Montag, 28. Mai 2012

Weltraumfolie und Drogen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA

THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA
USA 1968
Regie: Ira Cohen
Darsteller: Ira Cohen, Angus MacLise, Hetty MacLise, Peter Birnbaum, Robert LaVigne, Tony Conrad, Beverly Grant, Jack Smith, Ziska Baum, Loren Standlee u.a.

"There is the science of mirrors and there is the magic of mirrors." (Ian MacFadyen im Booklet der DVD des Films)


"Mylar" ist der bekannteste von mehreren Handelsnamen einer speziellen Polyesterfolie, die sehr leicht und dabei besonders reißfest und in sonstiger Hinsicht widerstandsfähig ist. Mit Aluminium beschichtet, ist Mylar auch gasdicht und reflektiert bis zu 99% des auftreffenden Lichts. Die vielfältigen Anwendungen des Materials reichen von Lebensmittelverpackungen bis zur Nutzung im Weltraum, etwa in Raumanzügen der Nasa, zur thermischen Isolierung von Satelliten und als Sonnensegel zum Antrieb der Sonde Cosmos 1 (die allerdings schon beim Start abstürzte). Der New Yorker Fotograf und Poet Ira Cohen (1935-2011) hingegen kam auf eine gänzlich andere Anwendung: In seiner Wohnung in der Lower East Side von Manhattan richtete er sich Mitte der 60er Jahre mit metallbeschichteter Folie eine Mylar Chamber ein, ein flexibles Spiegelkabinett. Dort schoss er im Lauf der Jahre Tausende Fotos, meist Portraits von Künstlern aller Art und von seinen Freunden und Bekannten. Seinerzeit recht bekannt wurde etwa ein Portrait von Jimi Hendrix. Hier und auf anderen Websites kann man sich einige weitere Beispiele ansehen. Aber nicht nur in der Mylar Chamber, sondern auch auf Cohens ausgedehnten Reisen, die ihn vor allem zu damaligen Hippie-Anziehungspunkten wie Marokko, Indien und Nepal führten, kam die leichte und strapazierfähige Folie zum Einsatz. 1968 reifte der Entschluss zum nächsten Schritt: Warum nicht auch einen Film in der Mylar Chamber drehen? Das Ergebnis, THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA, kann man getrost als ultra-psychedelisch bezeichnen.


1961 war Cohen für vier Jahre nach Marokko gegangen, wo er mit anderen Marokko-Exilanten aus der Literatur- und Subkulturszene wie William S. Burroughs, Paul Bowles und Brion Gysin in Kontakt trat, ein Magazin für Beatnik-Literatur und obskure Themen wie Exorzismus herausgab und in Zusammenarbeit mit Bowles und Gysin Tonaufnahmen marokkanischer Sufi-Musiker machte (einige Jahre später machte Stones-Gitarrist Brian Jones einen Teil dieser Musiker durch das von ihm produzierte Album Brian Jones presents the Pipes of Pan at Joujouka international bekannt) und als LP herausbrachte. Nach seiner Rückkehr nach New York 1966 veröffentlichte Cohen unter einem Pseudonym ein Hashish Cookbook, das seine damalige Freundin in Tanger geschrieben hatte, und er begann mit Mylar zu experimentieren. Cohen war damals in die Ostküsten-Avantgarde- und Underground-Szene integriert, die sich um Leitfiguren wie Andy Warhol und Jack Smith scharte, und aus diesem Kreis stammte die Mehrheit der rund 40 Beteiligten an THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA. Vor allem der Underground-Regisseur, Fotograf und Aktionskünstler Jack Smith, dessen berühmt-berüchtigter erster Film FLAMING CREATURES (1963) bei der Premiere von der New Yorker Polizei beschlagnahmt wurde (was eine heftige öffentliche Debatte auslöste), wurde zu einem Vorbild und Freund von Cohen, und er spielte auch in THUNDERBOLT PAGODA mit. Die Gesamtheit der Mitwirkenden am Film bekam von Cohen die ad-hoc-Bezeichnung The Universal Mutant Repertory Company verpasst.


Weil sich der Eindruck des Films kaum angemessen in Worte fassen lässt, zunächst hier und hier zwei kurze Ausschnitte auf YouTube. Es wurde keineswegs der ganze Film als Mylar-Reflexion gedreht, dafür kamen auch andere Stilmittel wie Mehrfachbelichtung und durch Prismenvorsätze erzeugte kaleidoskopische Split-Screen-Effekte zum Einsatz. Aber auch die durchaus vorhandenen "plain" gefilmten Sequenzen wirken völlig surreal, weil alle Darsteller mit äußerst fantasievollen Masken und Kostümen versehen waren, mit merkwürdigen Objekten hantierten und sich wie in Trance oder im Drogenrausch bewegten. Hauptverantwortlicher für Masken, Kostüme und das sonstige Produktionsdesign war Robert LaVigne, ein Maler aus San Francisco, der in den 50er Jahren zum Dunstkreis der Beatniks um Allen Ginsberg gehört hatte.


Die erste Hälfte des rund 22 min langen Films wurde in der Mylar Chamber gedreht, die zweite im Freien auf einer Lichtung (aber auch hier teilweise unter Nutzung der Folie). Die letzten zwei oder drei Minuten bestehen aus gänzlich abstrakten wunderschönen bläulichen Bildern, die mit Hilfe von flüssigem Quecksilber, das auf horizontal gehaltener Folie erratisch umherfloss, gedreht wurden. Wenn man will, kann man in den Film so etwas wie eine rudimentäre Handlung, die schamanistische oder alchemistische Rituale enthält, hineinlesen, man kann es aber auch lassen. Offensichtlich ist jedoch, dass auf die Wirkung von Opium, LSD und anderen psychoaktiven Substanzen angespielt wird. Das wurde von Cohen noch betont, indem er einigen der Gestalten Namen wie The Majoon Traveler (gespielt von Cohen selbst) oder The Methedrine Cardinal gab.


Ein beträchtlicher Teil der hypnotischen Wirkung des Films beruht auf dem flirrend-fiebrigen Soundtrack, der unter Leitung von Angus MacLise von einer Combo eingespielt wurde, die ebenfalls einen ad-hoc-Namen erhielt, nämlich The Joyous Lake. Sie bestand aus Angus und seiner Frau Hetty MacLise, Tony Conrad, Ziska Baum, Loren Standlee und drei weiteren Mitspielern - sie alle spielten auch im Film mit. Der größte Teil der Musik wurde 1968 live zu einer Vorstellung des Films in einer New Yorker Kirche eingespielt. Angus MacLise ist heute am ehesten dadurch in Erinnerung, dass er der erste Percussionist von The Velvet Underground war. In den frühen 60er Jahren spielten er und Tony Conrad zusammen mit La Monte Young, John Cale und anderen in der Formation Theatre of Eternal Music, auch als The Dream Syndicate bekannt, wo sie zu Mitbegründern von Minimal Music und Drone Music wurden. Sein damaliger Mitstreiter John Cale holte MacLise dann zu den gerade gegründeten Velvet Underground, aber als 1965 der erste bezahlte Auftritt anstand, verweigerte sich der radikale MacLise dieser "Kommerzialisierung" der Band, stieg aus und wurde durch Maureen Tucker ersetzt. Ähnlich wie Cohen, begab sich MacLise später zusammen mit Hetty auf ausgiebige Reisen in Länder wie Indien und Nepal. Durch langjährigen Drogenkonsum und eine Tuberkulose geschwächt, starb Angus MacLise 1979 mit 41 Jahren in Kathmandu. Sein musikalisches Werk, das Minimal Music mit orientalischen Rhythmen verband, blieb lange weitgehend unbekannt und unveröffentlicht, erst seit Ende der 90er Jahre kam es zu CD-Veröffentlichungen. Eine CD von 1999 mit dem Titel The Invasion of Thunderbolt Pagoda enthält als Titelstück eine 39-minütige Version des Filmsoundtracks, die man hier auf YouTube anhören kann [leider inzwischen gelöscht].


