Samstag, 10. August 2024

Eine Ermittlung in Ost- und Westdeutschland

Kürzlich auf dem Münchner Filmfest erlebte DIE ERMITTLUNG von RP Kahl seine Uraufführung, wenig später folgte die reguläre Kinopremiere in Berlin. Es handelt sich um eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Peter Weiss, das eng an die Verhandlungsprotokolle des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses angelehnt ist. Der sperrige Film, der vollständig vier Stunden dauert (es gibt auch eine dreistündige Version, mit acht statt elf "Gesängen"), erhielt gute bis sehr gute Kritiken (Beispiele: Rüdiger Suchsland in Telepolis, Peter Neumann in der Zeit, Ayala Goldmann in der Jüdischen Allgemeinen). Doch hier soll es nun nicht um diesen Film gehen, sondern um die beiden recht unterschiedlichen Fernsehfassungen des Stoffs, die Mitte der 60er Jahre, also zeitnah zum Prozess und zum Stück, in den beiden deutschen Staaten entstanden, vor allem aber um das Stück selbst.

DIE ERMITTLUNG
Deutschland (DDR) 1965/66
Sender: DFF
Regie: Lothar Bellag, Erich Engel, Karl von Appen, Manfred Wekwerth und Konrad Wolf (Bühneninszenierung) sowie Ingrid Fausak (TV-Regie)
Darsteller: Hilmar Thate (Richter), Alfred Müller (Ankläger), Dieter Knaup (Verteidiger), Stephan Hermlin, Bruno Apitz, Eberhard Esche u.v.a. (Angeklagte), Helene Weigel, Ernst Busch, Erwin Geschonneck u.a. (Zeugen) - vollständige Liste siehe Wikipedia, Robert Siewert (Kommentator)

DIE ERMITTLUNG
Deutschland (BRD) 1966
Sender: NDR
Regie: Peter Schulze-Rohr
Darsteller: Fritz Straßner (Richter), Herbert Fleischmann (Ankläger), Helmut Peine (Verteidiger), Bum Krüger, Hellmut Lange u.v.a. (Angeklagte), Ida Ehre, Hanne Hiob, Benno Sterzenbach, Siegfried Wischnewski, Pinkas Braun u.a. (Zeugen) - vollständige Liste siehe wiederum Wikipedia

Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess vom Dezember 1963 bis August 1965 bildete nicht nur eine Zäsur in der westdeutschen Justizgeschichte, er wirkte auch weit in die Gesellschaft der Bundesrepublik hinein (auch wenn natürlich nach wie vor viele nichts von diesem Thema hören wollten), in die Politik, in die Medien und in das Kulturleben. Von den zeitgenössischen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Prozess ist Peter Weiss' Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen wohl die wichtigste, und zweifellos die bekannteste. "Oratorium" und "Gesänge" ist hier metaphorisch zu verstehen - gesungen wird in dem reinen Sprechstück nicht. (Ursprünglich plante Weiss eine Trilogie, die an die drei Teile von Dantes Göttliche[r] Komödie angelehnt war, und den dort verwendeten Begriff "Gesänge" (canti) für Kapitel hat er dann in der geänderten Konzeption des Stücks beibehalten.)

Peter Weiss gehörte seit Beginn der 60er Jahre zu den wichtigen Vertretern der deutschen Nachkriegsliteratur (die er in seiner schwedischen Wahlheimat auf Deutsch verfasste). 1935 emigrierte die Familie (Weiss' Vater war jüdischer Herkunft, was aber nach seiner Konversion zum Protestantismus 1920 weitgehend verheimlicht wurde), seit 1938 in Schweden - wo Peter Weiss dann blieb. Das Land bot bis 1945 Schutz, dann Lebensunterhalt, 1946 wurde Peter Weiss schwedischer Bürger, und nach zwei nur kurzen gescheiterten Ehen war er bis zu seinem Tod mit einer Schwedin verheiratet. Und doch wurde er in Schweden nie heimisch. Er wollte aber auch in keinen der beiden deutschen Staaten zurückkehren, und so blieb er ein "Unzugehöriger", wie es im Titel eines Films über ihn heißt. Weiss war zunächst vorwiegend Maler und schrieb nur nebenbei, dann drehte er auch einige Experimental- und Dokumentarfilme. Sein Durchbruch als Schriftsteller kam, als er 1960 einen Vertrag beim Suhrkamp Verlag erhielt, der bis zuletzt (und teilweise noch posthum) sein Hausverlag blieb. Nach seinem Tod 1982 geriet Weiss zwar nicht in Vergessenheit, verlor in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber den nobelpreisgekrönten Kollegen Heinrich Böll und Günter Grass aber doch deutlich an Boden. Vielleicht zu Unrecht, aber darüber soll hier nicht lamentiert werden (dafür gibt es Berufenere als mich).

Die Ermittlung beruht also wie erwähnt auf dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Weiss besuchte die Verhandlungstage öfters als Zuschauer und stützte sich zusätzlich auf die Protokolle von Bernd Naumann. Vom 14. bis 16. Dezember 1964 hatte der Prozess einen Lokaltermin in Auschwitz. (Das war ein bemerkenswerter Vorgang, denn damals gab es noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und Polen, geschweige denn ein Rechtshilfeabkommen. Trotzdem willigte die polnische Regierung ein, dass ein westdeutsches Gericht mitten in Polen Amtshandlungen durchführen konnte.) Neben den Prozessbeteiligten waren auch rund 200 Journalisten und sonstige Besucher anwesend, darunter auch Peter Weiss. Wie bei vielen anderen Anwesenden dieses Termins auch, hinterließ der Besuch tiefen und bleibenden Eindruck bei ihm. Übrigens war Weiss der einzige deutsche Schriftsteller bei diesem Ortstermin, was Marcel Reich-Ranicki veranlasste, ihn in seiner regelmäßigen Kolumne in der Zeit zu loben und seine Kollegen zumindest subtil zu tadeln.
DIE ERMITTLUNG (DFF) - die Bühne in der Volkskammer der DDR
Natürlich stellte sich für Weiss die Frage nach der Form eines Textes über Auschwitz. Es stand noch das Diktum von Theodor W. Adorno von 1951 im Raum, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Das hatte schon Paul Celan mit seiner Todesfuge zu schaffen gemacht und ließ sich natürlich auch auf Dramen übertragen. Für Weiss kam nur eine äußerste Reduktion auf das Wesentliche in Frage, auf die gesprochene Sprache, unter Verzicht auf jegliche Schnörkel und Bühnenfirlefanz. Das bedeutet nicht, dass er aus den Verhandlungsprotokollen einfach abschrieb, sondern er verdichtete die Texte in eine bühnentaugliche Sprache und komponierte sie zu einem gewissen Fluss, den man fast musikalisch nennen könnte, was durch das Weglassen der Interpunktion in den gedruckten Ausgaben verstärkt wird. Und er kondensierte die Richter, Staatsanwälte (einschließlich Anwälte der Nebenkläger) und Verteidiger zu jeweils nur einem Vertreter des jeweiligen Berufsstands. Die 359 Zeugen im Prozess wurden zu nur neun konzentriert, die (wie die Juristen) im Stück keine Namen haben, sondern nur Nummern. Wenn also etwa Zeuge Nr. 3 an einer Stelle im Stück eine Aussage macht, dann stammt diese im echten Prozess von einem bestimmten Zeugen, und wenn "derselbe" Zeuge Nr. 3 an einer anderen Stelle etwas sagt, dann stammt dieser Text in der Realität von einem ganz anderen Zeugen. Zwei Charakteristika sind aber im ganzen Stück fix: Die Zeugen 1 und 2 sind (nicht belangte) Handlanger oder Mittäter aus Auschwitz, wie beispielsweise ganz am Anfang ein Eisenbahner, der an der Rampe, wo die Selektionen stattfanden, seinen Dienst tat. Die anderen sieben Zeugen sind Opfer, also Auschwitz-Überlebende. Und die Zeuginnen 4 und 5 sind weiblich, die anderen sieben männlich. Von den 22 Angeklagten in der Hauptverhandlung sind im Stück 18 vorhanden, und sie werden tatsächlich mit ihren richtigen Namen benannt. Nur sehr spärlich im Stück verteilt sind kurze Bemerkungen über die Angeklagten wie "Die Angeklagten lachen zustimmend", die man auch als Bühnenanweisungen betrachten kann.

Um wenigstens ein bisschen zu veranschaulichen, wie Weiss' Konzentrat der Aussagen aussieht, hier nur ein einziges Beispiel. Die Auschwitz-Insassin Dounia Wasserstrom, die der "politischen Abteilung" (also der Lager-Gestapo) als Übersetzerin zugeteilt war, sagte am 40. Verhandlungstag im April 1964 als Zeugin aus. Darunter war diese schockierende Passage (Wilhelm Boger war einer der Angeklagten, die sich durch besonderen Sadismus auszeichneten):
Im November 1944 kam ein Lkw an, auf dem sich Kinder befanden. Der Lkw hielt in der Nähe von der Baracke. Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf Jahren sprang vom Lkw herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür stand Boger und Draser. Ich selbst stand am Fenster. Das Kind stand neben dem Lkw mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, »das an der Wand« abzuwischen. Das tat ich auch. Eine Stunde später kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel. Das Ganze habe ich mit eigenen Augen gesehen. Das Kind war tot. Ein SS-Mann hat das tote Kind weggebracht.
In Die Ermittlung wird daraus (im Gesang von der Schaukel):
Da war draußen ein Lastwagen vorgefahren
mit einer Fracht von Kindern
Ich sah es durch das Fenster der Schreibstube
Ein kleiner Junge sprang herunter
er hielt einen Apfel in der Hand
Da kam Boger aus der Tür
Das Kind stand da mit dem Apfel
Boger ist zu dem Kind gegangen
und hat es bei den Füßen gepackt
und mit dem Kopf an die Baracke geschmettert
Dann hat er den Apfel aufgehoben
und mich geholt und gesagt
Wischen sie das da ab an der Wand
Und als ich später bei einem Verhör dabei war
sah ich
wie er den Apfel aß
Bei den Zeugen 1 und 2, also den Mitläufern und Mittätern, wäre es zum größten Teil mühsam und müßig, die realen Zeugen dahinter im Prozess ausfindig zu machen. Mit einer Ausnahme: Im Abschnitt II im Gesang von den Feueröfen, dem letzten der elf "Gesänge", steckt hinter dem Zeugen 1 der SS-Richter Konrad Morgen (nach dem Krieg bis 1979 Rechtsanwalt in Frankfurt), der im März 1964 aussagte (von der über dreistündigen Vernehmung liegt auch ein Tonmitschnitt vor).

Eines der Anliegen von Weiss (und vielleicht sein wichtigstes) beim Verfassen der Ermittlung war es, die tiefe Verstrickung der deutschen Großindustrie in den Auschwitz-Komplex (zu dem auch das Lager Buna-Monowitz gehörte) und überhaupt in das ganze KZ-System aufzuzeigen. Eine Schlüsselpassage hierzu findet sich ganz am Anfang, im Gesang von der Rampe (Zeuge 1 ist hier der oben schon erwähnte Eisenbahner):
Ankläger Wer wohnte sonst dort [im Ort Auschwitz, der schon vor dem Lager bestand]

Zeuge 1 Die Ortschaft war von der einheimischen
              Bevölkerung geräumt worden
              Es wohnten dort Beamte des Lagers
              und Personal der umliegenden Industrien

Ankläger Was waren das für Industrien

Zeuge 1 Es waren Niederlassungen
              der IG Farben
              der Krupp- und Siemenswerke

Ankläger Sahen Sie Häftlinge
               die dort zu arbeiten hatten

Zeuge 1 Ich sah sie beim An- und Abmarschieren

Ankläger Wie war der Zustand der Gruppen

Zeuge 1 Sie gingen im Gleichschritt und sangen

Ankläger Erfuhren sie nichts über die Verhältnisse im Lager

Zeuge 1 Es wurde ja soviel dummes Zeug geredet
              man wusste doch nie woran man war

Ankläger Hörten Sie nichts
               über die Vernichtung von Menschen

Zeuge 1 Wie sollte man sowas schon glauben
Hier werden also konkrete Namen genannt - Krupp und Siemens existierten bekanntlich auch nach dem Krieg weiter (Krupp heute als Thyssenkrupp). Und es war auch allgemein bekannt, dass die bekannteren und wichtigeren Vorläuferunternehmen der I.G. Farben (Agfa, BASF, Bayer und Hoechst) nach der Zerschlagung des Konzerns durch die Alliierten unter ihren alten Namen getrennt weiter aktiv waren. Weiter hinten im Stück wird auch die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (was für ein Name in diesem Zusammenhang), kurz Degesch, namentlich benannt. Die Degesch, eine Tochter der Degussa und der I.G. Farben (und zu einem kleinen Teil eines weiteren Unternehmens), hatte das Zyklon B erfunden, ließ es durch eine Partnerfirma herstellen und lieferte es an die Vernichtungslager. Auch die Degesch existierte nach 1945 weiter (unter ihrem alten Namen - offenbar hat sich niemand dafür geschämt). Insgesamt nehmen die Stellen in Die Ermittlung, die sich mit dieser Thematik befassen, nur einen kleinen Teil ein - aber sie sind da. Etwas allgemeiner lässt sich sagen, dass sich Weiss dafür interessierte, wie Auschwitz "als System" jenseits der Mordtaten einzelner SS-Verbrecher funktionierte - das sollte "ermittelt" werden, und das zieht sich quer durch das Stück. In Interviews hat er Die Ermittlung mehrfach als eine "fast wissenschaftliche Arbeit" bezeichnet.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - hier ist die Bühne abgedunkelt
Hier werden also prominente und wichtige Namen der bundesrepublikanischen Industrie von Weiss angegriffen, und das hatte Folgen, die sich in den beiden deutschen Staaten stark unterschieden. Die Ermittlung hatte am 19. Oktober 1965 Premiere, aber schon im August wurde der Text vorab in einer Theaterzeitschrift veröffentlicht. Und sofort begannen die Debatten.

Im September 1965 veröffentlichte Weiss in einer schwedischen sowie je einer west- bzw. ostdeutschen Zeitung einen Artikel mit dem Titel 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, und darin bekannte er seine Sympathie für den Sozialismus, ebenso wie bei diversen öffentlichen Auftritten in jener Zeit. So nahm er schon im Mai 1965 an einem internationalen Schriftstellertreffen in Ost-Berlin und Weimar teil, und bei einer Fernsehdiskussion als Teil der Veranstaltung unter der Leitung des später notorischen Karl-Eduard von Schnitzler antwortete er auf Schnitzlers Frage, ob er Kommunist sei, mit "Ich bin nicht Kommunist, nein. [...] Aber ich bin in meiner Einstellung Sozialist." (hier gibt es diese Gesprächsrunde in der ARD-Mediathek, die fragliche Stelle ist bei 27:25). Dieses Bekenntnis zum Sozialismus und dann die kapitalismuskritischen Stellen in Die Ermittlung führten dazu, dass Weiss 1965 von der DDR regelrecht adoptiert wurde, ob er das nun wollte oder nicht. Dass er auch damals schon mehr Offenheit und Meinungsfreiheit in den real existierenden sozialistischen Staaten einforderte, wurde zunächst geflissentlich ignoriert. (Mehr zu Weiss' Verhältnis zum Politischen und zum Sozialismus findet man in diesem Artikel.)

In der Rezeption von Die Ermittlung in der DDR stand nun von Anfang an die Kritik an den westlichen Konzernen, und damit an der Bundesrepublik und am kapitalistischen Westen insgesamt, stark im Vordergrund. Eigentlich kritisiere und entlarve das Stück über die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, dass der "Monopolkapitalismus" (dieser Begriff wurde in der DDR inflationär verwendet) und der Faschismus in Westdeutschland nach wie vor am Ruder sei. Das war der Tenor in der (stark vereinheitlichten) Literaturkritik der DDR, und es wurde in diversen Podiums-, Radio- und TV-Diskussionen (mehrfach unter der Leitung von Karl-Eduard von Schnitzler) von DDR-Schriftstellern, Kritikern und sonstigen Kulturschaffenden vorgebracht. Selbstverständlich schwang dabei immer die offizielle Doktrin mit, dass man selbst mit der braunen Vergangenheit nichts zu tun habe. Gegenstimmen gab es nur wenige, aber Stephan Hermlin sagte damals explizit, dass Auschwitz ein gesamtdeutsches Problem sei. Das intellektuelle Niveau dieser Diskussionen und der einzelnen Wortbeiträge war mal mehr und mal weniger hoch, man muss aber festhalten, dass es dabei keineswegs nur um Propaganda ging, sondern dass auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Stück als Kunstwerk stattfand.

