreich, wo sie auch kurz lebten, aber hier zu Lande waren sie wohl von vornherein nie besonders prominent. Die beiden gehörten in den 30er Jahren zur polnischen Film-Avantgarde und drehten gemeinsam fünf experimentelle Filme, von denen leider nur einer überlebt hat. Im englischen Exil folgten noch zwei weitere Filme, so dass sich der erhaltene filmische Nachlass des Ehepaars auf gerade mal drei Werke beläuft. Im "Hauptberuf" (der Ausdruck passt bei den beiden nicht so recht) war Franciszka Zeichnerin und Malerin, Stefan Schriftsteller, Dichter und Essayist. Außerdem führten beide gemeinsam in ihrer englischen Zweitheimat über 30 Jahre lang einen sehr eigenwilligen Verlag. 2010 entstand als internationale Coproduktion (mit Beteiligung von Arte) ein 70-minütiger Dokumentarfilm über die Themersons, der ihr ganzes Leben abdeckt. Ich will mich hier hauptsächlich auf ihre Filme konzentrieren.

Stefan und Franciszka Themerson in THEMERSON & THEMERSON
Die Filmografie in der IMDb enthält derzeit nur die überlebenden drei Filme, und in der deutschen und englischen Wikipedia ist die Liste zwar vollständig, aber unübersichtlich und nur mit wenigen Informationen dargeboten. Deshalb hier zunächst die komplette Liste, einschließlich der Dokumentation. Die deutschen Titel der polnischen Filme sind nicht offiziell, sondern Übersetzungen der Originaltitel, die ich Wikipedia entnahm.

APTEKA (APOTHEKE)
Warschau 1930
3 Minuten
stumm
verschollen

EUROPA
Warschau 1931/32
15 Minuten
stumm
verschollen

DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT)
Warschau 1933
3 Minuten
Musik: Maurice Ravel
verschollen

ZWARCIE (KURZSCHLUSS)
Warschau 1935
10 Minuten
Musik: Witold Lutosławski
verschollen

PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)
Warschau 1937
10 Minuten
Musik: Stefan Kisielewski

CALLING MR. SMITH
London 1943
10 Minuten
Farbe: Dufaycolor
Musik: Karol Szymanowski, J.S. Bach, Frédéric Chopin, Horst-Wessel-Lied

THE EYE & THE EAR
London 1944/45
10 Minuten
Musik: Karol Szymanowski

Drehbuch, Kamera, Regie und Schnitt jeweils die Themersons gemeinsam. Alle Filme wurden auf 35mm gedreht, und alle außer CALLING MR. SMITH in Schwarzweiß (PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO enthielt jedoch ursprünglich eine kurze handcolorierte Sequenz, die nur in s/w erhalten ist).

THEMERSON & THEMERSON (auch THEMERSON AND THEMERSON)
Frankreich/Großbritannien/Polen 2010
Regie: Wiktoria Szymańska

Stefan (1910-1988) und Franciszka Themerson (1907-1988) entstammten beide polnisch-jüdischen Familien. Stefan wurde in Płock geboren, Franciszka als Tochter des Malers Jakub Weinles und einer Pianistin in Warschau. Während Franciszka schon als Kind ihr zeichnerisches Talent entdeckte, interessierte sich Stefan bereits als Jugendlicher für Radio-, Foto- und Filmtechnik sowie für die modernen Kunstströmungen. Mit 14 baute er sich einen Kristallempfänger, er verfertigte Collagen und Fotomontagen, von denen etliche in einem Literaturmagazin erschienen, und mit 18 veröffentlichte er in einem Magazin einen Artikel mit dem Titel "Über die Möglichkeiten des Radios" (Możliwości radiowe). Darin ging es keineswegs nur um das Radio, sondern um eine formale Gegenüberstellung von (mittels Radio transportierter) Musik und Film. Er vergleicht darin (I) die üblichen handlungsorientierten Filme mit Musik mit Gesang (wobei der Gesang so etwas wie eine Handlung transportiert), (II) sogenannte optische Musik (also abstrakte Filme wie etwa die von Oskar Fischinger und etwas später die von Mary Ellen Bute und Ted Nemeth) mit Instrumentalmusik, die zwar Bedeutung, aber keine Handlung hat, und schließlich (III) als letzte Stufe einzelne optische mit akustischen Sinneseindrücken, die jeder Bedeutung entkleidet sind, so dass man sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnimmt. Und dann stellt er die rhetorische Frage, ob die formale Ähnlichkeit innerhalb der letzten Kategorie nicht dazu führt, dass man solche optischen und akustischen Eindrücke nicht miteinander verbinden könne, und ob das nicht die ultimative Kunstform für das gegenwärtige Zeitalter werden könne. Und damit hatte Stefan Themerson schon so etwas wie ein Programm für die eigenen kommenden Filme entworfen. Er beschließt den Artikel mit einem Blick in die Zukunft: Er stellt sich einen Mann vor, der, bequem in einem Sessel versunken (vielleicht sogar im Pyjama), mit Kopfhörer und einem Stereoskop vor den Augen, so eine multimediale "Radio-Phono-Vision" genießt.

Stefan begann 1928 in Warschau Physik zu studieren, wechselte aber bald zur Architektur. Irgendwann Ende der 20er Jahre lernte er Franciszka kennen, die an der Warschauer Kunstakademie studierte, und 1931 heirateten die beiden. Da hatten sie ihren ersten Film APTEKA schon fertiggestellt. Die meisten in den frühen 20er Jahren gedrehten abstrakten Filme wie die von Walther Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling waren rein grafisch, und Fischinger sowie in den 30er Jahren Len Lye und Norman McLaren setzten diese Tradition fort. Doch schon in den 20er Jahren hatte sich auch die Tendenz entwickelt, reale Objekte zu filmen und mittels extremer Großaufnahme, ungewöhnlicher Kamerawinkel, Mehrfachbelichtung, rascher Montage etc. bis zur Abstraktion zu verfremden. Wichtigster Vorreiter in dieser Beziehung war BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger 1924 in Frankreich drehten. Einige Filmkritiker und Kunsttheoretiker forderten explizit eine Bevorzugung dieser Richtung, so in Polen 1928 die Kritikerin Stefania Zahorska. Die Themersons schlossen sich dieser Sichtweise an, und sie wurden zu Pionieren des abstrakten Films in ihrem Land. Zwar wurde in Polen schon in den 20er Jahren eifrig über das Thema debattiert, aber es wurde kein solcher Film fertiggestellt. (Der konstruktivistische Künstler Mieczysław Szczuka entwickelte konkrete Pläne dazu und hätte sie wohl auch umgesetzt, wenn er nicht 1927 tödlich verunglückt wäre.)

Parallel zu seiner frühen Beschäftigung mit Fotomontagen, die man durchaus als Vorstufe zum Filmen betrachten kann, begann sich Stefan für Fotogramme zu interessieren. Ein Fotogramm entsteht bekanntlich, wenn man Objekte auf einem Film, einer Fotoplatte oder lichtempfindlichem Papier platziert und direkt, also ohne Kamera, belichtet. Bei diffuser Beleuchtung wird dann die Auflagefläche der Objekte, bei gerichteter Beleuchtung zusätzlich die Schatten der Objekte fotografisch abgebildet. Im Avantgarde-Sektor hatten beispielsweise schon Man Ray und László Moholy-Nagy in den 20er Jahren mit Fotogrammen gearbeitet. Stefan verfiel nun auf die Idee, "bewegte Fotogramme", also Fotogramm-Filme, herzustellen. Wie kann das gelingen? Stefan baute dafür einen Tricktisch mit einer horizontalen Glasplatte, die mit halbtransparentem Papier belegt war, auf dem die zu filmenden Objekte platziert wurden. Stefan lag dann mit seiner Kamera (ein altes Ding mit Kurbel) unter dem Tisch und filmte (bzw. fotografierte in Einzelbildschaltung) die Umrisse und Schatten der Objekte auf dem Papier, während Franciszka schrittweise die Objekte und/oder die über dem Tisch angebrachten Lichtquellen bewegte (hier findet man eine Skizze des Tisches sowie einige Screenshots aus den Filmen). Technisch gesehen sind das keine Fotogramme mehr, weil ja wieder eine Kamera zum Einsatz kommt, aber der ästhetische Kern - die Abbildung nur von Umrissen bzw. Schatten - bleibt erhalten, so dass man mit etwas gutem Willen durchaus von bewegten Fotogrammen sprechen kann. Die Themerson'sche Konstruktion erinnert an den Tricktisch, den Walther Ruttmann 1920 konstruierte und patentieren ließ, um damit seine vier abstrakten OPUS-Filme zu realisieren, nur war bei Ruttmann die Lichtquelle unten und die Kamera oben, und es gab nicht nur eine, sondern drei übereinander angeordnete horizontale Glasplatten, von denen zwei verschiebbar waren.