MacLises alter Freund und Kollege Tony Conrad erweiterte unter dem Einfluss seiner damaligen Frau Beverly Grant, die als Schauspielerin in diversen Undergroundfilmen der 60er Jahre mitwirkte und zu Warhols sogenannten Superstars in der Factory gehörte, seine Interessen von der Musik in Richtung Experimentalfilm (sein THE FLICKER von 1965 gilt als einer der ersten Structural Films), später zur Videokunst, und er ist bis heute in verschiedenen Kunstrichtungen aktiv. Am bekanntesten wurde er wohl durch seine Zusammenarbeit mit der deutschen Band Faust, in der die Synthese von Minimal Music und Krautrock gelang. Das Poeten- und Musikerpaar Ziska Baum und Loren Standlee lebte Mitte der 60er Jahre in einer Hippie-Kolonie auf der Insel Formentera, dann in Paris, wo sie zur ersten Inkarnation der anglo-französischen Band Gong gehörten, bevor sie schließlich nach New York übersiedelten und über das Filmemacherpaar Sheldon und Diane Rochlin (die auch in THUNDERBOLT PAGODA mitwirkten und die Kamera führten) zu Cohens Kreis stießen. Über Raja Samyana, Henry Flynt und Jackson Mac Low, die restlichen Mitglieder von The Joyous Lake, weiß ich nichts zu berichten. [UPDATE: Henry Flynt ist ein Philosoph, Wissenschaftler, Konzeptkünstler, experimenteller Musiker, und ein Aktivist gegen den etablierten Kulturbetrieb. Seit Ende der 50er Jahre gehörte auch er zum Dunstkreis von Tony Conrad und La Monte Young. Mehr zu seiner Biographie und seinen Aktivitäten gibt es hier. In seiner Musik, von der es mittlerweile einiges auf YouTube gibt, vereint er unter dem Dach der Minimal Music Elemente von Hillbilly und Blues über Elektronik bis zu indischen Ragas. 2013 war ihm in Düsseldorf und Karlruhe eine Ausstellung gewidmet (siehe auch dieses einstündige Video mit ihm).]


So außergewöhnlich THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA ist, ist er doch nicht im luftleeren Raum entstanden. An Vorgängern würde ich zunächst Kenneth Angers INAUGURATION OF THE PLEASURE DOME benennen. Von den Filmen, die ich kenne, ist jedoch CHUMLUM (1964), der letzte Film des jung verstorbenen Ron Rice, THUNDERBOLT PAGODA am ähnlichsten. Es gibt auch personelle Verbindungen zwischen den Filmen: Angus MacLise war auch bei CHUMLUM für den Soundtrack verantwortlich, und Beverly Grant und Jack Smith spielten mit. Den auf manchen Websites behaupteten Einfluss von Sergej Paradschanow auf Cohens Film halte ich dagegen für eher unwahrscheinlich.


Wie schon angedeutet, machte Cohen lange Reisen, die ihn nach Äthiopien, Japan, Indien oder Nepal (wo er in Kontakt mit den dort lebenden MacLises stand) führten, lebte auch eine Zeit lang in Amsterdam, und zwischendurch immer wieder in New York. Er fotografierte weiterhin und schrieb Gedichte, und gelegentlich gab er Magazine und handwerklich hochwertig produzierte Bücher heraus. Dagegen drehte er nur noch einen Film, nämlich eine Doku über das Kumbh-Mela-Fest in Indien, das von den Teilnehmerzahlen her das größte religiöse Fest der Welt ist. Ein einstündiges Fernsehgespräch mit ihm darüber kann man hier ansehen. An einer digitalen Veröffentlichung von THUNDERBOLT PAGODA hatte er lange kein Interesse, aber Mitte der 2000er Jahre konnte er dazu überredet werden. Der in der IMDb als Produzent von THUNDERBOLT PAGODA bezeichnete Will Swofford hat in Wirklichkeit nicht den Film, sondern die 2006 erschienene DVD produziert. In Cohens Wohnung fanden sich auch noch rund vier Stunden an Outtakes, die zur Anreicherung der DVD genutzt wurden. Einerseits fügte Cohen dem doch recht kurzen Film einen optionalen achtminütigen Prolog hinzu, der einen eigenen neuen Soundtrack erhielt, und der nicht farbig, sondern monochrom in Sepia viragiert ist. Er zeigt die Protagonisten überwiegend nicht in den Masken und Kostümen des Hauptfilms, sondern in schlichter Aufmachung bei merkwürdigen Verrichtungen im Schlamm, die an Rituale von Stammesangehörigen in Neuguinea denken lassen. Wer schon mal das Bild in meinem Google-Profil genauer betrachtet hat, wird bei Ansicht des Prologs ein Déjà-vu haben ...

Prolog: Angus MacLise (links oben), Ira Cohen
Und andererseits montierte Swofford aus Teilen der Outtakes einen 30-minütigen Bonusfilm mit dem Titel BRAIN DAMAGE, ebenfalls mit neuem Soundtrack. Eine Slideshow von Mylar-Fotos, ein konfuses Kurzportrait von Cohen, das einer seiner Söhne und Swofford drehten, und ein schön gestaltetes Booklet bilden weiteres Bonusmaterial. Für den eigentlichen Film gibt es auch zwei zusätzliche alternative Soundtracks. Der eine wurde 2003 von Acid Mothers Temple SWR, einer Fraktion des verzweigten japanischen Band-Projekts Acid Mothers Temple, bei einem Festival in Schottland live eingespielt. Der andere wurde 2006 von der US-Band Sunburned Hand of the Man, die in den 2000ern Cohen auch gelegentlich bei Lesungen seiner Gedichte begleitet hatte, ebenfalls live aufgenommen. Die Original-DVD von 2006 ist inzwischen out of print und wird stark überteuert gehandelt, es scheint aber neuerdings eine Neuauflage zu geben.

Abstrakte Bilder am Schluss

Montag, 21. Mai 2012

Gerechtigkeit und Freude küssen sich oder Whoknows Presents begrüsst zwei Gastautoren


Eigentlich wollte ich diese Begrüssung zweier Gastautoren, die das enge Band zwischen der Schweiz und Deutschland erneut betont, mit dem Titel "Merkel und Blocher begegnen einander" zieren, sah dann aber ein, dass uns das Privatleben der beiden Politiker nichts angeht und auch kaum interessiert. Also griff ich auf die Rede des alten Löwenjelm in "Babettes Gæstebud" (1987) zurück, einem Film, den ich so sehr verehre, dass ich ihn ohnehin nicht zu besprechen wage. - Denn Gerechtigkeit (wir haben zwei zusätzliche gute Leute verdient) und Freude (es waren zwei Wunschkandidaten) küssen sich heute wirklich.