In der Bundesrepublik verlief die Diskussion naturgemäß nicht nur ganz anders, sie lässt sich auch viel weniger auf einen einheitlichen Nenner bringen. Etliche bekannte Kritiker, darunter so unterschiedliche wie Joachim Kaiser und Hellmuth Karasek, mochten Die Ermittlung nicht, wobei letzterer dem Stück immerhin auch positive Seiten abgewinnen konnte und nach der Stuttgarter Aufführung seine Meinung etwas revidierte, während Kaiser schon die Berechtigung des Stücks in seiner vorliegenden Form grundsätzlich in Abrede stellte. In seinem umfänglichen Artikel mit dem Titel Plädoyer gegen das Theater-Auschwitz meinte er, "Auschwitz hingegen sprengt den Theaterrahmen, ist unter ästhetischen Bühnenvoraussetzungen schlechthin nicht konsumierbar". Andere Kritiker wiederum lobten oder feierten das Stück als überfällige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (und der Gegenwart). Aus denselben Gründen, wegen denen Die Ermittlung in der DDR gefeiert wurde, wurde es in der BRD von der konservativen Presse abgelehnt, um nicht zu sagen verdammt. Es wurden also sowohl die politische Einstellung des Autors als auch der konkrete Gehalt des Werks als Begründung für Schmähungen herangezogen. Wie üblich, tat sich darin auch die Springer-Presse hervor. In der Welt, dem vermeintlich seriösen Schwesterblatt der Bild, schrieb ein Günter Zehm einen groß aufgemachten Leitartikel mit dem Titel "Gehirnwäsche auf der Bühne", und im Untertitel wird die aufgeworfene Frage "Dokumentation oder Kunstwerk?" sogleich mit "Propaganda im Sinne der Zone" beantwortet. (Für die jüngeren Leser: "Zone" = "Ostzone" = DDR.) Und im Artikel bezeichnet Zehm das Stück dann nochmals wörtlich als Gehirnwäsche. Doch nicht nur Redakteure und Kritiker fühlten sich zu solchen Äußerungen bemüßigt, sondern auch Leute, die sich sonst eher selten zu kulturellen Themen äußern. Im Unternehmerbrief des deutschen Industrieinstituts, der in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der deutschen Industrie und den industriellen Verbänden der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände herausgegeben wurde, schrieb jemand, der nur mit "F/W" unterzeichnete, einen zweiseitigen Artikel mit dem Titel Kulturpartisan des Kommunismus - gemeint war natürlich Weiss. Der Autor entlarvt unerbittlich Weiss' eigentliche Absicht: "Damit gewinnt Weiss den Ansatzpunkt für seine literarisch-politische Partisanentätigkeit, mit der er die Gesellschaftsordnung, die er haßt, durch Diffamierung, Entstellung und Demagogie beseitigen will." Wer mitten im Kalten Krieg so unverblümt über die Rolle der deutschen Industrie im KZ-System schreibt, der kann eben nur ein verkappter Ost-Agent sein!
DIE ERMITTLUNG - die Richter, links NDR und rechts DFF
Andererseits wurde Weiss von liberaler bis linker Seite (auch und gerade im Westen) vorgeworfen, dass er sich viel zu sehr auf die sadistischen "Exzesstäter" (vor allem Kaduk und Boger) konzentriert habe und die systematischen (vor allem gesellschaftlichen) Ursachen und Funktionsprinzipien von Auschwitz vernachlässigt habe - trotz seiner Bemühungen in diese Richtung. Weiss konnte es also nicht allen Recht machen - aber erstens war das bei diesem Thema ohnehin von vornherein ausgeschlossen, und zweitens auch gar nicht seine Absicht. Aber er ist auf die Kritik eingegangen. So sagte er im Oktober 1965 auf einer Podiumsdiskussion in Stuttgart: "Es wäre unmöglich gewesen, wenn ich im Rahmen eines Abends ein Zeittheater darstellen könnte, das sowohl dieses Konzentrationslager als System schildert und außerdem noch die ganze Gesellschaftsordnung, die dahinter steht, genau analysiere und außerdem noch ihre Folgen zeige, die bis auf den heutigen Tag führen." Auch in einem ausführlichen TV-Interview mit dem damaligen WDR-Redakteur und Berlin-Korrespondenten Roland H. Wiegenstein ist er auf die diversen Vorwürfe und Angriffe eingegangen. - In den oben erwähnten 10 Arbeitspunkten finden sich die Sätze "Die Art, in der meine Worte aufgenommen werden, ist weitgehend bedingt von der jeweiligen Gesellschaftsordnung, unter der sie verbreitet werden" und "Die Aussagen eines deutschsprachigen Autors liegen sogleich auf der Waagschale, wo sie den beiden verschiedenen Bewertungssystemen unterworfen werden". Er hat also schon zumindest in einem gewissen Ausmaß im Vorhinein gewusst und in Kauf genommen, was da auf ihn zukam. Aber das galt vielleicht nicht für die Tatsache, dass er auch von einigen Schriftstellerkollegen aus dem Westen scharf angegriffen wurde. So ist er 1966 auf einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton ernsthaft mit Günter Grass aneinandergerasselt.

Die Premiere von Die Ermittlung fand dann also am 19. Oktober 1965 statt, und zwar als sogenannte Ring-Uraufführung. Es handelt sich dabei um ein singuläres Ereignis der deutsch-deutschen Geschichte, denn es gab simultan vier Aufführungen im Westen und (vermutlich) zehn oder elf im Osten. Die "Leit-Aufführungen", wenn man das so nennen mag, waren die von Erwin Piscator inszenierte an der Freien Volksbühne in West-Berlin und die in der Volkskammer in Ost-Berlin (auf die ich noch ausführlich zu sprechen komme). Dazu kamen in der BRD die städtischen Theater in Essen und in Köln, sowie die Münchner Kammerspiele, hier unter der Regie von Paul Verhoeven (natürlich nicht der holländische Verhoeven, sondern der Vater des kürzlich verstorbenen Michael Verhoeven). In der DDR gab es Aufführungen bzw. szenische Lesungen beispielsweise in Dresden, Gera, Halle, Potsdam, Rostock und Weimar. Bei einigen Spielstätten, etwa in Cottbus und Neustrelitz, habe ich widersprüchliche Angaben gefunden, ob sie nun dabei waren oder nicht. Wenn ich alle irgendwo genannten Spielorte im Osten zusammenzähle, auch die unsicheren, dann komme ich nicht auf zehn oder elf, sondern 14. Aufgrund dieser unübersichtlichen Lage verzichte ich hier auf die komplette Auflistung. Übrigens täuscht hier das Übergewicht der DDR, denn abgesehen von Potsdam und Rostock handelte es sich nur um einmalige Vorstellungen am Premierentag. (Zum Volkstheater Rostock und dessen Intendanten Hanns Anselm Perten besaß Weiss ein besonderes Vertrauensverhältnis - Perten hatte schon im Frühjahr 1965 als erster in der DDR Marat/Sade an sein Theater geholt und selbst inszeniert, und bei der Ermittlung führte er auch selbst Regie.) In der BRD dagegen kamen im Lauf der nächsten Wochen und Monate etliche weitere Spielstätten hinzu, und Die Ermittlung wurde in der Theatersaison 1965/66 das meistgespielte Stück (Wikipedia spricht von zwölf Inszenierungen).
DIE ERMITTLUNG (DFF)
Auch das Württembergische Staatstheater in Stuttgart hätte eigentlich an der Ring-Uraufführung teilnehmen sollen, aber aufgrund von Unstimmigkeiten, die mit Piscators Inszenierung und deren Charakter als Jubiläumsveranstaltung (s.u.) zusammenhingen, zog man sich kurzfristig zurück, und die Stuttgarter Inszenierung unter der Regie von Peter Palitzsch startete erst am 23. Oktober. Palitzsch verfolgte dabei einen "anti-identifikatorischen" Ansatz, was hier heißen soll, dass die Angeklagten und die Zeugen von denselben Darstellern gespielt wurden. - Wenn man Die Ermittlung komplett spielt, so dauert das wohl so um die vier Stunden (was durch die aktuelle Verfilmung bestätigt wird). Deshalb wurde damals wie auch später bei den meisten Inszenierungen an der einen oder anderen Stelle gekürzt. Je nach Ort und verantwortlichen Personen wurde dabei mal eher künstlerisch und mal eher politisch motiviert entschieden. Wie erwähnt, nahm auch Essen an der Ring-Uraufführung teil, und es wirkt im Rückblick ziemlich peinlich, dass in der dortigen Inszenierung jeder Bezug zu Krupp aus dem Stück getilgt wurde. In der Volkskammer wiederum wurde nicht nur Text gestrichen, sondern auch ein bisschen Text hinzugefügt, der nicht von Weiss stammte, und der die politische Botschaft noch etwas deutlicher machen sollte.

Neben den genannten deutschen Aufführungen gab es, ebenfalls am 19. Oktober, noch eine in London, hier unter dem Titel The Investigation, vorgetragen von der Royal Shakespeare Company im Aldwych Theatre im Londoner West End unter der Regie von Peter Brook. Der 2022 verstorbene Brook scheint ein Faible für Weiss gehabt zu haben, denn schon 1964 inszenierte er, ebenfalls mit der Royal Shakespeare Company, das gerade schon erwähnte Stück, das ob seines barocken Titels meist als Marat/Sade abgekürzt wird, und 1967 adaptierte er diese Inszenierung für die Kinoleinwand (ebenfalls 1967 drehte Peter Schulze-Rohr für den NDR eine Fernsehfassung von Marat/Sade). Die Übersetzung für The Investigation wurde erst in letzter Minute fertig, und so konnte Brook "nur" eine szenische Lesung darbieten, die aber offenbar ihre Wirkung nicht verfehlte. Wie eine Kritikerin der Stuttgarter Zeitung schrieb, war das Haus bis auf den letzten Platz gefüllt. "Eindringlicheres, Atemloseres und Ungeheuerlicheres kann es nicht geben", steht in ihrem Fazit.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - die Zeugenbank
Die Berliner Volksbühne, von der während der deutschen Teilung je eine Dependance in West- und Ost-Berlin existierte, feierte am 19. Oktober 1965 ihr 75-jähriges Jubiläum. Der altgediente, aber geistig noch sehr junge Erwin Piscator, der schon in den 20er Jahren an der damaligen Volksbühne Regie führte und seit 1962 Intendant der Freien Volksbühne im Westteil der Stadt war, suchte einen geeigneten Premierenstoff für das Jubiläum und streckte schon im Frühjahr 1965 seine Fühler in Richtung Suhrkamp aus, ob er wohl Die Ermittlung bekommen könne. Piscator hatte schon 1963 die Uraufführung von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter an seinem Haus inszeniert, und er war für Die Ermittlung prädestiniert wie wenige andere im Westen. Weiss' Verleger, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld, war mit dem Spielort und dem Termin einverstanden, zugleich aber war den Beteiligten klar, dass der besondere Charakter des Stücks auch besondere Umstände für die Premiere erforderte. Und so entschloss man sich, Die Ermittlung allgemein freizugeben, das heißt, jede interessierte Bühne durfte das Stück am 19. Oktober spielen. (Weiss und Unseld hatten auch gemeinsam beschlossen, dass alle Einnahmen aus dem Werk, die über die Deckung der Unkosten hinausgingen, an eine Stiftung für Auschwitz-Opfer gespendet wurden.) Der für Weiss zuständige Lektor bei Suhrkamp Karlheinz Braun verschickte am 5. Mai einen entsprechenden Rundbrief an alle in Frage kommenden Theater in beiden Teilen Deutschlands. (Im Rundbrief ist ausdrücklich von "allen deutschsprachigen Bühnen" die Rede, ich bin aber nicht sicher, ob die Einladung auch für Österreich und die Schweiz galt. Von dortigen Aufführungen im Jahr 1965 ist mir jedenfalls nichts bekannt.) Weil "die gewohnten Voraussetzungen eines Theaterstücks nicht mehr gegeben sind", heißt es in dem Brief, erscheine es Suhrkamp "wünschenswert, die Uraufführung dieses Stückes von der jedes anderen abzuheben", und "notwendig, daß dieses Stück auf das Bewußtsein möglichst vieler Deutscher wirkt".

So kam es also zur Ring-Uraufführung am fraglichen Termin. Piscator bekam seine Jubiläums-Premiere, und er richtete das Stück (u.a. mit Dieter Borsche als Richter, Günter Pfitzmann als Ankläger und Horst Niendorf als Verteidiger) karg stilisiert, aber als "echte" Theaterinszenierung ein, mit einer elektronisch-dissonanten Musik des italienischen Avantgardisten Luigi Nono zwischen den Gesängen versehen (Piscator hatte schon in den 20er Jahren mehrfach Bühnenmusiken des damaligen Avantgardisten Edmund Meisel verwandt und blieb dieser Tradition treu). Ganz anders in jeder Beziehung gestaltete sich die Ost-Berliner Aufführung, die von nicht wenigen westlichen Beobachtern als "Staatsakt" tituliert wurde. In Ost-Berlin wären verschiedene Theater in Frage gekommen, etwa die Volksbühne (Ost), das Berliner Ensemble (das Bert Brecht und seine Frau Helene Weigel gegründet und geleitet hatten), oder das Deutsche Theater. Natürlich erhielten sie alle die besagte Einladung, aber Manfred Wekwerth, der angesehene Brecht-Schüler und Chefregisseur am Berliner Ensemble, hatte eine andere Idee. Mitte Juni 1965 schrieb er einen Brief an Konrad Wolf, der gerade zum Präsidenten der Akademie der Künste der DDR gewählt worden war. Darin schlug er vor, die Akademie solle eine szenische Lesung von Die Ermittlung organisieren, an der die besten Schauspieler der DDR teilnehmen sollten. Aber nicht nur die, sondern auch Schriftsteller, bildende Künstler und sonstige Kulturschaffende sowie Funktionäre und Politiker der DDR. Die verbindende Klammer dieser schauspielerischen Laien sollte sein, dass sie alle am Kampf gegen den Faschismus teilgenommen hätten oder von den Nazis verfolgt wurden. Diese Veranstaltung sollte die anderen in der DDR an öffentlicher Aufmerksamkeit weit übertreffen (was dann auch der Fall war), und sie sollte zu einer "antifaschistischen Demonstration" werden, die eindeutig gegen die Bundesrepublik gerichtet war.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - die Angeklagten
Nach einigen Akademie-internen Diskussionen wurde der Vorschlag angenommen, einschließlich der propagandistischen, gegen den Westen gerichteten, Ausrichtung der Veranstaltung. Man muss festhalten, dass diese Ausrichtung nicht von oben dekretiert wurde, sondern von den Beteiligten selbst ins Spiel gebracht und ausgearbeitet wurde, aber sie richtete sich natürlich an der Linie der SED aus. Ab Mitte Juli tagte dann bis kurz vor der Aufführung in kurzen Abständen zur Vorbereitung eine Art Komitee. Da das offiziell Sitzungen der Akademie waren, gibt es auch offizielle Protokolle, so dass wir gut darüber unterrichtet sind. Zu diesem Kreis gehörten Helene Weigel und Karl Hossinger, der Direktor der Akademie der Künste (nicht zu verwechseln mit der Position des Präsidenten, also Wolf). Und dann die fünf Herren, die zusammen das offizielle "Regiekollektiv" bildeten: Zunächst einmal Wekwerth und Wolf. Konrad Wolf war damals ebenso wie heute im Rückblick einer der wichtigsten Filmregisseure der DDR, aber nicht deshalb war er dabei, sondern eben wegen seiner Position in der Akademie. Dazu kamen dann Lothar Bellag, der wie Wekwerth Regisseur am Berliner Ensemble war, und gleichzeitig fest angestellter Fernsehregisseur beim DFF; Erich Engel war ebenfalls Regisseur und zeitweise Oberspielleiter am Berliner Ensemble, zugleich seit Ufa-Zeiten ein Veteran des Spielfilms (nicht zu verwechseln mit dem fast gleichnamigen und auch fast gleich alten Erich Engels); Karl von Appen schließlich war einer der führenden Bühnenbildner der DDR und ebenfalls mit dem Berliner Ensemble verbunden. Der Komponist Paul Dessau, der, ähnlich wie Nono bei Piscator, eine dissonante Musik (nur ohne Elektronik) zur Einleitung und für die Szenenübergänge schrieb, nahm auch gelegentlich teil. Bei dem fünfköpfigen Regiekollektiv war Karl von Appen naturgemäß für das Bühnenbild zuständig, aber bei den anderen vier sind die Rollen wohl nicht so klar. Bellag scheint primus inter pares gewesen zu sein, aber ich weiß nicht, wieweit sich die anderen überhaupt an der eigentlichen Regie beteiligt haben - vielleicht war das doch mehr ein Organisationskomitee. Eine der ersten Fragen, die auf den Sitzungen geklärt wurden, war der Ort der Veranstaltung. Es sollte nicht eines der gewöhnlichen Theater sein, sondern ein repräsentativer Saal, der zugleich Platz für viele Zuschauer bot. Nach einigen Vorschlägen und einer Ortsbesichtigung einigte man sich auf den Plenarsaal der Volkskammer, also des Parlaments der DDR (damals noch nicht im Palast der Republik, der erst in den 70er Jahren gebaut wurde, sondern im Langenbeck-Virchow-Haus). Dieser Ort verlieh der ohnehin politisch stark aufgeladenen Veranstaltung zusätzliche Bedeutung.