Was die Themersons an den bewegten Fotogrammen reizte, war neben dem ästhetischen Resultat nicht zuletzt die Einfachheit des Verfahrens, die es ihnen - als Autodidakten im zunächst noch fast jugendlichen Alter mit primitiver Ausrüstung - ermöglichte, einfach so loszulegen und experimentelle Filme zu drehen. Und so setzten sie das Verfahren auch in allen ihren Filmen ein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, kombiniert mit anderen Techniken. - In APTEKA (APOTHEKE) werden die Fotogramme ausgiebig benutzt, und bei den abgebildeten Objekten handelt es sich um Utensilien, wie man sie in einer Apotheke oder in einem Chemielabor findet. Im Vergleich zum recht kurzen APTEKA war EUROPA deutlich ambitionierter. Es handelt sich um eine Interpretation des gleichnamigen Gedichts des polnischen futuristischen Dichters Anatol Stern, geschrieben 1925 und 1929 veröffentlicht. Der Futurismus reüssierte nicht nur in Italien und Russland, sondern hatte für einen begrenzten Zeitraum (ca. 1919-22) auch ein Standbein in Polen, bevor hier Dadaismus und Konstruktivismus die vorherrschenden Richtungen der Avantgarde wurden (Sterns Gedicht ist also in einem gewissen Sinn schon ein Nachzügler). Die polnischen Futuristen verweigerten sich aber, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehend, anders als ihre italienischen Kollegen der bedingunglosen Verherrlichung der Maschinen und des Kriegs. Ideologisch stand Stern auch eher den Dadaisten nahe als jemandem wie Marinetti, und sein Poem ist eine grimmig-wüste Anklage gegen ein Europa, das, gerade einen vernichtenden Krieg hinter sich, schon auf den nächsten zusteuert. Sterns "Europa" ist, wie auch andere Werke des polnischen Futurismus, schon sehr "filmisch" geschrieben, und es bestand nicht nur aus Text, sondern war in collagenhafter Form mit Bildern und Fotomontagen angereichert, die die Künstlerin Teresa Żarnower (auch Żarnowerówna geschrieben) und der oben schon erwähnte Mieczysław Szczuka beisteuerten. Stefan Themerson schrieb 1988 in einem Brief, dass Sterns Gedicht nicht die Inspiration für das Drehbuch zu EUROPA war, sondern das Gedicht war das Drehbuch. Neben bewegten Fotogrammen gab es in dem Film weitere Stop-Motion-Animationen, die teilweise auch rückwärts liefen, nackte Frauen (Modelle von der Kunstakademie) und Großaufnahmen von menschlichen Körperteilen (das sah vielleicht ähnlich aus wie gut zehn Jahre später in GEOGRAPHY OF THE BODY von Willard Maas und Marie Menken), sowie weitere Motive und technische Kunstgriffe. Und am Ende gibt es, sozusagen als hoffnungsvollen Kontrapunkt, ein nacktes Kleinkind auf einer Wiese.

Überlebendes Standbild aus APTEKA
Die nächsten beiden Filme waren Auftragsarbeiten (die Themersons hatten sich also - mit EUROPA mehr als mit dem verhalten aufgenommenen APTEKA - schon einen gewissen Namen gemacht). DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT) hat jemand namens Wanda Golinska in Auftrag gegeben, um Werbung für ihr Geschäft zu machen (um welche Art von Geschäft es sich handelte, darüber differieren die Angaben). Wieder gibt es bewegte Fotogramme, jetzt erstmals mit Ton, nämlich im Ablauf synchronisiert mit einer Musik von Ravel. Bei ZWARCIE (KURZSCHLUSS) handelt es sich um einen Informationsfilm über die Gefahren der Elektrizität, der von einem Institut für Soziale Angelegenheiten (Instytut Spraw Społecznych) in Warschau beauftragt wurde. Für die semi-abstrakten Teile des Films entstand zuerst die Musik von Witold Lutosławski, danach wurden die Bilder gedreht und zur Musik synchronisiert. Die oben erwähnte Kritikerin Stefania Zahorska schrieb 1936 Folgendes über den Film: "... ein Poem von Objekten, Linien, Lichtern - es ist ein Drama der Elektrizität, es ist ein Kurzschluss von Formen außer Atem". MUSIKALISCHES MOMENT und KURZSCHLUSS wurden nicht nur in Avantgardezirkeln gezeigt wie die beiden ersten Filme, sondern sie liefen auch in regulären Kinos.

Und schließlich noch PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEG (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES), der einzige Film aus der polnischen Phase der Themersons, der überlebt hat:



Es handelt sich um eine surreale Parabel, die den Nonkonformismus feiert, oder, wie es im Vorspann heißt, um eine "irrationale Humoreske". "Es wird sich kein Loch im Himmel auftun, wenn man mal rückwärts geht", meint der Chef zu seinen zwei Trägern, die sich beim Abtransport eines Spiegelschranks etwas blöd anstellen. Das hört zufällig ein Beamter (der brave Mann) am Telefon mit, und er zieht seine eigenen Schlüsse daraus: Stimmt - man könnte ja wirklich mal rückwärts gehen. Doch einfach so rückwärts gehen, das geht nicht! Wo kämen wir da hin? "Nieder mit dem Rückwärtsgehen!" steht auf den Schildern der Demonstranten, die einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bilden, "gewiss wird sich da ein Loch im Himmel auftun! Wir alle gehen vorwärts!" Doch die beiden Rückwärtsgeher lassen sich nicht beirren - und eigentlich könnte man es ja auch mal mit dem Fliegen versuchen. "Sie müssen die Metapher verstehen, meine Damen und Herren", sagt am Ende der brave Mann mit der Flöte. Das Kleinkind am Schluss ist vermutlich dasselbe, mit dem schon EUROPA endete (aber Stefan Themerson war sich da offenbar nicht mehr ganz sicher, als er 1973 den Inhalt von EUROPA in einem Brief zusammenfasste). Bewegte Fotogramme gibt es hier nur kurz gegen Ende bei den stilisierten Vögeln, und in dieser Sequenz gab es auch die erwähnte Handcolorierung. (Die "fotogrammierten" Vögel der Themersons erinnern mich an die Falkentraumsequenz, die Walther Ruttmann für Fritz Langs DIE NIBELUNGEN beisteuerte.)

Von 1931 (unter einem etwas anderen Namen schon ein oder zwei Jahre vorher) bis 1935 existierte in Warschau eine "Vereinigung der Liebhaber des künstlerischen Films" (Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego, abgekürzt START). Zu den Mitgliedern, die meisten anfangs noch Studenten, zählten u.a. die Regisseurin Wanda Jakubowska, die Regisseure Aleksander Ford und Eugeniusz Cękalski, der Kameramann und Regisseur Stanisław Wohl und der spätere bedeutende Filmhistoriker Jerzy Toeplitz. Die Themersons pflegten engen Kontakt zu der Gruppe und waren mit den meisten Mitgliedern befreundet. 1935 gründeten sie quasi als Nachfolgeorganisation für START eine "Kooperative der Filmautoren" (Spółdzielnia Autorów Filmowych, SAF). Unter dem Dutzend Mitgliedern befanden sich neben Stefan und Franciszka und den oben erwähnten START-Mitgliedern (außer Toeplitz, der sich zwischenzeitlich in London aufhielt) auch der Komponist Witold Lutosławski. Die Kooperative produzierte eine Reihe von meist kurzen Filmen ihrer Mitglieder, darunter auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES. 1937 gründeten die Themersons als Zeitschrift der Kooperative das Journal f.a. (film artystyczny), mit Stefan als Herausgeber und Franciszka als Art Director. 1936 und 1937 waren sie nach London bzw. Paris gereist, um Avantgardefilme für Vorführungen in Polen zu entleihen, und die nach den Prinzipien der Neuen Typografie gestaltete Zeitschrift sollte diese Vorführungen publizistisch begleiten. In London trafen sie László Moholy-Nagy und John Grierson, die Zentralfigur der britischen Dokumentarfilmbewegung, und Letzterer versorgte sie mit Filmen aus dem Dunstkreis der von ihm geleiteten GPO Film Unit: THE SONG OF CEYLON von Basil Wright, COAL FACE von Alberto Cavalcanti, NIGHT MAIL von Harry Watt und Basil Wright, A COLOUR BOX und RAINBOW DANCE von Len Lye. Besonders die abstrakten Filme von Lye hatten es den Themersons angetan. Die erste Ausgabe von f.a. begleitete die Vorführung dieser Filme, die im Mai 1937 stattfand, und sie enthielt u.a. Artikel von Lye, Moholy-Nagy und Grierson. In Paris versorgten sich die Themersons vorwiegend mit Werken aus den 20er Jahren wie BALLET MÉCANIQUE, Man Rays LE RETOUR À LA RAISON, René Clairs ENTR'ACTE und Henri Chomettes CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR, PRÉTEXTE von Alfred Sandy und LA ZONE von Georges Lacombe. In der schnelllebigen Avantgarde jener Jahre waren diese Filme 1937 eigentlich schon wieder veraltet, aber in Polen waren sie noch nie gezeigt worden. Die Themersons wollten sie eigentlich in einer Tour im ganzen Land vorführen, aber zu ihrem Verdruss erhielten sie nur Lizenzen für Warschau. Die zweite Ausgabe von f.a. widmete sich diesen französischen Filmen. Die Zeitschrift war dreisprachig Polnisch/Englisch/Französisch, ich weiß aber nicht, ob beide Ausgaben dreisprachig oder die erste Polnisch/Englisch und die zweite Polnisch/Französisch war. Heft Nr. 2 enthielt auch einen Essay von Stefan mit dem Titel O potrzebie tworzenia widzeń, der als der wichtigste theoretische Text über den Avantgardefilm im Polen der Zwischenkriegszeit gilt. 1983 erschien er stark überarbeitet und erweitert unter dem Titel The Urge to Create Visions auf Englisch neu. - Von ihren Avantgarde-Aktivitäten hätten die Themersons in Polen kaum leben können, aber sie veröffentlichten auch eine Reihe von erfolgreichen Kinderbüchern, mit Texten von Stefan und Illustrationen von Franciszka, und Stefan verfasste auch Texte für Schulbücher.

Von f.a. war noch eine dritte Ausgabe geplant, die sich dem polnischen experimentellen Film hätte widmen sollen, doch dazu kam es nicht mehr, weil die Themersons im Winter 1937/38 nach Paris übersiedelten. Das war eine rein künstlerisch begründete Entscheidung: Sie wollten in der internationalen Hauptstadt der Avantgarde Anschluss gewinnen. "Wenn man schrieb, malte oder Filme machte, musste man einfach nach Paris", schrieb Stefan 1986 in einem Brief. Schnell knüpften sie Kontakte zu anderen Künstlern und Intellektuellen; Franciszka malte und schuf Illustrationen für den Verlag Flammarion, Stefan schrieb Artikel für Zeitschriften sowie weiterhin Beiträge für polnische Schulbücher, und in ihrer Freizeit dachten sie sich neue Filmprojekte aus. Doch der vielversprechende Anfang wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh abgewürgt. Das Paar meldete sich zur Polnischen Exil-Armee in Frankreich (wie beispielsweise auch Emil-Edwin Reinert). Franciszka wurde als Kartographin der Polnischen Exilregierung zugeteilt, Stefan diente als einfacher Soldat, und dadurch wurden sie getrennt. Nach der französischen Niederlage 1940 wurde Franciszka mit einem Truppentransporter nach England evakuiert, wo sie weiterhin für die dorthin übersiedelte Exilregierung arbeitete, während Stefan in Frankreich zurückblieb. Er schlug sich ins unbesetzte Vichy-Frankreich durch, wo er mehr oder weniger im Untergrund lebte, denn als Jude war er auch dort von Deportation in die Vernichtungslager bedroht. Er vertrieb sich die Zeit mit der Arbeit an einem Roman und dem Schreiben von Gedichten, während es Franciszka von London aus mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Mit organisatorischer Unterstützung von England aus gelang es Stefan schließlich Ende 1942, Frankreich zu verlassen und über Spanien und Portugal nach England zu gelangen. Nach einer kurzen Zeit in Schottland ließ sich das Paar 1944 in Maida Vale nieder, einem Viertel im Londoner Stadtteil Paddington, wo sie für den Rest ihres Lebens wohnten.