QBrick ist nicht nur der Mann, der mich regelrecht zur Besprechung von Hitchcock's "Rebecca" antrieb, um mir dann doch in gewissen Punkten überzeugend zu widersprechen; er half mir auch beim hoffnungslosen Versuch, das cineastische Interesse einer Schweizer Community zu wecken. david wiederum ist ein ausserordentlich spannender Besprecher von Filmen, den sicher viele von euch von einem anderen Blog her kennen - und dessen vielfältige Interessen Beachtung verdienen. Es erfüllt mich mit Stolz, ihn, der sich schon immer auch dem Kontext verpflichtet fühlte, bei uns zu wissen.

Mögen die beiden neuen Gastautoren jedoch das über sich mitteilen, was ihnen am Herzen liegt - und uns ein wenig auf ihre Schwerpunkte vorbereiten!

QBrick über sich:

     Mein Name sei QBrick, und ich schaue Filme. Wie man aus meinem Nicknamen leicht ableiten kann, mag  ich Backsteine, verehre Stanley,  schwärme für 007-Soundtracks - und wuchs mit Kühen auf. Während der  letzte Punkt eher sekundäre Priorität in meinem Leben besitzt, sind die anderen Punkte als pianospielender Architekturstudent topaktuell. Wie von meinem Vorredner erwähnt, werde ich bei meinen Einträgen auch auf Musik und Architektur in Filmen eingehen. Wer also wissen will, wieso der War-Room dreieckig sein musste oder der Hauptsitz des chinesischen Propagandafernsehers CCTV neuerdings in Chicago steht, wird bei mir (vielleicht) auf Antworten stossen.

david über sich:

      Hallo, ich heiße David und ich bin filmsüchtig! David ist mein richtiger Name, auch wenn manche Leute mich aus völlig unerfindlichen Gründen „Daniel“ oder „Dave“ (ausgesprochen: Däif) oder „Martin“ nennen. Wohnhaft bin in der Stadt der Dichter und Denker im „Grünen Herzen Deutschlands“, in der cinematographischen Topographie also in einer Wüsten-Region, wo gute Arthouse-Oasen selten sind. Deshalb stapeln sich in meinem natürlichen Habitat (umgangssprachlich „Zimmer“) nebst Blättern, Wollmäusen und ganzen Bücherhorden auch DVDs zu kunstvollen Türmen. Ich habe was mit Geschichte und Osteuropa studiert – Interessen, die gelegentlich in meinen Besprechungen durchscheinen werden, aber nicht unbedingt müssen. Bei einem anderen Blog schreibe ich bereits als Gastautor formell wenig raffinierte, dafür umso ungestümere und spontanere Texte und Textfragmente. Es freut mich, dass „Whoknows Presents“ mir nun eine Plattform bietet, in der ich mein obsessives Mitteilungsbedürfnis in Sachen Film in vielleicht etwas durchdachteren Formen befriedigen kann. Um „Muttis“ Vater zu paraphrasieren: Seien wir mal alle gespannt, was da hinten rauskommen wird!


Ich hoffe, unsere Leserschaft werde die unerwartete Bereicherung von "Whoknows Presents" mit ebenso grosser Begeisterung aufnehmen wie Manfred und ich, QBrick und david herzlich willkommen heissen - und ihre zukünftigen Beiträge, auf die wir uns riesig freuen, mit Interesse kommentieren.

Whoknows 

Donnerstag, 10. Mai 2012

Gastautor gesucht

Liebe Leserin, lieber Leser!

Wer gelegentlich einen Blick in unser Blog wirft, wird bemerkt haben, dass Manfred Polak und ich nicht nur immer wieder mit längeren Besprechungen zum Teil weniger bekannter Filme anrücken, sondern uns auch dem Motto „Film und Kontext“ verpflichtet fühlen. Dies erfordert neben mühsamer Schreibarbeit eine zusätzliche Bereitschaft für aufwendige Recherchen Und da wir euch doch mehr oder weniger regelmässig mit Posts bedienen wollen, können wir uns manchmal des Eindrucks nicht erwehren, man lebe nur noch für seine Filmbesprechungen und nehme sich kaum noch Zeit für einen Abend, der einfach der Ablenkung etwa mit belanglosen Filmen dient...

Wir haben uns deshalb entschlossen, nach einem Gastautor Ausschau zu halten, der „Whoknows Presents“ etwa alle vier Wochen mit einem Beitrag bereichert und uns damit mehr entlastet als man sich vorstellen kann.. – Es ist sicher nicht leicht, einen solchen Gastautor zu finden, weil die meisten Leute ihr eigenes Ding durchziehen wollen. Andererseits sind einige Blogs am Einschlafen, und ein Blogger oder ein Mitglied eines Gemeinschaftsblogs könnte es als Erleichterung empfinden, nicht jede Woche Lesefutter produzieren zu müssen. Angesprochen dürfen sich natürlich auch Filmfreunde fühlen, die sich gar nicht auf ein eigenes Blog und die damit verbundene Arbeit einlassen möchten. – Denkbar wären unter Umständen abwechselnde Gastautoren, die in gewissen Abständen ihre Beiträge (Besprechungen eines Films oder allgemein filmbezogene Artikel) bei uns unterbringen.

Was wir bieten: angenehme Umgangsformen und ein Bemühen, eure Artikel ebenso hervorzuheben wie unsere (wir sind der Ansicht, dass Posts gelesen werden sollen und lassen deshalb grundsätzlich ein paar Tage vergehen, bevor wir eine neue Besprechung reinstellen), eine nicht mit den „Top-Blogs“ zu vergleichende, aber treue und interessierte Leserschaft. – Was wir erwarten: ein gewisses Niveau, weil diese Leserschaft Billigst-Abfertigungen nicht goutiert (wer schon mal Teil oder Leiter eines Blogs war, weiss, was wir damit meinen, ansonsten könnte man sich mit einer Schreibprobe beweisen). – Gestalterisch wäre einem Gastautor jede Freiheit gewährt, inhaltlich hingegen von gewissen Überschreitungen (Rassismus, Pornographie) abzusehen.
Wer sich angesprochen fühlt, möge sich bei Manfred Polak oder mir (oder auch bei beiden gleichzeitig) melden. Wir würden uns freuen, einen Gastautor oder auch deren zwei bei uns begrüssen zu dürfen, wobei man sich über die Frequenz der Beiträge einigen könnte. Unsere Leser haben ein wenig Abwechslung verdient – und wir müssen uns gelegentlich einfach ein paar faule Abende gönnen.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Warum der Film mit der toten Titelfigur funktioniert

Für die schlaflosen Nächte, die mir diese Spoiler nach Möglichkeit umgehende Besprechung bereitete, ist ein sympathischer junger Film-Freak und Musik-Spezialist zuständig, der als "travel" mit mir über den Score von "Rebecca" korrespondierte. Er hielt ihn für alles andere als gelungen, was mich zum Nachdenken und zum ihm widersprechenden Schreiben anregte. Wer mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, möge sich an "travel" wenden; denn ohne ihn, dem ich meine Auseinandersetzung mit Hitchcock's Hollywood-Erstling hiermit widme, fände man an dieser Stelle die Besprechung eines grandiosen Schlachten-Epos aus dem Fürstentum Liechtenstein.

Rebecca
(Rebecca,  USA 1940)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Laurence Olivier, Joan Fontaine, George Sanders, Judith Anderson, Nigel Bruce, Reginald Denny, C. Aubrey Smith, Gladys Cooper, Florence Bates, Leo G. Carroll u.a.