Ein weiterer Punkt, der entschieden werden musste, war der der Mitwirkenden. Es blieb bei dem Konzept, professionelle (und teilweise erstklassige) Schauspieler mit Laien zu paaren. Zeitweise wurde erwogen, auch Künstler aus dem Westen einzuladen, aber davon wurde dann wieder Abstand genommen. Weiss und Unseld wussten zunächst nichts von diesen Vorbereitungen, erst Ende Juli wurde Weiss voll unterrichtet und zu einer der Sitzungen eingeladen, zu der er Anfang August auch erschien. Er billigte das Konzept einschließlich des Spielorts Volkskammer, und er gab seine Zustimmung, die Veranstaltung für das Fernsehen aufzuzeichnen. Gegen die Beteiligung der Laien äußerte Weiss künstlerische Vorbehalte. "Jedenfalls wird keine wirklich vollendete Theaterleistung erreicht werden", meinte er laut Protokoll (und damit sollte er Recht behalten). Aber anscheinend überwog seine Hoffnung auf die politische Wirkung, jedenfalls erhob er keinen ernsthaften Einspruch. Unseld erfuhr noch später von den Einzelheiten, und er war im Gegensatz zu Weiss ziemlich entsetzt, denn er sah voraus, dass diese Veranstaltung die nicht geringen Vorbehalte gegen Weiss und sein Werk im Westen noch verstärken und der rechten Presse willkommene Munition liefern würde. Ich weiß nicht, ob Suhrkamp zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit gehabt hätte, der Akademie die Aufführungsrechte zu entziehen, aber selbst wenn, wäre ein solcher Eklat erst recht propagandistisch ausgeschlachtet worden. So nahmen die Dinge also ihren Lauf.
DIE ERMITTLUNG (DFF) - Helene Weigel
Spätestens im August wurde die geplante Lesung zu einer offiziösen Angelegenheit der DDR. Der höchstrangige Politiker, der involviert war, und der dann auch tatsächlich an der Veranstaltung teilnahm, war Alexander Abusch. Der war von 1958 bis 1961 Kulturminister der DDR, danach als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates (einer von mehreren) ebenfalls für Kultur zuständig, und Mitglied der Akademie war er auch. Durch seine politische Funktion war Abusch mitverantwortlich dafür, dass auf dem berühmt-berüchtigten 11. Plenum im Dezember 1965 Filme wie SPUR DER STEINE (Frank Beyer), DAS KANINCHEN BIN ICH (Kurt Maetzig) , DENK BLOSS NICHT, DASS ICH HEULE (Frank Vogel), KARLA (Herrmann Zschoche), JAHRGANG 45 (Jürgen Böttcher) und FRÄULEIN SCHMETTERLING (Kurt Barthel) kurz nach oder schon vor ihrem Erscheinen verboten wurden (und bis 1989/90 verboten blieben), und dass allgemein das kulturpolitische Klima wieder viel rigider wurde als in den wenigen Jahren davor. Das betraf übrigens auch damals schon Wolf Biermann, der von der SED extrem scharf kritisiert wurde. Das veranlasste Weiss im Dezember 1965, sich öffentlich für Biermann einzusetzen. Nachdem man vergeblich versuchte, Weiss durch gutes Zureden zur "Umkehr" zu bewegen, erkaltete die offizielle Weiss-Begeisterung der DDR jäh. Weiss seinerseits wurde durch das Ende des Prager Frühlings desillusioniert, was die gesellschaftlichen Entwicklungsaussichten der sozialistischen Staaten betraf, und als er 1970 sein Drama Trotzki im Exil herausbrachte, war es ganz vorbei (Leo Trotzki blieb auch nach dem Ende des Stalinismus im Ostblock eine Unperson) - aus dem vemeintlichen kommunistischen Kulturpartisanen war schon fast ein Klassenfeind geworden. Ebenfalls 1970 wurde Weiss in Ost-Berlin festgenommen und in den Westteil abgeschoben, und er erhielt Einreiseverbot in der DDR. So kann das gehen.
DIE ERMITTLUNG (DFF) - Ernst Busch
Doch zurück ins Jahr 1965. Abusch gehörte trotz seiner Position doch eher zum oberen Mittelbau der SED, und es schien ratsam, angesichts der diffizilen Thematik Rückendeckung von ganz oben einzuholen. So schrieb Konrad Wolf am 9. August einen Brief an Erich Honecker, damals schon zweiter Mann in der Parteihierarchie hinter Ulbricht, und erläuterte ihm das Projekt. Honecker persönlich rief drei Tage später Wolf an und gab sein Placet. - Da waren nun also die verschiedensten Leute zu einem temporären Ensemble vereinigt. Neben Abusch einige weitere kulturnahe Funktionäre, Schrifsteller wie Stephan Hermlin und Bruno Apitz, der Autor des Buchenwald-Romans Nackt unter Wölfen, altgediente honorige Antifaschisten wie der auch im Westen geschätzte Verleger Wieland Herzfelde, bildende Künstler, und einiges mehr. Und natürlich die richtigen Schauspieler, darunter so bekannte Namen wie Helene Weigel, Ernst Busch (der sich eigentlich schon von der Bühne zurückgezogen hatte, aber hier nochmal ein Gastspiel gab), Erwin Geschonneck, Hilmar Thate, Eberhard Esche, Rolf Ludwig, Horst Drinda und Ekkehard Schall. Es wurden Proben abgehalten, allerdings fluktuierte die Besetzungsliste im Lauf der Vorbereitungszeit stark, und zwar bis unmittelbar vor der Vorstellung (so stand Anna Seghers bis zuletzt auf der Liste, war dann aber nicht dabei), so dass einige Mitwirkende nur an wenigen oder vielleicht gar keinen Proben teilnahmen. - "Die Mitwirkenden sollen Persönlichkeiten sein, die die Schrecken der Konzentrationslager aus eigenem Erleben kennen und sich am antifaschistischen Widerstandskampf in Deutschland und in der Emigration beteiligt haben", hieß es schon im Protokoll des ersten Vorbereitungstreffens. Das klingt ja auf dem Papier schön, wurde aber nicht ganz eingehalten, denn zwei der Mitwirkenden, der Schriftsteller Helmut Baierl und der Maler und Zeichner Bert Heller, waren Wendehälse, die bis 1945 in der NSDAP und wenig später in der SED waren (wer wann davon wusste, ist mir nicht bekannt). Baierl war auch Stasi-Spitzel (nicht der einzige im Ensemble) und spionierte auch Peter Weiss aus, und 1989 trat er wieder aus der SED aus.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - der Ankläger (links) und der Verteidiger
Wie schon mehrfach geschrieben, handelte es sich in der Volkskammer um eine szenische Lesung. Das bedeutet konkret: Alle Mitwirkenden sitzen auf Stühlen oder Bänken. Wer gerade dran ist, steht auf (und geht ggf. zu einem Pult vor), liest aus einem aufgeschlagenen Textbuch seine Passage vor, setzt sich wieder, und der nächste ist an der Reihe. Das klingt dröge, kann aber, wenn es gut gemacht ist, durchaus seine Wirkung entfalten, wie ja etwa Peter Brook in London bewiesen hat. Aber in der Volkskammer ging es daneben. Das lag nicht nur in der übermäßig akzentuierten und allzu offensichtlichen politischen Stoßrichtung, sondern auch an den Laien, die das nicht wirklich konnten. Vielleicht wäre es falsch zu sagen, dass sie überfordert waren, weil ja von vornherein nichts anderes von ihnen verlangt wurde, als dass sie ihren Text fehlerfrei herunterlesen, aber bei etlichen hat man schon sehr deutlich gemerkt, dass sie hier nicht in ihrem Metier waren. Die Beklemmung, die das Stück ja eigentlich auslösen sollte, wollte sich bei mir nur an wenigen Stellen einfinden, und das ausschließlich bei den Profis wie Helene Weigel und Ernst Busch. Ich bin nicht der einzige, der das so sieht oder damals sah. Dieter E. Zimmer schrieb in einem klugen Artikel in der Zeit:
"Es erwies sich nämlich, daß wider Erwarten nicht die Lesung, sondern nur die Bühneninszenierung [bei Piscator] die tiefe Betroffenheit erzeugen konnte, die Weiss beabsichtigt hat und deren Ausbleiben sein Oratorium nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich machen würde. Die offiziellen Umstände der Volkskammerlesung, das Aufgebot an prominenten Namen, die Mischung von Laien und Schauspielern, welche bei aller Zurückhaltung, zu der sie angehalten worden waren, ihre Qualitäten nicht verleugnen konnten, der Kontrast zwischen Sprechenkönnen und Dilettantismus, der sich nicht vertuschen ließ – alles dies rückte gerade den Akt der Vermittlung des Textes an das Publikum so sehr in den Vordergrund, daß der Stoff selbst dahinter (einmal mehr, einmal weniger) verschwand. Statt auf die Worte zu hören, dachte man: Aha, jetzt also kommt der Abusch. Statt Bogers Ausreden zu überdenken, fragte man sich, wie ausgerechnet einem Apitz dieses Boger-Gerede über die Lippen käme. Das stimmte alles so wenig, daß die Unstimmigkeiten die Sache, um die es den Beteiligten zu tun war, verdunkelten. Die Ausschaltung allen Theaters, so stellte sich heraus, gereichte dem Text gerade nicht zum Vorteil, sondern behinderte seine Wirksamkeit auf fatale Weise.

Piscators Inszenierung dagegen: sie zeigte, was immer im einzelnen dazu zu sagen war, daß das Theater jedenfalls keine Apparatur zu sein braucht, die sich hinderlich zwischen den Stoff und das Publikum schiebt, sondern daß seine Möglichkeiten, intelligent genutzt, im Gegenteil dafür sorgen können, daß der Akt der Vermittlung unmerkbar wird und die unmittelbare Konfrontation von Publikum und Stoff stattfindet; und daß das Theater, so ehrenwert seine Skrupel auch sind, Unrecht hat, sich seiner selbst zu schämen und sich zu verleugnen."
Dem kann ich mich nur anschließen. Natürlich habe ich im Gegensatz zu Zimmer die Inszenierung von Piscator nicht gesehen, aber stattdessen kann man hier auch zwanglos die gelungene von Peter Schulze-Rohr einsetzen. Kurze Nebenbemerkung: Ist es bei diesem so heiklen Stoff überhaupt erlaubt, von einer "guten" oder "schlechten" Performance eines Darstellers zu sprechen? Dieter E. Zimmer stellte sich diese Frage auch, beantwortete sie mit "ja", und wiederum bin ich derselben Meinung:
"Und nach dieser Erfahrung würde ich mich auch nicht mehr genieren, das zu tun, was mancher, der dem ganzen Unternehmen mit Skepsis entgegensah, für den Gipfel der Zumutung hielt – nämlich zu sagen: der war gut als Zeuge drei, der war schlecht als Kaduk. Ich geniere mich nicht, zu sagen: Bruno Apitz war natürlich ganz und gar unmöglich als Boger (und das braucht den Autor von »Nackt unter Wölfen« wahrlich nicht zu kränken), und zum Beispiel der Schauspieler Otto Mächtlinger (bei Piscator), der den Angeklagten Stark sprach, war »gut«, er war »richtig« in seiner dummschlauen ewig unreifen Tätigkeit."
Peter Weiss und Siegfried Unseld waren übrigens unter den Gästen in der Volkskammer, sahen sich ungefähr die Hälfte an, wechselten dann flugs über die Zonengrenze, und verfolgten den Rest von Piscators Inszenierung. Ausschnitte aus der Volkskammerlesung wurden schon am nächsten Tag im DFF ausgestrahlt, die vollständige Aufzeichnung 13 Monate später, am 20. November 1966. Die Fernsehregie besorgte eine Ingrid Fausak, über die ich nichts Nennenswertes herausfinden konnte, außer dass sie noch für etliche weitere Bühnenverfilmungen des DFF die TV-Regie übernahm. Vielleicht war sie eine fest angestellte Mitarbeiterin des Senders. - Die vier westlichen Aufführungen am 19. Oktober wurden anscheinend nicht gefilmt, jedenfalls ist nichts davon überliefert. Doch es war klar, dass es auch in der Bundesrepublik eine Fernsehfassung von Die Ermittlung geben sollte, ja geben musste. Die kam dann 1966 vom NDR, Sendetermin war der 29. März um 20:15 Uhr in der ARD, und Regie führte Peter Schulze-Rohr. Diese Sendung hatte einen Vorläufer: Bereits im Oktober 1965 produzierte der HR federführend für acht der neun damaligen ARD-Anstalten (es fehlt der Bayerische Rundfunk, dafür war zusätzlich noch das Schweizer Radio DRS dabei) Die Ermittlung als Hörspiel. Dieses Hörspiel war mit 175 Minuten sogar noch länger als dann der Fernsehfilm (155 min), die Ausstrahlung war am 25. Oktober, und im Lauf der Jahre wurde es mehrmals auf Tonträgern veröffentlicht. Regie führte auch hier schon Peter Schulze-Rohr, und die Besetzungslisten des Hörspiels und des TV-Films sind zu gut der Hälfte identisch. Zu denjenigen, die beim Hörspiel als Sprecher dabei waren, aber beim Film nicht mehr, gehören durchaus prominente Namen wie Friedrich Joloff, Hans Helmut Dickow, Karl Lieffen, Robert Graf und Wolfgang Büttner.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Hanne Hiob
Treibende Kraft beim NDR für den Fernsehfilm war neben Schulze-Rohr (oder vielleicht noch vor ihm) Egon Monk. Wie so viele, die damals mit Die Ermittlung zu tun hatten, war Monk als junger Mann beim Berliner Ensemble. Von 1960 bis 1968 war Monk der erste Fernsehspielchef beim NDR, und in dieser Position war er einer derjenigen, die unermüdlich dafür sorgten, dass auch das Fernsehen in den 60er Jahren ankam und der Mief der 50er Jahre wenigstens teilweise vertrieben wurde. Monk führte auch selbst Regie, u.a. 1965 bei EIN TAG - BERICHT AUS EINEM DEUTSCHEN KONZENTRATIONSLAGER 1939, einer Art von Dokudrama in dem Stil, der später von Heinrich Breloer weiterentwickelt wurde (derzeit ist dieser Film in der Mediathek von 3sat zu finden). Peter Schulze-Rohr gehörte ab 1964 zum Team von Monk beim NDR. Einem breiten Publikum bekannt wurde Schulze-Rohr, als er bis auf die zwei letzten sämtliche TATORT-Episoden mit dem bärbeißigen Hamburger Kommissar Trimmel inszenierte, die samt und sonders von Friedhelm Werremeier geschrieben wurden. Damit bildeten Werremeier und Schulze-Rohr ein ähnlich erfolgreiches und noch langlebigeres Team als Herbert Lichtenfeld und Wolfgang Petersen, die (ebenfalls beim NDR) die Folgen mit Kommissar Finke aus Kiel schrieben bzw. inszenierten.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Einblendungen: links der Galgen, rechts das "alte
 Krematorium" im Stammlager (Auschwitz I)
Zurück zu Die Ermittlung. Der NDR-Film wurde in einem Hamburger Theater vor Publikum gedreht, das aber im abgedunkelten Bühnenraum (im Gegensatz zur hell ausgeleuchteten Volkskammer) die meiste Zeit unsichtbar bleibt. Das Bühnenbild ist streng stilisiert, Musik gibt es hier keine (und man vermisst sie auch nicht im Mindesten). Dafür bietet der Film ein sehr gut bedachtes Stilmittel: Immer wieder werden während der Aussagen der Zeugen dokumentarische Fotos bzw. kurze langsame Kamerafahrten aus Auschwitz eingeblendet, die genau jene Örtlichkeiten zeigen, von denen im Text gerade die Rede ist. Gerade bei diesen Szenen, aber auch sonst praktisch durchgehend, gelingt dem Film (zumindest bei mir), was der Volkskammer-Version weitgehend versagt blieb, nämlich Beklemmung und Betroffenheit zu erzeugen. Das gut ausgewogene und sehr solide Ensemble tut sein Übriges dazu - ein wirklich deutlicher Gegensatz zu der Polit-Veranstaltung in Ost-Berlin. Es gibt hier übrigens, abweichend vom Originaltext, drei weibliche und insgesamt zehn Zeugen. Wenn man vom Ensemble irgendwen herausgreifen möchte, dann würde ich vielleicht Hanne Hiob nennen, die von den drei Zeuginnen am meisten Text hat, in den sie einen gewissen bitter-abgeklärten Sarkasmus legt. In der Volkskammer spricht Helene Weigel die meisten dieser Texte, und zwar völlig anders als Hiob. Da ich die NDR-Fassung zuerst gesehen hatte, hatte ich zunächst Schwierigkeiten, mich in Weigels Duktus einzufinden, aber letztlich fand ich sie auch überzeugend (die andere Zeugin in der Volkskammer, die gebürtige Bulgarin Georgia Peet-Taneva, bleibt dagegen ziemlich blass). Übrigens war Hanne Hiob eine Tochter von Brecht und Stieftochter von Theo Lingen, und rein technisch gesehen auch sowas wie eine Stieftochter von Helene Weigel, und Ekkehard Schall, der auch in der Volkskammer-Lesung dabei war, war Schwiegersohn von Brecht und Weigel - aber das nur am Rande.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Benno Sterzenbach und Siegfried Wischnewski
Um nochmals auf die Volkskammer-Lesung zurückzukommen: Ich hatte den Eindruck, dass nicht nur der künstlerische Wert, sondern bisweilen sogar das angestrebte politische Ziel durch die Art der Inszenierung torpediert wurde. Das möchte ich an der Figur des Verteidigers erläutern. Der Verteidiger in der NDR-Fassung, der vom heute weitgehend vergessenen Helmut Peine gespielt wird, ist ein subtiles Ekelpaket, das - nicht allzu vordergründig, aber doch erkennbar - mit den Angeklagten sympathisiert und jeden Respekt vor den Zeugen 3 bis 10 - also den Auschwitz-Opfern - vermissen lässt. Wenn man sich etwas mit dem Auschwitz-Prozess beschäftigt hat, dann kann man leicht auf die Idee kommen, dass der Verteidiger, so wie er von Schulze-Rohr und dem Darsteller angelegt wird, von Hans Laternser inspiriert ist. Die Mehrzahl der Rechtsanwälte im Frankfurter Prozess erledigten professionell ihren Job und verteidigten die Angeklagten, so wie man das auch erwarten kann. Doch einige, allen voran Hans Laternser, waren anders. Laternser nutzte jede Gelegenheit, um den Belastungszeugen mit teilweise abstrusen Argumenten grundsätzlich ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen, ja sie geradezu als Lügner hinzustellen, wenn sie etwa, was fast unvermeidlich war, bei exakten Zeitangaben Erinnerungslücken hatten oder ungenaue Angaben machten. Geradezu spektakulär absurd ist auch seine Argumentation im Schlussplädoyer, die Angeklagten, die an der Rampe Selektionen durchführten, seien in Wirklichkeit Lebensretter, weil sie ja zumindest einen Teil der Häftlinge (wenn auch nur vorübergehend) dem direkten Weg in die Gaskammer entzogen. Ob nun Laternser hinter dem Verteidiger beim NDR steckt oder nicht - diese Figur bringt fast unausweichlich die wohlbekannte Tatsache in Erinnerung, dass die Angeklagten damals in den 60er Jahren noch viele Sympathisanten in der westdeutschen Justiz besaßen. Diese Assoziation war ganz im Sinn von Weiss, aber natürlich auch im Sinn der DDR. Doch gerade der von Dieter Knaup gespielte Verteidiger (Ost), der mehr an einen pedantischen Urkundsbeamten erinnert, evozierte bei mir nichts davon. Setzen, Thema verfehlt!
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Ida Ehre und Pinkas Braun
Die Bundeszentrale für politische Bildung betreibt neben ihren sonstigen Aktivitäten auch ein DVD-Programm, und darin erschien 2008 das 2-DVD-Set "auschwitz auf der bühne. peter weiss' »die ermittlung« in ost und west". Darin finden sich auf einer DVD-ROM jede Menge Originaldokumente von damals - Texte als Faksimile, Fotos, Audio- und Videoausschnitte -, und auf einer Video-DVD die komplette Volkskammer-Lesung. Ohne diese Edition wäre dieser Artikel so nicht möglich gewesen, und eine andere Möglichkeit, an den Volkskammer-Film zu kommen, ist mir nicht bekannt. Dass er nochmal im Fernsehen wiederholt wird, halte ich für unwahrscheinlich. Von den diversen Ausgaben und Auflagen von Die Ermittlung, die im Lauf der Jahrzehnte erschienen, hat mindestens eine (und vielleicht auch nur genau diese eine), nämlich die "Einmalige Sonderausgabe 2008" von Suhrkamp (ISBN 978-3-518-41989-2), den NDR-Film auf einer DVD beiliegen. Derzeit findet man ihn auch auf YouTube. Dort ist er kürzer als auf DVD, aber möglicherweise wurde dort "nur" die Bildfrequenz erhöht. Das ARD-Hörspiel von 1965 findet sich ebenfalls auf YouTube.