Die Themersons in der Polnischen Exil-Armee
Die Themersons hatten Kopien ihrer fünf Filme von Polen nach Paris mitgenommen und bei Kriegsausbruch im Film-Entwicklunslabor Vitfer hinterlegt, doch dort wurden sie von den Nazis konfisziert. Was dann mit den Filmen geschah, ist unbekannt - es fand sich keine Spur mehr von ihnen. Auch die in Polen zurückgebliebenen Filmrollen gingen während Krieg und Besatzung spurlos verloren, nur eine schon stark abgenutzte Kopie von DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES tauchte nach Kriegsende auf wundersame Weise in der Nähe von Moskau auf, die Themersons erfuhren aber zunächst nichts davon. Die Filmrolle wurde an das Zentrale Filmarchiv in Warschau geschickt und von dort schließlich an die Filmhochschule in Łódź weitergereicht. Erst als Ende 1960 das Zentrale Filmarchiv eine Veranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum von START durchführte und dabei auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES vorführte, erfuhren Stefan und Franciszka durch einen Brief des Filmarchivs, dass doch noch einer ihrer polnischen Filme überlebt hatte. In seiner Antwort an das Filmarchiv zeigte sich Stefan sehr erfreut darüber, aber zugleich stellte er die bange Frage, ob nicht nur die physische Kopie, sondern auch der Film selbst dem Zahn der Zeit widerstanden hatte, oder ob es sich nur noch um eine belanglose Kuriosität aus einer vergangenen Zeit handeln würde (ob er daraufhin eine Antwort aus Warschau erhielt, ist mir nicht bekannt). Unter den Filmstudenten in Łódź, die dort DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES zu Gesicht bekamen, dürfte sich auch ein gewisser Roman Polanski befunden haben, denn in Polanskis mehrfach preisgekröntem Kurzfilm DWAJ LUDZIE Z SZAFĄ (ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK) von 1958 wird ebenfalls ein Schrank mit Spiegel von zwei Männern durch die Gegend getragen. Von einer Freundin darauf angesprochen, meinten die Themersons gelassen: "Polen ist ein Land, in dem zwei Leute einen Schrank tragen müssen - das passiert eben alle 20 oder 30 Jahre!"

Zwei Männer und ein Spiegelschrank - links bei den Themersons, rechts bei Polanski
In London drehten die Themersons während des Krieges ihre letzten beiden Filme, und zwar im Auftrag der Polnischen Exilregierung. CALLING MR. SMITH von 1943 ist inhaltlich ein astreiner Anti-Nazi-Propagandafilm, aber formal auch schon fast avantgardistisch:



Das hier verwendete Farbverfahren Dufaycolor war eines der beiden europäischen Farbfilmverfahren (das andere war Gasparcolor), die in den 30er und 40er Jahren in Europa vorwiegend für Animationsfilme verwendet wurden (auch Len Lye benutzte beide Verfahren, auch in den Filmen, die 1937 in Polen gezeigt wurden). Erstaunlicherweise hatte die britische Zensurbehörde BBFC Einwände gegen den Film, weil ihr manche Bilder zu drastisch waren, vor allem eine an einem Galgen hängende Frau. Produziert wurde CALLING MR. SMITH laut Credits von einem E. Cekalski - es ist kein Anderer als das frühere START- und SAF-Mitglied Eugeniusz Cękalski. Er war zunächst in Paris und dann in London Leiter der Filmabteilung der polnischen Exilregierung, und er inszenierte in England auch selbst eine Reihe von kurzen Dokumentar- und Propagandafilmen, meist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler und Produzenten Derrick de Marney. Nach dem Krieg ging er zurück nach Polen, inszenierte weiter Filme und beteiligte sich am Aufbau der Filmhochschule Łódź. Cękalski starb 1952 mit 45 Jahren.

CALLING MR. SMITH - die Zensoren mochten dieses Bild nicht
Mit THE EYE & THE EAR wandten sich die Themersons wieder einem Thema zu, das Stefan schon in seinem frühen Essay "Über die Möglichkeiten des Radios" von 1928 beschäftigt hatte: Ob und wie man akustische und visuelle Eindrücke auf eine irgendwie logische, also nicht rein willkürliche, Art und Weise miteinander synchronisieren oder aufeinander abbilden könne:



Als Anschauungsmaterial dienen vier Stücke des Komponisten Karol Szymanowski. Es singt die aus der Schweiz stammende Sopranistin Sophie Wyss, und der als Dirigent genannte Ronald Biggs war selbstverständlich nicht der spätere legendäre Posträuber, sondern ein Namensvetter. Einmal mehr kommen bewegte Fotogramme ausgiebig zum Einsatz. Bei diesen letzten beiden Filmen waren die Themersons wohl nicht mehr mit vollem Einsatz bei der Sache - jedenfalls schrieb Stefan Ende 1945 in einem Brief an Aleksander Ford, dass sie diese Filme mehr aufgrund der äußeren Umstände denn aus einem echten künstlerischen Drang heraus realisiert hätten. Das Thema von THE EYE & THE EAR beschäftigte zumindest Stefan jedoch weiter. Noch bis in die 60er Jahre hinein trug er sich mit dem Gedanken, ein Gerät zu bauen (oder von einem Techniker bauen zu lassen), mit dem sich die Gesetze der gegenseitigen Abbildung von optischen und akustischen Reizen (falls es solche Gesetze überhaupt gäbe) erforschen ließen, und er nannte ein solches Gerät mal Synæstetic Sight and Sound Co-ordinator, mal Phonovisor. Doch zur praktischen Umsetzung fehlte immer das Geld, so dass diese Pläne nie realisiert wurden. In einem Brief von 1963, in dem er den damaligen Stand seiner Gedanken zu diesem Thema darlegte, wünschte sich Stefan auch die Möglichkeit, aus grafischen Mustern automatisiert Töne und Musik zu erzeugen. Vermutlich wusste er damals nicht, dass ausgerechnet in England so etwas gerade entwickelt wurde, nämlich Oramics von Daphne Oram. Dabei handelte es sich um einen analogen Synthesizer, der durch auf 35mm-Filmstreifen gezeichnete Muster programmiert wurde.

Nach dem Krieg wurde Aleksander Ford, Freund und SAF-Kollege der Themersons, im nunmehr kommunistischen Polen für einige Jahre Leiter des gesamten verstaatlichten Filmwesens. Im Herbst 1945 entsandte er eine zweiköpfige Delegation nach London, bestehend aus den START- bzw. SAF-Veteranen und Themerson-Freunden Jerzy Toeplitz und Stanisław Wohl, um das Paar zur Rückkehr nach Polen zu bewegen. Doch die Frage der Themersons, ob sie in Polen wieder frei in ihrem alten Stil Filme machen könnten, musste von den Emissären verneint werden, und so lehnten Stefan und Franciszka dankend ab und blieben lieber in England, und sie schrieben den oben erwähnten Brief an Ford, in dem sie hoffnungsvoll den Werken einer neuen polnischen Avantgarde unter Fords Patronat entgegensahen (offenbar ahnten sie da noch nicht, dass der strikt verordnete "Sozialistische Realismus" kaum noch Experimente zuließ). Wie es den Themersons wohl in Polen ergangen wäre? Darüber kann man natürlich nur vage Spekulationen anstellen. Da mit Ford, Toeplitz und Cękalski mindesten drei frühere START- und SAF-Mitglieder führende Positionen an der Filmhochschule Łódź innehatten, wären vielleicht auch Stefan und Franciszka als Dozenten dort untergekommen. Und als Juden wären sie vermutlich 1968 unter Druck geraten. Im Gefolge des Sechstagekriegs von 1967 kam es in Polen zu einer staatlich verordneten antisemitischen Kampagne, die sich nach Studentenunruhen im Frühjahr 1968 noch verstärkte. Aleksander Ford, Jude und immer überzeugter Kommunist, sah sich plötzlich heftigen Anfeindungen ausgesetzt, verlor alle öffentlichen Positionen und wurde ins Exil gedrängt. Ab 1968 lebte und arbeitete er nacheinander in Israel, Dänemark, Westdeutschland und in den USA, aber seine beiden in der Emigration gedrehten Filme hatten keinen Erfolg, er wurde nirgends richtig heimisch, und 1980 nahm er sich in einem Hotel in Florida das Leben. Auch Toeplitz, ebenfalls Jude, kam unter Druck. Er verließ Polen erst 1972 und ließ sich in Australien nieder, wo er sich eine zweite akademische Karriere aufbaute und seine schon in den 50er Jahren begonnene sechsbändige Filmgeschichte vollendete.