Alfred Hitchcock drehte zwei Filme, deren Titel auf eine Frauenfigur verweisen. Einer dieser Filme, "Marnie" (1964), sollte dem mittlerweile zum Meister herangereiften Regisseur eigentlich vollumfänglich gelungen sein. Und doch müssen Verehrer wie ich ihn immer wieder vor Angriffen in Schutz nehmen. Von "Rebecca" wiederum könnte man aus verschiedenen Gründen annehmen, er sei - obwohl er mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde - gar nicht in der Lage, zu funktionieren. Trotzdem bestätigt jede Sichtung, dass ihm mit Recht der Ruf anhaftet, ein kleiner Klassiker mit verzeihlichen Schwächen zu sein. Man sagt zwar, er stehe irgendwo zwischen der "britischen" und der "amerikanischen" Phase des Meisters; seiner Bedeutung tut dies keinen Abbruch. - Diese Besprechung möchte sich mit der Frage beschäftigen, warum "Rebecca", das Werk mit der toten Titelfigur, eigentlich nicht funktionieren kann - und warum es dies dennoch tut.


Hollywood-Mogul David O. Selznick verführte den mittlerweile erfolgreichen Briten 1938 bekanntlich  zur Unterschrift eines seiner berüchtigten Sieben-Jahres-Verträge und stellte ihm die Regie eines "Titanic"-Films  in Aussicht.  Da Hitch an einem solchen Streifen überhaupt nicht interessiert war, schlug er dem Produzenten die Verfilmung des erfolgreichen Romans "Rebecca" von Daphne du Maurier als erstes gemeinsames Projekt vor. Die Reaktion auf sein Drehbuch, das in britischer Manier dem Film zuliebe von der Romanvorlage abwich und deren altmodischen "Gothic"-Touch mit Humor zu kontern versuchte, liess ihn aber erkennen, wie wenig ein Regisseur in Hollywood und speziell unter Selznick zu sagen hatte. Selznick, Verfechter möglichst dem Werk getreuer Verfilmungen mit vielen Zitaten aus dem Roman, liess den Neuen in einem seiner Memos wissen: "We bought 'Rebecca', and we intend to make 'Rebecca'." - Dieses Memo mit seiner mehr als deutlichen Botschaft stellte Hitchcock vor ein grosses Problem. Denn Selznick verlangte nicht nur die Verfilmung einer hoffnungslos altmodischen Geschichte, sondern die eines Romans, der sich gar keinem eindeutigen Genre zuordnen lässt. "Rebecca" schwankt unverkennbar zwischen Romanze, "Gothic"-Melodrama und Kriminalgeschichte. Er ist, und das fällt jedem Leser unangenehm auf, eine seltsame Mischung, die vor allem auf weibliche Leser abzielt und nicht so recht funktionieren will. Ein Stoff, der dem Thriller-Spezialisten in "Reinform" sicher nicht zusagen konnte. - Hinzu kam, dass Selznick im Grunde genommen einen britischen Film forderte, jedoch einen, der in den Staaten gedreht werden sollte. All dies beschäftigte den Regisseur, der später gegenüber Truffaut behaupten sollte, "Rebecca" sei gar kein Hitchcock-Film, mehr als das Getue um die Besetzung, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Projekt lenken sollte wie kurz zuvor bei "Gone With the Wind" (1939).

Obwohl sich Selznick mehr als erwünscht in die Dreharbeiten einmischte, hatte Hitchcock Glück: Der Produzent war noch so sehr mit der Post-Production des Mega-Hits um die schöne Scarlett  beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie sein "Knecht" heimlich alles unternahm, um  möglichst viel vom drohenden Durcheinander einer "werkgetreuen" Verfilmung abzuwenden. Und da er sich an seine aus England importierte Arbeitsweise hielt, nur das zu drehen, was für den fertigen Film benötigt wurde, blieb dem Produzenten, der es liebte, seine Filme im Schneideraum selber zusammenzusetzen, letztlich nur das Toben und die Flucht in eine Depression. - Hitch hatte (vom geforderten Ende abgesehen) weniger auffallende Veränderungen an der Vorlage vorgenommen; er hatte ihr jedoch mit allen erdenklichen filmischen Mitteln so etwas wie Einheitlichkeit zu verleihen versucht, den zitierten (!) Worten des Romans durch die Kraft der Bilder  gelegentlich sogar subtil widersprochen. - Das Resultat entsprach zwar nicht seinem gewohnten Desinteresse an Werktreue, wenn es um Adaptionen ging; es sollte aber eine gute Vorbereitung für spätere Psychothriller werden.

„Rebecca“ beginnt mit einem Traum der namenlosen Hauptfigur, der vom düsteren Anwesen Manderley handelt, das sie einst zusammen mit ihrem Mann bewohnte. Die eindringlichen, wortgetreu vom Roman übernommenen Bilder („It seemed to me I stood by the iron gate, … and for a while I could not enter for the way was barred to me. Then, like all dreamers, I was possessed of a sudden with supernatural powers…“) müssen zwangsläufig in eine zum Traum gehörende Geschichte münden, in der sich der Zuschauer mit der Erzählerin identifizieren kann. Könnte er dies nicht, würde sie im Gegensatz zum Roman leicht als übermässig tollpatschiges, höchstens Gelächter auslösendes Wesen wirken. - Da diese Geschichte aber auch Bestandteil des Traums ist (man beachte den Übergang vom eigentlichen Traum zu den Schuhen des Fremden, der an der Klippe steht und sich scheinbar das Leben nehmen will!), gilt für sie das, was für alle Träume gilt: Es gibt nichts Eindeutiges, Gesehenes und Wirkliches stimmen nicht unbedingt überein, können sich sogar widersprechen. Auch darauf weisen die ersten Traumbilder bereits raffiniert hin: Die beinahe singende Frauenstimme aus dem Off erzählt von der „perfect symmetry of those walls“, deren sie ansichtig wurde. Was ihr Traum jedoch zeigt, ist die hinter Ästen verborgene dunkle Ruine eines wirren, unheimlichen Gebäudes, wie es mit seinen verschiedenen Flügeln höchstens jenem Baustil entsprungen sein konnte, der im Zeitalter der Romantik als „Gothic“ beliebt war. Von Symmetrie keine Spur. Der Zuschauer ist vorbereitet: Er muss sich mit der Hauptfigur identifizieren, aber auch alles mit ihren – unzuverlässigen - Augen  wahrnehmen:

Eine schüchterne junge Frau arbeitet als Gesellschafterin für eine unsympathische amerikanische Matrone. Während eines gemeinsamen Aufenthalts in Monte Carlo lernt sie den Engländer Maxim de Winter kennen, dessen erste Frau Rebecca ein Jahr zuvor unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Obwohl Maxim ihren Tod offenbar noch nicht überwunden hat, freundet er sich rasch mit dem unscheinbaren Wesen, das er schroff mit „you little fool“ anredet, an. Die beiden heiraten und begeben sich nach Cornwall, wo die „zweite Mrs. de Winter“ zusammen mit ihrem Mann in dessen düsteren Anwesen Manderley leben soll. Dieses Anwesen ist, wie sie rasch erkennen muss, noch völlig durchdrungen vom Geist der Verstorbenen, deren Schönheit eine Macht auf alle, die sie kannten, ausübte. Insbesondere Mrs. Danvers, die Haushälterin, begegnet dem zunehmend unsicheren Wesen mit unverhohlenem Hass. Sie scheint derart von der Toten besessen zu sein, dass sie deren Nachfolgerin auf jede erdenkliche Weise vertreiben will ("She's too strong for you. You can't fight her."). Was aber denkt Maxim, der seine zweite Frau vorgewarnt hat ("I'm very difficult to live with") und nun zu allem zu schweigt? 