Donnerstag, 4. Juli 2024

Du musst zur KIPHO!

Wo muss ich hin? Na, steht doch da - in die KIPHO oder KiPho, die Kino- und Photo-Austellung vom 25. September bis 4. Oktober 1925 in Berlin. Oops, das war ja schon. Diese damals sicher sehr interessante Ausstellung, die über 100.000 Besucher anzog, haben wir also verpasst, aber wenigstens hat eine Art von Werbefilm, der das Ereignis feierte, die Zeiten überdauert. Und diesen Film wollen wir uns jetzt mal ansehen.

KIPHO oder KIPHO-FILM, auch schlicht FILM (inoffizielle Titel)
Deutschland 1925
Regie: Guido Seeber und Julius Pinschewer



Hoppla, was war das denn? Vier Minuten pure Avantgarde. Wer sich mit dem Weimarer Kino auskennt, hat natürlich einiges wiedererkannt. Der feuerspeiende Drache aus Fritz Langs DIE NIBELUNGEN (Teil 1, "Siegfrieds Tod"), ein gezeichneter Emil Jannings in seiner Portiers-Operettenuniform und weitere Anspielungen auf Murnaus DER LETZTE MANN, und natürlich Robert Wienes expressionistischer Klassiker DAS CABINET DES DR. CALIGARI, und das eine oder andere weitere (nicht ganz so bekannte) Bildzitat wie etwa aus WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT. Dazu kommen die von Pinschewer und vor allem Seeber selbst gestalteten wilden Collagen und Montagen, die an zeitgenössische Vertreter des "absoluten Films" (wie man abstrakte Filme damals nannte) erinnern, wie etwa BALLET MÉCANIQUE, den Fernand Léger und Dudley Murphy 1924 in Frankreich drehten. Ideen und Gestaltungselemente aus etwas späteren Werken wie Walter Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und vor allem Dsiga Wertows DER MANN MIT DER KAMERA werden hier auch schon vorweggenommen. Ähnlich wie in DER MANN MIT DER KAMERA ist die Herstellung eines Films selbst Thema ebenjenes Films, aber auch die (damals noch junge) Geschichte und Vorgeschichte des Films, etwa indem einige der Apparate für "bewegte Bilder" von Ottomar Anschütz gezeigt werden, die - ähnlich wie die von Étienne-Jules Marey - zu den direkten Vorläufern der Kinematographie zählen.

"Du musst zur KIPHO" - das ist natürlich eine Reminiszenz an "Du musst Caligari werden!". Anfang 1920, vor der Premiere von DAS CABINET DES DR. CALIGARI, prangte diese ominöse Aufforderung auf Berliner Plakatwänden und Litfaßsäulen sowie in Anzeigen in Filmzeitschriften - ohne irgendeinen erklärenden Kontext. Und mit einer expressiven Grafik versehen, in der sehnige Hände nach dem bizarr gestalteten Schriftzug greifen. Was mochte das wohl heißen? Es handelt sich um einen Schlüsselsatz in einem der Zwischentitel von DAS CABINET DES DR. CALIGARI, aber vor der Premiere des Films wusste bis auf wenige Eingeweihte niemand Bescheid - und so wurde privat und öffentlich eifrig darüber diskutiert und spekuliert. Die Kampagne wurde so zu einem frühen Beispiel für das, was man heute virale Werbung nennt. Dass Seeber und Pinschewer gut fünfeinhalb Jahre später daran anknüpften und sich darauf verlassen konnten, dass das Publikum versteht, zeigte erneut, wie innovativ und erfolgreich die Werbekampagne für CALIGARI war (und für die, die da nicht ganz so firm waren, wird die Aufforderung, zur KiPho zu kommen, mit Bildern von Werner Krauß als dem sinistren Hypnotiseur Caligari unterlegt). Natürlich wäre es naheliegend gewesen, dass auch KIPHO in den Tagen oder Wochen vor der Veranstaltung als eine Art Trailer in den Kinos von Berlin (oder gar in ganz Deutschland) lief. Ich habe aber widersprüchliche Informationen dazu gefunden, ob das tatsächlich der Fall war. In dem Artikel von Michael Cowan (siehe unten) heißt es in der Tat "... which ran as a trailer in German theaters in the weeks leading up to the exhibition". Laut filmportal.de allerdings hatte der Film (abgesehen von einer Pressevorführung am 3. September) erst auf der KiPho selbst am 25. September Premiere.

Anzeige in der Lichtbild-Bühne (links) und Plakat, gemeinsam gestaltet von Erich Ludwig Stahl und Otto Arpke
Ein witziges Detail im KIPHO-FILM sind die Fake-Credits ziemlich am Anfang. Natürlich sind nicht nur die Charaktere wie der "Emir von Belustigstan", sondern auch die Namen der angeblichen Darsteller frei erfunden. Der amerikanische Avantgarde-Regisseur und Kunsthistoriker Standish D. Lawder (1936-2014) hat in seinem Buch The Cubist Cinema von 1975 dem KIPHO-FILM ein ganzes Kapitel gewidmet. (Lawder hat einen Teil seines Studiums in München absolviert, und seine Frau war eine Stieftochter des Dada-Regisseurs Hans Richter (u.a. RHYTHMUS 21, VORMITTAGSSPUK und DREAMS THAT MONEY CAN BUY), mit dem Lawder zeitweise zusammengearbeitet hat.) In Lawders einfachem, aber sehr originellen Film NECROLOGY (1970) gibt es ebenfalls sehr einfallsreiche Fake-Credits. Zwar sind diese nicht am Anfang, sondern am Ende des Films, und sie entschwinden nicht sofort in die ungebremste Beschleunigung, sondern nehmen einen beträchtlichen Teil des Films ein. Aber wer weiß, vielleicht wurde Lawder von KIPHO dazu inspiriert.

Wer waren nun die Herren Pinschewer und Seeber? Julius Pinschewer (1883-1961) war mindestens im deutschsprachigen Raum, aber vielleicht weltweit, der Erfinder der regulären Kinowerbung. (Der Erfinder der Schleichwerbung im Film war möglicherweise der Schweizer François-Henri Lavanchy-Clarke, der schon ab 1896 dezent platzierte Werbung für Seife und Schokolade in seinen kurzen pseudodokumentarischen - aber in Wirklichkeit inszenierten - Filmen unterbrachte.) Zwar gab es schon zuvor vereinzelte Werbefilme im Kino, aber erst Pinschewer hatte die Vision, diese systematisch herzustellen und zu vertreiben. Ab 1910 produzierte Pinschewer also kurze Werbefilme, die einzeln oder in Blöcken im Vorprogramm der deutschen Kinos gezeigt wurden, und er schuf dafür nicht nur ein eigenes Studio, sondern auch die dazugehörige Vertriebsorganisation. Für eineinhalb Jahrzehnte besaß Pinschewer in Deutschland mehr oder weniger ein Monopol in seinem Metier, bevor er von finanzstarken Konkurrenzfirmen überflügelt wurde, die ihm seine zuvor exklusiven Geschäftspartner wie die Ufa-Kinokette abspenstig machten. 1928 schlug er noch einmal zu, indem er mit DIE CHINESISCHE NACHTIGALL den ersten Werbetrickfilm mit Ton (im Tri-Ergon-Verfahren) produzierte, aber wirtschaftlich konnte er da nicht mehr so recht mithalten. 1933 floh er als Jude mit seiner Familie und nur wenigen Habseligkeiten in die Schweiz, wo er sich eine neue Existenz aufbaute - sein nicht unbeträchtliches Vermögen musste er den Nazis überlassen. Aufgrund der Gegebenheiten in der Schweiz beschränkte sich Pinschewer dort fast vollständig auf Zeichentrickfilme - überwiegend kommerzielle Werbung wie bisher, teils aber auch Filme mit kulturellen und identitätsstiftenden Schweizer Themen, die von öffentlichen Körperschaften in Auftrag gegeben wurden. Die meisten seiner deutschen Werbeclips inszenierte Pinschewer selbst, bei etlichen übertrug er die Regie aber an externe ambitionierte Kräfte wie etwa Lotte Reiniger und mehrfach Walter Ruttmann (die sich dabei aber immer eng mit Pinschewer absprechen mussten). Für KIPHO, der von Pinschewers Werbefilm GmbH im Auftrag des Berliner Messe-Amts produziert wurde, tat er sich dann mit Guido Seeber zusammen. Insgesamt hat Pinschewer rund 700 Werbefilme produziert.

Friedrich Konrad Guido Seeber (1879-1940) war ein Fotograf und Kameramann sowie (anfangs zusammen mit seinem Vater) ein Techniker und Tüftler, der die Technik (und insbesondere die Tricktechnik) beim Film voranbrachte. Seeber hat als Kameramann über 150 Filme auf dem Konto. Bis ungefähr 1911 hat er auch gelegentlich Regie geführt, danach aber so gut wie nicht mehr - KIPHO bildet hier also eine von offenbar nur zwei Ausnahmen. Parallel dazu inszenierte Seeber nämlich wiederum im Rahmen der KiPho (anscheinend ohne Beteiligung von Pinschewer, aber ebenfalls im Auftrag des Berliner Messe-Amts) die Kurz-Doku AUS VERGANGENER ZEIT, über die ich nichts Nennenswertes finden konnte. Im Rahmen der KiPho betreute Seeber auch eine Sonderschau mit dem Titel "Zur Geschichte des lebenden Lichtbildes". Möglicherweise war AUS VERGANGENER ZEIT ein Bestandteil davon. Seeber schrieb auch Bücher und Beiträge in Fachzeitschriften über seine Tätigkeiten. In seinem Buch Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten (1927, Neuauflage 1979) ging er auch auf KIPHO ein und schrieb, dass es dafür statt eines konventionellen Drehbuchs eine nach musikalischen Prinzipien gestaltete Partitur gab. Beim KIPHO-FILM war Seeber vor allem für die eigens neu gedrehten Teile zuständig. Zwar hatte sich Pinschewer in den damals schon 15 Jahren seiner Karriere auch technische Expertise erworben und benutzte diverse Animationstechniken für seine Filme, aber die "in der Kamera" erzeugten Collagen, Split Screens und Mehrfachbelichtungen, mit Hilfe von Prismen und Maskenvorsätzen am Objektiv, das war Seebers Domäne.

Der KIPHO-FILM ist in der sehr empfehlenswerten DVD "Julius Pinschewer. Klassiker des Werbefilms" enthalten, die in der arte Edition in Zusammenarbeit mit absolut Medien erschienen ist. Momentan scheint die DVD nur noch gebraucht (immerhin zu vernünftigen Preisen) erhältlich zu sein. Da es absolut Medien in der alten Form seit einem halben Jahr nicht mehr gibt, könnte das auch so bleiben. - KIPHO besitzt laut filmportal.de eine Länge von 111 Metern. Die Fassung aus der Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin, die ich hier via YouTube eingebettet habe, dauert gut vier Minuten und besitzt somit eine Bildrate von 24 fps. Die Fassung auf der gerade erwähnten DVD dauert ca. fünfeinhalb Minuten, läuft mithin mit deutlich langsameren 18 fps (was auf der PAL-DVD natürlich zu 25 Bildern pro Sekunde hochgerechnet wird).

Neben Standish Lawder hat sich auch Michael Cowan ausführlich mit dem KIPHO-FILM befasst, in einer Arbeit mit dem Titel Advertising, Rhythm, and the Filmic Avant-Garde in Weimar: Guido Seeber and Julius Pinschewer's Kipho Film (October Magazine, Winter 2010, Seiten 23-50). Mit etwas Mühe kann man den Artikel mit einem kostenlosen Account bei JSTOR auftreiben. Cowan stellt den Film darin in einen weiteren Kontext, der um die zeitgenössischen Diskussionen um den Gegensatz von natürlichen/biologischen und künstlichen/industriellen Rhythmen kreist (und das nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Arbeitswelt). Dabei zitiert er Arbeiten wie Arbeit und Rhythmus von Karl Bücher, Vom Wesen des Rhythmus von Ludwig Klages, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl von Fritz Giese, Expressionismus und Film von Rudolf Kurtz, Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen und weitere Texte von Hans Richter, und noch einiges mehr. Cowan weist auch darauf hin, dass die KiPho in einer Zeit der großen Krise der deutschen Filmindustrie stattfand. In den Zeiten der Hyperinflation konnten die Studios quasi auf Pump aufwendige Filme drehen, ohne die Kosten dafür dann auch wirklich bezahlen zu müssen. Nach dem Ende dieser Zustände durch die Währungsreform im November 1923 hatten es die Studios verabsäumt, sich auf die neue Situation einzustellen, und 1925 standen viele Firmen einschl. der Ufa kurz vor der Pleite. Damals forderten viele Insider, von "zu viel" Kunst im Film wegzukommen und der Industrie (also dem Kommerz) absoluten Vorrang einzuräumen. Und Cowan kommt zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, dass auch KIPHO auf dieser Linie liegt. Und zu den vorher schon zitierten Arbeiten kommt eine weitere von 1926 mit dem Titel Rhythmus und Resonanz als ökonomisches Prinzip in der Reklame von einem Fritz Pauli. Auch die damaligen Werbepsychologen und Psychotechniker hatten den Rhythmus als ein wichtiges Werkzeug ihrer Zunft entdeckt. Und KIPHO ist eben nicht nur Avantgarde, sondern auch Werbung - für eine Ausstellung, aber damit auch für die Firmen und Verbände der deutschen Filmwirtschaft. Seebers und Pinschewers Film soll das Publikum wie einst Caligari in sein Zelt locken, ja zwingen, aber nicht mit den okkulten Mitteln des verrückten Hypnotiseurs, sondern mit den modernen wissenschaftlichen Methoden der damaligen Zeit. - Neuere ausführliche Texte über KIPHO auf Deutsch habe ich nicht gefunden (nach dem erwähnten Buch von Seeber habe ich nicht gesucht), aber das muss nicht heißen, dass es keine gibt.

Dienstag, 27. Februar 2024

Moonwalk in der Zahnarztpraxis und weitere Lustbarkeiten

Bericht vom 21. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (4.-7. Januar 2024)


Donnerstag, 4. Januar 2024


Nürnberg, KommKino

ab 15.00 Uhr


SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER
Regie: Harald Reinl
BRD/Italien 1972
35mm, dt. OV
Der Maler Stefan verliebt sich in die Krankenschwester Claudia. Dem trauten Liebes- und Eheglück steht nichts mehr im Weg, denn Stefan erhält von einem italienischen Mäzen einen großen Auftrag. Doch Claudia wird bei einem Unfall im Krankenhauslabor einer tödlichen Dosis radioaktiver Strahlung ausgesetzt...

Reinls Melodrama im Fahrwasser von LOVE STORY zeichnet durch eine ausgezeichnete Inszenierung im visuellen Bereich aus: den über Jahrzehnte gereiften Routinier sieht man in fast jeder Einstellung an, der Film ist wunderschön anzusehen und strotzt vor kleinen visuellen Einfällen (da ist natürlich immer wieder der Schwenk zur Büste von König Ludwig I. in Stefans Wohnung, oder der Einfall, das gemeinsame Einschlafen Stefans und Claudias mit einem Schwenk auf Claudias Pantoffeln zu beenden – die Pantoffeln, die dann nach einem Schnitt weg sind, wenn Stefan aufwacht und nach Claudia sucht, die sich im Badezimmer gerade übergibt). Im zweiten Teil des Films, wenn das Paar seine "Hochzeitsreise" in Rom feiert, kann der Film geradezu genüsslich in wunderschönen Postkartenmotiven schwelgen. Das sieht auch trotz des vorangeschrittenen Rotstichs der Kopie sehr beeindruckend aus.

Weniger beeindruckend sind das Drehbuch und die beiden Hauptdarsteller Amadeus August und Gundy Grand: die zentrale Liebesgeschichte (über die dann auch die großen Gefühle des Melodrama ausgelöst werden sollten) hat für mich einfach nicht funktioniert. Dass August mit wenig und Grand mit gar keinem Charisma gesegnet ist und beide überhaupt gar keine Chemie haben – geschenkt. Dass Stefan als manipulativer Stalker rüberkommt, der seine Angebetete auf Arbeit verfolgt, ihr Auto besetzt und seinen Ausweis in ihrer Handtasche "verliert", um ein Date zu erpressen, lässt ihn schon maximal dubios wirken – aber keinesfalls romantisch. Zudem ist SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER furchtbar verbos, zugekleistert mit furchtbaren, hölzernen Dialogen, bemüht witzig – es soll wohl Screwball-Comedy sein, aber meist ist es teutonischer Schraubenball-Klamauk.

Und wie Claudia durch schiere Dummheit den Unfall mit dem Strahlengerät im Labor auslöst (sie spielt mit einem nicht-gesicherten Prototypen rum – und lässt diesen mitten beim Rumspielen strahlend stehen, um mit Stefan zu telefonieren), lässt schon an ihre Eignung für irgendwelche Tätigkeiten außerhalb eines sehr passiven Trophy-Wife-Daseins zweifeln. Die Szenen mit dem Strahlengerät sind eh eine Sache für sich: innerhalb eines extrem detailverliebt ausgestatteten Films sind es karge, triste Studioräume, ein riesiger Hebel mit den Aufschriften "An" und "Aus" markieren den Eingang des Strahlungsraums (und auf etwas unterkomplexe Weise die Funktionalität des Geräts). Wenn es "spannend" werden soll, dröhnt eine karikatureske, plumpe "Spannungsmusik" aus der Dose – während das Hauptthema, das Liebesthema, eine aufwändig auskomponierte, filigrane und wunderschöne Musikbegleitung zum Film ist. Das wirkt fast so, als wäre der Erzählstrang zur Erkrankung Claudias später mit hurtigen Nachdrehs in den Film reingeschmuggelt worden.