1948 gründeten die Themersons Gaberbocchus Press, einen ambitionierten kleinen Verlag, der liebevoll gestaltete und handwerklich sorgfältig erstellte Bücher in kleiner Auflage herausbrachte (die ersten beiden Titel wurden sogar noch - natürlich in sehr kleiner Auflage - mit einer Handpresse in ihrer eigenen Wohnung gedruckt). Der Verlag wurde zum wichtigsten Lebensinhalt in ihrer zweiten Lebenshälfte. "Gaberbocchus" ist die latinisierte Version von "Jabberwocky" - Lewis Carrolls Onkel Hassard H. Dodgson hatte das bekannte Nonsensgedicht ins Lateinische übersetzt (wobei es noch mindestens zwei weitere lateinische Versionen gibt). Gaberbocchus Press existierte als unabhängiger Verlag bis 1979, und in diesen gut 30 Jahren erschienen darin 60 Bücher - neben Stefans Werken (Romane, Gedichte, Essays und theoretische Schriften) englische Übersetzungen von so illustren Autoren wie Kurt Schwitters (die Themersons hatten Schwitters 1944 kennengelernt und sich mit ihm befreundet), Alfred Jarry, Guillaume Apollinaire und Raymond Queneau, die oft in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Übersetzerin Barbara Wright entstanden. Auch Anatol Sterns "Europa" erschien bei Gaberbocchus, übersetzt von Stefan selbst zusammen mit dem Beat-Poeten (und Schwitters-Verehrer) Michael Horovitz, Aesop und Christian Dietrich Grabbe kamen zu Ehren, und Bertrand Russell veröffentlichte zwei Bücher bei Gaberbocchus (und er schrieb für Stefans in Südfrankreich begonnenen Roman "Professor Mmaa's Lecture" ein Vorwort). Mit zunehmendem Alter wurden die kinderlosen Themersons für etliche der von ihnen protegierten Autoren und Kümstler zu väterlichen bzw. mütterlichen Freunden. 1979 verkauften sie Gaberbocchus auf ihren eigenen Wunsch hin an den holländischen Verlag De Harmonie. - Ab 1958 betrieben die Themersons für einige Jahre den Gaberbocchus Common Room, eine Art Mischung aus Pub und Künstlersalon, in dem regelmäßig Treffen und Diskussionen von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern (darunter Bertrand Russell) stattfanden und auch (natürlich experimentelle) Filme gezeigt wurden.

Franciszka Themerson schuf nicht nur Gemälde und Zeichnungen, die regelmäßig in Ausstellungen gezeigt wurden, sondern auch viele Illustrationen für bei Gaberbocchus erschienene Bücher. Besonders angetan hatte es ihr Alfred Jarrys Ubu roi. Für die 1951 bei Gaberbocchus erschienene, von Barbara Wright übersetzte Fassung steuerte sie über 200 Illustrationen bei, sie schuf die Kostüme und das Bühnenbild für eine sehr erfolgreiche Produktion des Stücks an Michael Meschkes Stockholmer "Marionettentheater", und sie kreierte schließlich eine eigene Comic-Version, die aus 90 meterlangen Zeichnungen bestand. - Stefan und Franciszka Themerson starben beide 1988 in London, im Abstand von gut zwei Monaten.

Franciszkas Kreationen für Ubu roi in Stockholm
Von den in Polen zurückgebliebenen Mitgliedern von Stefans und Franciszkas jüdischen Familien hatte fast niemand Krieg und Holocaust überstanden. Aber Franciszkas 1933 geborene Nichte Jasia Reichardt hatte überlebt, und 1946 machten die Themersons sie ausfindig und holten sie zu sich nach London, um für sie zu sorgen. Jasia Reichardt wurde eine bekannte Kunstkritikerin und Ausstellungsgestalterin, die sich für zeitgenössische Kunstströmungen und vor allem für Computerkunst engagierte. Mit von ihr kuratierten Ausstellungen wie Between Poetry and Painting (1965) und Cybernetic Serendipity (1968) hat sie sich bleibende Verdienste erworben. Nach dem Tod der Themersons übernahm sie deren umfangreichen künstlerischen Nachlass und überführte ihn in eine Stiftung, die sie zusammen mit dem Künstler und Kunsthistoriker Nick Wadley verwaltete. Im Januar 2015 wurde das gesamte Archiv an die Polnische Nationalbibliothek übereignet, in Form von über 200 Kartons mit einem Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen nach Warschau gebracht und von der polnischen Kultusministerin persönlich in Empfang genommen.

Die verlorenen Filme der Themersons haben bei manchen späteren Zeitgenossen die Fantasie angeregt und den Wunsch nach einer "Rekonstruktion" geweckt. Der 1956 in Łódź geborene Piotr Zarębski versuchte sich 1988 an einer Rekonstruktion von EUROPA mit dem Titel EUROPA II, wobei er sich auf erhaltene Standbilder aus dem Original, das Drehbuch und persönliche Informationen von Stefan Themerson stütze. Dieser gab Zarębski brieflich den Rat, sich nicht an einer engen Rekonstruktion, sondern lieber an einer freien Interpretation zu versuchen. Wie weit Zarębski diesen Rat befolgte, weiß ich nicht. - Und der 1957 geborene Amerikaner Bruce Checefsky legte 2001 bzw. 2008 Rekonstruktionen von APOTHEKE und MUSIKALISCHES MOMENT vor (Ausschnitte: 1, 2, 3), wobei er sich auf ähnliche Quellen stützte wie Zarębski. Wie nahe all diese Rekonstruktionen dem jeweiligen Original kommen, kann ich natürlich nicht beurteilen (und sonst vermutlich auch niemand mehr).

Animierte Credits im Stil der Themersons
2010 legte die junge Regisseurin Wiktoria Szymańska als ihren ersten Film die gut 70-minütige Doku THEMERSON & THEMERSON vor. Es gibt reichlich Archivmaterial zu sehen, und der englische Lebensabschnitt des Paars wird von etlichen Wegbegleitern erhellt, darunter Jasia Reichardt, Barbara Wright (die 2009 verstarb und somit gerade noch rechtzeitig interviewt wurde), Michael Horovitz (der es sich nicht nehmen ließ, ein Nies-Gedicht von Schwitters zu rezitieren) und die Malerin und Schriftstellerin Cozette de Charmoy, deren erstes Buch The True Life of Sweeney Todd bei Gaberbocchus verlegt wurde, sowie einige mehr. Durch diese persönlichen Sichtweisen entsteht ein informatives und warmherziges Portrait des eigenwilligen und leicht versponnenen Paars. Auch bei der formalen Gestaltung hat sich die Regisseurin Mühe gegeben, so sind etwa die animierten Credits im Stil von Franciszkas Zeichnungen und Stefans "semantischen Gedichten" gestaltet. - Die englische Firma LUX hat in Zusammenarbeit mit einem polnischen Kunstzentrum eine DVD mit den drei überlebenden Filmen der Themersons herausgebracht (im Gegensatz zur YouTube-Version hat DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES hier engl. Untertitel). Die Scheibe selbst enthält kein Bonusmaterial und somit nur ungefähr eine halbe Stunde Film, es gibt aber ein zweisprachiges (Englisch/Polnisch) Booklet mit ca. 40 engl. Seiten. Dieses Büchlein ist sehr infornativ und bildet eine der Quellen für diesen Artikel, verfügt allerdings über eine lausige Klebebindung - mir fliegen jetzt schon alle Seiten einzeln entgegen. Die DVD findet sich zumindest derzeit nicht bei den üblichen Online-Shops, kann aber direkt bei LUX bestellt werden.

Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

Sonntag, 3. Juni 2012

Leben wie Gott im Herzogtum Burgund

Blockade in London
(Passport to Pimlico, Grossbritannien 1949)

Regie: Henry Cornelius
Darsteller: Stanley Holloway, Betty Warren, Barbara Murray, Paul Dupuis, John Slater, Jane Hylton, Raymond Huntley, Philip Stainton, Margaret Rutherford u.a.

Obwohl die Ealing Studios im Westen Londons einer langen und wechselhaften Geschichte ausgesetzt waren, bringt man sie vor allem mit ein paar Nachkriegskomödien in Zusammenhang, die unter der Leitung von Michael Balcon entstanden. Diese Komödien - es waren 17, um genau zu sein - werden auf diffuse Art als „deeply British“ empfunden, was auch die an Verehrung grenzende Einstellung erklärt, die ihnen Engländer noch heute entgegenbringen. Es fällt allerdings schwer, dieses angeblich typisch Britische in Worte zu fassen, haben wir es doch keineswegs mit einer homogenen, sich gegenseitig beeinflussenden Reihe zu tun. Manche wollen es in einer durchgehenden Feier der Gemeinschaft, die leicht exzentrisch erscheinend zusammenfindet, erkennen. Kritiker verweisen denn auch nostalgisch gestimmt auf die „Ealing tradition“, wenn sie von späteren Filmen sprechen, in denen auf harmlos-humorvolle Weise ein Gemeinschaftsgefühl beschworen wird: von „Local Hero“, 1983, über die von mir an anderer Stelle erwähnten Komödien, die an „The Full Monty“, 1997, anschliessen  - bis zu „Attack the Block“, 2011. Alleine schon die ultimative Ealing Comedy, „Kind Hearts and Coronets“ (1949), in der sich ein verarmter Aristokrat durch seine ganze Verwandtschaft mordet, zeigt jedoch, dass dieser durchgehend harmlose Humor wohl eher dem Wunsch entspringt, Ealing als „point of reverence“ für "gemütliche" Komödienmacher zu bestimmen, beinahe zwanghaft an die grosse Ealing-Zeit zu erinnern. 


Wer verstehen will, was so bezeichnend für diese Ealing Comedies ist, muss sie einerseits wohl oder übel als Produkte der späten 40er und 50er-Jahre akzeptieren, andererseits aber auch die Philosophie der Ealing Studios unter der Ägide des Patriarchen Michael Balcon berücksichtigen: Während des Zweiten Weltkriegs und kurz darauf entstanden abgesehen von ein paar verfilmten Lustspielen kaum britische Komödien. Der dominierenden Rank Organisation lag vielmehr daran, mit aufsteigenden Filmemachern Werke zu drehen, die internationalen Ansprüchen genügen sollten („Great Expectations“, 1946, „The Red Shoes“, 1948, „The Third Man“, 1949, und andere). Erst Ende der 40er Jahre kam Balcon, der die kleinen, eher auf „bescheidenere“ Kriegsfilme spezialisierten Ealing Studios 1938 übernommen hatte, auf die Idee, sich mit finanzieller Unterstützung von Rank in verschiedenen Genres zu versuchen. Die Atmosphäre bei Ealing galt als familiär (man sprach vom „studio with the team spirit“), es wurden stets die gleichen Techniker und Drehbuchautoren beschäftigt. Vor allem bemühte man sich aber auch um neue Talente, und zu diesen Talenten gehörten begabte Komiker, die sich nach dem Niedergang der Music Halls gerne der Ealing-Familie anschlossen. Komödien, die ebenfalls Weltruhm erlangen sollten, waren die Folge. Und die meisten dieser Komödien (abgesehen von den Filmen die mit dem neuen Star Alec Guinness aufwarteten) ermöglichten es einem ganzen Ensemble, mit seinem humoristischen Können zu glänzen. 