Was als romantische Liebesgeschichte begann, wandelt sich in Manderley zum "Gothic"-Melodrama, das die Stimmung des einleitenden Traums aufnimmt. Und in diesem Teil des Films tobt sich Hitchcock aus, findet erfolgreich Mittel und Wege, um aus dem banalen Roman ein Leinwandereignis zu machen, das zwar nicht mit einer Thriller-Handlung glänzt, aber eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, die den Worten der Vorlage weit überlegen ist. - Die Geschichte der namenlosen Frau ist, wie der Regisseur gegenüber Truffaut erwähnte, eine Aschenputtel-Geschichte, und als Aschenputtel lässt er Joan Fontaine auch auftreten: Die Räume des Anwesens sind viel zu gross für sie, deren Alltagskleidung (die Jacke, die sie trägt, wurde sehr beliebt und ging als "Rebecca"-Jacke in die Geschichte ein) einer Schlossherrin gar nicht angemessen ist. Sie versucht sich in den riesigen Sesseln noch kleiner zu machen als sie in Wirklichkeit ist (als möchte sie in ihnen verschwinden). Und während sie sich in diesem Labyrinth von einem Anwesen verliert, triumphiert die Tote an jeder Ecke, hinter jeder Türe, die aufgeht, erstrahlt das Licht Rebecca's  ("The most beautiful room in the house. It was Mrs. de Winter's room."). - Im Büro der Verstorbenen, das jetzt zum Büro der Namenlosen wird, zeugt jedes geschwungene "R" (Selznick tat sich schwer mit der Auswahl aus verschiedenen Vorschlägen) auf Briefpapier und Notizblöcken von ihrer bleibenden Anwesenheit und Macht. Diese schüchtert die junge Frau dermassen ein, dass sie prompt eine kleine Statue umstösst und die Scherben in einer Schublade versteckt - Und während Aschenputtel, sich vergeblich an ihren Mann klammernd, von diesem Toten-Schrein immer mehr vereinnahmt wird, nicht einmal die Aufmunterungsversuche von Maxim’s Schwester wahrnimmt, scheint Mrs. Danvers (eine der unheimlichsten Frauengestalten, die ich kenne) sich nicht schreitend zu nähern, sondern zu schweben. Plötzlich steht sie hinter ihr und bringt den Geist der Verstorbenen, die sich der Zuschauer selber ausmalen muss, weil man kein Bild von ihr sieht, mit sich.

Das von Rebecca beherrschte Manderely, vom Zuschauer zum grossen Teil mit den Augen der zweiten Mrs. de Winter wahrgenommen (man beachte die langen Tische, die sie zunehmend von Maxim trennen), ist ein derart von Geheimnissen durchdrungener Ort, dass ihm der intensive Einsatz von Licht und Schatten angemessen ist. Ein virtuoses Spiel mit den Schwarzweiss-Bildern erweckt den Eindruck, die Tote sei überall, könne jederzeit Gestalt annehmen. Als sich die Namenlose in Rebecca’s Zimmer wagt, entdeckt sie – zusammenfahrend - hinter Seidenvorhängen eine dunkle Gestalt. Es ist jedoch nicht Rebecca, sondern Mrs. Danvers, die ihrer früheren Herrin noch immer ergeben ist und der Unerwünschten deren auserlesene Kleidung zeigt (sie streichelt ihre Wange an einem der Pelzmäntel), ihr sogar vorführt, wie sie ihr einst die Haare bürsten durfte. Man erkennt in dieser Szene gern Andeutungen einer einstigen lesbischen Beziehung, die sich  nun ins Nekrophile gewendet hat. Vor allem aber ist es der Wahnsinn, der vom Gesicht und den Worten der Haushälterin Besitz ergreift: „Do you think the dead come back and watch the living?“ – Die Szene endet mit dem vieldeutigen übermässigen Weiss der Gischt, die gegen die Klippen unter Rebecca’s Fenster schlägt, aus dem die Hauptfigur hier noch einen unschuldigen Blick warf, an dem sie aber später aufgefordert wird, in den Tod zu springen, damit sie Rebecca nicht länger ihren Platz an der Seite von Maxim de Winter wegnähme.
Besonders intensiv setzt Hitchcock Licht und Schatten in einer Szene ein, in der sich das junge Ehepaar Filme aus den unbeschwerten Flitterwochen anschaut. Die Haushälterin betritt den Raum und berichtet von der verschwundenen Statue im Büro. Als Maxim’s Frau ihrem Mann anschliessend von dem Missgeschick erzählt, fordert er sie auf, auch Mrs. Danvers aufzuklären. Und plötzlich verändert der Projektor, der Licht und Schatten auf die Gesichter der beiden wirft, ihre Ausdrücke ungemein, möglicherweise trügerisch: Während „Aschenputtel“ den letzten Rest ihrer Hoffnung verliert, wirft ihr Maxim einen Blick entgegen, der so furchterregend ist, dass er einen Mann zeigt, dem alles, auch das Grausamste zuzumuten ist. Und im Hintergrund tobt noch immer das unbeschwerte junge Glück in seinen Flitterwochen herum… 

Die Notwendigkeit, sich auf das Atmosphärische konzentrieren zu müssen, war für Hitchcock eine hervorragende Vorbereitung für seine späteren Psycho-Thriller, die von „Rebecca“ mehr profitieren sollten, als er je zugegeben hätte. Hinzu kam, dass er in Franz Waxman einen Komponisten fand, mit dem er sich von Anfang an hervorragend verstand. Selznick hatte Waxman ursprünglich als „Sicherheits“-Komponisten für sein Grossprojekt „Gone With the Wind“ engagiert; jetzt sollte er den Score zu „Rebecca“ schreiben. Und auch Waxman schaffte es, den Produzenten in den Wahnsinn zu treiben: Er begann, was damals unüblich war, erst zu komponieren, als ihm der fertige Schnitt vorlag. Seine Musik mag zwar heute etwas altmodisch erscheinen, das taktgenaue Komponieren kam aber dem musikalischen Regisseur sehr entgegen und half ihm zusätzlich, den Roman zu einem spannenden Psychothriller zu verarbeiten. – Waxman, der später seine Musik zu „Rebecca“ als seine gelungenste Arbeit betrachtete, leistete in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Der Einsatz verschiedenster Stilmittel, die es ihm ermöglichten, jeder Figur ein Leitmotiv zuzuordnen (die tote Rebecca bekam ein regelrechtes „Gespensterorchester“, das aus einer elektrischen Orgel und einem Novachord bestand), entfaltete eine ähnlich eindringliche Wirkung wie das durchgehende erzählende Begleiten, das bis zum „Mickey-Mousing“ ging (die Musik trippelt mit dem frisch verheirateten Paar die Treppe vom Standesamt herunter). Und wenn sich das Orchester zusammen mit der Hauptfigur zögernd dem Bootshaus, in dem noch Licht brennt, nähert, entsteht eine nicht zu überbietende Gänsehaut-Stimmung.
Was Waxman’s Musik für den Film bedeutet, zeigt sich an dessen letztem, enttäuschenden Viertel. Das „Gothic“-Melodrama verwandelt sich, worauf bereits hingewiesen wurde, gegen Ende in eine Kriminalgeschichte, an deren Verlauf nicht zuletzt Rebecca’s Cousin und ehemaliger Liebhaber (hervorragend verkörpert von einem jungen George Sanders) beteiligt ist. Diese Kriminalgeschichte ist derart dialoglastig, dass die Musik kaum zur Geltung kommt. Dementsprechend wirkt der letzte Teil von Hitchcock’s Hollywood-Einstand mit seiner Polizei-Befragung im Vergleich zum Rest nicht nur dilettantisch gemacht, sondern derart einschläfernd, dass selbst Kenner (inklusive Truffaut!) einzelne Aspekte nicht mitbekommen, weil sie an einem simplen "Whodunit" nach dieser überwältigenden Atmosphäre gar nicht interessiert sind. Man würde gern erfahren, was der Regisseur aus diesem abschliessenden Teil des Romans (Daphne du Maurier hielt ihn wohl für notwendig, weil über den "Gothic Hero" Maxim Klarheit herrschen musste) gemacht hätte, wäre er nicht zu einer „werkgetreuen“ Verfilmung verpflichtet gewesen.