Ich kann nicht drüber hinwegsehen, dass ich Stefan als absolut unsympathische Figur empfinde. Seine zwei Nachbar-Buddies hingegen haben einen Platz in meinem Herzen gefunden: da ist Boris, der Typus des "dicken Schlemmers", der bei einem Besuch bei Stefan schon mal die Hälfte von dessen Brot wegschneidet, dick (wirklich dick! also wirklich!) mit Butter bestreicht und schwärmt, wie toll es schmeckt – und zur Vermittlung einer Blutspende die "Dauerwurscht" aus dem Esspaket als "Kommission" verlangt. Und der Italiener Nino, der sich in eine bezaubernde junge Dame namens Rosy verliebt, die ihn nicht nur mit ihrer Präsenz, sondern auch mit schönen Geschenken beglückt – das Geld dafür sammelt sie ohne Ninos Wissen auf dem Straßenstrich, wie Stefan und Claudia bei einem späten Bummel durch die Straßen erschrocken und leicht angewidert merken. Angewidert sollte wohl auch das Publikum sein – als geneigter Besucher des Hofbauer-Kongresses wünscht man sich aber natürlich lieber einen eigenen Film zu Ninos und Rosys Geschichte.

Nach einer ersten Sichtung im Kommkino im September 2023 habe ich SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER nun zum zweiten Mal gesehen. Ich mag den Film als Gesamtpaket immer noch nicht, auch, wenn mir einzelne Elemente sehr gefallen. Eine gewisse Faszination kann ich nicht leugnen.



ab 17.00 Uhr


LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE ("Das Teufelsweib von Santa Margarita")
Regie: Carlos Hugo Christensen
Argentinien/Venezuela 1949
35mm, DF
Der Schiffskapitän Segundo führt ein bescheidenes, aber grundsolides und gutbürgerliches Leben mit kleinem Eigenheim am Strand, liebevoller Ehefrau und heranwachsendem Sohnemann. Aber ist es wirklich so grundsolide? Bei Überfahrten zur Insel Santa Margarita verfällt er dort im Rotlichtviertel der Femme Fatale Esperanza.

Nach Salzwasser, Blut, Tränen und Schweiß schmeckt dieses noir'ische Melodrama des dänisch-stämmigen Argentiniers Christensen (seines Zeichens eine tragende Säule des argentinischen Kinos der Zeit). Besonders der Schweiß hat es Christensen und dem spanischen Kameramann José María Beltrán (der dafür bei Cannes einen Preis gewann) angetan: das tropische Klima in Venezuela ist natürlich schweißtreibend, aber noch mehr scheint es die innere Glut, ja die schiere Geilheit zu sein, die den Figuren Strömen von Schweiß ins Gesicht treibt. Bei Segundo ist der Fluss dieses Körpersafts nach Ankunft in Santa Margarita fast unaufhörlich. Bei Esperanza ist er kontrollierter – ein dünner, öliger Schweißfilm bedeckt ihr Gesicht und lässt sie dadurch nicht nur in der schummerigen Beleuchtung der Rotlichtviertel-Kaschemmen, sondern nachts besonders im hellen Mond-Licht als wahrlich verführerische Femme Fatale der Tropen erstrahlen.

Der Mexikaner Arturo de Córdova und die Argentinierin Virginia Luque sind vielleicht nicht die charismatischsten Schauspieler der Welt, aber sie machen ihre Sache gut (und feucht). Die Charisma-Kracher gibt es in den Nebenrollen: die Kubanerin América Barrios als komplett entrückt-verrückte Prostituierte Maria, die in ihrer eigenen Parallelwelt lebt und zwischendurch die Handlung aufbricht, wenn sie Segundo oder andere Seemänner in ein irrsinniges, absurd-surreales Gespräch verwickelt – eine Straßenphilosophin im Rotlichtviertel. Ihre lebensweltliche Cousine sitzt in der Kaschemme, in der Esperanza auftritt: eine ältere Frau, die von allem um sie herum – sei es Esperanzas expressiver Gesangsauftritt oder eine wüste Kneipenschlägerei – völlig kalt gelassen wird und ganz entspannt, wortlos ihr Bier trinkt, komme was möge. Ein weiterer Hingucker ist der Venezolaner Tomás Henriquez als Voodoo-Zauberer und Betrüger: ein Mann der wenigen Worte, der mit seinem markanten, vernarbten Gesicht alles Bedrohliche der Welt ausdrückt.

LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE hat mir gut gefallen mit seinen Zutaten aus Melodrama, Noir-Elementen, Rotlicht-Seediness und tropischer Hitze. Inszenierung und Schnitt sind nicht immer ganz on point, aber der Film ist trotzdem voller beeindruckender und markanter Bilder: natürlich das schweißge Tête-à-tête zwischen Esperanza und Segundo im Mondschein, der von Regen- und Abwasser triefende Aufstieg zur Kaschemme auf der Anhöhe und beim Höhepunkt natürlich Esperanza, die bedrohlich vor einer lichterloh brennenden Hütte in einem geradezu apokalyptischen Tableau ihre Frau steht.



ab 21.15 Uhr


WUNDERLAND DER LIEBE – DER GROSSE DEUTSCHE SEXREPORT
Regie: Dieter Geißler
BRD 1970
35mm, dt. OV
Wie steht es um die Liebe im Land der teutonischen Begrenztheiten? Und was ist eigentlich mit Sex?

Auch wenn WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN im gleichen Zeit-Slot am nächsten Tag der emotionale Höhepunkt dieses Kongresses war – WUNDERLAND DER LIEBE war der Kracher to bang'em all! Eine Tour de Force des Unfassbaren und ein Strudel des Unglaublichen. Kinobesucher, Kondom-Produzenten, Kommunenbewohnerinnen und -bewohner, Aktionskünstler, homosexuelle Renegaten des katholischen Klerus, nordische Gigolos, Bewohner und Besucher von Sylt, provinzielle Stripclub-Betreiberinnen zwischen den Geschlechtern, Begründer exotischer Randparteien und Jürgen Drews als Liebhaber und Modellflugzeug-Liebhaber sind die Protagonisten dieser trotz rotstichiger Kopie kunterbuntester Nummer des diesjährigen Kongresses. Manch gestandener HK-Besucher sprach von "bester Reportfilm überhaupt".

Natürlich strotzt der Film nur so von unglaublichen Personen. Der Publikumsliebling der HK-affinen Herzen dürfte der Hamburger Gigolo sein, der in einem ununterbrochenen, stromartigen und mehrminütigen Monolog seine Tätigkeit als männlicher Prostituierter erklärt, diverse pikante, absurde und groteske Geschichten über seine verschiedenen Kundinnen preisgibt (manche wünschen sich eben, mit Bratkartoffeln beworfen zu werden) und seine teils libertären, teils zynischen Lebensweisheiten verrät (bei ihm sagen die Frauen offen, wenn sie sich lecken lassen wollen, weil ihre Männer zu sehr mit Arbeit beschäftigt sind, um das zu tun und ihre Frauen zu befriedigen) – 99% aller Poetry-Slammer und Rapper dieser Welt können sich nur im Traum wünschen, einen derartig dichten Strom der Gossenpoesie von sich zu geben. Knapp am Publikumslieblingspreis schrammte der Gründer der Deutschen Sex-Partei (Joachim Driessen), der in seinem biederen Anzug und dem Gesicht eines Schwiegermutter-Lieblings von der befreienden Kraft des Sex und einer gemeinsamen, deutsch-polnischen Anstrengung zur Erotisierung der Oder-Neisse-Grenze schwärmte, während seine leicht, na ja, eigentlich unbekleidete Sekretärin ihm ab und zu einen Zettel in die Hand drückte. Einer der denkwürdigsten Details des Kongress-Wochenendes gab es im Interview mit den Mitgliedern des Musiker-/Aktionskunst-Duos "Anima-Sound" zu sehen: beide Duo-Mitglieder und Eheleute saßen während der Befragung am Wohnzimmertisch und bissen zwischendurch in ihre Schnittchen – er hielt allerdings sogar mitten in seiner Antwort an, nahm das Konfitürenglas und tropfte die Konfitüre aus dem Glas geduldig auf seine Brotschnitte.

À propos Essen: besonders bizarr war das Buffet mit den Mitgliedern einer Kommune. Als Bedingung, um sich filmen zu lassen, hatte diese bei der Filmcrew ein großes Catering bestellt, knabberte einen Teil des Buffets an – und feierte mit den noch großen Mengen an Resten eine Art Essensschlacht. Da wurden nicht nur Erinnerungen an Chytilovás "Tausendschönchen" wach – sondern auch Gedanken über bourgeoise Verschwendung geweckt, die die Kommune durch ihren Lebensstil eigentlich überwinden wollte/sollte. Aber noch unbehaglicher wurde die Kombination aus Performance und Essen dann bei der Dokumentierung einer Kunstaktion von Otto Muehl an der Kunsthochschule Braunschweig, bei der ein Schwein auf der Bühne live geschlachtet wurde und eine Perfomance-Teilnehmerin nicht nur mit Schweineblut beschmiert, sondern auch von Muehl angepinkelt wurde.

Für eine der größten Überraschungen sorgten allerdings zwei ältere Herren in einer Sylter Kneipe, die zum naheliegenden FKK-Strand befragt wurden. Sichtlich nicht mehr beim ersten Bier, mit leicht angeschwitzten, roten Gesichtern – eigentlich Kandidaten für Tiraden über die heutige Jugend. Aber nein: zum FKK-Strand gehe man selbst nicht, denn "im Alter wird alles etwas kleiner" – aber die heutige Jugend solle mal schön selbst in Ruhe machen und ausprobieren und herausfinden, was sie wolle.

Klingt alles wüst? Damit WUNDERLAND DER LIEBE nicht komplett auseinanderfällt, gibt es eine Art Rahmenhandlung mit einem Liebespaar: Sabine Clemens als sie und Jürgen Drews als er. Sie dürfen am Ende dann auch Sex haben – also, na ja, nackt zusammen im Bett herumtoben, in eleganter Zeitlupe und in einem Kaleidoskop überlagerter Bilder gefilmt, während der fetzige Sound der Krautrock-Band Apocalypse (hier nach knapp 2 Minuten das Hauptthema des Films) sich auch noch drüber legt. Womit wir beim nächsten wichtigen Punkt wären: WUNDERLAND DER LIEBE ist absolut fantastisch anzuschauen und anzuhören! Regisseur Dieter Geißler war der Hauptdarsteller in Klaus Lemkes 48 STUNDEN BIS ACAPULCO, deutscher Co-Produzent für italienische Co-Produktionen wie MALASTRANA (durch Aldo Lados Prag geistert ein Straßensänger, der von Jürgen Drews verkörpert wird), CHI L'HA VISTA MORIRE, Roman Polanskis CHE?, Luchino Viscontis LUDWIG II, später Produzent von DIE UNENDLICHE GESCHICHTE (1 bis 3): WUNDERLAND DER LIEBE ist die erste von nur zwei Regiearbeiten.

Aber als umtriebiger Produzent schien er einen Riecher für die richtigen Leute zu haben: Hubertus Hagen an der Kamera, ein Veteran der Schwabinger Nouvelle Vague (und später von Lederhosen-Sexfilmen) und Jutta Brandstaedter an der Schere (Cutterin für Klaus Lemke, Roger Fritz, Rudolph Thome und Aldo Lado). Denn WUNDERLAND DER LIEBE ist auch ein Film der entfesselten Bilder und der wahnsinnigen Montagen. Nervenzerfetzende Thrills gibt es ebenso wie brüllende Lacher. Befragungen von Fabrikarbeitern sowie Marketing- und Produktmanagern einer Kondomfabrik werden montiert mit Bildern einer Qualitätskontrolleurin, die an einer Maschine Luft in ein Kondom strömen lässt und die Liter abzählt: "5 Liter" – O-Töne – "10 Liter" – O-Töne – "20 Liter"... und so weiter. Es steigert sich immer mehr, bis bei 50 Litern und der Offenbarung, dass die Geschmacksrichtung Pfefferminz am beliebtesten bei Nutzern abschneidet, schließlich die kathartische Explosion erfolgt! Toben im Kommkino-Saal! Und dass das Anbringen des Kondoms während des Liebesspiels, wie ein Marketing-Mensch der Fabrik versichert, keineswegs Erotik und Zärtlichkeit zerstört, wird in der Montage auch schön veranschaulicht: Schnitt zur Qualitätskontrolleurin, die mit ordentlich Schmackes Kondome auf die langen Phallen eines Kontrollfließbands zieht. Das Publikum im Komm tobt weiter!



ab 23:30 Uhr


SCREWBALLS ("Screwballs – Das affengeile Klassenzimmer")
Regie: Rafal Zielinski
Kanada 1983
35mm, DF
Fünf Jungs der Taft and Adams High School (abgekürzt: T & A) versuchen in gemeinsamer Anstrengung, endlich einen Blick auf die Brüste von Purity Bush zu werfen, dem schönsten Mädchen der Schule.


Ein Perpetuum-Mobile ist physikalisch nicht realisierbar. Aber das Großartige an Kino ist, dass da alles möglich ist: SCREWBALLS dürfte eine Art Perpetuum-Mobile der wüst-zotigen Teenager-Sexkomödie sein. Ein wildes Ungestüm, das, nachdem einmal in Gang gesetzt, im Autopilot-Modus wütet, nicht zu stoppen ist und ohne Energieverlust auf seinem Weg alles komplett verwüstet. SCREWBALLS ist vor allem auch ein sehr puristischer, in seiner geradlinigen Konsequenz fast radikaler Exploitationfilm, vollkommen auf seine Schauwerte konzentriert, die er als eine Art Nummernrevue aufzieht: natürlich gibt es – leichtes Zugeständnis an das klassische Erzählkino – eine Art Aufhänger als roten Faden. Aber SCREWBALLS ist vor allem an seinen Eskalationen interessiert, ja ist gar ein Kaleidoskop der Eskalationen, von denen jede einzelne minutiös vorbereitet und ausgeführt wird. Aus einer Idee wird eine kleine Zote, aus einer Zote ein größerer Unfug, der größere Unfug verwandelt dann beispielsweise die Turnhalle in ein Orgien-Schlachtfeld – vom Kauf des Extrakts spanischer Fliege im Sex-Shop über das versehentliche Verschütten in den Punsch bei der Schulfeier bis zur Orgie. Die Erwartung der Zuschauer wird immer sehr schön angefächert, angeteast, aufgebaut und schließlich befriedigt – dabei gibt es aber trotzdem immer einen Moment der Überraschung, denn wer hätte ernsthaft erwartet, dass eine Partie Strip-Bowling damit endet, dass eine Bowling-Kugel sich auf dem eregierten Penis eines Spielers festklemmt und diese erst durch Stimulation der weiblichen Mitspielerinnen orgiastisch und Strike-markierend abgestoßen werden kann? Wer?

Ja, SCREWBALLS ist zotig, schmierig, früh-pubertär (ob manche der Slapstick-Geräusche, wie Katzenfauchen zum Silhouetten-Sex, im Original zu hören sind oder das Zusätze der deutschen Synchronfassung sind, weiß ich nicht) und völlig geschmacklos. In Sachen komödiantischen Inszenierungshandwerk sind wir allerdings schon in der Top-Klasse. Der Versuch eines Schülers, bei Purity einzubrechen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut SCREWBALLS ist: ein notgeiler Schüler, zwei Räume, eine Treppe, Purity kurz vor dem Einschlafen, eine sexuell frustrierte Dame, ein paranoid-antikommunistischer Herr mit Flatulenzen und einem geladenen Gewehr – Zutaten für darauffolgende raunende Lachsalven!


Nach dem letzten offiziellen Film des Programms wurde für die Hartgesottenen noch ein "Videoknüpel" kredenzt. Es war ein Film, den ein Mitglied des Hofbauer-Kommandos bei einem noch lebenden Co-Produzenten in 35mm für eine frühere, andere Filmreihe angefragt hatte – der Produzent reagierte sehr unfreundlich bei der Vorstellung, dass "dieser Scheiß" öffentlich gezeigt würde.

Am Ende lief der Film also von DVD auf dem Hofbauer-Kongress unter der Bitte, nicht zu offen mit Nennung von Titel und Namen darüber zu schreiben. Fällt mir nicht schwer: eine romantische Liebeskomödie, die weder romantisch, noch liebevoll und vor allem durch und durch unlustig war.




Freitag, 5. Januar 2024


ab 15:00 Uhr


UN ÉPAIS MANTEAU DE SANG ("Heiße Haut")
Regie: José Bénazéraf
Frankreich 1968
35mm, DF
Zwei Söldner klauen Diamanten in Katanga. Später betreibt einer von ihnen eine Klinik in Südfrankreich und ist der Liebhaber der Ehefrau des anderen, verschollen gegangenen Mannes. Das geht so lange gut, bis die Ehefrau sich einen einfachen Taucher als Liebhaber nimmt und der Ehemann wieder auftaucht.

"Ein paar Leute hängen am Strand in Südfrankreich ab und schauen mal, was so passiert" – so fasste ein Co-Kongressnik Bénazérafs Film zusammen (danke für diesen schönen O-Ton, Marcel!). Tatsächlich hat der "Godard du X" hier erst einmal einen schönen Atmosphärenfilm, ein Stück Kino zum Abhängen geschaffen, in dem nicht viel "passieren" muss, damit es sich toll anfühlt. Sex, Tanzen, Schauen, Sich-schaukeln-lassen auf dem Boot und ein bisschen Ringen – viel mehr braucht es zunächst nicht. Als Projektionsfiguren reichen da Valérie Lagrange mit ihrem blonden Bubikopf und Hans Meyer mit seinem bedrohlichen Narbengesicht völlig aus. Sie hat zwischendurch mit einem örtlichen Taucher Sex am Strand und er macht zum Training einen kleinen Ringkampf mit seinem Bodyguard (der verblüffenderweise wie der junge John Milius aussieht) – beide Tätigkeiten montiert Bénazéraf zusammen in einer gemeinsamen, sehr bizarren Szene. Nach dieser Anstrengung ein bisschen auf dem schaukelnden Fischerboot abhängen, während der Postkarten-Hintergrund in den Meereswellen auf- und abwippt...