Michael Balcon, durchaus ein komplexer Produzent, war vor allem daran interessiert, der Wirklichkeitsflucht Hollywoods Filme entgegenzusetzen, die sich auf subversive Weise, wenn auch nicht aufdringlich, mit einem Stück Wirklichkeit auseinandersetzten, einen politischen Subtext einbrachten. Er sprach in diesem Zusammenhang gern von einer "mild revolution", die seine Produktionen auszeichnen sollte. Was er damit meinte, erklärte er einmal in einem Interview: "By and large we were a group of liberal-minded, like-minded people... we were middle-class people brought up with middle-class backgrounds and rather conventional educations...we voted Labour for the first time after the war: that was our mild revolution." - Man kann von einer leichten politischen Dimension reden, die sich in den Ealing Comedies Raum verschafft, manchmal beängstigende Vorstellungen entwickelnd (etwa in "The Man In the White Suit", 1951), oft einfach die sture Torheit der (Nachkriegs-)Regierung, der so leicht beizukommen war, auf die Schippe nehmend - aber nie auch nur annähernd so anarchisch wirkend wie  Monty Python, die in den 70ern mit einer zeitgemässen Kombination von Humor mit politischem Subtext antraten.  - Die Ealing-Komödien mögen dem heutigen Zuschauer wie auch die angeblich in ihrer Tradition stehenden Filme oft etwas harmlos und veraltet vorkommen. Wer sich aber die vielen "Doctor"- und "Carry On"-Filme vor Augen hält, die die britischen Zuschauer nach dem Verkauf der Ealing Studios in der zweiten Hälfte der 50er Jahre "erfreuen" sollten, wird sie zu schätzen wissen. Und er erkennt vor allem auch: Sie stecken voller Humor, der auf eigenartige Weise  nur wirkt, weil er von sich scheinbar ernst nehmenden Briten dargeboten wird. 


"Passport to Pimlico" wird gerne als "the most Ealingish of Ealing comedies" bezeichnet, und dies ist vielleicht der Grund, weshalb der Film ausserhalb Englands wenig bekannt ist und seine Gags auch von jüngeren Briten nicht ohne Erläuterungen verstanden werden. Er spielt im unmittelbaren Nachkriegs-London mit seiner übertriebenen Bürokratie, aus der sich ein paar Menschen unerwartet  befreien zu können glauben: Während einer britisch-steifen Sitzung, in der es um die Errichtung eines mit Swimming Pool ausgestatteten Kinderspielplatzes an einer vom Krieg zerstörten Stelle im Londoner Stadtteil Pimlico geht, lassen ein paar sich herumtreibende Knaben das Rad eines Traktors in ein Loch rollen und lösen eine Explosion aus. Denn im Loch befand sich eine Luftwaffe-Bombe aus dem Krieg, die nun unerwartet ein Kellergewölbe freilegt, in dem man nicht nur uralten Schmuck entdeckt, sondern auch eine Kassette mit einem Dokument. Dieses Dokument erweist sich, wie die Geschichtsprofessorin Hatton-Jones wort- und gestenreich erläutert, als authentischer und nie widerrufener Freibrief, in dem König Edward IV. (1442-1483) einen Strassenzug Pimlicos an Karl den Kühnen als burgundisches Gebiet abgetreten hatte, als dieser dort Zuflucht suchte. - Die Bewohner des Strassenzugs bemerken rasch, dass sie als „echte Burgunder“ den oft mühsamen Schikanen der Regierung, aber auch der Lebensmittelrationierung entkommen können – und bald jauchzt sogar der einzige Bobby des Distrikts: „Blimey, I’m a foreigner.“ – Doch Whitehall reagiert auf die Freiheiten, die sich der unerwartete Nachbarstaat mitten in London nimmt, keineswegs mit Begeisterung. Und als dann auch noch der Schwarzhandel dort zu blühen beginnt, entschliesst man sich zu einer Blockade des Stadtteils inklusive Grenzschliessung und Stacheldraht. Die Burgunder in London wiederum reagieren mit einer Passkontrolle der U-Bahn-Passagiere an ihrer „Grenze“. Man schaukelt sich gegenseitig hoch, bis sich eigentlich keine Partei mehr in ihrer Situation wohl fühlt. Dann erscheint auch noch der echte, äusserst gut aussehende Herzog von Burgund auf der Bildfläche und bringt die bislang typisch englisch ablaufenden Liebesgeschichten mit seinem europäischen Charme durcheinander…

T.E.B. Clarke widmete sich im ersten und angeblich besten seiner sechs Drehbücher für Ealing Comedies der Sehnsucht, an einem anderen Ort als England zu sein, zeigte aber auf lustige und deshalb nicht übermässig konservativ wirkende Weise auf, wohin die damit verbundene Freiheit ohne Verantwortung seiner Meinung nach führe: zum Bedürfnis, doch wieder Teil dieses geordneten Englands zu werden. Die ersehnte Ferne wird schon in den einleitenden Bildern auf raffinierte Weise heraufbeschworen: Ein weiss gekleideter Mann tritt zu mediterraner Musik an sein Fenster und blickt auf einen Sonnenschirm, unter dem jemand ruht, während sich eine Frau im Badekleid in der Sonne räkelt. Erst das Heraufziehen des Sonnenschutzes über einem Geschäft zeigt, dass sich der Zuschauer nicht am Mittelmeer befindet, sondern mitten im alltäglichen London, das, man glaubt es kaum, einer Hitzewelle ausgesetzt ist. Es mag auch an dieser Hitze liegen, dass sich sowohl die zukünftigen Burgunder auf Zeit als auch Whitehall („Technically, these Burgundians are aliens.“) unfähig zeigen, mit der Entdeckung des Dokuments umzugehen oder zu vernünftigen Lösungen zu gelangen. – Der Übermut bricht in einem neo-burgundischen Pub aus, wo man plötzlich auf die Idee kommt, man müsse sich nicht an die von der Regierung verordneten Öffnungszeiten halten. Als Polizist P.C. Spiller, der bald in einer eleganten weissen Uniform für „burgundische“ Bobbies herumlaufen wird, für Ordnung sorgen will, fordert man ihn auf, sich doch auch noch ein Bierchen zu genehmigen. Und um den Abend mit einem Höhepunkt abzuschliessen, verbrennt und zerreisst man die 1938 eingeführten, unbeliebten Identitätskarten (ähnlich verhielt sich 1950 ein Mann namens Clarence Henry Willcock, der sich mit der frechen Ausrede „I am a Liberal, and I am against this sort of thing“ weigerte, seine Karte zu zeigen und als letzter zu einer Strafe von zehn Schilling verdonnert wurde). 


Von nun an kennen beide Seiten keine Gnade mehr. Die Burgunder suhlen sich im Schwarzmarkt, und Whitehall stellt ihnen im Gegenzug Wasser und Elektrizität ab. Gegnerische Autos streiten sich via Lautsprecher, während Pimlico vom Wunsch nach einer „politischen“ Ordnung in seinem Burgund ergriffen wird.  Doch die Frage, wer denn eigentlich das Sagen haben solle, führt zu einem weiteren Chaos. Am Ende wird der Geschäftsführer und Entdecker des Dokuments Arthur Pemberton zum „Prime Minister“ nach britischem Vorbild ernannt. Denn im Grunde genommen möchte man, wie es Pemberton’s Frau sehr britisch auf den Punkt bringt, Engländer und Burgunder zugleich sein, die Vorteile beider „Nationalitäten“ geniessen: „We always were English, and we'll always be English, and it's just because we are English that we're sticking up for our rights to be Burgundians!“ – Und alle sich überschlagenden Geschehnisse werden von Journalisten verfolgt, teilweise sogar angeheizt. Die immer wieder eingeblendeten Schlagzeilen diverser Zeitungen zeigen, dass die Presse Grossbritanniens schon vor Rupert Murdoch Einfluss zu nehmen verstand. Höhepunkt des Films ist eine Wochenschau, die sich ein paar Jungs aus Pimlico in einem Kino anschauen und die dem Motto „The Siege of Burgundy“ folgend nicht nur die heldenhaften Bewohner Pimlicos sondern auch reale Gestalten wie Winston Churchill (dessen Reden für diverse harmlose Gags herhalten mussten) vorstellt und mit britischem Understatement wie „Water is cut up, but liquor makes, too“ glänzt.
"Passport to Pimlico" lebt vor allem vom Spiel einst in ganz England bekannter Komiker wie Stanley Holloway, John Slater und Philip Stainton, die als stereotype Figuren für Humor sorgen. Und allein schon die in einer Nebenrolle auftretende Margaret Rutherford als ebenso neugierige wie taktlose Professorin (die Rolle sollte ursprünglich von einem Mann gespielt werden), die den Herzog von Burgund fragt, ob er Bluter sei, lohnt eine Sichtung. Ansonsten vermag die Geschichte mit ihren kleinen Anspielungen auf die Blockade Berlins heute nur noch stellenweise zu begeistern. Sie folgt vielleicht zu sehr Michael Balcon’s Philosophie einer „mild revolution“ – und legt die Betonung auf „mild“. Das scheinbar in Anarchie mündende Aufbegehren der Möchtegern-Burgunder ist von einer Nostalgie durchzogen, die nicht nur einem England gilt, sondern sogar einem England während des Kriegs, als Zusammengehörigkeit noch gelebt wurde. Diese Zusammengehörigkeit wird gegen Ende des Films gefeiert, als die eingeschlossenen Burgunder mit Unmengen von Lebensmittel-Paketen beliefert werden. Ein von einem Hubschrauber herabgelassenes Schwein, das in der Luft fliegt, deutet aber zugleich das rein Illusorische der heraufbeschworenen Stimmung  an, verweist es doch auf das Idiom „when pigs fly“ (das geschieht, wenn Schweine fliegen, also nie). – Balcon liebte diese „Was wäre wenn?“-Geschichten, die gelegentlich für harmlose Lacher sorgten, aber nicht immer ihre Zeit zu überdauern vermochten - weil sie dem "Was wäre wenn" gar nicht ernsthat nachgingen, es nicht ausloteten. – Ich hatte neulich Gelegenheit, mich mit einem Filmfreund über ein Phänomen zu unterhalten, das wir alle kennen: Wir schauen uns einen Film an, der weitum als Klassiker gefeiert wird – und sind leicht von ihm enttäuscht. „Passport to Pimlico“ gilt zumindest in England als kleiner Klassiker; mir bereitete er längst nicht das erwartete Vergnügen. Ich verstehe, dass er mehr an seine Zeit gebunden ist als zum Beispiel die grossen Ealing Studio Comedies mit Alec Guinness. Aber daran allein kann es nicht liegen. Hat es vielleicht mit der verpassten Chance zu tun, einem anarchischen Aufbegehren sein Anarchisches wenigstens teilweise zu lassen? Verliess man sich zu sehr auf die schrulligen Typen und machte  aus der Idee mit Potential das, was oft mit dem Beiwort „charming“ versehen wurde?  --- Und doch kommt man nicht umhin, an die witzelnden Filme zu denken, die England in der zweiten Hälfte der 50er heimzusuchen begannen und muss zugeben: Man hat es mit einer schätzenswerten, wenn auch zu harmlosen kleinen Komödie zu tun.