„Rebecca“ ist ein Film mit Schwächen, und man mag Selznick die Schuld für diese Schwächen in die Schuhe schieben. Dennoch gilt er zu Recht als Klassiker, der zugleich ein echter Hitchcock war, weil er dem Regisseur viel für spätere Arbeiten mit auf den Weg gab. Die namenlose Hauptfigur, die sich anfangs zögerlich, später entschlossen ihrem Mann an den Hals wirft (Hitch behauptete, die Aktivität der Frau wirke so echt, weil Laurence Olivier Joan Fontaine nicht als Partnerin gewollt habe), sollte ihn in mancherlei Hinsicht auf Frauenfiguren vorbereiten, die in seinen Meisterwerken (Ingrid Bergman in „Notorious“, 1946, ‚Tippi‘ Hedren in „Marnie“) auch zu Identifikationsfiguren wurden, dem Zuschauer als "Augen" dienten. – Wer an „Rebecca“ zurückdenkt, erinnert sich vor allem an das verängstigte Geschöpf in einem düsteren Anwesen, das scheinbar von einer Toten beherrscht wird. Dass man die Schwächen des Films, insbesondere dessen letzten Teil auszublenden vermag, zeigt, wie gut wenigstens die erste Zusammenarbeit mit dem gelegentlich hintergangenen Selznick funktionierte. Der vom "Master of Suspense" als Frauenfilm deklarierte Hollywood-Einstand erwies sich als Lehre, wie sie besser nicht hätte sein können. Hätten seine Meisterwerke ohne den Zwang, sich wenigstens ein einziges Mal intensiv auf eine Vorlage einlassen zu müssen, ihre atmosphärische Klasse je erreicht? --- Man darf in diesem Zusammenhang abschliessend darauf hinweisen, dass die Werke der einst gern gelesenen Daphne du Maurier grundsätzlich erst zu erblühen begannen, wenn ein guter Regisseur sie verfilmte.

Freitag, 27. April 2012

Bilderflut aus den Karpaten

FEUERPFERDE (DDR-Titel SCHATTEN VERGESSENER AHNEN, original (ukrainisch) TINI ZABUTYCH PREDKIW, russisch TENI ZABYTYCH PREDKOW)
UdSSR (Ukraine) 1964
Regie: Sergej Paradschanow
Darsteller: Iwan Mikolaitschuk (Iwan), Larissa Kadotschnikowa (Maritschka), Tatjana Bestajewa (Palagna), Spartak Bagaschwili (Jurko), Nina Alisowa (Iwans Mutter)


FEUERPFERDE, der erste Film, in dem sich Sergej Paradschanow künstlerisch voll verwirklichen konnte, ist von fast unfassbarer Schönheit. Paradschanow findet erlesene Bildmotive ohne Ende, die meist in leuchtenden Farben präsentiert werden. In Verbindung mit der ungemein beweglichen Kamera ergibt sich ein visueller Rausch, der unablässig auf den Zuschauer einwirkt. Man kommt manchmal nicht mehr dazu, die Untertitel zu lesen, weil man ständig von den Bildern überwältigt wird.


Die Handlung ist - zum Glück, könnte man fast sagen - nicht besonders kompliziert. Sie spielt bei den Huzulen, einem Volk von halbnomadischen Schafzüchtern in den nördlichen Karpaten, und ist in einer unbestimmten vormodernen Vergangenheit (die bei den abgeschieden lebenden Huzulen bis ins späte 19. Jh. andauerte) angesiedelt, in der noch Mythen, Legenden und Aberglaube ins Alltagsleben hineinwirkten. Neben den Bildern trägt auch der Soundtrack, der sich teilweise aus huzulischer Volksmusik speist, zur Schönheit des Films bei. So gibt es archaisch-dissonant wirkende Klänge der Trembita, eines entfernt mit dem Alphorn verwandten Blasinstruments, und fremdartig-schönen Frauengesang, der an "Le Mystère des Voix Bulgares" erinnert.


Es handelt sich um eine Verfilmung der Erzählung "Schatten vergessener Ahnen" (1912) des ukrainischen Schriftstellers Michailo Kozjubinskij (1864-1913), der sich dabei seinerseits bei huzulischen Märchen und Legenden bedient hatte. Der erste Teil des Films ist eine Art "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Am Anfang sind die späteren Liebenden, Maritschka und Iwan (von ihr "Iwanko" genannt), noch Kinder. Maritschkas Vater erschlägt Iwans Vater im Streit, nachdem dieser ihn ausgerechnet beim Gottesdienst in der Kirche provoziert hatte. Trotz der Bluttat befreunden sich die Kinder. Die Jahre vergehen, und aus den Freunden wird ein Liebespaar. Aber Iwans Mutter hat für die Tochter der verfeindeten Familie nur Hass übrig. Iwan, der als einziger von vielen Geschwistern noch lebt, muss für seine verwitwete Mutter sorgen und hat nicht genug Geld, um Maritschka heiraten zu können. Um doch noch genug zu verdienen, um einen eigenen Hausstand gründen und die Geliebte heiraten zu können, verdingt sich Iwan als Schäfer auf einer weit entfernten Weide. Doch die große Liebe endet tragisch. Während seiner Abwesenheit stürzt Maritschka beim Versuch, ein entlaufenes Lamm aus einer Felswand zu retten, in einen reißenden Wildbach und ertrinkt. Iwan ist am Boden zerstört und versinkt in Apathie.


Die zweite Hälfte des Films verfolgt Iwans weiteren Weg. Nach Jahren der Verwahrlosung und des ziellosen Umherschweifens (der Film ist hier für einige Minuten schwarzweiß, um seine Verfassung widerzuspiegeln) findet er langsam ins Leben zurück. Er heiratet die wohlhabende und gut aussehende Palagna, doch die Ehe steht unter keinem guten Stern. Sie bleibt kinderlos, und Iwan kann Maritschka nicht vergessen, was schließlich auch Palagna nicht verborgen bleibt. Um ihn trotzdem an sich zu binden, will sie mit Hilfe von Magie für Nachwuchs sorgen, doch das geht nach hinten los. Palagna verfällt dem mächtigen Zauberer Jurko, der sogar Stürme bändigen kann, und wird seine Geliebte. Schließlich planen die beiden sogar, Iwan mit Hilfe schwarzer Magie loszuwerden. In einer Dorfschänke kommt es zu einem Kampf der Rivalen, und Jurko verletzt Iwan mit einem Beilhieb am Kopf. Halb besinnungslos torkelt Iwan in einen Wald, wo ihm Maritschka erscheint. Ein Geist, oder nur eine Halluzination? Paradschanow lässt die Unterschiede verschwimmen. Als ihn Maritschkas Erscheinung schließlich berührt, stirbt Iwan. Den Schluss des Films bildet Iwans Totenfeier, die nahtlos in ein bacchantisches Fest übergeht, das von staunenden Kindern durch ein Fenster beobachtet wird.