War Bénazéraf dazu verpflichtet, einen als Thriller vermarktbaren Film abzuliefern? Der Prolog, die letzten 20 bis 25 Minuten und zwischendurch einige mysteriöse Expositionsdialoge scheinen ein wenig darauf hinzudeuten, dass da irgendetwas war. Leute beim Abhängen zu stören ist ja nie eine gute Idee, und die lange Verfolgungsjagd zwischen Auto und Schnellboot mit anschließender Schießerei in den Küstenfelsen zeigt, dass Bénazéraf wohl kein gutes Händchen und scheinbar sehr wenig Interesse für Thrills und Action hatte. Nein, gutes Nichtstun ist besser als halbgares Hetzen!



ab 17:00 Uhr


EIN HERZ VOLL MUSIK
Regie: Robert A. Stemmle
BRD 1955
35mm, dt. OV
Ein Spitzensportler, der auf allen Alpenpisten als "No 7" für Furore sorgt, muss zwischen den Wettkämpfen bei Hotels als Kellner anheuern, singt aber auch ganz gerne. Eigentlich ist er der Sohn eines reichen Hotelketten-Besitzers, verliebt sich zu dessen Leidwesen aber trotzdem in das Blumenmädchen eines Hotels. Eine reiche Millionärin aus den USA möchte ihren aktuellen Toyboy auch lieber mit "No 7" austauschen. Dessen Anstellung als Sänger im renommierten Orchester Mantovani stehen die Intrigen des Vaters und eines leicht bestechlichen Pianisten entgegen.


EIN HERZ VOLL MUSIK ist vor allem ein Vehikel für den schweizerischen Sänger Vico Torriani, der hier als singender Industriellensohn die Herzen der jungen Blumenmädchen, reiferen Millionärinnen und geneigten Zuschauer erobert. Komödie, Romantik, einige mehr oder minder fetzige Musik- und Tanznummern sowie eine ganze Riege an lieben oder kauzigen Charakteren geben sich die Klinke in die Hand – das ganze ansehnlich inszeniert und gespielt, und heraus kommt ein angenehmer, wohliger Nachmittagsfilm.

Wie das so oft ist bei solchen Filmen sind die zwei zentralen liebenden Protagonisten vielleicht die uninteressantesten – oder sagen wir mal: die glattesten Figuren. Wesentlich spannender war das Double aus Fita Benkhoff als reiche Amerikanerin Ellinor Patton und Boy Gobert als Baron Karl-Heinz von Schlankenhalten und Ellinors Toyboy (und nebenbei: Sekretär und Mädchen für alles): die erste Komödiennummer ist dann auch ein Dinner, bei der sie alles in die Küche zurückschickt, weil es zu kalt, zu warm, nicht gut genug etc. ist, während der Baron nebenbei und heimlich versucht, beim Kellner (unserem lieben "No 7") die Wogen zu glätten.

Der Anti-Held (aber auch heimliche Held) des Films war aber der Pianist, Peer, gespielt von Wolfgang Wahl: als Mitglied des Orchesters Mantovani ist er beauftragt, Vico mit allen Mitteln als Sänger zu akquirieren, von Vicos reichem Vater wird er beauftragt, die Aufnahme des Sohnemanns mit allen Mitteln zu verhindern – ideal, um von beiden Seiten Kommissionen (aka Schmiergeld) zu kassieren und sich lächelnd-genüsslich in die Jackett-Innentasche zu stecken. Dennoch: er ist kein Bösewicht, möchte nur ein bisschen Startkapital für die künftige Ehe mit seinem Blumenmädchen (einer Kollegin der Protagonistin) aufbauen. Das Miteinander und die Zwistigkeiten dieses "Neben-Paars", beide nicht mehr jung und schlank "genug" für erste Rollen, ist gewissermaßen die Herz-Nebenkammer des Films.

Und einen spektakulären, vom Publikum gefeierten und schließlich lautstark mitten im Film applaudierten Kurzauftritt gegen Ende, als Vico endlich seine Revue-Premiere hat, hatte ein besonders beweglicher Tänzer, der sich wie Gummi bewegte und leichtfüßig durch die Theaterkulisse moon-walkte.

Nach EIN HERZ VOLL MUSIK war das Publikum gespalten: einige trällerten "Blauäugelein", andere trällerten "Der neue Frühjahrshut" – ich gehörte zu letzteren. Die Nummer "Der neue Frühjahrshut" zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie tatsächlich ein wenig wie eine US-amerikanische Musical-Nummer als Bewegungskino durchchoreografiert war, mit eleganten Tanzschritten durch Rom (das gleiche Rom wie SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER übrigens, denn eine Panorama-Ansicht mit einem schönen Palmengarten im Vordergrund war klar wiedererkennbar). "Der neue Frühjahrshut ... und was sich drunter tut" wurde von einem Co-Kongressnik gar zum Lieblingsmotto der diesjährigen Kongressausgabe gekürt!



ab 21:15 Uhr


WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN
Regie: Tillmann Scholl
BRD 1985
16mm, dt. OV
Über 10 Jahre lang sammelt Tillmann Scholl dokumentarisches Material in St. Pauli und zeigt Impressionen von einer Jubiläumsfeier des Stadtviertels, portraitiert Stammkunden und Wirte von Eckkneipen, befragt zufällige Passanten, durchreisende Touristen und windige Geschäftsmänner, stellt Fragen über die Gentrifizierung Hamburgs.

Wenn WUNDERLAND DER LIEBE der lachende Geist dieses Kongresses war, dann war WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN dessen schlagendes Herz: eine emotionale, persönliche Liebeserklärung an Hamburg und St. Pauli, ein zärtliches Portrait seiner Bewohnerinnen und Bewohner, ein zorniges Manifest gegen die Marginalisierung des Unbürgerlichen durch das Kapital. Irgendwo zwischen impressionistischem Dokumentarfilm und politischem Essayfilm angesiedelt, hat WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN vor allem durch seine Pièce de Résistance, das Portrait der Eck- und Absturzkneipe "Am Schauermann", den Weg in die Herzen der meisten Kongressniki gefunden. Im Dunkeln der Nacht, bei schummeriger Beleuchtung versammelten sich hier die Glücklosen, die Kaputten, die Randgestalten, die Gescheiterten, die Kranken, die Sterbenden, die Lachenden und die Weinenden und die Ganoven bei Bier und Schnaps. Die ersten Reaktionen der Kneipenbesucher auf die Kamera, die sie filmt, ist sichtlich eher feindlich – der Blick der Kamera bleibt dennoch voller Zärtlichkeit, und obwohl hier das gleiche "Material" zu sehen ist, das etwa in einem Mondo-Film der Häme oder in einem "wohlmeinenden" Dokumentarfilm dem selbstgefälligen Mitleid freigegeben würde, ist hier davon nichts zu spüren. Nach der anfänglichen Feindlichkeit kommen die Performances: einige Gäste scheinen vor der Kamera zu "spielen", sich selbst oder wie sie sich vorstellen, dass ein Publikum sie sehen möchte – ein betrunkener Sturz vom Barhocker wird effektvoll demonstriert. WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN stellt hier auch grundsätzliche Fragen über das Wesen des Dokumentarischen: es mag keine Sicherheit über die "Wahrheit" des Gefilmten geben – doch die Zärtlichkeit des Kamerablicks, sie bleibt immer.

Auch wenn der Fokus auf den "Schauermann" (der etwa einen Drittel der Filmlaufzeit ausmachen dürfte) verschwindet: der eloquente, charismatische Kneipenwirt Jürgen bleibt als "roter Faden", als Leitfigur des Films den Zuschauern weiter erhalten – als Marker für die (scheinbaren?) Erfolge und die eklatanten Misserfolge der Gentrifizierung Hamburgs. Über seine Tage als Kneipenwirt, der auch mal mit Fäusten zwischen randalierende Gäste eingreifen muss, sinniert er auf einer von Müll und Bauschutt bedeckten Baustelle – der Ort, an dem sein früherer Arbeitsplatz stand, an dem jetzt finanzkräftigere Unternehmungen ihren Platz einnehmen. Immer wieder wird der O-Ton einer älteren Touristin, die davon erzählt, das "was Neues" gebaut wird, über die Bilder als elektronisch verfremdetes Echo gesampelt. Dass am Ende nicht nur Gebäude, sondern auch Menschen weichen müssen, wird immer wieder deutlich. Zunächst auf sehr lustige, humorvolle Weise: Gentrifizierung ist eben auch, wenn der Straßenstrich sich verschiebt, der geneigte Freier die Prostituierten nicht direkt vor noch existierenden Eckkneipen stehen hat, sondern (O-Ton) "ganze 10 Minuten" laufen muss. Am Ende gibt es aber für die Zuschauer trotzdem eine stahlharte Faust in die Fresse und einen harten Tritt in den Bauch: So abgrundtief traurig und niederschmetternd endete bei dieser Kongress-Edition kein anderer Film.


Als weitere Lektüre empfehle ich auch André Malbergs Text über den Film auf Eskalierende Träume

Als ich einem hamburgophilen Freund, der Ende 2023 auch nach Hamburg gezogen ist, von WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN schwärmte, schrieb er mir, dass der Film durchaus eine Hamburger Lokal-Berühmtheit sei.


ab 23:45 Uhr


HAKUJITSUMU ("Träume im Zwielicht")
Regie: Takechi Tetsuji
Japan 1964
35mm, DF
Ein Mann und eine Frau werden beim Zahnarzt behandelt. Unter dem Schleier der Narkosen verfallen sie in wüste, gewalttätige, erotische Träume.


Unter den sinnlichen Erfahrungen, die man als Mensch so macht, gehören Zahnarztbesuche zu den wahrscheinlich abscheulichsten: ich glaube, ich bin nicht der einzige Mensch, dem flau im Magen wird beim Gedanken an eine zahnärztliche Behandlung. Umso interessanter, wie "Träume im Zwielicht" zu Beginn fetischistische Erotik, quasi-pornografische Symbolik und zahnärztliches Unbehagen zusammenbringt: extreme Nahaufnahmen auf Münder, deren Lippen gestreichelt werden, in denen aber auch Spiegel und Bohrer reingesteckt werden, aus denen Unmengen an Speichel schaumig wie Sperma heraustropft, unterlegt von einer Kakophonie nervzerfetzender Zahnarztbohrergeräusche.

Ist das noch Exploitation oder ist das ein Experimentalfilm? Eine Frage, die so einige Exploitationfilme aus Japan bei mir auslösen. HAKUJITSUMU gilt als früher Vertreter des japanischen Pink-Film, als Meilenstein in der Darstellung von Nacktheit und Sex im japanischen Kino. Ein einfacher, gefälliger Film ist er keineswegs, und als kontemplativer, stark entschleunigter Avantgarde-Horrorfilm (der er auch ist) war er als Spätfilm keineswegs leichte Kost. Vom Prolog in der Zahnarztpraxis arbeitet sich der Film Stück für Stück durch verschiedene Set-Pieces, durch Fragmente eines großen Alptraums: ein Film-Noir-Nachtclub mit Gesang, eine lange Folter-Session beobachtet durch die Fenster-Fassade eines Hochhaus-Apartments, eine Konfrontation zwischen dem Protagonisten und der Frau (die sich zwischendurch in einen Affen verwandelt!) auf einem futuristischen Spielplatz, eine quälende Verfolgungsjagd durch ein Kaufhaus inklusive einem Spießrutenlauf auf einer Rolltreppe, eine belebte Straße mit einem brutalen Mord der komplett von den Passanten ignoriert wird.

HAKUJITSUMU lässt seine beiden Protagonisten durch einen qualvollen Alptraum taumeln (wobei aber mehrheitlich die Frau die Leidtragende der Folterungen und Quälereien ist). Zu Beginn scheint festzustehen, dass wir SEINEN Alptraum sehen, in denen seine Geilheit für die Co-Patientin Stück für Stück von zunehmend extremen Fantasien aufgelöst wird. Die bereits erwähnte lange Folterung in der Hochhaus-Wohnung, bei der die Frau vom Zahnarzt in bürgerlicher Zivilkleidung gefoltert wird (er schlägt sie, peitscht sie aus, verabreicht ihr Elektroschocks) beobachten wir als Zuschauer durch das Terrassenfenster – der Protagonist selbst steht auch als machtloser Beobachter auf dem Balkon, und wir sehen ihn auch beim Beobachten zu, während er teilweise von einer mysteriösen Alptraum-Kraft, teilweise vom Zahnarzt mit einer Pistole davon abgehalten wird, einzugreifen. Gerade diese Szene demonstriert die formale Radikalität und die gnadenlose Grimmigkeit von HAKUJITSUMU, die für einen Film von 1964 (und nicht aus den späten 1970er Jahren) verblüffend ist, den Atem stocken lässt – und auf gewisse Weise die Vierte Wand durchbricht: dieser Film-als-Alptraum quält nicht nur seine Figuren, sondern die Zuschauer auch mit, verhindert, dass sie sich gemütlich berieseln lassen, lässt sie Teil werden. Angenehm ist das nicht, aber sehr konsequent.

Die Verschiebung der Grenzen zwischen den Figuren und den Zuschauern schreitet im Lauf des Films immer mehr voran: es beginnt als SEIN Alptraum, aber der männliche Protagonist macht sich im dritten Viertel des Films rar, und langsam kommen wir in einen Zustand, in dem offensichtlich IHR Alptraum durchlebt wird. Bei ihrem endlosen langen Marsch entgegen der Fahrtrichtung einer Rolltreppe, ihrem erfolglosen, strapaziösen Versuch, nach unten zu kommen, war der männliche Co-Patient komplett aus den Augen und aus den Sinnen.

Takechi Tetsuji war ein Außenseiter in der japanischen Filmindustrie, da er von seinem Hintergrund ein Mann des Theaters war: ein experimenteller Erneuerer, der in den 1950er Jahren umgedeutete traditionelle japanische Theater-Formen, avantgardistische Experimente sowie Burlesque und Striptease zusammenbrachte, Schoenbergs "Pierrot lunaire" in japanische Ausdrucksformen adaptierte und erotisch gewagte Theaterstücke im Fernsehen präsentierte. HAKUJITSUMU war sein zweiter Film, war in Japan kommerziell erfolgreich, löste aber auch Kontroversen aus: der Film passierte erst nach dem "Fogging" einer Szene die Zensur und wurde sowohl von der japanischen Regierung (für seinen sexuellen Inhalt) wie auch von der Interessensvertretung der japanischen Zahnärzte angegriffen. Takechi Tetsuji selbst verfilmte den gleichen Stoff 1981 noch einmal in einer Farbfilm- und Hardcore-Variante (und inszenierte damit den ersten in Kinos gezeigten japanischen Hardcore-Porno).


Gegen Ende des Films bekommt der männliche Patient, dem ein Zahn gezogen wird, übrigens einen Cognac serviert. Bei meinem nächsten Zahnarzt-Besuch fände ich das auch ganz nett – also... nicht einen Zahn gezogen zu bekommen, sondern den Cognac!


so gegen 2:15 Uhr


KOKAIN – DAS TAGEBUCH DER INGA L.
Regie: Günter Schlesinger
BRD 1986
VHS, dt. OV
Der Dealer Bobo ist der neue, ganz heiße Typ in der Hamburger Unterwelt. Um beim großen Drogenhai Stone Eindruck zu schinden, zieht er brisante Deals ab und hinterlegt seine Freundin Inga als "Pfand" in einem von Stones Bordellen. Doch die macht sich aus dem Staub und rettet dabei noch eine minderjährige Kollegin.

Ein idealer Film für den Videoknüppel-Slot: trance-artig und vollkommen hinüber. No-Budget-Schlock, der so dermaßen versumpft statisch ist, dass es irgendwie auch eine eigene Faszination entwickelt. Stones raumeinnehmender Pornobalken und Bobos eklatant weiße Haifischzähne, die sichtbar werden, wenn er anfängt, grundlos psychopathisch vor sich hinzukichern (und das macht er sehr oft!) sind die eigentlichen Helden des Films. Die Handlung spielt sich zu etwa einem Drittel darin ab, dass Figuren sie sich gegenseitig mit sehr vielen, langen Pausen zwischen den Repliken erzählen. Stellenweise fühlt sich das eher nach einer sperrigen Avantgarde-Kunstperformance als nach einem Hamburg-Gangster-Thriller an, der KOKAIN "eigentlich" ist. Das völlig konzeptlos einmontierte Fremdmaterial, stets sichtbar, weil sich das Bildformat so deutlich ändert, ist wohl so etwas wie das Herz des Films: in einer Laufzeit von bestimmt etwa einem Viertel des Films gab es nicht nur eine komplette Nebenhandlung mit zwei anderen Prostituierten, die in einer "normalen" Umgebung unterwegs waren (und nicht in den absolut desolaten, tristen Abrissbuden, in denen KOKAIN sonst angesiedelt ist), nicht nur die immer gleiche Ansicht einer hübschen Villa, aus der ein für die Handlung völlig irrelevanter, elegant in Weiß gekleideter Gentleman immer wieder ins Freie tritt, sondern auch "zauberhafte" Ansichten vom Hamburger Hafen, seinen pittoresken Baustellen und Müllhalden (die Ansicht eines Bauschutt-Panoramas ließ mich ab dem zweiten Mal in meinem übermüdet-benebelten Zustand unkontrolliert kichern – und kam bestimmt sechs, sieben, acht Mal!). Ja, der Bauschutt ließ KOKAIN wie eine Art Kommentar zu WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN lesen. Und dann gab es natürlich noch der Moment, in dem sich Inga und Kollegin in einem Schiff verstecken und dafür durch endlose Schiffskorridore laufen, und laufen, und weiter laufen, und noch mal weiter laufen, und noch mal ein Weilchen weiterlaufen (bis sie schließlich ein sicheres Versteck gefunden haben) – wie ein Nachklang zur langen Rolltreppen-Szene in "Träume im Zwielicht".