Dienstag, 28. Februar 2012

Mr In-Between

A Murder Ballad (Alternativtitel: Mr. In-Between)
(Mr In-Between, Grossbritannien 2001)

Regie: Paul Sarossy

Wir alle lassen uns gelegentlich zum Kauf eines angeblichen Geheimtipps verleiten, der gerade verdächtig günstig zu haben ist. Üblicherweise stellen wir dann rasch fest, dass wir unser Geld verschwendet haben. In seltenen Fällen hat man aber wirklich einen Geheimtipp entdeckt. Die einzige Regiearbeit des Kameramannes Paul Sarossy, der sich unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit Atom Egoyan einen Namen machte, buhlte - wie ich später herausfand - als “Geheimtipp des Fantasy Filmfests 2002” nicht nur in Deutschland, sondern auch im englischsprachigen Raum gleich mit zwei verschiedenen Titeln (“The Killing Kind”) vergeblich um Anerkennung, schien also eine meiner Fehlinvestitionen zu sein. - Und doch lässt der Film mich auch nach der dritten Sichtung verwirrt und unentschlossen zurück. Die beiden Seelen, die in meiner Brust um ihn kämpfen, tauchen freilich in Foren ebenfalls auf, scheinen sogar “Rotten Tomatoes” in Beschlag genommen zu haben - und aus diesem Grund ist die DVD wohl noch nicht längst im Müll gelandet, sondern darf sich auf weitere “Annäherungen” gefasst machen:


Jon ist ein eiskalter Auftragskiller, der seinen Beruf mit einer geradezu pedantischen Gewissenhaftigkeit ausübt und seinem Auftraggeber, der sich als sein Lehrer und zweiter Vater aufführt, vollkommen ergeben ist. Die einzige oberflächliche Verbindung zu einer Welt, die nicht mit Mord oder (Drogen-)Schlaf in seiner ebenfalls pedantisch gereinigten weissen Wohnung zu tun hat, sind zwei Kumpel, mit denen er sich wie ein harmloser Versicherungsvertreter gelegentlich im Pub trifft. Doch dann begegnet er eines Tages einem alten Klassenkameraden und dessen Frau, in die er einst verliebt war. Der Wunsch, seiner bizarren Welt wenigstens gelegentlich zu entkommen und mit normalen Menschen zusammen zu sein, nimmt überhand. Dies macht ihn aber zu einer Gefahr für seinen Boss, der die heile Welt, die seinem Killer Zuflucht gewährt, in seine Zerstörungswut miteinbezieht und Jon am Ende nur die Auswahl zwischen zwei Möglichkeiten lässt: gestossen zu werden oder selber zu springen.


Die Geschichte des Berufskillers, der aussteigen und seiner  Welt entkommen will, ist eigentlich banal und schon vielfach filmisch umgesetzt worden. Sarossy geht es bei seinem erstaunlich langsam erzählten “Mr In-Between“, der mit bemerkenswert wenig expliziter Gewalt auskommt (die Morde werden meist als bruchstückhafte Rückblenden des halluzinierenden Jon miterlebt) aber nicht um das Nachahmen eines Vorgängers, sondern um den Aufbau einer seltsamen Atmosphäre, die geradezu melancholisch wirkendes Reales mit absurd-komisch Irrealem verwischen will. Jon befindet sich zum Beispiel auch während seiner präzise durchgeführten Aufträge in einem “realen”, alltäglichen England, nimmt dieses aber nicht als solches wahr. Dies zeigt der Beginn des Films: Ein  in einem Strassenzug spielendes Mädchen entdeckt einen Mann, der scheinbar harmlos seine Fenster putzt; es ist jedoch der in einer fremden Welt "tätige" Killer, der Blutspritzer von den Scheiben entfernt. Dass dieses “normale” England nicht (mehr) seine gewohnte Welt ist, deutet neben seiner seltsam sterilen Wohnung das tropfende Kanalsystem unter den Strassen Londons an, wo sein “Lehrer”, ein Gourmet, einen Lammbraten für ihn zubereitet und ihm in der gediegenen Bibliothek die benötigten Drogen und Ratschläge (die ihr banales Leben fristenden Menschen  lassen Tausende verhungern) verabreicht. Dieser offenbar wohlhabende, der guten Gesellschaft angehörende Auftraggeber und väterliche Freund (warum haust er in einem solchen Rattenloch?) verwandelt sich wiederum in einer abgelegenen Villa in ein tätowiertes Tier, das mit kindischer Freude selber gierig mordet. Die Atmosphäre ist der Aufhänger; sie will den Zuschauer in ein seltsames "Dazwischensein" mit eigenartig-faszinierenden Bildern  locken.


Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, “Mr In-Between” erhebe den Anspruch, im Gegensatz zu “verwandten” Aussteigerfilmen nicht ein Psychodrama, sondern ein surrealistisches Kunstwerk zu sein; und man weiss nicht, ob man die diese Zwischenwelt begleitenden scheinbar tiefsinnigen Bilder und Phrasen als solche akzeptieren soll. Denn vielleicht, und auch dieser Gedanke drängt sich im Verlauf des Films auf, sind sie nur gewollt tiefsinnig, führen den Zuschauer an der Nase herum, indem sie ihm ein Universum vorgaukeln, das so hintergründig nun auch wieder nicht ist. - Dennoch: der britische Film ist hervorragend besetzt, man nimmt Andrew Howard den Soziopathen, der sich nach Normalität zu sehnen beginnt, durchaus ab. Einzelne Szenen wirken sogar auf eigenartige Weise äusserst glaubhaft, etwa die Beichte des Killers und die Reaktion des Priesters auf die Frage, ob er ihn trotz all seiner Verbrechen liebe. Dieser erteilt ihm nicht die Absolution, sondern - kotzt. --- Ein Film, über den ich kein Urteil zu fällen vermag, weil ich seine Geschichte verstehe, aber aus seiner Intention - falls er denn eine hat - nicht schlau werde. Das kommt manchmal vor, und dazu sollte man stehen. 

Mittwoch, 30. November 2011

Waking Ned Devine


Lang lebe Ned Devine!
(Waking Ned Devine, Grossbritannien, Frankreich, USA  1998)

Regie: Kirk Jones

Man bezeichnet sie als Topoi, diese seltsamen Motive, die lange Zeit lediglich als Versatzstücke ein Schattendasein führen, auf etwas verweisen (zum Beispiel auf ein: “Hey Leute, ihr habt es mit einer Wohlfühlangelegenheit zu tun!”), urplötzlich aber doch Sinn und Bedeutsamkeit anzunehmen vermögen. Und es gibt sie natürlich auch im Film. Ein solcher Topos, man könnte ihn als “Schwierige Einzelgestalten raffen sich zum Wohle aller zusammen”-Motiv bezeichnen, geisterte ab Mitte der 90er Jahre durch das englische Kino. Er erwachte in “The Full Monty” (1997) zu blühendem Leben, weil der Männer-Striptease-Geschichte daran lag, auch die sozialen Umstände, die ein solches Sich-Zusammenraffen nötig machten, miteinzubeziehen. Weitere Filme, in denen der Topos mehr oder weniger glücklich eingesetzt wurde, waren “Still Crazy” (1998), “Saving Grace” (2000), “Blow Dry” (2001) und “Calendar Girls” (2003). Von einer gegenseitigen Beeinflussung ist kaum auszugehen, eher von einer Befindlichkeit, die die Sehnsucht nach einer erfolgreichen Gemeinschaft förderte.

Auch “Waking Ned Devine”, der Erstling von Kirk Jones, bedient sich des Topos  und setzt ihn für eine recht ungewöhnliche und wenig wahrscheinliche Geschichte ein: Der ganz dem Lotto ergebene Rentner Jackie ist überzeugt, dass jemand in seinem irischen 52-Einwohner-Dorf Tullymore den Jackpot geknackt hat, und er macht es zu seiner zweifelhaften Lebensaufgabe,  den glücklichen Gewinner zu ermitteln. Als er und sein Freund Michael feststellen, dass nur einer der regelmässigen Lottospieler zu einer speziell der Informationsbeschaffung dienenden Party nicht auftauchte, steht fest: Es war Ned Devine! - Dieser hat allerdings ein kleines Problem: Der Schreck über den unerwarteten Sechser liess ihn das Zeitliche segnen. Soll, so fragt sich Jackie nun, der Gewinn wegen einer solchen Kleinigkeit verfallen, ohne dass er etwas davon hätte?  Und er lässt sich einen hinterhältigen Plan einfallen, wie man die paar Millionen der Lottogesellschaft doch noch abjagen könnte. Bald steht das ganze Dorf hinter ihm. Dann taucht die “Hexe” Lizzy Quinn am Horizont auf. Sie hat herausgefunden, wie sie selber an einen beträchtlichen Anteil des Geldes zu kommen vermag...