Es ist tragisch, dass es in Paradschanows Biographie eine Lücke von 15 Jahren gibt, in denen er keinen Film drehen durfte. Sergej Paradschanow wurde als Kind armenischer Eltern (sein Geburtsname war Sarkis Paradschanian) in Tiflis geboren, wo er aufwuchs und zunächst studierte. Dann ging er nach Moskau an die staatliche Filmhochschule, wo Alexander Dowschenko, der Altmeister des ukrainischen Films, zu seinen Lehrern zählte. Nach seinem Abschluss 1951 ging Paradschanow auf Dowschenkos Anraten zu den nach ihm benannten Filmstudios in Kiew. Dort drehte Paradschanow eine Reihe von Dokumentar-, Kurz- und Spielfilmen, die er später alle als wertlos bezeichnete. Die stalinistische Doktrin des Sozialistischen Realismus wurde seit der Tauwetterperiode (nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956) nicht mehr durchgesetzt, schwebte als Ideal aber immer noch über dem sowjetischen Film, und Paradschanow konnte oder wollte sich nicht komplett davon lösen. Umso radikaler tat er es dann mit FEUERPFERDE. Dass ein völlig anderer sowjetischer Film möglich war, hatte ihm vor allem Andrej Tarkowskijs erster Spielfilm IWANS KINDHEIT gezeigt. Paradschanow und Tarkowskij wurden bald enge Freunde und blieben es bis zu Tarkowskijs Tod 1986.


Auch FEUERPFERDE wurde von den Kiewer Dowschenko-Studios produziert. Dass das überhaupt möglich war, lag vor allem am ukrainischen Parteichef Petro Schelest, der ein starker Förderer der kulturellen und in gewissem Ausmaß auch der politischen Autonomie der Ukraine war, und der selbst ukrainischen Dissidenten erstaunlichen Spielraum gewährte. Es ist auch nicht richtig, dass Paradschanow wegen FEUERPFERDE unmittelbar in Schwierigkeiten kam, wie manchmal behauptet wird. Ein Teil der kommunistischen Kulturbürokratie war sicher irritiert, aber ein erstaunlich großer Teil der sowjetischen Kritiker feierte den Film, und selbst ein staatliches Gremium wie der ukrainische Zweig von Goskino belobigte FEUERPFERDE und sorgte dafür, dass er auch außerhalb der Ukraine nicht russisch übersprochen, sondern in der ukrainischen Originalfassung in die Kinos kam, was durchaus als Privileg zu verstehen war. Ein Privileg war es auch, dass FEUERPFERDE im westlichen Ausland auf Festivals gezeigt wurde, wo er über ein Dutzend Preise gewann (jedoch keinen BAFTA Award, wie in der IMDb und der deutschen Wikipedia fälschlich behauptet wird).


Bald begannen dann jedoch Paradschanows Probleme. Nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 stieg zwar Schelest in der Parteihierarchie weiter auf, aber insgesamt wurde das innen- und kulturpolitische Klima der UdSSR rauer. Paradschanow sprach seine Ablehnung des Sowjetsystems offen aus, unterzeichnete Petitionen für inhaftierte Dissidenten etc. und bekam die Folgen zu spüren. Er wurde wegen "ukrainischem Nationalismus" verhaftet (was bei einem armenisch-georgischen Regisseur durchaus bemerkenswert war), aber bald wieder freigelassen. 1966 übersiedelte er von Kiew nach Jerewan in Armenien. Nach FEUERPFERDE wurden sowohl in der Ukraine wie in Armenien vier Jahre lang alle seine eingereichten Drehbücher abgelehnt, abgesehen von einem kurzen Dokumentarfilm 1967. Dann durfte er 1968 in Armenien wieder einen Spielfilm drehen, der um Sayat Nova, einen armenischen Dichter, Troubadour und Mönch des 18. Jahrhunderts, kreist, und der sich einer stringenten Handlung verweigert und stattdessen Tableaus von atemberaubender Schönheit präsentiert. Doch der vorgesehene Titel SAYAT NOVA musste in ZWET GRANATA (DIE FARBE DES GRANATAPFELS) geändert werden, und unmittelbar nach der Fertigstellung wurde der Film verboten. 1971 wurde dann eine von Sergej Jutkewitsch entschärfte und verstümmelte Fassung des Films in die sowjetischen Kinos gebracht. 1980 wurde eine weiter korrumpierte Kopie der Jutkewitsch-Fassung in den Westen geschmuggelt und sorgte dort trotz ihrer Mängel für Aufsehen.


Nach DIE FARBE DES GRANATAPFELS wurden wiederum alle Drehbuchentwürfe abgelehnt, und Ende 1973 wurde Paradschanow verhaftet und angeklagt. Die Anklage war ein wildes Gebräu, das Homosexualität, eine angebliche Vergewaltigung, Verbreitung von Pornographie, illegalen Handel mit Ikonen und weiteres umfasste. Richtig daran war nur, das Paradschanow bisexuell war, die anderen Punkte waren an den Haaren herbeigezogen oder frei erfunden. Paradschanow wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt und in verschiedenen Straflagern in Sibirien untergebracht, meist unter Schwerkriminellen und in unwürdigen Bedingungen. Seine Freunde Tarkowskij und Michail Wartanow protestierten öffentlich, und es gab auch internationale Proteste, vor allem von französischen und italienischen Künstlern und Intellektuellen. Aber erst nach vier Jahren wurde Paradschanow freigelassen. Angeblich gab ein persönliches Treffen von Louis Aragon und dessen russischer Frau mit Leonid Breschnew den Ausschlag.


Paradschanow lebte jetzt in Tiflis und durfte weiter keine Filme drehen. 1982 wurde er erneut verhaftet und angeklagt, nach einem Dreivierteljahr im Gefängnis aber freigesprochen. Und 1984, kurz vor Beginn der Ära Gorbatschow, erhielt er endlich wieder eine Drehgenehmigung. Mit dem in Georgien gedrehten DIE LEGENDE DER FESTUNG SURAM (1985) und dem in Aserbaidschan entstandenen KERIB, DER SPIELMANN (1988) griff Paradschanow seinen Stil der 60er Jahre wieder auf (der bei beiden Filmen als Co-Regisseur genannte Schauspieler Dodo Abaschidse ist nur aus formalen Gründen aufgeführt, in Wirklichkeit hat Paradschanow allein inszeniert) und erneuerte auch seinen bereits in den 60er Jahren errungenen internationalen Ruf. Beide Filme gewannen diverse Preise, und Paradschanow reiste auch in den Westen, so 1988 zum Münchner Filmfest, wo er Ehrengast war und eine Retrospektive seiner Filme gezeigt wurde. Ein weiterer begonnener Film, der autobiographische Elemente enthalten sollte, blieb durch Paradschanows Tod unvollendet. Er starb 1990 in Tiflis an Krebs, und er hinterließ große Fußstapfen, die kaum jemand ausfüllen konnte. "Wer versucht, mich zu kopieren, ist verloren", soll er einmal gesagt haben.