Samstag, 6. Januar 2024



ab 14:45 Uhr


WANTED: BILLY THE KID
Regie: Jack Deveau
USA 1976
16mm, OV
Billy hat seinen Durchbruch als Schauspieler in New York noch nicht richtig vollbracht. In der Zwischenzeit verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Prostituierter für zahlungskräftige Herren und Paare.

WANTED: BILLY THE KID lief im September 2020 im Rahmen der kleinen Retrospektive des Filmkollektiv Frankfurt zu Filmen aus Jack Deveaus Produktionsfirma Hand in Hand in der "Pupille": warum auch immer, aber dort plätscherte der Film etwas gleichgültig an mir vorbei. Die Wiedersichtung in Nürnberg war nun eine kleine Offenbarung: ein sehr intimer, zärtlicher, ab und an auch sehr witziger Film. Die ersten zwei Sex-Nummern wirkten nun außerordentlich intim und erotisch. Zunächst Billy mit einem Freier bei sich zuhause: sehr schön, wie das Gefühl der Intimität beim After-Sex-Smalltalk behalten wurde, wenn sich der Kunde langsam beim Gespräch wieder anzog (und sich als gutbetuchter Anzugsträger offenbarte). Später die "Hausmeister-Sex"-Nummer im tiefen, dunklen, staubigen und vollgerümpelten Keller eines Brownstones: auch hier verzichtet Deveau komplett auf den Einsatz der Musik, und die Erotik im Sex zwischen Billy und dem Hausmeister (bzw. wie später klar wird: ein für ein Rollenspiel als Hausmeister gekleideter, reicher Anzugsträger) steigerte sich nur durch die zunehmend lauter werdenden Stöhngeräusche und vor allem das Knarzen von Billys Lederjacke.

Deveau interessierte sich immer wieder für Klassenunterschiede, in keinem Film wohl so explizit wie in WANTED: BILLY THE KID, in dem der mittellose Schauspielstudent Billy von einer Vielzahl reicher Freier bezahlt wird, die vielleicht gerade auch das Überschreiten der Klasse interessiert, oder das Tauschen der Identität: so ist Billy bei der "Hausmeister-Sex"-Nummer zunächst der anspruchsvolle Mieter, der seinen tropfenden Wasserhahn repariert haben möchte – und sein Freier der Hausmeister. Gängige Grenzen, Eindeutigkeiten werden hier wie so oft in Schwulenpornos der Zeit wieder mit einer bisexuellen Sexszene, einem Dreier mit Billy und einem Ehepaar überschritten – hier zur Abwechslung mit dem ironisch-witzigen Song "Sheltered Life" von Lou Reed unterlegt (in der Version aus dem Solo-Album "Rock & Roll Heart" – der Song geht aber zurück zu den Anfängen von Velvet Underground, ich persönlich bevorzuge die Demo-Version mit John Cale an der Viola und zwei Kazoo-Soli von Lou Reed).

Noch mehr Grenzen werden in der Zahnarztpraxis-Szene überschritten – die wunderbarerweise gleich einen inhaltlichen Anschluss an den letzten Film des offiziellen Kongressprogramms bildete: der Freier ist hier der Zahnarzt, aber wir sehen das Ganze aus Billys möglicherweise narkotisierten Perspektive – und in dieser Vision hat Billy Sex mit sich selbst. Eine surreale, beunruhigende, mit extremen, verzerrten Weitwinkelbildern und dissonanten elektronischen Klängen leicht in Horrorgefilde weisende Szene.

Wen das zu sehr beunruhigt: Yoga soll wohl ganz gut sein zum Runterkommen. Deshalb gibt es immer wieder Fragmente aus einem Yoga-Kurs, den Billy besucht: ein Wintergarten voller grünender Pflanzen, dazwischen ein Dutzend Männer in knappen weißen Slips, die entschleunigte Bewegungsübungen machen. Diese Fragmente werden in die "normale" Handlung, manchmal aber auch in Sexszenen eingestreut – Sex und Sport zusammen montiert, auch ein wiederkehrendes Motiv dieses Hofbauer-Kongresses!



ab 16:30 Uhr


AAN
Regie: Mehboob Khan
Indien 1952
35mm, OV mit englischen Untertiteln, internationale Exportfassung (ca. 135 statt 161 Minuten)
Der Bauer Jai bezwingt bei einem Wettbewerb die unzähmbare Stute der Prinzessin Rajshree, die aufgrund ihres hohen Adelsbewusstseins davon gar nicht begeistert ist. Während Jai versucht, das Herz Rajshrees zu erobert, spinnt ihr Bruder Putsch-Intrigen, um seinen Vater, einen reformerischen Fürsten, zu beseitigen.

Die Bollywood-Premiere des Hofbauer-Kongresses versprach interessant zu werden – aber so einen unfassbaren Knaller? Die Kopie wurde durch das britische Archiv fast nicht verliehen, weil es sie als "praktisch unspielbar" klassifizierte: zu sehen war eine absolut prachtvolle Technicolor-Kopie mit nur gelegentlichen Andeutungen von leichten, sehr oberflächlichen Laufstreifen. Man muss sagen: Rotstichige Kopien gab es bei diesem Kongress doch sehr viele zu sehen, und AAN war hier farblich eine absolute Wohltat für die Augen. Eine Explosion der Farben mit knallgelben blühenden Blumen auf saftig grünen Wiesen unter einem strahlend blauen Himmel. Barocke Dekors in allen möglichen Schattierungen von Farben, von zartem Pastell bis zu psychedelisch leuchtenden Tönen. In einem Film, der Abenteuerfilm, Action, Musical, Komödie, Melodrama, wüsten Klamauk, psychosexuelle Abgründe und eine Schmierigkeit, wie sie in dieser Form nur selten auf diesem Kongress sonst zu sehen war, freudig ineinander krachen ließ. Nicht nur, aber auch durch die Schnitte in der Exportfassung bedingt schlug AAN erzählerisch mit zunehmender Laufzeit immer größere Kapriolen – auf Kosten der Kohärenz zwar, aber dafür mit einem umso größeren Gewinn in Sachen Tempo, Geschwindigkeit und einem allgemeinen Gefühl des cineastischen Wahnsinns. Die oben aufgeschriebene, kurze Synopsis ist nur eine sehr ungefähre Annäherung an das, was AAN so alles entfesselt.

Fliegt das alles bei 135 Minuten nicht um die Ohren? Nein, denn die Cine-Göttin Nadira kam in ihren Hosen und manchmal einer Reitgerte in der Hand, um das alles zusammenzuhalten und wenn nötig mit bösen Blicken und harten Schlägen wieder auf seinen Platz zu bringen! Nadira, die ich ganz spontan die "indische Joan Crawford" gennant habe, besonders in Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen der Prinzessin und Vienna aus JOHNNY GUITAR: wie Rajshree in eleganten Reiterhosen und hohen schwarzen Lederstiefeln gekleidet und mit drohendem Blick eine lange Treppe hinuntersteigt, nimmt um zwei Jahre Viennas ähnlichen Gang in JOHNNY GUITAR vorweg. Nadira – Rajshree, Hosenträgerin, Göttin des arroganten Blicks, des expressiv-entfesselten Zorns im Antlitz, des unendlich gekränkten Gesichtsausdrucks, Herrin über ungeheure Gefühle – nicht nur Jais, das ist noch konventionell. Nein, Rajshree scheint mit ihrer Hausdame zu Beginn eine sadomasochistische Beziehung zu unterhalten, denn sie ohrfeigt sie immer wieder genüsslich – und die Hausdame reagiert darauf immer mit einem lustvollen Blick, reibt sich wohlig die Wange, als wäre sie eben zärtlich gestreichelt worden, guckt dabei mit sanft-verliebten Augen. War das indische Zensursystem nur wenige Jahre nach der Staatsgründung wohl noch nicht so effizient? Oder ein Moment, in dem sich Rajshree den Annäherungsversuchen ihres Verehrers Jai in ihrem Schlafzimmer widersetzt, und die Kamera schwenkt auf die Statue eines Elefanten, dem ein rasender Tiger die Klauen in den langen phallischen Rüssel hineinkrallt – ich bin nur zu 95% sicher, dass ich das wirklich gesehen habe, so unfassbar ist das! Aber AAN strotzte vor solchen Momenten...

Komplett ins Delirium schlägt dann der Film in einer langen Fantasie- bzw. Traumsequenz, die ein wenig an den Traum in SINGIN' IN THE RAIN bzw. an die fantastische Ballettaufführung in THE RED SHOES erinnerte. Eine Allegorie auf die Demokratisierung von Rajshrees Haltung (nachdem sie, von Jai entführt, in einer Art perversen Proto-VERTIGO-Prozedur zur Doppelgängerin einer verstorbenen Bäuerin degradiert wird, damit sie den "peasant way of life" kennenlernt), die sich ganz in barocken Traumdekors und psychedelischen Farben auflöst.


Den Hunger passenderweise im indischen Restaurant in unmittelbarer Kinonähe gestillt. 



ab 21:15 Uhr

Bruno-Sukrow-Programm


DER WAHRE FROSCHÖNIG
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2000er
digital, dt. OV
Die wahre, ungeschönte Geschichte des Froschkönigs...

...mit Flatulenzen, Schimpfwörtern und dem wahren Twist. Noch als "konventionelle" Animation und daher nur durch die unverkennbare Synchronstimme als Film Bruno Sukrows erkennbar. Im Hauptfilm des Abends kam dann der "typische" Sukrow-Stil zu voller Blüte.



IM NAMEN DES KÖNIGS
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2015
digital, dt. OV
Sachsen im Mittelalter: der Sohn des Königs ist ein echter Frauenheld, doch sein Vater lässt die nicht-standesgemäßen Liebschaften gerne ermorden. Bei Kunigunde verpatzt der Knappe des Königs absichtlich den Mordanschlag und verhilft ihr zur Flucht in eine Bärenhöhle. Währenddessen sucht der König eifrig nach einer standesgemäßen Partie für einen Sohn.

Ein alter Mann über 80 Jahre erfindet an seinem Wohnzimmerrechner als One-Man-Show das Kino neu: ich habe beim letzten Hofbauer-Kongress einen ersten Einstieg in die wunderbar poetischen, fantastischen Filmwelten Bruno Sukrows erhalten, nun habe ich mich weiter in sie verliebt (zusammen mit vielen anderen Co-Kongressniki). Sukrow ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, ein liebevoller Erschaffer unvergesslicher Figuren, sondern erfindet wirklich in jedem Film ein eigenes kleines Cine-Universum. Trotzdem es rein digital entstandene Filme sind, spürt man in jedem Frame das liebevoll Handgemachte: Imperfektionen bei den Bewegungen der Figuren, beim Freistellen von Formen, leichtes Pixelrauschen an den Rändern, Überlagerungseffekte – alle machen die Filme zu Wunderwerken eines sehr persönlichen Kinos, die UI-Bugs werden zum Gehilfen des Film-Auteurs.

Trotz des oberflächlich "rohen" Looks sind Sukrows Filme voll mit witzigen, mehr oder minder sichtbaren kleinen Details, die oft neben der "eigentlichen" Haupthandlung laufen: dazu gehören die unzähligen Tier-Figuren, die Sukrow sichtlich liebt und aufwändig in seine Filme integriert. Watschelnde Enten, huschende Mäuse, faulenzende Cocker-Spaniels. Tierischer Star von IM NAMEN DES KÖNIGS war der vegetarische (und daher harmlose) Bär Beppo, in dessen Höhle der mitfühlende Knappe die flüchtende Kunigunde versteckt: sein verdutzt fragender Blick, wenn er den Kopf zwischen dem Knappen und Kunigunde während ihres Gesprächs langsam hin- und herbewegte – unbezahlbar! Auch merkwürdige (und im Rahmen dieser Geschichte nicht in die Zeit passende) Gegenstände streut Sukrow immer wieder ein: ein Windrad am Horizont, ein filigranes Damenfahrrad im Burginnenhof, eine Flasche Duschgel neben dem Waschzuber. Und natürlich immer wieder Bierflaschen und Bierkästen der Marke Grolsch an passenden Stellen (in der rustikalen Schänke etwa) oder an den absolut unmöglichsten Orten – als die Handlung uns in den Thronsaal des Königs von Burgund führte, musste ich laut auflachen: ein Kasten Grolsch hatte sich neben dem Thron des Königs reingeschmuggelt.

Bei aller Erzähllust sind Sukrows Filme auch Oasen der Entschleunigung. Pferdekutschen bewegen sich langsam durch reale Standbilder von Straßen, Reiter durchschreiten im gemäßigten Tempo die ganze Breite der Leinwand, Figuren schreiten in Sukrow-typischen, elastischen Moonwalk-Schritten langsam zu ihrem Ziel.


Ein entspanntes Programm, bevor es dann mit rasenden und hosenlosen Verfolgungsjagden weiterging.


ab 23:30 Uhr


OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG
Regie: Hubert Frank
BRD 1975
35mm, dt. OV
Der deutschstämmige Texaner Joe Schmidinger ("Schmid'intscher" auszusprechen!) kommt nach dem Tod eines entfernten Verwandten nach Deutschland, um dort seine Erbschaft, ein Hotel, zu übernehmen. In München wird ihm erst mal der Koffer geklaut. In Heidelberg stellt sich heraus, dass das Hotel eigentlich ein Bordell ist – und trotz seiner Prüderie schafft es Schmidinger immer wieder, seine Hose zu verlieren!

OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG aka MEI HOS' IST IN HEIDELBERG GEBLIEBEN aka JAGDREVIER DER SCHARFEN GEMSEN: die Editionsgeschichte dieses Films ist wohl ebenso kompliziert und bewegt wie die Geschichte des Joe Schmidinger selbst, mit mehreren Titeln und Laufzeiten. Das widerspiegelte sich auch in der gezeigten Kopie, die offensichtlich aus mehreren Quellen unterschiedlichen Materials zusammengestellt war (aufgrund von mechanischen Schäden zu Beginn des ersten Akts war kein Titel mehr zu sehen). Farbechte Agfa-Akte mit hoher Bildschärfe und rotstichige (bzw. genauer gesagt: orange-stichige) Eastmancolor-Akte mit eher mittlerer Bildschärfe waren durcheinander geworfen. Filmarchäologisch interessant, ohne, dass es dem Vergnügen des Films irgendeinen Abbruch tat. Denn OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG (ein Originalplakat war im Foyer des KommKino zusammen mit anderen Plakaten von Filmen dieser Kongress-Edition ausgestellt worden, deshalb nutze ich diesen Titel) war tatsächlich ein Sexklamauk-Kracher, ein Gag-Feuerwerk, ein mit dreifacher Geschwindigkeit laufendes Zoten-Fließband erster Güte, ein entfernter Verwandter von SCREWBALLS aus dem gleichen Zeit-Slot zwei Tage zuvor.

Während SCREWBALLS in Bezug auf die Charaktere doch sehr abstrakt blieb, war Josef Moosholzer als Mister Schmid'intscher das charismatische Herz und die menschliche Seele des Films – und eine Slapstick-Ikone vor dem Herren. Indem er seine Hose verliert, gewinnt er die Zuneigung des Publikums. Wenn er allerdings auf das Heck eines anfahrenden Cabrios springt und sich hartnäckig an der Kante der Hintersitze festhält, während das Auto durch die Straßen Münchens rast, wähnt man sich fast in einem italienischen Polizeifilm der gleichen Ära: war es ein hosenloses Double? Oder hat Moosholzer höchstpersönlich nach dem Rezept des Slapstick-Gottes Buster Keaton höchstselbst diesen Stunt ausgeführt? Wer weiß... Weniger gefährlich für Moosholzers Leib, aber durchaus ein Stresstest für die Lachmuskeln des geneigten Zuschauers ist seine "missglückte" Begehung seines geerbten "Hotels": durchaus ganz unmetaphorisch stolpert Joe durch verschiedene besetzte Zimmer, kann kurz das Treiben der angestellten Damen mit den Freiern beobachten, bevor er panisch hinausstolpert oder hochkant rausgeworfen wird: in ihrer rasendem Eskalation war diese Szene zweifelsohne der Höhepunkt des Films.

Später gibt es auch Helikopterflüge, Fallschirmsprünge und Verfolgungsjagden auf Fahrrädern – und im letzten Drittel auch ab und an ein paar spürbare Längen. Was soll's – eine erfrischende, hosenlose Frechheit von einem Film!


so gegen 2:15 Uhr


VIRIGNIA
Regie: François About
Frankreich 1990
VHS, dF
Die Deutsche Virginia, die von einer Schauspielkarriere in Paris träumt, muss sich zunächst mit etwas weniger glamourösen Jobs begnügen. Eine Stelle als Vorleserin für einen reichen, blinden Mann klingt zunächst einfach, aber dessen Gelüste jenseits der Lektüre werden zunehmend fordernd.