“Waking Ned Devine”, auf der Isle of Man gedreht, wurde zum grossen Erfolg bei den Kritikern. Tatsächlich wartet der Film mit herb-schönen Landschaften auf, zeichnet sich auch durch hervorragende Darsteller aus, die uns in kleinen Nebensträngen weitere Bewohner des abgeschiedenen Dorfes näherbringen. Im Grunde genommen ist die Geschichte jedoch banal, hat kaum Überraschungen zu bieten. Sie taugt vielleicht als belanglose kleine Komödie, die vom typischen britischen Humor Gebrauch zu machen versucht (ein kleines Beispiel: als Jackie und Michael Neds Gesichtszüge zu verschönern versuchen, fällt dessen Prothese aus dem Mund). Selbst dieser Humor ist jedoch nicht schwarz genug, um britisch zu sein. Und der an den Haaren herbeigezogene Schluss, der offenbar noch für ein wenig Spannung sorgen soll, wirkt geradezu peinlich. - Der Film mag für einen locker-bedeutungslosen Abend sorgen, reicht jedoch nicht ansatzweise an den erwähnten “The Full Monty” heran, weil es ihm an Substanz fehlt. Wer freilich - um doch noch einen Teaser zu hinterlassen - an alten Knackern, die nackt auf einem Motorrad durch die Gegend tuckern, seine Freude hat, wird von “Waking Ned Devine" nicht enttäuscht sein.


Samstag, 24. September 2011

Cole Porter in den Mühlen einer verlogenen Traumfabrik

De-Lovely - Die Cole Porter Story
(De-Lovely, USA/Grossbritannien 2004)

Regie: Irwin Winkler
Darsteller: Kevin Kline, Ashley Judd, Jonathan Price, Kevin McNally, Sandra Nelson, Allan Corduner, Keith Allen, James Wilby u.a.

Kevin Kline ist zweifellos ein mehr als beachtlicher Schauspieler, der sowohl im dramatischen Fach (“Sophie’s Choice”, 1982) als auch in Komödien (“A Fish Called Wanda”, 1988) Ausserordentliches vorzuweisen hat. Zu Beginn des Jahrtausends liess er sich jedoch zu zwei Filmen unter der Regie von Irwin Winkler hinreissen, die ich nicht nur als enttäuschend, sondern - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - als regelrechte Ärgernisse empfand. Dass ihm die angebotenen Projekte verlockend, weil prestigeträchtig und wie für ein amerikanisches Publikum gemacht, vorkommen mussten, ist nachvollziehbar. Irwin Winkler war allerdings als Regisseur nicht annähernd so gut wie als Produzent von Filmen wie “Music Box” (1989) oder “Goodfellas” (1990); dies hatte schon sein Erstling “Guilty by Suspicion” (1991) gezeigt. Was die beiden Filme mit Kevin Kline jedoch so bedenklich erscheinen lässt, ist nicht bloss ihre konventionelle, uninspirierte Machart. Eine ausführlichere Besprechung der Krebs-Schmonzette mit reaktionärer Botschaft "Life as a House" (2001), einer Zumutung für jeden Schwerstkranken, der kurz vor seinem Tod nicht mehr auf Dachbalken herumjonglieren kann, erspare ich mir hier  und beschränke mich auf das Machwerk, das sich offenbar als zeitgemässe Darstellung des Lebens eines der grossen Musical-Komponisten der Vereinigten Staaten versteht.


Zuerst ein Outing: Ich bin ein grosser Fan älterer Musicals im Film und auf der Bühne, und ich schätze Cole Porter nicht zuletzt deshalb, weil er seiner Musik einzigarte, oft rotzfreche, aber auch zärtliche Liedtexte zu unterlegen vermochte. Diese Möglichkeit verdankte er einer Zeit, in der das Motto “Anything Goes” mit einer Bedeutung erfüllt war, die in einer Musical-Verfilmung oder gar in einem Biopic deutlich zum Ausdruck kommen müsste... - Leider erwies sich das moralinsaure Hollywood stets als unfähig, diese Aufgabe auch nur annähernd zu bewältigen: Filme wie “Kiss Me, Kate” (1948) oder “High Society” (1955) kommen viel zu bieder daher; das von Michael Curtiz gedrehte Biopic “Night and Day” (1946) mit Cary Grant muss sogar eine derart überzuckerte und verlogene Schnulze sein, dass mir ein paar Ausschnitte reichten. - Im Jahre 2004 hätte man eine dem Leben des Komponisten angemessene Verfilmung, die das Schrille, Abgründige jener Zeit, in der der von inneren Dämonen gequälte Cole Porter seine grossen Erfolge feierte, nicht bloss andeutungsweise (Dekor und Kostüme) vermittelt wird, erwarten dürfen - freilich nicht unter der Regie von Irwin Winkler!

“De-Lovely” bettet die Geschichte von Cole Porter in eine bereits vielsagende Rahmenhandlung ein: Der dem Tode nahe Komponist darf seine wichtigsten Stationen (Paris, Venedig, New York, Hollywood) noch einmal in Form einer Nummernrevue an sich vorüberziehen lassen - Regisseur ist Gabe (der Erzengel!). Und wir erleben mit ihm noch einmal in schwelgerisch-farbenfroh arrangierte Bilder (das himmlische Personal hat weder Kosten noch Mühen gescheut!) eingebettete Höhepunkte aus dem wiederum zurechtgerückten Leben eines Genies, die mit den wunderschönen, leider oft von bedeutungslosen Dialogen begleiteten Songs (sie werden z.T. von zeitgenössischen Künstlern wie Robbie Williams, Alanis Morissette, Sheryl Crowe und Natalie Cole interpretiert) der Musical-Legende angereichert sind - und ohne jeglichen Tiefgang geradezu langweilig-uninspiriert abgespult werden (selbst das berühmte Duett “Well Did You Evah!” wirkte 1955 von Bing Crosby und Frank Sinatra dargeboten wesentlich frecher, dem Geist von Cole Porter entsprechender, als hier), was den Eindruck erweckt, Winkler habe lediglich eine - allerdings kostspielige - Pflichtübung in Sachen Kitsch absolviert.

Kevin Kline und Ashley Judd spielen ihre Rollen als Ehepaar (genauer: Komponist und Muse) Cole und Linda Porter, der wohlhabenden Frau, die sich den Luxus leistete, täglich neue Handschuhe anzuziehen und ihrem Mann zu jeder Premiere ein teures Zigarettenetui zu schenken, hervorragend, überzeugen als jugendliche “Let’s Misbehave”- Europäer ebenso wie als langsam alternde und leidend-gehässige Figuren (Cole Porter war nach einem Reitunfall schwer verletzt und musste sich gegen Ende seines Lebens beide Beine amputieren lassen, die Kettenraucherin Linda starb an einer kaputten Lunge); sie wurden entsprechend auch für den Golden Globe nominiert. Die sie umgebenden Figuren, die - wie Monty Woolley, Irving Berlin oder Louis B. Mayer - für Leben und Karriere des Komponisten von grosser Bedeutung waren, wirken hingegen so blass und bedeutungslos wie die vielen Männer, mit denen Cole Porter Sex hatte (Cole war schwul, wenn er hier auch als bisexuell gezeichnet und bloss beim Sich-Anziehen nach einer Nacht mit einem russischen Balletttänzer oder beim Kuss im Halbdunkel gezeigt wird - was der reaktionären Tendenz des Films entspricht). - Das Ehepaar scheint sich jedoch nicht viel zu sagen zu haben: Cole betont höchstens alle drei Minuten, er habe den eben gehörten Song bloss für Linda geschrieben. Wie unsagbar billig, einfallslos und verlogen!


Einige Szenen deuten an, was aus “De-Lovely” hätte werden können: Ich denke etwa an die Reaktion Porter’s auf das Aufbegehren eines Schauspielers, er könne das (einen grossen Stimmumfang benötigende) Lied “Night And Day” nicht singen. Der Komponist begibt sich auf die Bühne, zeigt dem sich Beklagenden, wie man sich einfühlt - und dann performt der Junge, der nach der Premiere seinem Lehrer zur "Verfügung” steht, den Song perfekt vor Publikum. Besonders hübsch wirkt auch Cole’s Reaktion auf die Bitte von Louis B. Mayer, für den Film einfache Songs zu schreiben: Er macht ihn zum Song “Be A Clown” zum - Clown! - Andererseits verzichtet Winkler auf eine lineare Abfolge der Songs, was wenigstens die Chronologie der Erfolgsmusicals von “Paris” über “Anything Goes” bis zum nach einem langen Tief unerwarteten Comeback mit “Kiss Me Kate” rekonstruieren liesse. Stattdessen werden - und das empfand ich als grösstes, weil richtig peinlich wirkendes Ärgernis - die Songs so eingebaut, dass sie der Handlung gerade entgegenkommen: Wenn Cole mit Linda im Park spaziert, stösst man "zufällig" auf ein Klavier und trällert “Easy to Love”, wenn er eine Bar mit schwulen Strichern betritt, erklingt passend “Love For Sale” - und kurz vor seinem Tod tröstet ihn der Chor mit “Blow, Gabriel, Blow”(keine Hintergedanken, bitte!). Dass man zum Song "De-Lovely"  auch noch laute Streitereien zwischen Linda und ihrem Ex-Mann aufgetischt bekommt oder den Small Talk zum untypischen Duett "True Love" geniessen darf, macht den Film zum denkbar fragwürdigsten "Erlebnis".  - Dies sind die Momente, in denen man bereut, dass man sich anstelle der DVD nicht eine CD mit Cole Porter-Songs gekauft hat. Denn die jugendliche "Ausgelassenheit" in Europa, der dekadente Lebensstil, dem man sich an einem Swimming Pool in Hollywood hingibt und die diversen Trennungen und Erpressungen wegen der Männergeschichten füllen beim besten Willen kein offensichtlich hoffnungslos überteuertes Biopic, das zwar nicht gar so langatmig sein mag wie Taylor Hackford's "Ray" (2004) oder "Walk the Line" (2005)  von James Mangold, jedoch noch eine Spur banaler.