FEUERPFERDE ist in Russland bei RUSCICO und in England bei Artificial Eye (engl. SHADOWS OF FORGOTTEN ANCESTORS) auf DVD erschienen. Eine deutsche Lizenzausgabe der RUSCICO-Scheibe scheint derzeit nicht mehr erhältlich zu sein. - Selten habe ich mich mit dem Aussortieren der Screenshots so schwer getan wie hier, deshalb muss ich jetzt einfach noch ein paar bringen. Zum Vergrößern draufklicken.








Mittwoch, 18. April 2012

Der Greifer (1958)

Der Greifer
(Der Greifer, Deutschland 1958)

Regie: Eugen York

Der deutsche Film der 50er Jahre lässt sich bekanntlich nicht auf Heimatschnulzen und Schlagerstreifen reduzieren. Auch die deutschen Produzenten setzten auf den Krimi als Kassengaranten, der möglicherweise internationale Anerkennung finden würde. Dabei verfilmte man gelegentlich durchaus Stoffe, die mehr oder weniger auf dem eigenen Mist gewachsen waren ("Nachts, wenn der Teufel kam", 1957, oder  Dürrenmatts "Es geschah am hellichten Tag", 1958), sah jedoch nicht ein, dass man mit ihnen am besten fuhr. Man ahmte lieber zusätzlich den Film noir oder amerikanische Krimis mit pseudo-dokumentarischem Charakter nach (die Titel vergessener Streifen wie "Der Schatten des Herrn Monitor", 1950,  "Wer fuhr den grauen Ford?", 1950, und "Die Spur führt nach Berlin", 1952, vermögen vage an das Unterfangen zu erinnern) - entdeckte aber auch rasch Georges Simenons Kommissar Maigret, dessen ruppiger, mit unerschütterlicher Ruhe und Einfühlungsvermögen verbundener Charakter sich, wie auch die Schweiz 1955 mit ihrem "Polizischt Wäckerli" bemerkt hatte, so gut der jeweiligen Nationalität und dem bevorzugten Schauspieler anpassen liess.


Dieser Entdeckung dürfte "Der Greifer", Hans Albers' viertletzter Film, entsprungen sein. Denn auch hier waltet ein unnachgiebiger, jedoch einfühlsamer Kriminalist an der Schwelle zur Pensionierung seines Amtes. Und während Polizischt Wäckerli nur Diebe fangen muss, sich wegen privater Sorgen mit Sohnemann und Tochter aber trotzdem schlecht gelaunt an den perfekt gedeckten Schweizer Tisch setzt (man vergleiche die realistische "Ordnung" in der Küche des französischen Kommissars in Delannoys "Maigret tend un piège", 1958!), hat es 'Der Greifer' Otto Friedrich Dennert, Kriminaloberkommissar, tatsächlich mit Mord, sogar mit Mord an mehreren blonden Frauen,  zu tun, findet aber nebenbei noch die Zeit, der Frau eines arbeitslosen Diebs so intensiv die Wange zu tätscheln, dass böse Zungen von sexueller Nötigung reden könnten. - Und man bemerkt rasch: Regisseur Eugen York, der den alternden "blonden Hans" noch zu weiteren filmischen Verbrechen antrieb ("Das Herz von St. Pauli", 1957, "Der Mann im Strom", 1958), wollte trotz des vielversprechenden Thriller-Anfangs (eine männliche Schattenfigur bewegt sich zu aufpeitschender Musik durch die nächtliche Strasse), ein Filmchen drehen, das für einen Krimi an Biederkeit kaum zu überbieten sein sollte:


Kommissar Dennert weiss, dass seine Pensionierung immer näher rückt,  wartet doch Dr. Schreiber (herrlich schleimig verkörpert von Siegfrid Lowitz) hemmungslos-gierig darauf, sein - überaus korrekter - Nachfolger zu werden. Vorher will der alte Mann aber mit seiner stets erfolgreichen Intuition den Frauenmörder finden, der den ganzen Ruhrpott in Angst und Schrecken versetzt. Und dann kommt noch ein Generationenkonflikt hinzu: Während Dennert in der Spelunke "Zur Mücke" zusammen mit ehemaligen Ganoven, die er alle "von Mensch zu Mensch" kennt, feiert und das aus "Grosse Freiheit Nr.7" (1944) bekannte Lied "Beim ersten Mal, da tut's noch weh" trällert, verliebt sich sein Sohn Harry, ebenfalls bei der Kriminalpolizei tätig, während seiner Nachtwache in Essens Sündenbabel prompt in die Verlobte eines Posträubers. Das veranlasst Papi Albers nicht nur dazu, dem Nachwuchs die Ente, die dieser trotz Kochrezept auszunehmen vergass, unter die Nase zu reiben; er stürzt sogar die junge Liebe ins Unglück und beschwört beinahe ein weiteres Verbrechen herauf. Bei so viel Trostlosigkeit bleibt ihm nur noch ein tiefsinniges Gespräch mit seinem Kanarienvogel: "Hansilein, vielleicht hab' ich wirklich 'n Vogel. Sag mal 'Piep'!"

Gegen Ende gewinnt das sich bislang vor allem in Büros und in Kneipen abspielende Filmchen noch etwas an Spannung, und der Mörder wird nach einer gnadenlosen Geiselnahme dank Papis und Sohns gemeinsamem moralischen Vorgehen geschnappt. Ich verrate - obwohl der Zuschauer es nach fünfzehn Minuten weiss - nicht, wer es ist. Bloss dies: Agnes Windeck, die gewohnt altmodisch-elegant auftritt, darf als unschuldig betrachtet werden. Und wir erfahren endlich, von wem Klaus Kinski alle seine mimischen Fähigkeiten abkupferte (von Horst Frank, natürlich). - Auch das Motiv für all die grässlichen Morde wird geliefert: "Eine Frau ist daran schuld." Das ist nicht weiter erstaunlich: Der aus Russland stammende Eugen York scheint es allgemein nicht so mit den Frauen gehabt zu haben. Sogar sein letzter Spielfilm (1982) trug den Titel "Schuld sind nur die Frauen".


Man muss um der Gerechtigkeit willen betonen: Abgesehen von Hansjörg Felmy als fadem Harry belebt eine gut agierende Truppe den biederen Streifen, von dem behauptet wird, er sei die letzte sehenswerte Arbeit von Hans Albers gewesen und der trotz sich hartnäckig haltender Behauptungen keine späte Fortsetzung seines 1930er Streifens mit dem gleichen Titel ist. Auch der Altstar bringt sich und seine Schauspielkunst noch einmal voll ein, trotz aller Versuche, ihn auf den Klischeetyp des alternden Helden festzulegen. - Ich zumindest kann mich des Eindrucks nicht erwehren, Dennert sei sogar als Vorläufer einer Figur zu betrachten, die in den 70ern jahrelang den ZDF-Freitagabend "belebte" und mich ins Bad trieb. Sein Sohn Harry wiederum dürfte sich als Assistent des Nachfolgers von Erik Ode empfohlen haben. Vermutlich wusste er nur nicht, wo Derrick den Autoschlüssel aufzubewahren pflegte...