Es ist das Frühjahr 1990, es gibt noch zwei deutsche Staaten, aber keine Mauer mehr: die Titelfigur (und mit ihr die Filmcrew) nimmt das zum Anlass zu einem kleinen Spaziergang durch Ostberlin (inkl. Besuch der Mauerruinen), und so fängt VIRGINIA zunächst als Berliner Promenier-Film an, bevor das Schlendern dann in Paris weitergeht, durch die alten, ehrwürdigen, ein bisschen auch angestaubten Viertel der Stadt, dann aber auch durch die Neubauten, die gentrifizierten Viertel. Dieser Prolog hat mit der "Haupthandlung" wenig zu tun, aber gibt Tempo und Atmosphäre vor: schlendernd, langsam, kontemplativ, zu den Seiten blickend. Ein Atmosphärenfilm, der sich – für ein noch waches Publikum – als ideales Spätnachtprogramm erwies. Nachdem erst mal ziellos durch europäische Hauptstädte geschlendert wird, konzentriert sich die Stimmung im Hauptteil, in der ländlichen Villa des reichen Blinden, auf ein elegisches, erotisches, melancholisches, leicht gotisch angehauchtes Unbehagen. Dass das Dienstmädchen Virginia erst einmal K.O.-Tropfen mit dem Kräutertee verabreicht und die vernebelte junge Frau anschließend im stroboskobischen Blitzlicht eines Gewitters verführt, ist natürlich erst mal ein Knüppel (ein visuell spektakulärer, sehr markanter Moment, der in einem ansonsten größtenteils in elegische, sanft ausbeleuchtete Tableaus inszenierten Film hervorsticht). So schleicht sich für den Rest des Films ein leises Unbehagen ein, die unbewusste Ahnung, dass da irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wahrscheinlich spüren das auch die zahlreichen Tiere auf dem Anwesen. Sex-Filme mit Animal-Reaction-Shots sind natürlich grundsätzlich großartig: hier gibt es zunächst einmal Pferde – unter anderem ein Hengst namens Igor – die das Treiben der Ehefrau des Blinden mit ihrem heimlichen oder nicht so heimlichen Liebhaber beobachten ("Ich gehe Igor reiten", teilt sie morgens ihrem Mann mit). Später ist es eine Gans, die ganz verdutzt durch das Fenster schaut ob des Treibens des Blinden mit seiner Lektorin.

Der dramatische Höhepunkt wird schließlich noch von einem Twist getoppt, bei dem Brian De Palma wohl glatt seine Hose verloren hätte! Ein erschütternder, lange nachhallender Abschluss für einen größtenteils unaufgeregten, kontemplativen und sehr schön inszenierten Film: eine von wenigen (Softcore-)Regiearbeiten des Kameramanns François About, einem der großen Handwerker der französischen Pornoindustrie (hetero und schwul) – er fotografierte mehrere Filme Jacques Scandelaris, unter anderem NEW YORK CITY INFERNO und den erzählerisch wesentlich experimentelleren und abstrakteren, aber atmosphärisch durchaus mit VIRGINIA verwandten ÉQUATION À UN INCONNU.



Sonntag, 7. Januar 2024


ab 14:45 Uhr


I MIRACOLI ACCADONO ANCORA ("Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle")
Regie: Giuseppe Maria Scotese
Italien 1974
35mm, DF
Nach einer wahren Geschichte: die junge Juliane Koepcke überlebt den Absturz eines Flugzeugs über den Amazonas und irrt danach tagelang durch den Urwald auf der Suche nach Rettung.

"Familienfreundliche Exploitation" – diese Begriffs-Kombination geisterte mir während und auch nach dem Film etwas im Kopf rum. Vielleicht bin ich von nicht ganz so familienfreundlichen, italienischen Exploitationfilmen, die im südamerikanischen Urwald spielen, etwas zu sehr "verdorben", aber "Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle" war ganz und gar nicht meins. Nach meinem Gefühl kam die endlose Exposition mit der abfliegenden Maschine und den am Boden verbliebenen Familienmitgliedern und Flughafenmitarbeitern einfach nicht aus den Puschen: übertrieben umständlich wurde erzählt, teilweise auf komplizierte Weise Figuren eingeführt, die dann später einfach nicht mehr aufgetaucht sind (umso verwunderlicher, dass der Film am Ende auf eine Wiedersehensszene mit dem Vater einfach verzichtet). Hinzu kam, dass die Darstellerin der Juliane Koepcke zwar in einem kurzen, durch das beständige Regnen am Körper eng klebenden Minikleid durch den Urwald läuft, von Susan Penhaligon allerdings auch recht persönlichkeitsfrei gespielt wird. Da helfen auch Nahaufnahmen auf Maden, die aus Hautwunden herausgekratzt werden, nicht.

Dennoch ein sehr schöner Moment: der erste Nachtanbruch in Julianes Abenteuer. Das Licht wird gedimmter, die Geräusche im Urwald werden lauter und bedrohlicher, die Schnittfrequenz nimmt zu und überschlägt sich schließlich in Bildern von Extremnahaufnahmen auf Julianes Augen und die Augen diverser Urwaldtiere.


ab 17:00 Uhr


OTTO UND DIE NACKTE WELLE
Regie: Günther Siegmund
BRD 1968
35mm, dt. OV
Der Schauspieler Otto geht gerne in der Lüneburger Heide wandern. Was er nicht so gerne hat, ist diese "nackte Welle" mit dem ganzen Sex. Als er erfährt, dass ein konkurrierender Schauspieler nebenbei "Nackedeifilme" dreht und seiner Tochter auch noch Avancen macht, gerät Otto vollends in Panik – aber... vielleicht bietet die "nackte Welle" trotzdem auch wirtschaftliche Chancen?

"Was für eine Stahlbombe!" sagte mir ein Co-Kongressnik lachend, als wir uns während des Films auf dem Weg in Richtung Toilette kreuzten. Recht hat er!

OTTO UND DIE NACKTE WELLE war "der Sexfilm des Ohnsorg-Theaters", gespielt von Schauspielern des berühmten Hamburger Theaters und inszeniert vom späteren, langjährigen Intendanten Günther Siegmund. Diese Kuriosität ist dann auch das einzige interessante an dieser "Stahlbombe". Ja, der Spruch "Auch ein blindes Huhn findet mal ein Doppelkorn" war ganz witzig, ansonsten war der Film schon von einer sehr porentiefen Unwitzigkeit, gespickt mit eher peinlichen schulterklopfenden Momenten der Selbstreferentialität, wenn Otto Lüthje verkrampft-kumpelhaft in die Kamera hineinzwinkert und inszenatorisch von einer nägelrollenden Tristesse. Etwa eine Viertelstunde (?) des Films besteht aus Inserts aus frühen Sexploitationfilmen des Briten George Harrison Marks: ganz offensichtlich auch keine grandios inszenierten Filme, aber im direkten Vergleich mit den trist-grauen, statisch gefilmten Intérieurs wirkten sie geradezu perlend-spritzig, aufregend, ja fast genial. Kein großes Kompliment für einen Film, wenn die Inserts besser sind als der "Hauptteil".


ab 21:15 Uhr


ANNA UND ELISABETH
Regie: Frank Wisbar
Deutschland 1933
35mm, dt. OV mit englischen Untertiteln
Ein Dorf in Deutschland zu einer unbestimmten Zeit: die reiche Elisabeth ist an einen Rollstuhl gefesselt und eine ärztliche Untersuchung bestätigt, dass sie nie wieder wird gehen können. Derweilen ist der kleine Bruder von Anna, einer Bauerstochter, gestorben. Nachdem Anna intensiv für dessen Seelenheil gebetet hat, erwacht er wieder zum Leben. Fortan hat Anna den Ruf einer Wunderheilerin und weckt besonders Elisabeths Interesse.


Auch viele Tage später bleibt es dabei: ANNA UND ELISABETH war der bei weitestem bizarrste, eigenartigste Film, den ich bei diesem Hofbauer-Kongress gesehen habe. Auf der oberflächlichen Erzählebene scheint ANNA UND ELISABETH banal zu sein, etwas trocken. Aber "Der neue Frühjahrshut... und was sich drunter tut" – ja, was sich hier so drunter tut, was zwischen den Zeilen schlummert, was in der Luft liegt: ein Film der Unterschwelligkeiten.

Natürlich zunächst die angedeuteten lesbischen Vibes zwischen den beiden Titelfiguren: die beiden Hauptdarstellerinnen Hertha Thiele und Dorothea Wieck hatten bereits in MÄDCHEN IN UNIFORM von 1931, einem Pionierwerk in der Darstellung lesbischen Begehrens im Kino, zusammen gearbeitet. In ANNA UND ELISABETH interessiert sich die gelähmte Elisabeth vor allem für die angeblichen Wunderheilkräfte Annas, die sie von ihrer Lähmung – ihrer sexuellen Blockade? – befreien wird. In den lustverzehrten Blicken, die Elisabeth auf Anna wirft, im zerschmelzenden Ton, mit dem sie Annas Namen ausspricht, liegt aber mehr als nur Interesse an medizinischen Heilkräften. Als der Tag sich nähert, an dem Anna auf Drängen Elisabeths ihre Wunderheilkräfte öffentlich demonstrieren soll, werden beide Frauen im wohl explizitesten Bild des Films vereinigt: Elisabeths Kopf schräg unter Annas Kopf, beide sich tief in die Augen schauend, sagt Elisabeth "Morgen" – nach einem Schnitt ist Elisabeth über Anna gebeugt und haucht "Heute".

Wahrscheinlich weit noch wichtiger ist die Grundatmosphäre religiöser Hysterie und abergläubischen Wahnsinns, die sich über den ganzen Film wie ein halbdurchsichtiger Schleier legt. Ein Teil des Konflikts des Films besteht darin, dass eine einfache junge Frau unter dem psychischen Druck, vom ganzen Dorf für eine Wunderheilerin gehalten zu werden, immer mehr zerfällt – sich aber auch fängt, als sie selbst beginnt, ihre Wunderheilkräfte als reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Auch sie wird Stück für Stück vom religiösen Fieberwahn ergriffen, der Elisabeth geradezu zum Brennen bringt und die ganze Dorfbevölkerung in Aufruhr bringt, zu latent bedrohlichen Massenversammlungen vor Annas Wohnhaus führt, sämtliche Leute leicht wahnsinnig schauen lässt. Ausgerechnet der Dorfpfarrer ist der größte Skeptiker, wahrscheinlich aber vor allem, weil die abergläubische Bewegung von unten der offiziellen Kirchendoktrin zuwiderläuft.

Es gibt zwar nur eine klerikale Person im Dorf und kein Nonnenkloster, aber ANNA UND ELISABETH hat mit seiner Thematik religiöser Hysterie durchaus eine assoziative atmosphärische Geistesverwandtschaft mit späteren, an Nunsploitation angrenzenden Filmen wie Michael Powells und Emeric Pressburgers BLACK NARCISSUS, Jerzy Kawalerowicz' MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW und Ken Russells THE DEVILS.

ANNA UND ELISABETH startete im April 1933 in den deutschen Kinos. Die Nazis verboten den Film nicht, warfen ihm aber vor, das "gesunde Volksempfinden" zu verletzen. Frank Wisbar hatte bei den Nazis schlechte Karten, emigrierte 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA. ANNA UND ELISABETH startete gemäß IMDb auch in Japan, in Großbritannien, in Ungarn, Spanien, Schweden und in den USA. In der New York Times wurde der Film im Grundton positiv besprochen, die Leistung von Dorothea Wieck als herausragend hervorgehoben, Hertha Thiele als eher schwach bezeichnet und die Langsamkeit von Wisbars Inszenierung kritisiert. Ich würde dem widersprechen insofern vor allem Hertha Thiele als Anna für mich heraussticht: neben Nadira in AAN für mich die zweite große Schauspiel-Ikone dieses Kongresses. Die Langsamkeit der Regie ist hingegen quasi ein Wunder: viele Szenen sind tatsächlich von der spektakulären, trance-artigen Langsamkeit eines die Sinne und den Verstand vernebelnden Fiebertraums. Zugleich aber war ANNA UND ELISABETH in der gefühlten Laufzeit der kürzeste Film des Kongresses: die 70 Minuten fühlten sich eher wie 45 an (ein Gefühl, das einige Co-Kongressniki in der anschließenden Pause auch so bestätigten). Das bestätigt meine anfängliche Annahme: der merkwürdigste Film dieses Kongresses.


ab 23:15 Uhr


AMERICAN FLYERS
Regie: John Badham
USA 1985
35mm, engl. OV
Der begeisterte Hobby-Rennradfahrer David Sommers bricht mit seinem älteren Bruder, dem Sportmediziner und ehemaligen Profi-Rennfahrer Marcus, zum berüchtigten "Hell of the West"-Wettkampf auf. Der frühe Tod des Vaters durch ein Aneurysma hat die Beziehung der Brüder überschattet – und die Möglichkeit, dass die Krankheit vererbt wurde, macht den gemeinsam angetretenen Wettkampf umso wichtiger.


Eine der größten Vorfreuden des Kongresses: AMERICAN FLYERS sollte ursprünglich in der Samstagabend-Prime-Time des Karacho-Actionfilm-Festivals im November 2023 laufen, die Kopie blieb allerdings im deutschen Zoll hängen, als würdiger Ersatz wurde der sehr eigensinnige Boxerfilm DIGGSTOWN gezeigt. Schon beim Karacho versprach der Hofbauer-Kommandant im Karacho-Orgateam, AMERICAN FLYERS beim nächsten Kongress zu zeigen.

"Wie ein Schwulenporno, bei dem die Sexszenen entfernt wurden" – so ungefähr wurde die HK-Relevanz des Films seitens des Hofbauer-Kommandos in der Einführung begründet. Ganz so würde ich das nicht sagen, auch wenn das Bonding zwischen den beiden Brüdern untereinander und jeweils zu ihren Stahlhengsten sehr fetischistische Züge hatte. Der pornöse Schnurrbart, den Kevin Costner in diesem Film trägt und ihn wie der vergessene Cousin Harry Reems' (danke an jemand aus der Reihe hinter mir, der ganz erstaunt "Oh, Harry Reems" geflüstert hat, als Costner das erste mal auftauchte) aussehen lässt, hätte aber als Begründung auch ausgereicht. Na ja, und das Motto des medizinischen Sportzentrums, in dem Your Porn Moustache Highness arbeitet: Once you get it up, keep it up!

Von diesen Überlegungen abgesehen: mit John Badham, einem journeyman extraordinaire des Post-New-Hollywood-Genrekinos, kann man ja eigentlich nie etwas falsch machen. Er macht meistens Filme, die zwar gut inszenierte Attraktionen des Genrekinos abliefern, aber eben auch von den Charakteren her entwickelt werden. In AMERICAN FLYERS geradezu idealtypisch: die erste Hälfte dient erst einmal dazu, die Figuren einzuführen und sie erst einmal in Ruhe miteinander abhängen zu lassen. Das fängt an mit Davids langer Radtour unter den Anfangs-Credits: ein Obsessiver, der nicht nur draußen auf den Straßen Fahrrad fährt, sondern auch, mit einem ganz kurzen Absteigen im Fahrstuhl, bis in seine Wohnung hinein sein Drahtesel reitet und erst einmal beim Stoppen davon stürzen muss, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Marcus hat natürlich seinen ultra-pornösen Schnurrbart, ist aber auch der "bürgerliche", ältere Bruder, der seiner Mutter immer noch nicht ihren Umgang mit dem Tod des Vaters verzeihen kann. Zum "Hell of the West" kommt auch Marcus' Lebensgefährtin Sarah (Rae Dawn Chong in einer wunderbaren Rolle) und irgendwann gabelt das Trio unterwegs die Tramperin Becky auf, die schließlich mit David anbandelt. Von einigen Geschwindigkeitsspitzen abgesehen – die Fahrradverfolgungsjagd mit dem bissigen Hund und das kleine Wettrennen mit den Cowboys auf den Pferden aus Fleisch und Blut – hat AMERICAN FLYERS in der ersten Hälfte das tiefenentspannte Tempo einer kleinen Urlaubsspritztour...

...um dann in der zweiten Hälfte umso mehr die Geschwindigkeit anzuheben und die Spannungsschrauben (und die Emotionalitätsschrauben im eskalierenden Melodrama!) anzuziehen, wenn es zunächst um die Qualifikation zum "Hell of the West"-Rennen geht, dann um den Wettkampf selbst. Da gibt es nicht nur die harten Anstiege in den Bergen von Colorado zu besiegen, sondern auch einige wunderbar fiese Konkurrenten, den "Cannibal" zum Beispiel (pikanterweise Sarahs Ex-Mann) und um noch ein wenig Kalte-Kriegs-Atmosphäre reinzubringen den bärig-bärbeissigen Russen Belov. Point-of-Views aus der Fahrerperspektive und Hubschrauber-Panoramen der verschlungenen Wege in der kargen Berglandschaft Colorados (das Cinemascope kommt hier im Kino ganz besonders schön zur Geltung) sorgen für einen andauernden Nervenkitzel. Vor extremer Anspannung habe ich im Showdown in der letzten Viertelstunde meine rechte Hand krampfhaft in die Armlehne gekrallt: robust gebaut das Ding, ansonsten hätte ich es wohl komplett zerbröselt! Großes Kino kann eben auch ein Stresstest für Kinositze sein.


EPILOG

"Once you get it inside, keep it inside!"


Mittwoch, 7. Februar 2024

Jena, Kino im Schillerhof, 20.00 Uhr

Die Organisatoren des 35mm-Kino beim Film e.V. Jena haben AMERICAN FLYERS aufgrund einer etwas früheren Abreise schweren Herzens verpasst (einer hat aber kurz vor Abfahrt des Zuges einen Blick in die ersten 20 Minuten geworfen). Das Programm des Jenaer 35mm-Kinos war noch nicht festgelegt. Die Kopie von AMERICAN FLYERS war noch im Lande... Kurz: Synergieeffekte wurden geschaffen, AMERICAN FLYERS zum Eröffnungsfilm 2024 des 35mm-Kinos auserkoren und die Reihe "Auto & Geschwindigkeit" mit "Geschwindigkeit Teil 2" verlängert. Genial!

AMERICAN FLYERS war zweifelsohne ein toller Kongress-Abschlussfilm, aber diese haben natürlich immer auch den Haken, dass man sie durch einen etwas getrübten Schleier der angesammelten Festivalmüdigkeit sieht. Die Zweitsichtung genau einen Monat später hat den Film bei mir noch mal gesteigert: ganz großes, mitreissendes Kino, ein Fest der großen Gefühle, der herzlichen Lacher, des adrenalintreibenden Geschwindigkeitsrausches. Definitiv ein Nachrücker in die Reihe meiner diesjährigen Kongress-Lieblinge (WUNDERLAND DER LIEBE, WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN, IM NAMEN DES KÖNIGS).

Nach dem Ende dieser Vorstellung war ich mental bereit, mit Kevin Costners Schnurrbart bis in die höchsten Gipfel der Berge von Colorado zu radeln, von Glenn Shorrocks ohrwurmigem Titelsong zu pedaltretender Trance angetrieben!