Die “Komische Oper Berlin” inszenierte 2008 “Kiss Me Kate” auf eine Weise, die dem Perfektionisten Cole Porter vielleicht nicht gefallen hätte, jedoch zeigte, dass man den der Musik zugrunde liegenden Geist heute sehr wohl zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln vermag: schrill, ausgelassen, wild, bewusst dekadent eben. Die Bianca umschwärmenden Männer (“Any Dick, Tom, Or Harry”) werden zu glitzernden Cowboys, einer von ihnen zieht sich hinter der Bühne gelegentlich eine Prise Koks rein und der Beginn des zweiten Akts (“Too Darn Hot”) präsentiert herrlich gelangweilt-besoffene Gestalten usw. usw. - Leider war es mir nicht möglich, mir diese heute eines Cole Porters würdige Inszenierung in Berlin anzusehen, und ich musste mich auf eine Aufzeichnung von 3sat verlassen. Sollte sich der Sender gelegentlich zu einer erneuten Ausstrahlung aufraffen: dort kann man sehen, was gezeigt werden müsste, man von einem Vertreter des neuen reaktionären Kinos wie Irwin Winkler jedoch nicht im Traum erwarten darf.

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Eigentlich wollte ich mich mit einem fulminanten, beinahe schon dekadenten Musical in den Urlaub verabschieden. Fehlende Zeit und Energie machten es jedoch nötig, den schon an anderer Stelle veröffentlichten Verriss leicht zu modifizieren und als Ersatz anzubieten. Dies möge der Leser bitte entschuldigen!

Ich muss aus privaten Gründen leider auch auf das übliche Versprechen verzichten, mich prompt nach sechs Wochen Absenz wieder hier einzufinden und meinen Mist im gewohnten Rhythmus zu liefern. Es wird sicher wieder "Whoknows" geben, möglicherweise aber nicht mehr gar so oft und häufiger mit Kurzbesprechungen. - Aus diesem Grund möchte ich meinem Co-Admin Manfred Polak auch noch öffentlich das gestatten, was er eigentlich schon längst dürfte: grundsätzliche Änderungen am Layout nach Absprache, die Aufnahme neuer spannender Blogger in die Blogroll - und sollte er auf einen würdigen und interessierten (Teilzeit-)Mitautor (alle drei bis vier Wochen ein Beitrag) stossen, wäre dies nur in meinem Interesse. --- Mag  all das jetzt auch ein wenig  gedämpft wirken: Geniesst die Zeit ohne mich! Wir lesen uns!

Mittwoch, 14. September 2011

Kriegsfilm ohne Schauspieler: WESTERN APPROACHES

WESTERN APPROACHES
Großbritannien 1944
Regie: Pat Jackson
Darsteller: Mitglieder der britischen Handelsmarine


Vor einigen Wochen las ich einen Nachruf auf Pat Jackson, der mit 95 Jahren gestorben war - ein Regisseur, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Als sein Hauptwerk wird darin WESTERN APPROACHES (der Titel bezieht sich auf einen westlich der britischen Inseln gelegenen Abschnitt des Atlantik) gerühmt, ein unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen entstandener Kriegsfilm im semidokumentarischen Stil, der den Beitrag der Handelsmarine zum Erfolg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg feiert. Der Film wurde seinerzeit als Meisterwerk gerühmt, geriet aber etwas in Vergessenheit, bis er vom britischen Imperial War Museum zuerst auf Video und dann auf DVD veröffentlicht wurde. Da die DVD nicht viel kostet, habe ich sie bestellt, und es hat sich gelohnt.


Bekanntlich haben Konvois aus Frachtschiffen, die von Kriegsschiffen begleitet wurden, durch die Lieferung von Kriegsmaterial und sonstigen Gütern aus Nordamerika nach Großbritannien dazu beigetragen, dass die Briten den Zweiten Weltkrieg siegreich überstanden. Gefahr drohte von deutschen U-Booten - es starben im Weltkrieg mehr Mitglieder der britischen Handelsmarine als Angehörige der Royal Navy oder der anderen Teilstreitkräfte. WESTERN APPROACHES verfolgt zunächst parallel zwei unabhängige Handlungsstränge: Während sich ein Konvoi von New York aus auf den Weg über den Atlantik macht, kämpft die Besatzung der versenkten Jason in einem Rettungsboot ums Überleben. Da ein Funkgerät intakt und die eigene Position bekannt ist, besteht Hoffnung auf Rettung, aber die Vorräte sind knapp. Unterdessen verliert ein Frachtschiff im Konvoi, die Leander, den Anschluss und damit den militärischen Schutz. Die Handlungsstränge kreuzen sich, als die Leander, allein unterwegs, einen Funkspruch mit Positionsmeldung aus dem Rettungsboot empfängt. Doch in unmittelbarer Nähe des Rettungsbootes taucht ein deutsches U-Boot, das den Funkspruch ebenfalls aufgefangen hat. Das Rettungsboot wird als zu mickrige Beute ignoriert, dafür legt sich das U-Boot auf die Lauer, um das zur Rettung herannahende Schiff zu torpedieren. Doch einer der Männer der Jason entdeckt das Periskop des U-Boots, und es gelingt, die Leander noch zu warnen. Das U-Boot hat nur noch zwei Torpedos an Bord, von denen einer danebengeht und der andere zwar trifft, aber die Leander nur beschädigt, so dass sie manövrierfähig bleibt. Der Kapitän des U-Boots will der Leander mit seiner Bordkanone den Rest geben, aber auch die Leander hat eine Kanone an Bord. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt ...


Pat Jackson entstammt der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre. Keimzelle der Bewegung war die von John Grierson geleitete Filmabteilung des General Post Office (GPO), in der Regisseure wie Grierson, Humphrey Jennings, Harry Watt und Alberto Cavalcanti den Dokumentarfilm als eigenständiges künstlerisches Genre etablierten. Jackson stieß noch als Jugendlicher zu dieser Truppe und war z.B. an der Entstehung von NIGHT MAIL (1936), einem der erfolgreichsten dieser Filme, beteiligt, und ab 1938 inszenierte er selbst kurze Dokumentarfilme. WESTERN APPROACHES war sein erster Spielfilm. Als der Kriegsausbruch zunehmend Dokumentarfilme mit kriegsbezogenem oder propagandistischem Inhalt hervorbrachte, wurde GPO Films dem Informationsministerium eingegliedert und in Crown Film Unit umbenannt, und die Crown Film Unit war es, die WESTERN APPROACHES produzierte, mit Unterstützung der Handels- und der Kriegsmarine. Zunächst war ein reiner Dokumentarfilm geplant, und die Marine wünschte Harry Watt (der mit TARGET FOR TONIGHT (1941) schon eine die Royal Air Force feiernde Dokumentation gedreht hatte) als Regisseur, aber Produzent Ian Dalrymple setzte Pat Jackson durch.


Der dokumentaristische Hintergrund von Jackson und der Crown Film Unit manifestierte sich vor allem in zwei Aspekten. Erstens wurden alle auf See spielenden Szenen - und das ist bis auf drei oder vier Szenen in einem Besprechungsraum und in der Einsatzzentrale der Konvois der gesamte Film - auch tatsächlich in der irischen See gedreht - wie eingangs schon erwähnt, unter gefährlichen und sehr schwierigen logistischen Bedingungen. (Die in Jacksons IMDb-Biographie erwähnten Aufnahmen mit Modellen im Studio sind nichts als Unsinn.) Und zweitens wurde der Film gänzlich ohne professionelle Schauspieler gedreht. Vielmehr besteht die Besetzung aus echten Matrosen, Unteroffizieren und Offizieren der Marine, die sich - innerhalb einer fiktionalen Handlung - mehr oder weniger selbst spielen (einzige Ausnahme ist Pat Jackson, der selbst eine Rolle in seinem Film übernahm). Die unverbrauchten Gesichter, die authentische Sprache (die Seeleute durften ihre Dialoge innerhalb eines gewissen Rahmens improvisieren) und die automatisch sitzenden Bewegungsabläufe sorgen für eine ungemeine Authentizität des Films. (Was die Sprache betrifft, so erhob das British Board of Film Censors an mehreren Stellen Einwände wegen zu drastischer Ausdrücke. Die Authentizität wird etwas getrübt dadurch, dass die Besatzung des deutschen U-Boots, die im Film nur Deutsch spricht, von Holländern gespielt wird, was unsereins am Akzent leicht bemerkt. Da das dem britischen Publikum kaum auffallen konnte, sollte man dem Film diesen kleinen Schönheitsfehler nachsehen.) Und es ergeben sich atmosphärisch äußerst dichte Momente, die das Zusammengehörigkeitsgefühl und den schwierigen Alltag der Seeleute wiedergeben, wie das ein mit Stars besetzter Film eines großen Studios kaum könnte.


Zwei andere Aspekte des Films verweisen jedoch darauf, dass WESTERN APPROACHES auch ein spannender Spielfilm ist: Zum einen die symphonische Musik von Clifton Parker, die dramatische Akzente an den richtigen Stellen zu setzen weiß (wie in so vielen britischen Filmen wurde sie vom Routinier Muir Mathieson eingespielt). Vor allem aber beeindruckt die grandiose Kameraarbeit. WESTERN APPROACHES wurde in Technicolor gedreht - bei britischen Filmen der Kriegsjahre ein seltenes Privileg (einziges anderes mir bekanntes Beispiel ist Laurence Oliviers HENRY V). Die Kamera führt kein Geringerer als Jack Cardiff, und ihm gelingen eindrückliche und stimmungsvolle Aufnahmen, die sowohl dokumentarische als auch dramatische Qualitäten aufweisen. Die gelungene Kombination dieser beiden Aspekte insgesamt ist es, was WESTERN APPROACHES zu einer sehenswerten Ausgrabung macht.


Wie oben schon erwähnt, ist WESTERN APPROACHES in einer DVD-Reihe des Imperial War Museum erschienen. Die Scheibe enthält einen Audiokommentar, der von Pat Jackson und Toby Haggith, einem Historiker aus dem Filmarchiv des Imperial War Museum, gemeinsam bestritten wird, sowie einen Bonusfilm.